ISBN: 978-3-96586-013-1
1. Auflage 2019, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2019 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Sie war unsichtbar. Das war sie eigentlich schon immer gewesen – Halt, nein, das stimmte so nicht! Damals, als sie jung gewesen war, so zwischen vierzehn und dreißig Jahren, da hatte man sie bemerkt. Man hatte auf sie gezeigt, hinter ihrem Rücken getuschelt und gekichert oder man hatte sie angesehen, das Gesicht verzogen und sich abgewandt. Dann, im Laufe der Jahre, war sie immer mehr verschwunden, verblasst, hatte sich aufgelöst, bis die Menschen durch sie hindurchblickten, als wäre sie aus Glas oder einfach nur Luft, eben unsichtbar. Das machte ihr nichts aus, war es doch tausendmal besser als die angewiderten Mienen oder das gehässige Tuscheln, das sie zutiefst verletzt und gedemütigt hatte.
Mehr als einmal war sie damals kurz davor gewesen, sich von der nächsten Brücke zu stürzen oder sich die Pulsadern aufzuritzen. Ein letzter Funken Lebenswillen, vielleicht auch Trotz, gepaart mit Hoffnung, hatte sie jedes Mal vor diesem Schritt bewahrt. Es konnte doch nicht sein, dass sie als Einzige auf ewig als hässliches Mauerblümchen durchs Leben gehen musste. Das Schicksal hatte ihr widersprochen, trotzdem war sie heute froh darüber, geblieben zu sein, denn die Unsichtbarkeit schenkte ihr seit Jahren eine Freiheit, die ihr ihre Hässlichkeit verwehrt hatte. Und diese Freiheit war ihr wichtiger als die Liebe eines Mannes. Die Kerle waren sowieso alle dumm und verlogen! Auch das, was andere Frauen für lebenswichtig hielten, bedeutete ihr nichts.
Langsam wanderte sie den Strand entlang zum Fähranleger. Über ihr flogen die Möwen laut schimpfend gegen den Wind an. Eine landete dicht vor ihren Füßen und beäugte sie mit leicht nach rechts geneigtem Kopf. Als der Vogel erkannte, dass die Spaziergängerin tatsächlich nichts Essbares in den Händen hielt, hüpfte er ein Stück zur Seite, breitete die Flügel aus und flog davon, um anderswo nach Futter zu suchen.
Unsichtbar, die Kapuze ihres schwarzen Anoraks weit ins Gesicht gezogen, stapfte sie vorwärts. Die Fähre lag bereits am Anleger. Die ersten Passagiere gingen gerade an Bord. Sie holte ihr Ticket aus der Jackentasche und hielt es dem Kontrolleur hin, der nur kurz nickte. Bei diesem Wetter waren nur wenige Tagesgäste auf der Insel und die, die sich trotzdem hinausgewagt hatten, wollten so schnell wie möglich in die Wärme der geheizten Salons. Die Bordbar bot neben den üblichen heißen Getränken auch Glühwein an, dem drei Rentner in Wanderkleidung bereits begeistert zusprachen.
Sie suchte sich einen Platz am Fenster, von dem aus sie auf die See schauen konnte. Viel zu sehen gab es allerdings nicht, denn der Sturm trieb eine Ladung Regentropfen nach der anderen gegen die Fenster der Fähre. Der nasse Schleier verzerrte das Bild der aufgewühlten See.
Mit einem leisen Aufatmen lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Die Stimmen der Passagiere, die nach und nach in den Salon kamen, verschwammen zu einem Geräuschbrei, der einschläfernd wirkte. Dazu kam das sanfte Auf und Ab der Fähre. Sie spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel und einem wohligen Gefühl warmer Trägheit Platz machte. Sie war fast eingedöst, als die schweren Motoren anliefen. Ihr Stampfen ließ den gesamten Schiffskörper erzittern. An Deck riefen sich die Besatzungsmitglieder irgendwelche Befehle oder Bemerkungen zu. Ihre Stimmen wurden übertönt, als das Dröhnen der schweren Dieselmotoren lauter wurde, dann glitt die Frisia-Fähre vom Anleger weg in die unruhige Fahrrinne und fuhr mit hochaufspritzenden Gischtwellen vor dem Bug in Richtung Norddeich davon.
Der Sturm riss ihm beinahe die Fahrertür aus der Hand. Mark Fischer konnte gerade noch zugreifen und sie festhalten, sonst hätte die Böe sie wahrscheinlich aus den Angeln gerissen. Das hätte zu diesem beschissenen Tag gepasst, an dem schiefging, was nur schiefgehen konnte. Fehlte bloß noch ein Ticket, weil er die erlaubte Aufenthaltszeit überschritten hatte oder dass die Achtzehn-Uhr-Fähre wegen des Sturms nicht auslief.
Die Tür mit beiden Händen haltend, rutschte er auf den Sitz, zog sie gegen die Kraft der anstürmenden Windstöße ins Schloss und legte aufatmend den Kopf gegen die Nackenstütze.
Er war erschöpft und unzufrieden, denn das Treffen mit dem so vielversprechenden Interessenten war komplett schiefgelaufen. Der Typ hatte sich eingebildet, aufgrund seines Reichtums auf jegliche Höflichkeitsformeln verzichten zu können. Keines der Appartements und Häuser, in die Mark ihn geführt hatte, entsprach seinen Ansprüchen. Inzwischen war Mark davon überzeugt, dass der Kerl sowieso nur meckern wollte und gar nicht die Absicht gehabt hatte, eine Immobilie zu erwerben.
Mit einem unwilligen Knurren beugte Mark sich vor und schob den Schlüssel ins Zündschloss. Mit einem Blick zu den Scheibenwischern überzeugte er sich davon, dass kein Strafzettel dahinter klemmte, was ihn allerdings nicht sonderlich beruhigte, da der Sturm den Wisch vielleicht weggeweht haben könnte. Aber egal! Für heute reichte es.
Entschlossen drehte Mark den Zündschlüssel, worauf der Motor arbeitswillig ansprang, und legte den Gang ein. Als er das Lenkrad einschlug, sah er mit wachsendem Erstaunen, wie sich die Motorhaube des schicken BMWs verformte. Ein Ruck ging durch die Karosserie, der Wagen hob sich in die Luft, während sich gleichzeitig ein Regen aus Glassplittern über Mark ergoss. Der Satz »Was zum Teufel…« blieb ihm unvollendet im Munde stecken, weil sein Körper von einer ungeheuren Druckwelle in Stücke gerissen wurde.
Der Explosionsknall war bis auf die andere Seite der Insel zu hören und schreckte die Feriengäste am Strand aus ihrer beschaulichen Urlaubsträgheit. Danach schien die Welt für einige Sekunden still zu stehen. Selbst die ewig kreischenden Möwen waren verstummt.
Und dann schrie eine Frau. Es klang schrill, laut und von Grauen erfüllt.
Wie heißt es im Volksmund so richtig? Der Teufel steckt im Detail. Für das Reisetransportwesen heißt das, man kann ohne umzusteigen von Frankfurt nach Seattle und zurück fliegen. Aber die rund dreihundert Kilometer vom Hamburger Hauptbahnhof nach Norden-Norddeich gestalten sich als Odyssee, wenn man um 22.00 Uhr in Hamburg landet, der geplante Zug wegen eines Lokschadens ausfällt, der nächste erst um 23.40 Uhr loszuckelt, sodass man frühestens, nach zwei- bis dreimaligem Umsteigen, am anderen Tag um sieben-Uhr-noch-was in Norddeich ankommt. Das war eindeutig zu knapp, befand Dr. Sarah Zimmermann und da ihr die Zuverlässigkeit der Deutschen Bahn hinlänglich bekannt war, hatte sie bereits vor Reiseantritt die Nummer eines Fahrservices herausgesucht, den sie jetzt per Handy kontaktierte.
Die Dame von der Annahme zeigte sich trotz der späten Stunde sehr freundlich. Sie erklärte Sarah, dass bereits drei Wagen vor dem Bahnhof warteten, die noch freie Plätze hatten.
»Ich sage dem Fahrer Bescheid, dass er auf Sie warten soll«, versprach die nette Dame noch, worauf Sarah ihr Gepäck schnappte und zum verabredeten Treffpunkt hetzte, wo sie von einem Mann mittleren Alters erwartet wurde, der sie fröhlich angrinste.
Mit Sarah saßen noch vier weitere Passagiere an Bord des Transferbullis. Sie sahen allesamt genauso müde aus wie Sarah und so beschränkte sich die Konversation auf ein gemurmeltes »Guten Abend«. Noch auf der Fahrt zur Autobahn waren die ersten beiden Mitfahrer eingeschlafen. Als der Bulli die Auffahrt zur A1 erreichte, schnarchten alle Passagiere vor sich hin.
Es war kurz vor halb vier, als Sarah endlich die Tür ihres kleinen Häuschens aufschließen konnte. Die Stille, die sie empfing, legte sich wie ein zu schwerer Mantel auf ihre Schultern. Dabei war sie eigentlich gerne alleine, doch beim Heimkommen nach einer langen Reise nicht begrüßt zu werden, stimmte sie irgendwie traurig.
Jetzt bereute sie, dass sie sich am Abend vor ihrer Abreise noch mit ihrem Freund Dr. Volker Hauptmann gestritten hatte. Es war mal wieder um das leidige Thema 'Zusammenziehen' gegangen, auf das Sarah allergisch reagierte. Was musste der Dussel aber auch immer damit anfangen, dachte sie trotzig, während sie ihr Gepäck im Flur abstellte. Besser, sie ließ die Tasche und den Koffer einfach fallen, denn sie fühlte sich nach der langen Reise total fertig.
Mit letzter Kraft schleppte sich Sarah ins Wohnzimmer, knipste das Licht an und sah erst erstaunt, dann mit wachsender Freude auf den riesigen Frühlingsstrauß, der mitten auf dem Couchtisch prangte. Ein Brief lehnte an der Vase. Beim Lesen der wenigen Zeilen erwachte Sehnsucht in ihr. Wie schön wäre es jetzt, sich an Volkers warmen, festen Körper zu schmiegen und sich in seinen Armen wunderbar geborgen zu fühlen. Ob sie ihn anrufen sollte?
Ein rascher Blick zur Uhr sagte ihr, dass ihr gerade noch zwei Stunden Schlaf blieben, ehe sie ihren Dienst in der Deichklinik antreten musste. Deshalb wollte sie nur die Toilettenartikel und Konferenzunterlagen aus dem Koffer nehmen. Der Rest sollte warten, bis sie Zeit hatte, alles auszupacken und einzuräumen. Fast schon im Halbschlaf versuchte sie, den Koffer aufzuschließen, doch der Schlüssel passte nicht. Frustriert drückte sie auf den Schließmechanismus, der Deckel klappte auf – und sie erstarrte.
Das knallrote Shirt, das obenauf lag, gehört mit Sicherheit nicht ihr!
Mit fliegenden Fingern riss Sarah weitere, ihr unbekannte Kleidungsstücke heraus, packte den Koffer schließlich mit beiden Händen und schüttete den Inhalt einfach auf den Fußboden. Das Resultat blieb das gleiche. Alles, was sich da zu ihren Füßen ausbreitete, war ihr absolut fremd. Und wem auch immer die Teile gehörten, sie wiesen den Besitzer erstens als eindeutig dem männlichen Geschlecht zugehörig aus, der zweitens einen ziemlich schlechten Kleidungsstil pflegte.
Schreiend bunte T-Shirts, hässliche Socken, ausgeleierte Jeans, ausgelatschte Sandalen, zwei riesige Badehosen, mehrere Bermudahosen und verwaschene Boxershorts, alles in XXL Ausführung und hässlich, hässlich, abgrundtief hässlich!
Angewidert starrte Sarah auf das Gewühl. Was sollte sie damit machen und vor allem, wo waren ihre Sachen? Was tat man in einem solchen Fall? Wie verhielt man sich richtig? Und noch eine wichtige Frage: Wie und wo war sie an den falschen Koffer geraten?
An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Angewidert raffte Sarah die Kleidungsstücke zusammen und warf sie in den Koffer zurück. Anschließend ging sie in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen. Während sie die Maschine vorbereitete, ging sie in Gedanken die einzelnen Stationen ihrer Rückreise durch.
Sie hatte in Oslo an einer Mediziner-Tagung teilgenommen, bei der es um die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Notfallversorgung, besonders von Koronarnotfällen, gegangen war. Der letzte Vortrag hatte um sechzehn Uhr stattgefunden. Da sie direkt vom Kongresszentrum zum Airport gefahren war, hatte sie ihr Gepäck in einem Schließfach des Zentrums aufbewahrt. Am Flughafen hatte sie den Koffer direkt abgegeben und in Hamburg hatte sie ihn dann vom Gepäckband genommen. Anschließend war sie zum Terminal eins gegangen, um mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof zu fahren. Im Geiste sah sie sich wieder auf dem Bahnsteig stehen, mit ihr warteten viele andere auf das Eintreffen der Bahn. Hatte sie den Koffer abgestellt?
Sarah konnte sich nicht erinnern. Allmählich wurde ihr bewusst, dass der Tausch überall zwischen Oslo und Norden passiert sein konnte. Blöderweise befand sich kein Adressschild an dem Gepäckstück und auch im Inneren war nichts Derartiges zu finden. Alles, was sie nach einiger Überwindung beim Durchsuchen der Kleidung fand, waren ein paar gebrauchte Taschentücher und ein ungeöffnetes Päckchen Kondome. Da war wohl die Freude auf sexuelle Abenteuer größer gewesen als die sich bietenden Möglichkeiten.
Da ihr keine Lösung für das Gepäckproblem einfiel, beschloss Sarah endlich, sich mit der Bahn, dem Flughafen und dem Transportdienst in Verbindung zu setzen. Und falls ihr Gepäckstück dort nicht auf sie wartete, blieb ihr nur noch die Hoffnung, dass sich der momentane Besitzer ihres Koffers bei ihr meldete. In dem ihren befanden sich zwei Hefter, auf denen ihre Adresse stand.
Ob die Telefone der Meldebüros der Bahn, des Busunternehmens und des Flughafens schon besetzt waren? Ach nein! Der Blick zur Uhr belehrte Sarah, dass ihr keine Zeit mehr fürs Telefonieren blieb. Selbst auf den Kaffee musste sie verzichten. Sie schaffte es gerade noch, hastig unter die Dusche zu springen und sich frische Kleidung anzuziehen. Dann musste sie auch schon auf ihr Rad springen und zur Klinik fahren.
Das Kofferproblem musste leider warten.
Die Frühlingssonne malte gelbe Flecken auf den Fußboden, in den hellen Strahlen tanzten mikrofeine Staubteilchen, das Piepsen einer Meise drang durch das gekippte Fenster in die Küche.
Es war einer dieser herrlich sonnigen Frühlingsmorgen, die einen sofort in gute Laune versetzen und die den nahenden Sommer versprechen. Die Menschen hängten ihre dicken Winterjacken in den Schrank, in den Gärten wurde geharkt, gegraben und gepflanzt und mit jedem Tag strömten mehr Feriengäste in den Ort. Auch Tine wäre gerne hinausgegangen, vielleicht um in den Beeten Unkraut zu jäten oder die Blumenkästen vor den Fenstern mit Frühjahrsblühern zu bepflanzen. Auch für die Osterdeko in Haus und Garten wurde es langsam Zeit. Hier und da in der Nachbarschaft sah man schon Osterbäume oder lachende Holzhasen vor den Haustüren. Sie hätte auch einfach an den Hafen radeln und beim Beladen der Fähren zusehen können. Alles das hätte sie tun können, aber sie tat es nicht, denn die Lust auf diese Dinge und die Vorfreude auf das Osterfest waren Tine gründlich vergangen.
Ihre Blicke suchten über den Rand der Kaffeetasse hinweg verstohlen das Gesicht ihres Gegenübers. Gunther Olsen saß am Tisch, kaute selbstzufrieden an einem Brötchen und schien mit sich und der Welt im Einklang zu sein. Dabei sollte ihm eigentlich jeder Bissen im Halse stecken bleiben! Er müsste sich mindestens genauso mies fühlen wie sie. Aber nichts davon war ihm anzumerken. Es hatte ihm weder den Appetit verdorben noch seine Laune vergällt.
Er hatte aufgegessen. Mit einem zufriedenen Seufzer schob er den Teller von sich und stand auf. Während er einen Moment stehen blieb, den Blick aus dem Fenster gewandt, hatte Tine Zeit, seine Erscheinung mit den Augen genau abzuscannen: enge Worker-Jeans, ein graues Langarmshirt mit dem Aufdruck 'Star Idealo', darüber eine dunkelblaue Bomberjacke und graue Sneakers an den Füßen. Das Outfit eines Twens, über das er sich noch vor kurzer Zeit lustig gemacht hätte.
Ach, ihr hätte längst ein Licht aufgehen müssen, überlegte Tine selbstanklagend, als sie sah, wie Gunther mit beiden Händen durch das frisch geföhnte Haar strich. Er hatte es sich in einem Emder In-Salon blond färben und schneiden lassen. Statt des Seitenscheitels trug er es jetzt kurz mit einer frechen Stirnlocke gestylt. Alles in allem die verzweifelten Versuche eines Endvierzigers jugendlich zu erscheinen.
Wieso ist mir das alles nicht schon viel, viel früher aufgefallen?, überlegte Tine, während ihr Mann mit federnden Schritten zur Tür ging. War ich die letzten Monate blind? War ich taub? Ach was, gab sie sich selbst die Antwort, ich war einfach dämlich!
Sie hatte sich in dieses warme, bequeme Nest aus Gewohnheit und alltäglichen Pflichten gekuschelt und die Augen für die Welt um sich herum verschlossen. Es lief ja auch alles wie auf Schienen. Okay, am Anfang ihrer Ehe waren sie finanziell nicht auf Rosen gebettet gewesen, zumal Tine dann auch noch kurz nach der Hochzeit schwanger geworden war. Dennoch hatten sie beschlossen, dass Tine nach der Geburt des Sohnes erst mal zuhause bleiben sollte. Ihren ausgefallenen Verdienst hatte Gunther an den Wochenenden und nach Feierabend mit mehreren Aushilfsjobs ersetzt.
Drei Jahre nach Jannis' Geburt war Tines Oma gestorben. Die Überraschung und Freude waren groß gewesen, als das junge Paar vom Nachlassgericht erfuhr, dass die alte Dame ausgerechnet der Enkelin ihr Haus vererbt hatte. Eine Tatsache, die Tines Vater bis heute nicht wirklich verwunden hatte, denn er war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ihm das Erbe zustand.
Es war kein moderner Bungalow, in das die kleine Familie zog, sondern ein solider Bau im typischen Stil der sechziger Jahre, verklinkert, zweistöckig mit einem steilen Spitzdach und kleinem Garten drum herum. Ein gemütliches Heim, das ausreichend Platz bot, sodass jedes der inzwischen zwei Kinder ein eigenes Zimmer bewohnen konnte.
Ja, sie waren glücklich gewesen in ihrem warmen Nest, auch wenn sie weiterhin jeden Cent umdrehen mussten. Doch dann, vier Jahre später, hatte Gunther im Ostfriesenanzeiger ein Stellenangebot entdeckt. Die VW-Werke in Emden hatten einen Schlosser gesucht, worauf Gunther sich kurzentschlossen auf den Posten beworben hatte. Drei Monate später hatte er in dem Unternehmen angefangen und von da an war auf einen Schlag alles viel leichter geworden. Fünf Jahre später war er zum Werksmeister aufgestiegen, was eine weitere finanzielle Entlastung bedeutete. Und dann, für Tine viel zu früh, waren die Kinder plötzlich erwachsen gewesen, hatten das Haus verlassen und ihr eigenes Leben begonnen.
»Jetzt denken wir endlich nur noch an uns«, hatte Gunther gesagt, als Anja mit Sack und Pack zu ihrem Freund gezogen war. »Wir machen es uns richtig schön. Nicht wahr, min leewer Schatz?«
»Ja«, hatte Tine glücklich geseufzt und von Reisen nach Rom, Paris und New York geträumt. Doch diese Träume waren wie Seifenblasen zerplatzt, denn seit neuestem fand Gunther, dass er ganz alleine diese guten Zeiten verdient hatte und dass er für sein jahrelanges Abrackern für die Familie als Einziger eine Belohnung verdient hatte. Für Tine war in seinen Plänen plötzlich kein Platz mehr.
»Vergiss nicht, mein Rezept in der Apotheke einzulösen.« Seine Stimme schreckte Tine aus ihren Gedanken. Sie zuckte zusammen, blickte auf und sah ihn unter der Küchentür stehen, den Autoschlüssel in den Hand. »Ja«, wollte sie sagen und »Wohin gehst du denn?«, doch es war zu spät. Gunther hatte sich schon grußlos umgedreht und war dabei, das Haus zu verlassen. Kurze Zeit später hörte Tine den Motor seines Wagens aufheulen.