Mit Illustrationen von David Dean
Aus dem Englischen von
Christoph Renfer
Verlag Freies Geistesleben
Für die zehnjährige Sophie, die Pferde und Giraffen liebt, so wie ich.
Aller guten Dinge sind drei, heißt es oft. Martine hatte da ihre eigene Ansicht. Es kam ganz darauf an, was man mitzählte und wie schwer es wog. So konnte sie zum Beispiel sagen, drei gute Dinge hatten sich zusammen mit einem schlechten ereignet, und dabei war das schlechte das allerschlimmste, was sich denken ließ. Oder ein anderes Ereignis war so unscheinbar, dass sie ihm in dem Moment gar keine Beachtung schenkte, und wiederum ein anderes, das sie als Pech einschätzte, erwies sich später als das größte Glück. Doch wie sie es auch durchrechnen mochte, eines war klar: Die Nacht, in der Martine Allen elf Jahre alt wurde, war die Nacht, in der sich ihr Leben restlos, vollständig und gänzlich veränderte und nie mehr werden sollte, wie es einmal war.
Es war Silvester. Martine lag schlafend im Bett und träumte von einem Ort, den sie noch nie gesehen hatte. Sie war sich dessen so sicher, weil dieser Ort zu schön war, als dass sie ihn je hätte vergessen können. Nach allen Seiten erstreckten sich Rasenflächen, gesäumt von Bäumen und exotischen Blumen. Dahinter ragte ein Berg mit erhabenen Granitfelsen in den stahlblauen Himmel. Kinder lachten und liefen hinter Schmetterlingen durch Beetemit rosafarbenen Blumen, und aus der Ferne drangen Trommeln und Gesang an ihr Ohr. Doch irgendetwas war ihr nicht ganz geheuer. Gänsehaut überzog ihren Körper.
Plötzlich begann der Himmel, in einem fiebrigen, violetten Licht zu brodeln, und ein stahlgraues Wolkenband wälzte sich wie eine dicke Tischdecke über die Flanke des Berges hinab. Innerhalb weniger Sekunden wurde der sonnige Tag zur düsteren Nacht. Dann rief eines der Kinder: «Schaut mal, was ich gefunden habe.»
Es war eine Wildgans mit einem gebrochenem Flügel. Doch statt ihr zu helfen, begannen einige der Kinder, die Gans zu quälen. Martine, die den Anblick einer leidenden Kreatur nicht ertragen konnte, versuchte, sie davon abzuhalten, doch in ihrem Traum wandten sich die Kinder gegen sie. Als Nächstes lag sie weinend am Boden, das verletzte Tier in ihren Armen.
Dann geschah etwas ganz Seltsames. Ihre Hände, die die Wildgans umschlossen hielten, wurden erst warm, dann heiß, bis sie beinahe glühten und ein elektrischer Strom knisternd durch Martines Körper schoss. Durch Rauchschwaden sah sie schwarze Männer mit gehörnten Antilopenmasken und Feuer schnaubende Nashörner, dazwischen ertönten Stimmen aus den Urtiefen der Zeit. Sie wusste, dass sie zu ihr sprechen wollten, doch sie konnte sie nicht verstehen. Plötzlich rührte sich der Vogel. Martine öffnete ihre Arme, die Gans flatterte mit den Flügeln und flog in den violetten Himmel davon.
In ihrem Traum blickte sie lächelnd auf, doch die anderen Kinder lächelten nicht zurück. Sie starrten sie mit einer Mischung aus Schrecken und Fassungslosigkeit an. «Hexe!», riefen sie ihr entgegen, «Hexe! Hexe! Hexe!», kreischten sie und kamen auf sie zu. Schluchzend flüchtete Martine bergauf in einen dunklen Wald hinein. Doch ihre Beine waren schwer wie Blei, Dornen bohrten sich in ihre Knöchel, und schon bald hatte sie sich im Nebel verlaufen. Und die ganze Zeit wurde es ihr wärmer und wärmer. Dann griff eine Hand nach ihr, und sie konnte nur noch schreien.
Schließlich erwachte Martine von ihren eigenen Schreien. Sie schoss auf. Um sie herum war es stockdunkel, und es dauerte eine Weile, bis sie verstand, dass sie in ihrem Bett saß und geschlafen hatte. Nichts von alldem war geschehen. Es gab weder Berg noch Vogel. Sie war in Sicherheit, zu Hause im englischen Hampshire, und auf der anderen Seite des Flurs schliefen ihre Eltern seelenruhig in ihrem Zimmer. Mit pochendem Herzen ließ sie sich in ihr Bett zurückfallen. Sie fühlte sich ein bisschen schwindlig, und es war ihr immer noch heiß, sehr heiß.
Heiß? Wie konnte es ihr nur heiß sein? Mitten im Winter? Martine riss die Augen auf. Irgendetwas stimmte nicht. Fieberhaft tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe, doch die funktionierte aus irgendeinem Grund nicht. Hinter der Schlafzimmertür flackerte ein orangefarbenes Licht, und durch die Türritzen drangen Rauchschwaden ins Zimmer.
«Feuer!», schrie Martine. «Feuer!»
Sie sprang aus dem Bett, blieb mit dem Fuß in den Laken hängen und stürzte zu Boden. Eine unbändige Angst trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit einer raschen Handbewegung aus dem Gesicht. Wenn ich jetzt nicht klar denke, sagte sie bei sich, komme ich hier nie lebend raus. Nun verfärbte sich der Türrahmen in einer Ecke glühend rot und brach weg. Ein dichter Rauchschwaden drang in das Zimmer. Martine musste stark husten. Fieberhaft tastete sie auf dem Fußboden nach dem Sweatshirt, das sie am Vorabend beim Anziehen des Pyjamas dort liegen gelassen hatte. Sie jubelte fast vor Dankbarkeit, als sie es sofort fand, und schlang es sich um das Gesicht. Dann rappelte sie sich auf, stemmte das Fenster nach oben und lehnte sich in die sternlose Nacht hinaus. Was sollte sie bloß tun? Springen?
Martine stand vor Schrecken gelähmt da. Tief unten glitzerte der Schnee wie zum Spott in der Dunkelheit. Hinter ihr füllte sich das Zimmer immer mehr mit Rauch, und das Feuer dröhnte wie ein Hochofen. Es war glühend, es war mörderisch heiß – so heiß, als würde ihr der Pyjama demnächst vom Rücken schmelzen. Das Fenster war ihr einziger Fluchtweg. Sie schwang die Beine über das Fenstersims und griff nach einer Efeuranke. Doch diese war so nass wie frisch geernteter Salat, sodass sie ihr aus der Hand glitt und Martine beinahe vornüber vom Sims kippte. Sie wagte einen zweiten Versuch, diesmal wischte sie jedoch zuerst den Schnee vom Efeu und tastete hinter der Ranke nach einem Rohr oder irgendetwas anderem, das ihr Halt bieten könnte. Doch da war nichts.
Martines Augen tränten. Auch wenn sie wusste, dass sie nur noch Sekunden von einer Katastrophe trennten, schwang sie sich wieder in das Zimmer hinein, riss die Laken vom Bett, knüpfte sie aneinander und band ein Ende an den Bettpfosten, der dem Fenster am nächsten war. Es blieb ihr keine Zeit, die Vorrichtung zu testen. Sie konnte nur hoffen, dass sie halten würde. Wieder kletterte sie hastig über die Fensterbank und klammerte sich mit beiden Händen an die zusammengeknoteten Laken. Es war ihr klar, dass diese nicht bis ganz unten reichen würden, doch vielleicht konnte sie damit wenigstens bis in Bodennähe kommen.
Martine war noch weit oben, als ihre Finger, die sich im eiskalten Wind wie tiefgefrorene Fischstäbchen anfühlten, den Halt verloren, und sie in den Schnee stürzte.Mit Mühe und vor Kälte schlotternd, rappelte sie sich auf und schleppte sich die Wand entlang vor das Haus. Sie war pitschnass, und eine Hand schmerzte sie, doch als sie um die Hausecke hinkte, verschwendete sie keinen Gedanken mehr daran. Sie brauchte ihre ganze Energie, um das schreckliche Bild zu verarbeiten, das sich ihren Augen bot. Ihr Zuhause war ein einziges Flammenmeer. Aus allen Fenstern schoss das Feuer, und dichter Rauch stieg in den Nachthimmel empor. Auf dem Rasen stand eine Menschengruppe, und je mehr Haustüren sich in der Straße öffneten, desto mehr Menschen kamen zusammen. Sirenen kündigten die bevorstehende Ankunft der Feuerwehr an.
«Mama! Papa!», schrie Martine und lief auf den Hauseingang zu.
Schockierte Gesichter wandten sich ihr zu. Es war, als würden alle gemeinsam nach Atem ringen. Die ältere Dame von nebenan öffnete den Mund, als sie Martine über den Rasen rennen sah, doch sie brachte keinen Ton heraus. Mr. und Mrs. Robinson, die in derselben Straße etwas weiter oben wohnten, standen wie angewurzelt da, doch im letzten Moment fasste sich Mr. Robinson, ein stämmiger Mann, der früher einmal Rugby gespielt hatte, ein Herz und warf sich Martine in den Weg, als sie an ihm vorbeistürmte.
«Lassen Sie mich los», sagte Martine schluchzend, doch während sie diese Worte aussprach, wusste sie, dass es zu spät war. Die Hausmauern stürzten krachend in sich zusammen, und nach wenigen Minuten war nur noch ein lodernder Haufen zu sehen. Die Feuerwehr, die inzwischen eingetroffen war, konnte nur noch die Glut löschen.
Mrs. Morrison legte ihre Arme um Martine und drückte sie fest gegen sich. «Es tut mir ja so leid, mein Schatz», sagte sie, «so leid.» Dann kamen auch andere Nachbarn, um sie zu trösten, und Mrs. Robinson hüllte Martine, die immer noch in ihrem Pyjama dastand, in ihren Wintermantel.
Durch ihren Tränenschleier glitzerten die funkelnde Glut und die Blasen des Löschschaums wie Rubine und Diamanten im Morgengrauen. Noch vor wenigen Stundenhatte sie mit ihren Eltern ein Geburtstagessen genossen. Sie hatten Pfannkuchen gemacht, diese mit Mandeln, Bananenstückchen und heißer Schokolade belegt und gerollt, sodass sie sie mit den Händen essen konnten. Martine und ihre Mutter hatten über David, ihren Vater, gelacht, der unaufhörlich geredet hatte, ohne zu merken, dass Schokolade aus dem Pfannkuchen auf sein Hemd tropfte. Nur etwas war geschehen, das Martine im Nachhinein seltsam vorkam.
Es war beim Schlafengehen. Ihre Mutter hatte sie geküsst und war ihr auf der Treppe vorangegangen. Sie kam, gefolgt von ihrem Vater, hinterher. Vor ihrer Zimmertür umarmte er sie, wuschelte in ihren Haaren und sagte ihr, «ich hab dich lieb». So war es jeden Abend. Doch dann sagte er etwas Sonderbares.
«Du musst Vertrauen haben, Martine. Alles, was passiert, hat seinen Grund.»
Und sie hatte ihn angelächelt, sich darüber gefreut, wie süß ihre Eltern zu ihr waren, selbst wenn sie ihr manchmal etwas schrullig vorkamen, und war in ihr Zimmer gegangen. Sie ahnte nicht, dass dies die letzten Worte sein sollten, die er je zu ihr sagen würde. Und sie ahnte auch nicht, dass sie weder ihren Vater noch ihre Mutter je wiedersehen würde.
Es war Mr. Grice vom Sozialamt, der Martine mitteilte, dass sie nach Afrika ziehen würde, nach Kapstadt in Südafrika, um genau zu sein.
«Südafrika?», rief Martine aus. «Warum Südafrika?»
«Nun, wie es scheint, wohnt deine einzige noch lebende Verwandte in einem Wildreservat in Südafrika. Es handelt sich um eine Mrs. Gwyn Thomas, deine Großmutter, wie man mir sagt.»
Völlig baff stammelte Martine: «Aber … ich habe doch gar keine Großmutter.»
Mr. Grice legte die Stirn in Falten. Er fischte seine Brille aus der Westentasche und beugte sich nochmals über Martines Akte. «Doch, doch. Ich kann dir versichern, dass das stimmt. Hier steht es schwarz auf weiß.»
Er übergab Martine ein cremefarbenes Blatt Papier.
Sehr geehrter Mr. Grice
Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Beileidschreiben zum Tod meiner Tochter, Veronica Allen, und ihres Mannes David. Ich habe wohl wenige so gute Menschen gekannt wie die beiden Verstorbenen. Ich wusste nicht, dass meine Tochter mir die Vormundschaft über ihr Kind, Martine, übertragen hatte, für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte. Selbstverständlich übernehme ich die mir zugewiesene Verantwortung. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich lege diesem Schreiben einen Flugschein nach Kapstadt und 150 Pfund für allfällige Spesen bei. Da ich selten in die Stadt fahre, wäre ich Ihnen dankbar, wenn sie Martine dem südafrikanischen Klima gemäß einkleiden könnten.
Mit freundlichen Grüßen
Gwyn Thomas
Irgendetwas am Ton des Briefes störte Martine. Ihre Großmutter zeigte keinerlei Begeisterung dafür, sie bei sich aufzunehmen. Ganz im Gegenteil. Zwischen den Zeilen las Martine deutlich heraus, dass sie Martines Kommen als Belastung empfand. Sie nahm es nicht einmal auf sich, ihr ein paar Sommerkleider zu kaufen. Offenbar hatte Gwyn Thomas große Stücke auf ihre Eltern gehalten, doch schien sie ganz und gar nicht erfreut darüber, sich nun mit deren Tochter herumschlagen zu müssen. Und was war mit Großvater? Von dem war gar keine Rede.
Martine gab Mr. Grice den Brief zurück. «Da fahr ich nicht hin», sagte sie. «Diese Frau will mich nicht haben, und es kommt nicht in Frage, dass ich bei jemandem wohnen, der nichts mit mir zu tun haben will. Eher hacke ich mir einen kleinen Finger ab.»
Mr. Grice blickte sie fassungslos an. Sein Vormittag war schon schwer genug gewesen, und jetzt drohte alles nur noch schlimmer zu werden. Was hatte seine Chefin wohl gegen ihn, dass sie ihm immer die unangenehmen Fälle zuschob?
«Aber Mrs. Thomas ist dein gesetzlicher Vormund», sagte er.
«Ich fahr da nicht hin», gab Martine widerspenstig zurück. «Und Sie können mich auch nicht dazu zwingen.»
Mr. Grice raffte seine Unterlagen hastig zusammen und stieß dabei ein Glas Wasser um. «Ich bin gleich zurück», sagte er zu Martine, ohne dem vergossenen Wasser, das die Akten zu Aquarellen werden ließ, Beachtung zu schenken. «Ich muss mal telefonieren.»
Martine saß da und starrte auf die von Zigarettenrauch vergilbten Tapeten des Büros von Mr. Grice und hatte viel mehr Angst, als sie sich anmerken ließ. Die vergangenen Wochen waren wie hinter einem Schleier an ihr vorbeigezogen. Die ersten fünf Tage des Albtraums nach dem Brand hatte sie bei den Morrisons verbracht, bis deren Söhne von einer Rugbytournee ihrer Schule nach Hause kamen. Danach hatte eine Freundin ihrer Mutter sie aufgenommen; doch diese wurde mit der Belastung, ein trauerndes Kind zu betreuen, nicht fertig. Schließlich wurde sie zu Miss Rose, ihrer Englischlehrerin, gebracht, die sich um sie kümmern sollte, bis man über ihre Zukunft entschieden hatte. Überall, wo sie hinging, trugen die Menschen ein aufgesetztes Lächeln im Gesicht und waren nie um hilfreiche Ratschläge verlegen. Doch sobald sie irgendwo einen Raum verließ, konnte sie ein Tuscheln hören, in dem häufig das Wort Waise und die Wendung ganz allein auf dieser Welt vorkamen.
Martine war zu benommen und verzweifelt, um sich weiter darüber Gedanken zu machen. Ihr Kopf war wie gelähmt – es kam ihr vor, als würde sie immer schneller in ein tiefes, bodenloses Loch stürzen. Sie konnte nicht essen; sie konnte nicht schlafen; sie konnte nicht weinen. Doch immer wieder stellte sie sich eine Frage: Warum? Warum hatte sie überlebt – und ihre Eltern nicht? Es kam ihr alles so ungerecht vor. Die Feuerwehrmänner hatten sie für ihre Tapferkeit gelobt und dafür, dass sie richtig gehandelt hatte. Selbst wenn sie die Tür zum Flur nur einen Spalt weit geöffnet hätte, um zu ihren Eltern zu gelangen, wäre sie vom Flammenmeer verschlungen worden. Aber sie wurde ihre Schuldgefühle nicht los. Und was sollte jetzt mir ihr geschehen? Würde man sie wirklich zu einer Fremden nach Südafrika schicken?
In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf einen cremefarbenen Umschlag auf dem Schreibtisch von Mr. Grice. Er kam ihr irgendwie vertraut vor. Sie nahm ihn in die Hand und las die Absenderadresse auf der Rückseite des Umschlags. In klarer blauer Tinte stand geschrieben: Gwyn Thomas, Sawubona Game Reserve, Cape Province, South Africa. Martine versuchte, sich zu erinnern. Wo hatte sie diese Handschrift schon gesehen? Und plötzlich fiel es ihr ein. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter diese Umschläge geöffnet hatte, jeden Monat, seit sie sich erinnern konnte. Ihre Mutter hatte nie ein Wort darüber verloren, doch Martine hatte stets wahrgenommen, dass sich die Stimmung ihrer Mutter veränderte, nachdem sie diese Briefe gelesen hatte. Es ging häufiger ein Lächeln über ihre Lippen, und sie lachte auch gerne einmal herzhaft. Jetzt, da sie so ganz allein und verwirrt im Büro von Mr. Grice saß, war Martine vollends durcheinander, weil ihre Mutter ihr nie erzählt hatte, dass diese Briefe von ihrer Großmutter stammten oder dass sie überhaupt eine Großmutter hatte. Weshalb diese ganze Geheimniskrämerei?
Martine machte sich Gedanken zum Absender auf dem Umschlag: Gwyn Thomas. Das klang so hart und streng. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich hinter diesem kalten Namen ihre Großmutter versteckte und schon gar nicht, dass sie diese Frau Großmutter oder – noch schlimmer – Oma würde nennen müssen. Nicht einmal mit dem Vornamen Gwyn konnte sie sich anfreunden. Aus irgendeinem Grund musste sie immer an den ganzen Namen Gwyn Thomas denken.
Als Mr. Grice in sein Büro zurückkehrte, schüttelte er den Kopf und sagte: «Es tut mir leid, aber deine Alternativen sind äußerst beschränkt. Ich hätte da einzig noch einen Platz im Kinderheim von Upper Blickley …»
«Es ist schon gut», unterbrach ihn Martine. «Ich habe mich entschieden, doch nach Südafrika zu gehen.»
Mr. Grice atmete erleichtert auf. «Gut, damit hätten wir schon ein Problem weniger.»
Von Anfang an löste Martines Zukunft bei allen anderen deutlich mehr Begeisterung und Aufregung aus als bei ihr selbst. «Ein Wildreservat in Afrika!», sagte Miss Rose voller Ehrfurcht. «Kannst du dir das vorstellen, Martine? Als würdest du dein ganzes Leben auf Safari verbringen.»
Mrs. Robinson hingegen war überzeugt, dass auf Martine die Gefahr lauerte, von einem Tiger aufgefressen zu werden. «Du musst stets auf der Hut sein», ermahnte sie Martine. «Was für ein Abenteuer!»
Martine verdrehte die Augen. Mrs. Morrison war der liebenswürdigste Mensch dieser Welt, aber von Tieren hatte sie keine Ahnung.» «Es gibt keine Tiger in Afrika, außer vielleicht im Zoo.»
Abgesehen davon hatte auch Martine wenig Ahnung von Afrika. In ihrer Vorstellung gab es nur weite, gelbe Hochebenen, Mangos, Schirmbäume, dunkle Gesichter und Glutofenhitze unter stechender Sonne. Sie fragte sich, ob auf der Straße wilde Tiere herumliefen. Könnte sie sich vielleicht sogar eines als Haustier nehmen? Da ihre Mutter allergisch gegen Tiere gewesen war, durfte sie nie ein Haustier haben, so sehr sie es sich auch gewünscht hatte. Vielleicht würde sie ja jetzt einen kleinen Affen bekommen.
Doch dann erinnerte sie sich wieder an den Ton im Brief ihrer Großmutter, und sogleich meldete sich das Gefühl zurück, in einen endlosen Schlund zu stürzen. Gwyn Thomas – das klang nicht gerade nach einem Menschen, der einen Primaten in seinem Wohnzimmer aufnehmen würde. Falls Gwyn Thomas überhaupt ein Wohnzimmer besaß. Denn nach allem, was Martine bisher erfahren hatte, war es durchaus möglich, dass ihre Großmutter in einer Steppengrashütte hauste.
In der Schule schienen die meisten ihrer Klassenkameraden vergessen zu haben, dass vor knapp drei Wochen ihr Elternhaus heruntergebrannt war und dass sie nicht aus freien Stücken nach Südafrika ging. «Mensch, hast du ein Glück», sagten sie ihr immer wieder. «Du wirst surfen lernen und so. Das ist ja so was von cool.»
Wenn sie diese Kommentare hörte, konnte sich Martine zumindest die Genugtuung abringen, dass sie nie mehr durch die furchtbare Pforte der Bodley Brook Junior School gehen musste. Sie hatte ohnehin nie dahin gepasst. Eigentlich passte sie nirgends hin, wo sich gleichaltrige Kinder aufhielten; doch das hatte irgendwie keine Rolle gespielt, als sie Mama und Papa noch hatte. Ihre Eltern waren ihre besten Freunde. Ihr Vater war Arzt gewesen, und er hatte lange Arbeitstage. Doch im Sommer gingen sie nach Cornwall zelten. Ihre Mutter hatte dann gemalt, während sie mit ihrem Vater schwimmen oder angeln ging oder er ihr Erste-Hilfe-Kurse gab. Und auch am Wochenende hatten sie immer Spaß zusammen, selbst wenn das Wetter nicht mitspielte und ihnen nichts anderes übrig blieb, als Pfannkuchen zu backen. Doch das war jetzt alles vorbei, und in Martines Herzen klaffte ein großes Loch.
Am Samstagvormittag, einen Tag vor ihrem Abflug nach Südafrika, nahm sie Miss Rose in die Oxford Street nach London mit, um ihr Sommerkleider zu kaufen. Ein grauer Eisregen fiel auf die Stadt, während sich kaufwütige Londoner und Touristen mit ihren Schirmen fast die Augen ausstachen. Doch all dies vermochte die Begeisterung von Miss Rose nicht zu schmälern.
«Sind das nicht süße Shorts?», rief sie im Getümmel bei Gap entzückt aus. «Diese Baseballmütze ist doch Klasse! Oder schau dir dieses rotgestreifte T-Shirt an. Es würde dir einfach prima stehen.»
Martine ließ sie gewähren. Aber eigentlich fühlte sie sich hundserbärmlich. Ihr Magen war ein brodelnder Nervenkessel, und in Erwartung des morgigen Tages war ihr Mund völlig ausgetrocknet. «Ja, das ist schon in Ordnung», sagte sie immer wieder, wenn ihr Miss Rose ein neues Kleiderstück präsentierte. «Doch, das ist nett. Das passt.»
Schließlich kauften sie zwei Paar khakifarbene Shorts ein Paar Jeans, vier T-Shirts, eine Baseballmütze und ein Paar robuste beige Wanderstiefel. Sie musste sich nur einmal wirklich wehren – als Miss Rose ihr ein Kleid mit Blumenmuster aufschwatzen wollte. Martine mit ihrem braunen Kurzhaarschnitt und den hellgrünen Augen hatte sich standhaft geweigert, ein Kleid zu tragen, seit sie fünf Jahre alt war. Und sie hatte keinerlei Absichten, jetzt von diesem Kurs abzuweichen.
«Wenn ich meine Beine nicht schütze, werde ich noch von einer Schlange gebissen», sagte sie zu Miss Rose.
«Dieser Gefahr setzt du dich aber auch aus, wenn du Shorts trägst», entgegnete ihre Lehrerin.
«Stimmt, aber das ist etwas anderes», gab Martine zurück. «Haben Sie je einen Forscher gesehen, der keine Shorts trug?»
Abends in Hampshire kochte Miss Rose ein Abschiedsessen für Martine: Gebratenes Hühnchen Bratkartoffeln, frische Erbsen, hausgemachter Yorkshire-Pudding an einer Zwiebelsauce. Mr. und Mrs. Morrison, die auch eingeladen waren, schenkten Martine ein Fernglas, das sie von einem Onkel geerbt hatten.
«Damit du Raubkatzen entdeckst», sagte sie.
Martine war gerührt, vor allem, als Mrs. Morrison ihr ein großes Stück selbst gebackenen Schokoladekuchen für die Reise überreichte, den sie sorgsam in eine Lunchbox eingepackt hatte.
«Ich wünsche dir das Allerbeste, meine Liebe» sagte Mrs. Morrison sichtlich bewegt. «Und vergiss nicht, dass du bei Mr. Morrison und mir immer ein Zuhause hast.»
Mr. Morrison brummelte zustimmend. Er war kein Mann der großen Worte. Doch als seine Frau sich abwandte, um der Lehrerin für das Essen zu danken, zog er eine geschnitzte Holzkassette aus seiner Manteltasche. «Für deine Sicherheit», sagte er leise, als er Martine das Geschenk zusteckte. Dann öffnete er die Tür des Wagens und startete den Motor.
«Bist du bereit, Liebling?», rief er seiner Frau zu. «Mach’s gut, Martine.»
Martine wartete lange, bis sie allein im Gästezimmer war, um endlich die Kassette zu öffnen. Darin waren eine rosa Maglite-Taschenlampe, ein Schweizer Armeemesser und ein Verbandskasten. Sie konnte ihren Augen kaum trauen. Sorgfältig legte sie alles auf dem Bett aus und las fasziniert die dazu gehörende Gebrauchsanleitung. Sie war tief bewegt, wie großzügig sie doch alle waren. Nach einer Weile verpackte sie die Geschenke wieder sorgsam, drehte das Licht aus und legte sich ins Bett. Durch das Fenster warf der Vollmond einen Silberstreifen in das Zimmer.
Nun wurde Martine auch gegen ihren eigenen Willen ganz aufgeregt. Schon morgen Abend würde sie in einem Flugzeug nach Afrika sitzen, unterwegs in ein Leben, von dem sie sich kein Bild machen konnte. Sie konnte nichts mehr daran ändern: Das Schicksal war dabei, die Tür zu ihrer Vergangenheit zu schließen.
D as Erste, was Martine wahrnahm, war die Hitze, die in einem trüben Dunstschleier von der Flughafenpiste aufstieg. Es war, als würde der Horizont unter der Last des blauen Himmels zusammenbrechen, und die Konturen der Flugzeuge flirrten wie in einem Traumbild. Sie hatte die Maschine in einer eiskalten englischen Winternacht bestiegen. Zu Hause war in den Wettervorhersagen von Stürmen und starkem Schneefall die Rede gewesen. Doch jetzt hatte Martine das Gefühl, in einem Glutofen gelandet zu sein. Bewegungslos stand sie auf dem Rollfeld, ein leichenblasses elfjähriges Mädchen, und sah zu, wie ihre Mitreisenden in den gelben Flughafenbus stiegen.
«Aufwachen, Kleine! Sonst lassen die dich noch hier stehen.» Ein großer Mann mit Glatze in einem Billabong-Shirt beugte sich zu ihr herunter. «Wo sind denn deine Mama und dein Papa. Erwarten sie dich?»
Am liebsten wäre Martine in Tränen ausgebrochen und hätte losgeheult, sodass man sie auf dem ganzen Flughafen gehört hätte: «Ja, ich will, dass man mich hier stehen lässt. Und nein, meine Mama und mein Papa erwarten mich nicht. Sie werden nie auf mich warten.»
Stattdessen nuschelte sie vor sich hin: «Ja, hm, äh … Nein, ich werde nicht … Doch, ich werde abgeholt.»
«Das klingt aber nicht gerade überzeugend.»
«Harry, was ist los mit dir? Jetzt reicht’s mir dann aber. Der Bus fährt gleich ab, ich zähle bis fünf, und wenn du bis dann nicht kommst, bin ich weg», rief eine Frau mit gellender Stimme.
«Es ist alles in Ordnung», sagte Martine dem Mann. «Danke, dass Sie gefragt haben.»
«Sicher?» Dann klopfte er ihr mit seiner enormen Hand, die rosa und feucht war, auf die Schulter. «Na dann, Kopf hoch, Kleine. Willkommen in Afrika!»
Die Frau am Informationsschalter im Flughafengebäude trommelte mit ihren lila lackierten Fingernägeln auf dem Tresen herum und äugte über Martines Kopf hinweg auf die Schlange, die sich hinter ihr zu bilden begann. Auf ihrem Namensschild las Martine: Noeleen Henshaw, Assistant Supervisor.
«Mein liebes Mädchen. Ich würde dir ja nur zu gerne helfen» näselte sie. «Doch dafür brauche ich noch ein paar zusätzliche Informationen. Also: Wie sieht deine Großmutter denn aus?»
Martine versuchte vor ihrem geistigen Auge ein Bild der Großmutter heraufzubeschwören, die sie noch nie gesehen hatte. «Sie hat graues Haar», sagte sie zögernd. «Und eine Brille. Ja, ich glaube, sie trägt eine Brille.»
Noeleen Henshaw seufzte. «Und wann hast du deine Großmutter zum letzten Mal gesehen?»
«Nun, äh …»
«Oder hast du ihre Telefonnummer?»
«Nur ihre Adresse», sagte Martine kleinlaut. Während des Fluges hatte sie Hayley, eine freundliche Stewardess, betreut, die sich um die allein reisenden Kinder zu kümmern hatte. Doch sobald die Maschine in Kapstadt gelandet war, hatte Hayley nur mit dem Finger auf den Flughafenbus gezeigt und ihr von der Flugzeugtreppe aus vergnügt hinterher gewinkt.
Noeleen schüttelte ungeduldig ihr hennarotes Haar und blickte wieder auf die Menschenschlange. «Jetzt hör mal gut zu, Sweetie. Am besten du setzt dich jetzt dort drüben hin, wo ich dich nicht aus den Augen verliere. Und wenn deine Großmutter nicht auftaucht, dann sorge ich dafür, dass sich sonst jemand um dich kümmert.»
«Okay. Besten Dank», sagte Martine mit unsicherer Stimme.
Sie ergriff ihren Koffer und den neuen olivgrünen Rucksack, den ihr Miss Rose geschenkt hatte, und ging in die Ankunftshalle zurück. Dort setzte sie sich unter die Schrift Welcome to South Africa. Nie in ihrem Leben hatte sie sich weniger willkommen gefühlt. Ihre Maschine war vor mehr als einer Stunde in Südafrika gelandet, und immer noch war niemand sie abholen gekommen. Martine war den Tränen nahe. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Ihre Großmutter wollte nichts mit ihr zu tun haben. Wieso also hätte sie sie am Flughafen abholen sollen? Da saß Martine nun ohne Geld und Unterkunft und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Abgesehen davon fühlte sie sich vor lauter Hunger ganz schwach. Es war jetzt 10 Uhr vormittags, und seit gestern Abend hatte sie außer dem Schokoladenkuchen von Mrs. Morrison nichts gegessen. Das Essen im Flugzeug war ungenießbar gewesen. Die Rühreier waren wässrig, die Brötchen hart wie Tennisbälle gewesen, und die Hauptspeise hatte wie Tierfutter geschmeckt. Martine hatte beschlossen, nie mehr ein Flugzeug zu besteigen ohne eine große Ration Schokoladekuchen und ein paar Schinkenbrote obendrein. Ihr gegenüber trug gerade eine Frau lächelnd einen Mango-Fruchtshake und einen großen Muffin von einem Imbissstand. Martines Magen rumorte neidisch.
«Miss Martine, Sie haben bestimmt geglaubt, wir hätten Sie vergessen» dröhnte eine Stimme, die so tief war, dass sie wie eine Basstrommel in Martines Brustkorb vibrierte. Als Martine aufblickte, sah sie einen mahagonifarbenen Riesen, der sich mit ausgestreckten Armen zu ihr hinunterbeugte, mit dem breitesten Lächeln Afrikas auf dem Gesicht. Auf einer seiner glänzenden Wangen prangte eine Narbe in Form eines Fragezeichens. Um seinen Hals baumelte ein Zahn an einem Lederband. Er trug einen Buschhut mit einem Zebrafellband und khakifarbene Jägerkleidung, die auch schon bessere Tage gesehen hatte.
«Miss Martine?», fragte er und brach in stürmisches Gelächter aus. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, ergriff er ihre Hand und schüttelte sie heftig auf und ab. «Mein Name ist Tendai», sagte er. «Ich bin sehr, sehr erfreut, Sie kennen zu lernen. Ihre Großmutter hat mir alles über Sie erzählt. Es tut ihr wirklich sehr leid, dass sie Sie nicht selbst am Flughafen abholen konnte. Aber wir hatten einen fürchterlichen Vormittag. Alles begann mit einem Anruf spät gestern Abend, als man uns mitteilte, dass eine Lieferung Elefanten, die erst für das Wochenende vorgesehen war, wegen eines Fehlers in den Frachtpapieren schon heute Morgen eintreffen würde. Außer Ihrer Großmutter und mir selbst war niemand da, der den Eingang der Lieferung hätte überwachen können. Und sie musste bleiben, bis der Tierarzt alle Dickhäuter untersucht hatte. Ich habe ihr deshalb angeboten einzuspringen und Sie an ihrer Stelle abzuholen. Nur hatte ich vergessen, dass sich ein Buschmann auf einer Autobahn nicht zurechtfindet. Und so habe ich eine Rundfahrt durch Kapstadt gemacht. Ich hoffe, Sie verzeihen mir. Ich werde sie so rasch wie möglich nach Sawubona bringen.»
Martine wusste nicht, wie sie auf diesen Redeschwall reagieren sollte, doch sie fand den großen, freundlichen Mann, aus dem die Worte nur so heraussprudelten, sofort sympathisch. Aus ihm sprach – fast wie eine Aura – die pure Natur.
«Es freut mich, Sie kennenzulernen, Tendai», sagte sie, nicht ohne schüchtern hinzuzufügen: «Natürlich verzeihe ich Ihnen.»