AUS DEN SATZUNGEN DER GESELLSCHAFT
Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.
§
Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.
§
Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.
§
Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.
§
Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.
UBIQUE TERRARUM
(ÜBERALL IN DER WELT)
LIMITED COMPANY
GESELLSCHAFT MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG
WWW.UBIQUE-TERRARUM.NET
EXPLORING AND RESEARCHING OF ALL KIND NACHFORSCHUNGEN UND ERMITTLUNGEN JEDER ART
EHRENPRÄSIDENT
LORD HAYSTACK, P.R.A., K.C.I.E.
GENERALDIREKTOR
ARTHUR MILLER
CHEFEXPEDITIONSLEITER
STEPHAN SLANTON, V.C.
EXPEDITIONSFORSCHER
DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST
EXPEDITIONSARZT : DOCTEUR EN MÉDECINE
GASTON DE MONTFORT
COMTE DE DARIFANT-CROY
EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDENS
UND IHRE MANNSCHAFT
PATRICK CROMBY aus Irland
CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich
TSCHANDRU-SINGH aus Indien
INHALT
Nachricht aus London
Ein rätselhafter Fund
Die himmelblauen Schuhe
Prinz Tschandru-Singh
Die Legende vom König der Verfolgten
Abenteuer in der Macchia
Nächtliches Gespräch
In der Turmburg
Ein verhängnisvoller Schuß
GG in Gefahr
II professore tedesco
Heimliche Verabredung
Nachtmarsch
Gavinus Mutter
Die Rache der Verfolgten
Der Weg zur Höhle
Überfall
Wohin, Gavinu?
Die singende Stimme
GG in Sorge
Neunauges bester Griff
List gegen List
Im Teufelskreis
Auge in Auge
Das Geheimnis der Insel
Wort- und Sacherklärungen
Wir danken allen, die uns auf Sardinien halfen, das
Wesen des Landes und seiner Menschen zu verstehen
Nach den fünfunddreißig Minuten Aufenthalt in Karatschi, Ankunft 14.45, Abflug 15.20, sah auf einmal alles ganz anders aus.
Sie waren mit einer viermotorigen Maschine vom Typ Argonaut (Majestic-Klasse) der B.O.A.C. morgens 8.30 Uhr von Singapur, am andern Morgen um dieselbe Zeit von Colombo auf Ceylon abgeflogen. Die nächste Station, an der das Flugzeug niederging, war Karatschi. Fünf Minuten, ehe sie von dort weiterflogen, war ihnen ein dicker Brief in einem großen Umschlag hereingereicht worden. Das Schreiben hatte eine Constellation mitgebracht, die am gestrigen Tage in London, 13.00 Uhr, abgeflogen und flugplanmäßig, auf die Minute genau, 15.15 Uhr in Karatschi angekommen war. Sie hatten erwartet, die genauen Unterlagen für das Unternehmen, zu dem sie aus Malaya aufgebrochen waren, in Rom vorzufinden; sie hatten bis jetzt nur gewusst, dass sich fünf von ihnen nach Sardinien begeben würden, da ihr sechster Mann, der Franzose Cyprian Bombardon (Spitzname: Neunauge), nun endgültig entschlossen war, sich von ihnen zu trennen, um in Paris den Traum seines Lebens zu verwirklichen. Den Präsidenten der Londoner Gesellschaft Ubique Terrarum, in deren Diensten sie standen, hatten sie telegraphisch unterrichtet, mit welcher Maschine sie Singapur verließen, und er hatte ermittelt, dass er sie mit seinem Brief noch im Flughafen der Hauptstadt Pakistans erreichen konnte – und nun erfuhren sie jetzt schon, was sie auf der geheimnisvollsten Insel Europas erwartete.
Die sechs Männer hatten in dem großen Flugzeug, das über vierzig sehr bequeme Sitzplätze verfügte, den Salon im Heck der Maschine ganz für sich allein. Denn zu diesem Flug waren keine anderen Gäste als sie zugelassen worden; außer der üblichen Besatzung flogen nur noch einige Ingenieure der Fluggesellschaft mit, die einen neuen Motor zu überwachen hatten. Er war noch nicht eingeführt, aber die Fachleute versprachen sich viel von ihm. Außerdem wollten sie eine neue Sprechanlage ausprobieren, durch welche die Reisenden über Städte und Länder, die sie überflogen, kurz unterrichtet werden sollten. Die Sechs saßen nebeneinander auf dem breiten Sofa, welches das Halbrund des Hecks ausfüllte, und da sie den dichten Vorhang des kleinen Salons zugezogen hatten, waren sie ganz ungestört.
Stephan Slanton, der hagere, schweigsame Engländer, rauchte seine Pfeife. Neben ihm, dem ‚Chef’, saß der Deutsche Dr. Peter Geist, den seine Freunde mit dem Spitznamen ‚Großer Geist’ bedacht hatten. Das wurde freilich zu GG abgekürzt, weil es sonst zu anspruchsvoll geklungen hätte. Er hatte den Brief, der aus London gekommen war, geöffnet vor sich auf dem Tisch liegen, und es war an ihm, das Wort zu führen. Alle sahen auf ihn – der französische Arzt Gaston de Montfort, den sie nur „den Grafen“ nannten, der junge Inder Tschandru-Singh, der bereit war, für Sahib GG durch flammende Feuer zu gehen, der Ire Plumpudding, der für den Chef zu sorgen hatte – selbst Neunauge blickte auf GG, obwohl er sich in Gedanken sagte: ‚Das geht dich alles nichts mehr an. Du fliegst nach Paris. Sollen sie sehen, wie sie ohne dich fertig werden.’
Die Maschine flog in 2000 Meter Höhe über den Mekran, die steppen- und wüstenhafte Küste des südwestlichen Belutschistan. Aber die Sechs waren in Gedanken auf Sardinien und in Paris.
„Es handelt sich also um folgendes“, sagte GG. „In Prinieri –“
„Wo liegt das?“, unterbrach ihn der Chef.
„An der sardinischen Westküste.“
Der Chef gab ein befriedigtes Knurren von sich und rauchte weiter.
„In Prinieri hat der Professor William C. Spears den Sommer zugebracht, übrigens mit seiner Frau. Er ist Botaniker und hat dort Pflanzen gesammelt, wozu er weite Wanderungen ins Innere unternahm. Von einem dieser Ausflüge ist er nicht zurückgekommen.“
„Verunglückt?“, fragte der Chef.
„Ermordet?!“, rief Neunauge. Die Sache ging ihn ja nichts an aber er hatte sich doch nicht zurückhalten können.
„Oder verschleppt“, sagte GG. „Was mit ihm geschehen ist, weiß man nicht. Niemand hat von ihm wieder etwas gehört.“
„Verstehe nicht, was wir da sollen“, knurrte der Chef. „Sache der Polizei.“
„Zweifellos hätte die Polizei schon ihre Pflicht getan“, antwortete GG, „wenn sie von dem Vorfall benachrichtigt worden wäre.“
„Polizei weiß nichts davon?! Schöne Zustände da!“ Der Chef bemerkte das recht unwillig.
„Als Frau Spears nach dem Verschwinden ihres Mannes, über das sie sich noch nicht beunruhigt hatte, denn er blieb öfters länger fort, an ihre Wäschekommode ging, fand sie unter ihren Taschentüchern einen verschlossenen Brief, der an sie adressiert und von ihrem Mann geschrieben war. Sie riss ihn auf und las diese Zeilen.“
GG nahm den Brief aus London wieder in die Hand und las vor: „Wenn ich nicht zurückkommen sollte, gehe auf keinen Fall zur Polizei. Sprich zu niemand davon. Sage, ich sei für einige Zeit nach Cagliari gefahren. Benachrichtige aber sofort Ubique Terrarum in London.“
„Meine Herren“, tönte eine Stimme aus dem Lautsprecher, „wir überqueren jetzt den Golf von Oman. Links können Sie den Dschebel Achdar sehen. Die Halbinsel Oman ist als Faltengebirgsland ein Fremdkörper im arabischen Schollenlande und wird vom Kalkgebirge Hadschar durchzogen, das im Dschebel Achdar gipfelt, 3.020 Meter hoch.“
Niemand der Sechs interessierte sich für den Berg. ‚Sechs Expeditionen habe ich mit dem Team mitgemacht’, dachte Neunauge. ‚Ein gutes Essen ist etwas wert, das weiß ich als Koch. Aber deswegen muss man nicht bei jedem Festessen dabei sein!’
„Der Professor hat also damit gerechnet, dass ihm etwas passiert“, sagte der Graf.
„Wenn er mit einem Unglücksfall rechnete“, überlegte der Chef laut, „dann wäre es unsinnig, statt der Polizei London zu benachrichtigen. Für jemand, der irgendwo verunglückt liegt, kämen wir doch viel zu spät.“
„Mir scheint“, meinte der Graf, „er hat auch nicht an seine Ermordung gedacht – denn für einen Toten wäre es ziemlich gleichgültig, ob ihn die Polizei findet oder wir sechs –, vielmehr wir fünf, entschuldige bitte, Neunauge!“
„Ich denke auch“, sagte GG, „er hat die Möglichkeit gesehen, verschleppt zu werden, und wir sollen ihn befreien.“
„Wer verschleppt da?“, fragte der Chef.
„Im Innern der Insel, in der unzugänglichen Macchia, leben Verfolgte“, erklärte GG.
„Banditen?“
„Ursprünglich keine Räuber. Auf Sardinien herrscht noch das Gesetz der Blutrache. Wer aus Rache einen andern tötet, verschwindet aus dem Dorf und verbirgt sich in der Macchia.“
„Eine einfache Methode, das muss man zugeben!“, sagte der Graf.
„Unerhörte Zustände! Und die Polizei lässt sich so etwas gefallen?!“
‚Man ist ja schließlich nicht dazu da, sich mit Leuten herumzuschlagen, die vermutlich weder lesen noch schreiben können’, dachte Neunauge. ‚Es gibt in der zivilisierten Welt Aufgaben genug.’
Der Chef beharrte in der Beurteilung der Verhältnisse in Sardinien auf seinem Standpunkt: „Offenbar funktioniert die Polizei nicht!“
„Es ist dort besser, Chef, wenn sie nicht eingreift“, antwortete GG. „Wenn sie nämlich meldet, sie habe in einem Falle die Untersuchung oder die Verfolgung aufgenommen, so ist bestimmt damit zu rechnen, dass sofort ein paar unheilvolle Schüsse fallen – womit die Banditen nur anzeigen, dass sie noch da sind!“
„Nehmen Sie es mir nicht übel, GG“, sagte der Graf, „ich finde das ungemütlich. Im Dschungel bin ich gern bereit, von einem vergifteten Pfeil getroffen oder von einer wütenden Schlange angefallen zu werden. Das eine wie das andere passt dahin. Aber mitten im zivilisierten Europa von einem unsichtbaren Banditen beseitigt zu werden, das scheint mir stillos.“
„Glauben Sie mir, Graf, die Männer haben ihren Stil!“, war GGs Antwort. „Im allgemeinen geschieht Fremden gar nichts. Die blutigen Fehden, die seit Generationen zwischen den Familien ausgefochten werden, gehen nur die Nächstbeteiligten etwas an. Wenn Sie Ihre Nase da nicht hineinstecken, tut Ihnen niemand etwas.“
„Wollen Sie mir bitte verraten, GG, wie wir den verschwundenen Professor ausfindig machen sollen, ohne unsere Nasen in ziemlich dunkle Dinge stecken zu müssen?“
„Da haben Sie allerdings recht“, sagte GG.
„Sehe ein, dass die Polizei ziemlich machtlos ist, wenn alles so liegt, wie Sie es beschreiben“, sagte der Chef. „Sehe aber nicht ein, dass die Bevölkerung solche haarsträubende Unordnung duldet. Wie viele Einwohner hat die Insel, GG?“
„Ich denke, etwa 1,2 Millionen.“
„Und wie viel Verfolgte leben in den Bergen?“
GG zuckte die Achseln.
„Mehr als hundert?“
„Nein“, antwortete er. „Vielleicht zehn.“
„Also nur 0,0001 Prozent! Und von dieser winzigen Zahl lässt sich die große Mehrheit drangsalieren?!“
„Sie vergessen, Chef, dass alle Dörfer im Inneren des Landes unter dem unerbittlichen Gesetz der vendetta, der Blutrache, stehen! Keiner wagt, einen Verfolgten zu verraten. Denn zusätzlich herrscht die omertà. Eine eigenartige Mischung aus Landesstolz, halbem Mitwissertum und Angst. Das ist bei ihnen noch schlimmer als auf Sizilien. Wer einen Verfolgten der Polizei verrät, weiß, dass sein Name 24 Stunden später an der Kirchenmauer seines Ortes geschrieben steht – und das heißt, er ist von den Unsichtbaren zum Tode verurteilt. In Muona, einem gefürchteten Ort, waren einmal die Namen von sieben Männern zu lesen. Von ihnen lebt nur noch einer – er ist nämlich rechtzeitig nach Italien geflüchtet.“
„Und das reißt nicht ab?“
„Nein. Wer die Rache der Verfolgten zu fürchten hat, kann sich nur durch die Flucht aus dem Bann der Insel retten. Ein Carabiniere dachte, er würde vielleicht durch einen Friseur etwas über gesuchte Banditen erfahren. Er konnte sich aber nicht mit ihm irgendwo treffen – dann wäre der Friseur schon erledigt gewesen. Also ging der Carabiniere erst einmal täglich zu ihm in den Laden und ließ sich rasieren. Das genügte. Während ihn der Friseur einseifte, wurde der Mann im weißen Kittel erschossen. Die Verfolgten fürchteten, er könne zuviel erzählen. Jetzt war der Bruder des Friseurs daran, den Ermordeten zu rächen – aber vorsorglich wurde auch er erschossen, ehe er sich eine Waffe besorgt hatte. Der jüngste Bruder wartete nicht so lange: er verschwand sofort von der Insel.“
„Es gibt dort also zwei Arten von Verfolgten“, sagte der Graf. „Vor den Carabinieri flüchten die Verfolgten in die Macchia, und vor der Rache der Verfolgten muss man von der Insel flüchten.“
„So ist es – denn selbst hinter den Gitterfenstern des Gefängnisses ist der Verräter nicht sicher – wer zu redselig ist, den macht auch dort noch ein Stoß mit der leppa stumm. Wenn die Polizei etwas erfahren will, so setzt sie als Spitzel keine Sarden ein, sondern Italiener vom Festland – ‚Ausländer’, wie die Einheimischen sagen.“
„Wirklich charmant“, sagte der Graf. „Ich habe den Eindruck, diese schweigsamen Bergbewohner freuen sich geradezu darauf, dass wir fünf da erscheinen, um einmal Ordnung zu schaffen.“
‚Wir fünf!’ dachte Neunauge böse. ‚Was habe ich für unser Team nicht alles getan – aber der Graf schreibt mich einfach ab… Na ja, von Dankbarkeit bekommt keine Suppe Fettaugen. Das weiß man. Aber man vergisst’s immer wieder.’
In dem Augenblick wich die Tageshelle dem plötzlich einfallenden Dunkel der Nacht, und wie von selbst leuchtete das indirekte Licht des kleinen Salons auf.
„Um alles richtig zu verstehen“, führte GG weiter aus, „muss man noch etwas wissen. Der einfache Sarde ist ein Mann von einem leidenschaftlichen Stolz und Unabhängigkeitsgefühl. Im Richter und Polizisten sieht er den bezahlten Schurken, der die Mächtigen verteidigt und die Schwachen verfolgt. Ein junger Mann hatte einmal einen Gutsbesitzer niedergeschossen, weil er sich von ihm beleidigt glaubte. Der Mörder wurde von den Carabinieri verfolgt und flüchtete in ein Gehöft, das dem Sohn des Mannes gehörte, den er selbst getötet hatte. Der Sohn und alle seine Knechte verrammelten das Tor gegen die Carabinieri und sorgten dafür, dass der Verfolgte entkam – und dann erst setzte der Sohn ihm nach, fand und erschoss ihn. Das ist, was die Sarden die ‚giustizia de balla’ nennen: die Gerechtigkeit der Kugel!“
„Großer Gott“, sagte der Graf. „Wir haben uns offenbar einen falschen Kalender gekauft. Wir leben nicht im 20. Jahrhundert, sondern frühestens Anno 1052, und es ist ein Irrtum, dass wir in einer Argonaut Majestic mit einer Reisegeschwindigkeit von 200 Knoten über den Persischen Meerbusen rasen!“
„Meine Damen und Herren“, schnarrte die mechanische Stimme eines Tonbandes im Lautsprecher, „in 25 Minuten landet die Maschine auf der Insel Bahrein. Sie ist der Mittelpunkt des Perlenhandels und seit 1932 Sitz der Bahrein-Petroleum-Company, einer britischen Firma, die in Kanada eingetragen und eine Tochtergesellschaft der Kalifornischen Standard Oil Company und der Texas-Company ist. Ankunft 20.25, Weiterflug 21.10.“
„Sie haben recht, Graf“, sagte GG. „Im Innern Sardiniens ist die Zeit stillgestanden. Die Sarden leben mit uns und zugleich in einer anderen Welt. Sie sind misstrauisch und verschlossen. Es heißt, der Sarde lächelt nie. Er richtet sich nach Gesetzen, die niemals aufgeschrieben oder gedruckt wurden. Er hat sie im Blut.“
„Mir ist das unheimlich, einfach unheimlich“, sagte der Graf. „Ich will’s Ihnen nicht verschweigen, Herrschaften: mir ist bei der ganzen Geschichte nicht wohl.“
‚Aha’, dachte Neunauge, ‚kalte Füße! Also doch! Ohne mich fühlt er sich den Gefahren nicht gewachsen! Ich war ja auch immer um ihn. Allein hat er nie einen Schritt getan!’
Die Maschine war gelandet, die Männer wollten während der kurzen Pause im Licht der Scheinwerfer auf dem Flugplatz etwas auf und ab gehen, aber als sie aus der Tür auf die fahrbare Treppe traten, traf sie die heiße Luft wie ein Faustschlag, und sie gingen rasch in das Flugzeug zurück, dessen Klimaanlage auf eine angenehme europäische Temperatur eingestellt war. Die Stewardess fragte, ob sie ihnen ihre Sesselplätze nicht zum Schlafen richten lassen solle. Aber sie dankten. Sie konnten jetzt nicht schlafen. Als die Argonaut wieder stieg, saßen sie wie zuvor auf dem Sofa des hell erleuchteten Hecksalons. Die Aufgabe, die vor ihnen lag, hatte die fünf gepackt und ließ sie nicht wieder los. Dass es dem sechsten nicht anders ging, wollte er vor sich selbst nur nicht wahrhaben.
„Sache sieht also folgendermaßen aus“, begann der Chef. „Der Professor ist verschwunden, vermutlich verschleppt. Sollen ihn finden. Sollen ihn befreien. Hilfe der Polizei darf nicht in Anspruch genommen werden. Von den Einheimischen ist keine Unterstützung zu erwarten. Sehen im Ausländer sowieso schon einen Spion der Polizei. Niemand darf überhaupt wissen, dass wir den Professor suchen. Im Augenblick, wo das bekannt wird, sind wir der unsichtbaren Kugel ausgesetzt.“
„Die aber für den Arzt, der unsere Todesursache festzustellen hat, schön sichtbar ist, wenn er sie in der Herzkammer vorfindet“, setzte der Graf hinzu.
„Kennen Sie den Ort, um den es sich handelt?“, fragte der Chef. GG nickte und breitete die große Karte von Sardinien aus, die mit den Unterlagen von London geschickt worden war. Er zeigte auf den westlichen Zipfel der Insel. „Hier sehen Sie Alghero“, sagte er, „mit seinem Flughafen Fertilia, und hier haben Sie Prinieri. Das ist ein reizender kleiner Ort unmittelbar an der Küste. Eine Viertelstunde südlich liegt das Luxushotel Miramare, auf einem Hügel, mit einem wundervollen Blick auf das Meer. Italienische Millionäre, reiche Engländer, die der Riviera überdrüssig sind, halten sich hier gern auf. Jetzt im September ist die Saison natürlich längst vorüber. Und hier“ – er zeigte auf eine Stelle mehr im Innern des Landes – „liegt Muona, das gefährliche Nest, von dem ich Ihnen schon sprach. Die Männer von Muona sind sehr gefürchtet. In dem Dorf sind durch die Blutrache ganze Familien ausgestorben. Wenn einer sagt: ‚Ich bin von Muona’, dann wird es still. Denn jeder weiß, dass der Mann sich durch einen schiefen Blick schon beleidigt fühlt. Für jeden Sarden wird eine Beleidigung nur durch Blut abgewaschen, aber in Muona handelt man besonders rasch. Als ich Sardinien besuchte, ist dort folgendes passiert. Ein Auto, in dem drei Männer saßen, wurde plötzlich unter Feuer genommen. Der Fahrer und der Mann neben ihm waren sofort tot, der Dritte nur verwundet. Aber als die Schützen an den Wagen traten, stellte er sich tot, um nicht noch eine Kugel abzubekommen. Er hörte, wie einer von den Kerlen zu den andern sagte: ‚Hol’s der Henker, das sind ja die Falschen! Wir haben uns ja versehen! (Abbiamo sbagliato!)’ So ist das in Muona!“
Der Graf räusperte sich und nahm das Wort. „Der Chef bemerkte, niemand dürfe wissen, dass wir den Professor suchten. Schön. GG bemerkte, dass die Saison vorüber sei. Noch schöner. Und da glauben Sie, es fiele nicht auf, wenn wir sechs Mann hoch – entschuldige, Neunauge, ich meine natürlich, wenn wir fünf Mann stark in dem kleinen Ort einziehen und nach den Spuren suchen, die der Professor hoffentlich hinterlassen hat! Herrschaften, das ist doch ganz unmöglich! In solch einem kleinen Nest, wo niemand etwas zu tun hat, sind wir nach 24 Stunden schon geliefert!“
„Wenn sich Frau Spears an die Weisung gehalten hat, die ihr Mann hinterließ, hat sie niemand etwas davon gesagt, dass der Professor vermisst wird“, wandte GG ein.
„GG, ich bitte Sie um alles in der Welt“, fragte der Graf eindringlich, „wenn die Verhältnisse auf der Insel so reizend sind, wie Sie das schilderten, und ich zweifle keinen Augenblick daran, glauben Sie da wirklich, dass die Einheimischen nicht schon längst wissen, dass mit dem Professor etwas passiert ist, auch wenn die fremde Dame zu keinem nur ein einziges Wort gesagt hat?!“
„Darin werden Sie recht haben“, gab GG zu.
„Der Mann muss gefunden werden“, sagte der Chef so entschieden, als seien mit dem bloßen Entschluss schon alle Schwierigkeiten überwunden.
„Habe ich nicht auch damit recht“, sagte der Graf eigensinnig, „dass es geradezu albern ist, wenn wir dort geschlossen anrücken? Womit wollen wir denn den misstrauischen Leuten unsere Anwesenheit überhaupt begründen?!“
„Müssen einzeln kommen. Tropfenweise. Machen Sie Vorschläge, GG. Kennen die Lage dort.“
GG überlegte eine gute Weile und brachte dann seine Meinung vor. „Vielleicht ginge es so: Sie, Chef, fliegen mit Plumpudding von Rom aus nach Alghero, nehmen sich dort ein Auto und suchen Frau Spears auf. Dass diese Engländerin von einem Landsmann besucht wird, scheint mir nichts Ungewöhnliches zu sein. Frau Spears wohnt nun schon länger als vier Monate dort, sie spricht fließend italienisch – sie wird Ihnen beiden sicher eine Unterkunft im Ort vermitteln können. Sie, Graf, fahren von Civitavecchia aus mit dem Schiff nach Olbia, nehmen dort den Autobus, fahren quer über Land nach Prinieri und quartieren sich im Hotel Miramare ein. Wenn Sie dort verlauten lassen, dass Sie als Arzt sich nach einem geeigneten Fleck umsehen, an dem Sie wohlhabende Patienten unterbringen können, werden Sie Mühe haben, sich den Ehrungen zu entziehen, die man Ihnen erweisen wird. Jetzt wären also nur noch Tschandru-Singh und ich unauffällig unterzubringen.“
„Was nicht ganz leicht sein dürfte“, bemerkte der Graf. „Wieso kommt ein Sohn Indiens nach Sardinien? Tut mir leid, GG – aber schon durch diesen ungewöhnlichen Begleiter sind Sie dort einfach unmöglich!“
In dem Gesicht des jungen Inders veränderte sich keine Miene. Aber aus dem Blick seiner dunklen Augen sprach ein tiefer Schrecken. Als ihn GG nach den erregenden Abenteuern in Malaya aufforderte, sie nach Europa zu begleiten, hatte er sich für den glücklichsten Menschen gehalten, denn für ihn gab es nichts Höheres, als mit den europäischen Herren und dem verehrten Sahib zusammen zu sein – und jetzt erwies es sich, dass er für ihn nur ein Hindernis war, dass er ihm das schwierige Vorhaben, das die Gruppe zu bewältigen hatte, nur noch weiter erschwerte.
„Oh Sahib“, sagte er leise, „ich bin dir im Wege!“
GG empfand mit ihm. Er wusste, was es für Tschandru-Singh bedeutete, sich von ihm und den Gefährten trennen zu müssen. Es bedrückte ihn, dass er in dem jungen Menschen so große Hoffnungen erweckt hatte und ihn nun so bitter enttäuschen sollte. Aber etwas anderes beunruhigte ihn ebenso stark. Was war nur mit dem Grafen? Noch nie hatte er an ihm erlebt, dass er allem widersprach, dass er von der Gefährlichkeit ihres Unternehmens nicht loskam, dass er nur Schwierigkeiten sah. In wie viele beängstigende Lagen waren sie schon geraten, und stets hatte der Graf sich durch seinen heiteren Gleichmut bewährt, ja er hatte ihnen durch seine elegante Haltung oft über das Schwerste hinweggeholfen – und jetzt schien er vor der sardinischen Unternehmung geradezu Angst zu haben!
Tschandru-Singh verstand GGs Schweigen falsch. Er dachte, der Sahib wolle nicht aussprechen, was jetzt gesagt werden musste. Er sah es als seine Pflicht an, dem Sahib diese Peinlichkeit zu ersparen. „Oh Sahib“, sagte er, „lass mich aussteigen, wenn die Maschine wieder hält. Kümmere dich nicht mehr um mich, du hast an anderes zu denken. Du musst an den gelehrten Pandit denken, den du befreien sollst. Ich steige aus. Ich gehe fort. Ich bin nicht mehr da, und es wird sein, als wäre ich gar nicht dagewesen.“
In seiner tiefen Bewegung hatte er nicht englisch gesprochen, sondern in seinem heimischen West-Hindhi, das nur GG verstand. Aber der Ton seiner Worte war so unsäglich traurig, dass es allen ans Herz griff. Neunauge bemühte sich, nur an den Pariser Prachtbau zu denken, den er errichten lassen wollte; Plumpudding stopfte noch immer an einer neuen Pfeife für den Chef herum, obwohl er den Tabak schon längst festgedrückt hatte. Der Chef sah starr geradeaus, als habe er überhaupt nichts vernommen – und der Graf begann wieder mit seiner ganzen Lebhaftigkeit zu reden.
„Gar keine Frage, GG, unser guter Tschandru-Singh ist an sich die dünnste Stelle in unsrer Kette, und wir wissen, eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Aber ich habe eine Idee. Eine großartige Idee. ‚Zieh Kraft aus deiner Schwäche’ – das ist eine gute alte Regel. GG, Sie gehen mit Tschandru-Singh in das Luxushotel. Aber Sie geben ihn als jungen Maharadscha aus. Sie sind sein europäischer Erzieher, der ihn auf einem Europatrip begleitet. Damit ist Ihrer beider Gegenwart in Prinieri völlig erklärt, und niemand kann auf den Gedanken kommen, dass Sie sich in Wahrheit um den verschwundenen Mister Spears kümmern!“
„Graf!“, brachte der Chef heiser heraus, „Graf –“ Er wollte etwas ganz anderes sagen. Er wollte bewundernd bemerken, dass sein Vorschlag ganz ausgezeichnet war, dass dieser Einfall für das schwierige Unternehmen die besten Möglichkeiten bot. Aber er brachte das nicht über seine Lippen. Er war ein Mann, der keineswegs gefühllos war; aber er besaß nicht die Gabe, sein Gefühl zu äußern.
„Meine Pfeife, Plumpudding“, sagte er, nahm sie entgegen und setzte sie in Brand, wobei Plumpudding das Streichholz hielt. „Jetzt alles klar“, fuhr er fort. „Komme mit Plumpudding zuerst in das Nest. Suche die Dame auf. Engländerin. Also keine Schwierigkeit mit der Verständigung. GG bleibt mit Tschandru-Singh erst in Rom. Stattet ihn als Maharadscha aus. Nicht unter zehn Koffern, GG!“
„Schrankkoffer, GG!“, warf der Graf dazwischen.
„Maharadscha mit Erzieher trifft etwa acht Tage nach mir ein. Vorher kommt Graf mit Autobus, geht auch in das große Hotel. Sehen uns, kennen einander aber nicht.“
„Ich würde jedoch großen Wert darauf legen, die Bekanntschaft eines Maharadscha zu machen“, sagte der Graf. „Dass ich da zuerst mit seinem Erzieher anbändle, wird jedermann, vom Empfangschef bis zum letzten Liftboy, für das einzig richtige halten; eine Begegnung mit einem so zahlungsfähigen Patienten nicht auszunutzen, würde bei ihnen die Vorstellung erwecken, ich sei absolut untüchtig.“
Er wandte sich an Tschandru-Singh: „Haben Hoheit vielleicht besondere Wünsche?“
Der junge Inder wusste nicht, wie ihm geschah. Eben hatte er ein trostloses Schicksal vor sich gesehen. Die nächste Station war Bagdad. Dort hätte er das Flugzeug verlassen und sehen müssen, wie er sich in der fremden Stadt, unter dem fremden Volk durchschlagen konnte. Es gab freilich überall indische Händler und Kaufleute, und er wäre vielleicht auch bei dem einen oder anderen untergekommen – aber was war das schon gegen die Sahibs, die er verließ … Und jetzt durfte er bleiben – jetzt war er ihnen wichtig – jetzt konnte er ihnen wirklich helfen! Aber welche verwirrenden Aussichten: Wie ein Maharadscha sollte er leben! Er, der ein armer, verachteter Unberührbarer gewesen war, den die Sahibs aus dem größten Elend erlöst hatten, der dank ihrer Vermittlung Englisch und Lesen und Schreiben gelernt hatte – er sollte nun wie ein Fürst auftreten …
„Hoheit dürfen nie vergessen“, sagte der Graf, „dass ein deutscher Pandit, ein gewisser GG, von nun an Ihr ergebener Diener ist! Dass er von Ihrem Wohlwollen abhängt, dass Hoheit ihm zum nächsten Ersten kündigen können, wenn seine Nase Eurer Hoheit nicht mehr gefällt oder wenn er Eurer Hoheit irgendwelche Schwierigkeiten macht!“
Voll ehrlichem Entsetzen sah Tschandru-Singh auf GG. „Oh Sahib“, sagte er, „wie kann ich dir befehlen, wo du mein Sahib bist!“
„Tschandru-Singh“, erwiderte GG, „als du unser Diener warst, wurdest du unser Freund. Jetzt bist du der große Sahib, und ich bin dein Diener. Aber immer bleiben wir Freunde.“
„Oh Sahib, niemals kann ich dir befehlen!“
„Es ist schwerer, befehlen zu müssen, als gehorchen zu dürfen, Tschandru. Aber du musst es lernen.“
„Weil du es sagst, Sahib, muss ich mich bemühen, es zu lernen.“
„So wäre alles wieder im Geleise“, sagte der Graf. „Der Chef reist mit Plumpudding, GG reist mit Tschandru-Singh, vielmehr Tschandru-Singh mit GG, Neunauge lässt in Paris sein Etablissement erbauen, in dem für Leute mit wohlgefüllten Brieftaschen alle Gerichte zu bekommen sind, welche die Feinschmecker dieser Erde ersonnen und komponiert haben – und ich reise mutterseelenallein durch Sardinien. So hatten wir uns das ja wohl auch immer gedacht.“
„Herr Graf“, sagte Neunauge düster, „wenn es Ihnen gefällt, mich als einen herzlosen Menschen hinzustellen, so will ich Ihnen das Vergnügen nicht nehmen. Ich gebe zu, es ist der Traum meines Lebens, der Weltstadt Paris etwas zu geben, das noch keine Stadt der Welt besitzt. In diesem meinem Prachtbau wird es so viele Säle und Salons geben, wie die Erde Kulturvölker hat. Jeder Raum wird einem Volk gewidmet und in dessen Stil eingerichtet sein, und in jedem wird man die feinsten Gerichte bekommen, welche die Kochkünstler des betreffenden Landes geschaffen haben, und ich bin überzeugt: das wird die Völker dieser Erde einander mehr nähern als andere Bemühungen, die mit dem gleichen Ziele unternommen werden. Das ist mehr als ein Lebenstraum. Es ist eine Lebensaufgabe. Aber, Herr Graf, wenn Sie glauben, ich könne ruhig in Paris sitzen, während Sie ohne jeden Schutz sich den Mördern einer offenbar verfluchten Insel ausliefern, dann irren Sie. Ob Sie wollen oder nicht, Herr Graf – ob Ihnen das recht ist oder nicht: ich lasse Sie nicht allein durch Sardinien reisen. Ich muss meinen Pariser Plan eben noch aufschieben. Ich kann mich ihm erst widmen, wenn Sie diese Unglücksinsel gesund verlassen haben.“
„Es ist schrecklich mit dir, Neunauge“, antwortete der Graf. „Anstatt mich meinem Schicksal zu überlassen, machst du mich dafür verantwortlich, dass die Menschheit auf ein wahres Weltwunder noch länger warten muss. Aber wenn du unbedingt durch Sardinien reisen willst – ich kann dich daran nicht hindern.“
„Meine Herren“, erklang es aus dem Lautsprecher, „in 15 Minuten Landung in Bagdad. Ankunft 23.20 Uhr. Weiterflug 0.05 Uhr. Wir empfehlen Ihnen, sich mit eingeborenen Händlern nicht einzulassen. Vor Taschendieben wird ausdrücklich gewarnt.“
Jetzt hatten die sechs Männer nichts mehr dagegen, dass ihre Sessel zum Schlafen hergerichtet wurden. Ehe sie sich dann legten, flüsterte der Graf GG zu: „Wissen Sie, ich bin überzeugt, in Sardinien ist es nicht so gefährlich wie in den verdächtigen Vierteln New Yorks oder Londons. Aber ich musste ein bisschen übertreiben. Ich musste Neunauge eine Brücke bauen. Er wäre in Paris todunglücklich gewesen. Er ist nicht der einzige Mensch, der von dem Irrtum lebt, unentbehrlich zu sein.“
Während die Männer schliefen, raste die Maschine auf die Minute genau auf ihrem Weg durch die Luft. Damaskus an 1.35 Uhr, Damaskus ab 2.10 Uhr. Nicosia auf Zypern an 3.50 Uhr, Nicosia ab 4.05 Uhr. Auf dem römischen Flugplatz Urbe kamen sie, wie es der timetable vorsah, fünf Minuten vor zehn Uhr morgens an.
Der Chef sprach nur englisch, Plumpudding zwar außerdem seine irische Muttersprache, aber das konnte ihnen ja nicht weiterhelfen, als sie das Auto verlassen hatten, das sie vom Flughafen in Alghero nach Prinieri gebracht hatte. Doch der Chef wusste sich zu helfen. Er suchte das ufficio postale auf, das Postamt des Ortes, schrieb den Namen Spears in Großbuchstaben auf einen Zettel und hielt ihn der diensttuenden Beamtin vor die Nase. Sie rief einen kleinen barfüßigen Jungen, einen schwarzen Lockenkopf mit strahlenden Augen, deren Glanz in einem auffallenden Gegensatz zu seinem zerlumpten Hemd und den Hosenresten stand, die er trug. Nachdem ihm die impiegata in einem wasserfallähnlichen Wortschwall klargemacht hatte, wohin er die Herren zu bringen hätte, zog der winzige Fremdenführer mit den beiden Männern los. Er brachte sie erst ein Stück die Hauptstraße entlang, bog in eine Nebenstraße ein, die stark anstieg, und lotste sie darauf in einen schmalen Gang, der zwischen sehr alten Häusern hindurch lief. Sie durchschritten ihn, und dann lag ein einstöckiges, längliches weißes Haus vor ihnen, auf das der Junge stumm wies. Plumpudding gab ihm ein Zehnlire-Stück, um das sich die kleine Hand sofort zu einer festen Faust schloss. Ohne ein Wort zu äußern, rannte der Junge davon. Aber aus dem engen Gang schrie er mit schriller Stimme zurück: „Inglesi! Inglesi! Inglesi!“
Das Haus unterschied sich in seiner Bauart nicht von denen des Ortes und fiel nur dadurch auf, dass es tadellos weiß gekalkt war. Die Fenster zur Straße waren durch blaue Läden geschlossen. Aber die Tür der hohen Gartenmauer öffnete sich durch den Druck auf die Klinke.
Der Garten, durch den der Chef und Plumpudding schritten, sah mager aus. Zwei Steineichen wuchsen aus dem sandigen Boden. In dürftigen Beeten wurden ein paar Stauden, Zinnien und Herbstastern, anscheinend nur mit Mühe durchgebracht.
Der Chef klopfte an der Haustür, nachdem er sich vergeblich nach einer Klingel umgesehen hatte. Eine hochgewachsene, schlanke Dame öffnete. Sie war jung, höchstens Anfang der dreißig; ihr kurzgeschnittenes blondes Haar umgab ein sonnengebräuntes Gesicht. Sie trug eine lange Hose aus bastfarbener Schantungseide und eine ebensolche Bluse, die bequem geschnitten war.
Der Chef, der seine Mütze abgenommen hatte, stellte sich vor. „Slanton“, sagte er, und auf Plumpudding weisend, „Mister Cromby. Nehme an, wir haben die Ehre, mit Frau Spears zu sprechen.“
„Sind Sie Onkel Stephan?“, fragte die Dame.
Der Chef verstand sie nicht. „Heiße allerdings Stephan“, erwiderte er etwas zögernd.
Sie holte ein zerknittertes Telegramm aus ihrer Hosentasche und gab es ihm. „Eintreffe sobald wie möglich“, las er. „Hoffe mich bei euch gut zu erholen. Onkel Stephan.“ Es war in London aufgegeben worden.
Der Chef begriff. Mit dieser Nachricht hatte ihn die Company Ubique Terrarum hier in Prinieri unauffällig eingeführt. Ein Onkel, der zu Besuch kam, musste unverdächtig erscheinen.
„Ist in Ordnung“, sagte er.
„Gott sei Dank, dass Sie da sind!“, rief sie aus. „Sie glauben nicht, wie sehr – bitte, kommen Sie herein!“
Sie führte ihre Gäste auf eine überdachte Terrasse hinter dem Haus, die so lang wie das ganze Gebäude war. Die Aussicht, die sich von ihr bot, verschlug den Besuchern den Atem: über den Hang weg, an dem Prinieri lag, blickte er auf die unendliche Weite des kobaltblauen Meeres. Der Sturm, der in der Nacht getobt hatte, wütete nicht mehr; aber noch immer wehte ein lebhafter Westwind und trieb das Wasser in schönen, lang hinrollenden Wellen mit großen Schaumkämmen gegen den Strand. Ihr Rauschen hallte bis hier oben herauf. Die Sonne schien, wurde aber durch die vorüberjagenden Wolken immer wieder verdeckt; so war die Wärme erträglich.
„Gott sei Dank, dass Sie da sind!“, sagte Frau Spears wieder. „Ich weiß nicht, wer Sie sind, was Sie vorhaben und wie Sie mir helfen können – aber mein Mann – dass ich mich an Sie wenden sollte, war das Letzte, was ich von ihm gehört habe.“
„Wir kommen direkt aus Singapur.“
„Lieber Himmel, von so weit – da können Sie ja gar nicht wissen –“
„Doch, Madam. Wir sind genau unterrichtet.“
Sie saßen in den Korbsesseln, die auf der Terrasse standen. Der Chef legte der jungen Frau die Papiere vor, mit denen er sich als Beauftragter der Londoner Company, an die sie sich um Hilfe gewandt hatte, ausweisen konnte, aber sie beachtete die Dokumente gar nicht. Froh, endlich über diese unheimliche Begebenheit zu jemand sprechen zu können, erzählte sie in hastigen Sätzen, wie ihr Mann, ohne dass irgend etwas Besonderes zu beobachten gewesen wäre, zu einem seiner alltäglichen Ausflüge aufgebrochen und dann nicht wiedergekommen war und wie sie den Brief gefunden hatte. Der Chef und Plumpudding hörten angespannt zu, aber sie erfuhren dabei nichts Neues. Frau Spears berichtete genau dasselbe, was sie nach London geschrieben und was das Team dann in Karatschi erfahren hatte.
„Seitdem haben Sie keinerlei Nachricht bekommen?“
Frau Spears schüttelte den Kopf. Nichts hatte sie gehört, gar nichts. Sie unterdrückte das Schluchzen, das sie zu überwältigen drohte, aber dass ihr die Tränen in die Augen traten, konnte sie nicht verhindern. „Ich weiß gar nichts von ihm“, flüsterte sie. „Ob er verunglückt ist, ob er überhaupt noch lebt, ob er verschleppt wurde – nichts weiß ich.“
„Nach unseren Erfahrungen ist es unwahrscheinlich, dass Ihr Gatte verunglückte“, sagte der Chef. „Sie kennen sicher die merkwürdigen Sitten dieses Landes besser als wir. Bin der Ansicht, wir können fest damit rechnen, dass diese Verfolgten den Professor geschnappt haben.“ Um ein Haar wäre er fortgefahren: ‚Mit einem Toten ist ihnen nicht gedient’ – aber er drückte sich dann doch anders aus: „Alles muss ihnen daran liegen, ihn am Leben zu erhalten … Aber sagen Sie, Madam: hat man nicht in irgendeiner Form – ich meine, Sie werden gehört haben, dass in ähnlichen Fällen – merkwürdiges Land, nicht wahr? – hat niemand zu Ihnen von einem Lösegeld gesprochen?“
„Ein Lösegeld?“, Nein, niemand hatte sich an Frau Spears gewandt. „Kommt vielleicht noch. Kommt sicher noch!“, sagte der Chef. Aber ihm war dabei recht unbehaglich. Wenn die Kerle, die den Professor überfallen hatten, nicht an Geld interessiert waren – weshalb hatten sie sich dann überhaupt mit ihm abgegeben? Verlangten sie kein Lösegeld, weil sie wussten, dass für einen Erschossenen keins zu bekommen war? Aber warum sollten sie denn einen harmlosen englischen Gelehrten ermorden, der Pflanzen suchte und sich um ihre Familienfehden nicht kümmerte? War er etwa gar nicht in ihre Hände, sondern doch einem Unglück zum Opfer gefallen?
„Wissen Sie, welchen Weg der Professor an dem Tage einschlug, an dem er nicht wiederkam?“
„Ja. Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, denn er hat mir noch beim Frühstück erzählt, wohin er gehen wollte.“
„Könnten wir drei nicht denselben Weg noch einmal machen?“ „Gewiss. Ich bin ja so froh, endlich etwas tun zu können! Wir nehmen uns einen Wagen, fahren nach Muona –“
„Nach Muona? Dem Brigantennest?“
„William sagte immer, die Geschichten über die Männer von Muona seien lächerlich übertrieben. Er ist da sehr oft gewesen.“
„Gut. Also nach Muona.“
Frau Spears schlug ihnen vor, sie sollten bei ihr essen, damit sie nicht erst lange Zeit verlören. Es gäbe nicht viel, aber Brot, Butter, Eier, Schinken und Tee könnten sie sofort haben. Auch die Quartierfrage ließe sich gut erledigen. Signora Concetta Patteri unten im Ort, gleich neben der Kirche, habe schon öfters an Engländer vermietet und nähme sie sicher gern. Es sei einfach bei ihr, aber sauber. Sie könnten nachher gleich zu ihr gehen, wenn sie im Ort sich das Auto bestellten.
„Haben es wirklich herrlich“, sagte der Chef, als sie vom Essen aufstanden und er noch einmal auf das Meer hinaussah.
„Wir waren so glücklich hier“, sagte sie. „Das Haus gehört dem Direktor der Universitätsbibliothek in Cagliari. Er hat es nur als Sommerhaus, um von hier aus auf Jagd zu gehen.“
„Jagd? Auf was?“
„Wildschweine und Wachteln. In diesem Jahr aber konnte er nicht fort, deshalb hatte er es uns ganz überlassen. Vier Monate haben wir hier gelebt, ein Tag war immer noch schöner als der vorhergehende – und jetzt ist es ein solches Unglückshaus geworden!“
„Bringen das bestimmt wieder in Ordnung, Madam!“, sagte der Chef. Aber damit gab er sich sicherer, als er war.
Frau Spears, die sich umgezogen hatte, ging mit ihnen ins Dorf, zuerst zu Signora Patteri, wo sie das Zimmer mieten konnten. Während Plumpudding sich wieder zum Postamt begab, wo er ihr Gepäck gelassen hatte, suchte Frau Spears mit dem Chef Beniamino Sanna auf, einen kleinen Hof- und Autobesitzer, der sofort bereit war, die inglesi in seinem schönen neuen Fiat durch das Land zu fahren. „Oh, Signora“, sprudelte der kleine drahtige Mann begeistert heraus, „welch ein Tag! Welch ein Wetter! Nicht zu heiß – ein fröhlicher Westwind, eine Luft wie Champagner! Wohin soll es gehen? Nach Alghero? Oder zum Sarazenenturm von Riolu? Oder wollen die Herrschaften zum Rocca Doria? Pittoresca, Signora, pittoresca! Auf einem Fels eine Mauer, ein Turm, eine Zisterne – drei Jahre lang hat der große Genuese die Burg gegen algerische und sarazenische Seeräuber verteidigt! Befehlen Sie über Beniamino Sanna, meine Herrschaften! Ich fahre wie der Teufel, aber der Platz neben mir ist immer frei für Ihren Schutzengel, Signora!“
„Wir wollen nur nach Muona, Beniamino.“
Der kleine drahtige Mann fasste sich an die Nase. „Ah, ah, ah!“, sagte er. „Nach Muona. Nun, warum nicht? Auch Muona liegt in Sardinien. Aber heilige Mutter Gottes, wo habe ich denn meine Gedanken? Ich kann die Herrschaften ja heute gar nicht fahren! Ich habe doch dem Herrn Pfarrer versprochen, ihn nach Sas Baddas zu bringen! Schrecklich, schrecklich, schrecklich, das Gedächtnis ist nur noch ein Sieb. Und den Pfarrer kann ich nicht aufsitzen lassen, das verstehen Sie? Man lebt im Schatten der Kirche, nicht wahr? Signora, gehen Sie zu Bastianetto – ich weiß, Bastianetto ist glücklich, wenn er die Herrschaften fahren darf!“
Er war es, als sie ihm den Vorschlag machten – aber seine Züge veränderten sich, als er hörte, das Ziel der Inglesi sei Muona. Er hatte zwar dem Pfarrer nichts versprochen, aber mit einem Male bedrückte es ihn, dass seine Bremsen nicht so waren, wie sie sein sollten. Gewiss, er fuhr „assolutamente“ sicher, seinetwegen brauchten die Bremsen überhaupt nicht erfunden worden zu sein, und wenn die Herrschaften vielleicht die Küste entlang spazieren fahren wollten, immer auf ebener Straße, so stünde er sofort zu ihrer Verfügung – aber dieses elende Nest Muona lag hoch, die Straße ging steil hinauf – „Allein, Signora, wenn ich allein hinmüsste, würde ich, bei meiner Seele Seligkeit, auch fahren – aber mit den Herrschaften: unmöglich! Signora, ich habe nicht nur ein Auto – ich habe auch ein Gewissen! Kommen Sie wieder, Signora, wenn die Bremsen repariert sind!“
„Seine Bremsen sind natürlich in Ordnung“, sagte Frau Spears, als sie dem Chef erklärt hatte, warum Bastianetto sich zu fahren weigerte. „Aber keiner will uns nach Muona bringen.“
„Wie ist der Professor hingekommen?“
„Mit dem Bus“, – doch der Bus war fort, er fuhr nur einmal frühmorgens und kam dann abends zurück.
„Mister Slanton“, sagte Frau Spears, „gehen wir doch einfach zu Fuß!“
„Wie weit ist es?“
„Fünf Kilometer, und die Straße steigt sehr – aber heute, wo es nicht heiß ist, geht es sich sehr gut.“
„Wenn es Ihnen nicht zuviel wird.“
„Nein, nein. Ich sagte Ihnen ja, ich bin so froh, dass endlich etwas geschieht!“
Sie mussten warten, bis Plumpudding wieder bei ihnen erschien.
Er hatte nicht nur das Gepäck besorgt, er war auch auf der Polizeistation gewesen. Obwohl er kein Italienisch konnte, hatte er sich mit den Carabinieri ausgezeichnet verständigen können. Er hatte mehrmals ausdrucksvoll „Muona“ gesagt, dabei drei Finger hochgehoben und das Geräusch eines fahrenden Autos nachgeahmt. Darauf hatte der Maresciallo, auf dessen Schulterklappen drei silberne Streifen seinen Rang als Feldwebel kennzeichneten, seinerseits vier Finger erhoben und auf einen roten Jeep gezeigt, der fahrbereit vor dem Hause hielt. Die Sache war damit klar, und Plumpudding machte die Abmachung perfekt, indem er sämtlichen uniformierten Anwesenden Zigaretten anbot, die keiner ablehnte.
Die Fahrstraße, die sie nun zu dritt entlanggingen, führte von Dorf und Meer weg in ziemlich starker Steigung einem mächtigen Bergmassiv zu. In der Talmulde, aus der die gut gehaltene Chaussee zur Höhe strebte, sahen der Chef und Plumpudding, die sich aufmerksam umblickten, viele Olivenbäume. Wo sie wild wuchsen, waren es kleine dünne Bäumchen; wo sie in offenen Reihen angepflanzt waren, waren sie stattlich und von anmutigem Wuchs. Die schlanken, grauen Stämme verzweigten sich schön in den Raum; die länglichen, zierlichen und silbergrauen Blätter saßen wie an Trauerweiden dicht an den Zweigen und hingen nach unten.