Ein Projekt des
Polizei im Wandel der Zeit
Neubrandenburg e. V.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar
© 2021 Helmut Borth (www.meckpress.de)
Titelgestaltung: Gregor Leichsnering (www.geizneringdesigns.de) Korrektorat: Claudia Erbe Geißler
Satz & Layout: Felizita Rinck (www.werbe-rinck.de)
Herstellung und Verlag: BoD Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783753410746
Am 14. Juli 1995 fand in Neubrandenburg das letzte Speedway-Rennen statt. Im Günter-Harder-Stadion „kämpften internationale Spitzenfahrer um den Ostseepokal, den damals der Norweger Rune Holta gewann. Wenig später wurde das Stadion an der Woldegker Straße abgerissen. Im Jahr darauf begann der Bau des AOK-Service-Centers Nordost und eines Parkplatzes. Das Versprechen der Stadt, den Speedway-Freunden ein neues Zuhause zu bauen, wurde bis heute nicht eingelöst.
Mehr noch, mit dem Abriss der traditionsreichen Sportstätte ging ein Stück Neubrandenburg verloren, zu dem fast jeder Einwohner damals seine persönliche Beziehung hatte. Das waren nicht nur die Speedway-Fans, deren Rennen oft genug bis zu 10.000 Besucher anlockten. Das waren Jungen der Arbeitsgemeinschaft Kfz-Technik der POS II „Fritz Reuter“, die auf der Bahn unter Anleitung von Freunden des ADMV ihre aufgebauten Mopeds SR 2 oder RT 125 testeten. Das waren ebenso die Fußballfans des SC Neubrandenburg, die 1964 in einem Heimspiel gegen Motor Köpenick den Sieg ihrer Mannschaft und deren Aufstieg in die DDR-Oberliga erlebten. Ganz zu schweigen von den Besuchern der „Fischi“, der HO-Gaststätte „Gastmahl des Meeres“ in den Katakomben der Stadiontribüne. Der gegrillte Heilbutt war legendär.
Als verantwortlichem Redakteur des „Neubrandenburger Express“, das erste Anzeigenblatt des damaligen Noch-Bezirkes Neubrandenburg, bescherte mir das Stadion am 19. September 1990 den Aufmacher für die Seite 1: ein großes Foto von Udo Lindenberg mit ausgebreiteten Armen. Auf einen Arm hatte der Layouter einen Pleitegeier gesetzt. Der Konzertveranstalter in Neubrandenburg war am Abend des Konzerts mit dem Panikrocker am 14. September mit der Kasse abgetaucht.
Mit dem Abriss des Stadions an der Woldegker Straße verschwand der Name Günter Harders endgültig aus dem Neubrandenburger Stadtbild, nachdem die 5. Tagung der Ratsversammlung am 6. Juni 1991 beschlossen hatte, die Günter-Harder-Straße in der Oststadt zum 3. Oktober 1991 in Niels-Stensen-Straße umzubenennen.1 In der Straße, die heute den Namen eines in Dänemark geborenen und in Schwerin gestorbenen katholischen Bischofs des 17. Jahrhunderts trägt, wurde am 22. April 1970 der Grundstein für die Oststadt gelegt.
Kaum einem Neubrandenburger wird der Name des Mediziners, Naturforschers und Theologen, der zehn Sprachen beherrschte und als Seliger verehrt wird, etwas sagen, vielleicht könnte Rainer Prachtel Aufklärung zum Thema neuer Straßenname bringen. Der praktizierende Neubrandenburger Katholik, dem die SED aufgrund seines Glaubens die gewünschte Ausbildung verwehrt hatte, wurde 1990 Präsident des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern und damit ranghöchster Politiker in Schwerin. Darüber hinaus war er 1990 Vorsitzender der CDU-Fraktion der Neubrandenburger Ratsversammlung und Mitglied des Rates der Stadt. Seinem ehemaligen Bischof, dem 1988 verstorbenen Apostolischen Administrator in Schwerin, Heinrich Theissing, war es kurz vor seinem Tod gelungen, Nils Stensen in Rom selig sprechen zu lassen. 1980 hatte Theissing als Bischof die neue Kirche St. Josef und St. Lukas in der Heidmühlenstraße geweiht. Erst nach langjährigen Verhandlungen mit der Stadt erteilte man der Gemeinde in den 1970er-Jahren die Genehmigung zum Bau dieses Gotteshauses und bot ihr Bauland am damaligen Stadtrand an.
Niels Stensen statt Günter Harder also ein Fanal für den Aufbruch in eine neue Zeit? Wenngleich nach Goethe Namen Schall und Rauch2 sein sollen, der Name Günter Harder ist ohne Zweifel in der Stadt bekannter als der von Niels Stensen. Wer in der Vier-Tore-Stadt Jahre seiner DDR-Vergangenheit verbrachte, der wurde mit ihm konfrontiert. Den Stadionnamen gab es 43 Jahre lang, den Straßennamen 20. Pionierfreundschaften und Produktionsbrigaden, zum Beispiel im RWN, wurden nach dem Neubrandenburger benannt, ebenso ein Motorsportclub, eine Einheit der Volksmarine und eines ihrer Schiffe. Anlässlich von Günter Harders Todestag fanden Gedenkveranstaltungen statt.
Heute ist Günter Harder aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt gestrichen. Nichts erinnert mehr an den jungen Seepolizisten, der am 24. März 1951 in der Nähe des Pferdemarktes erschossen wurde, als er einem anderen Volkspolizisten zur Hilfe kam, der zwei Straftäter verfolgte. Die Straße wurde umbenannt. Das Straßenschild landete nicht in der Museumssammlung, sondern auf einem Schutthaufen. Das Stadion wurde abgerissen. Die Pionierfreundschaften lösten sich mit der Wende auf, wie auch der Motorsportclub und die Volksmarine. Der Grabstein wurde nie unter Denkmalschutz gestellt. Das Grab ist heute verschwunden. Die Stadt nahm sogar ihr Geschenk an Marie Harder zurück. Beim Einzug in eine Ein-Raum-Wohnung in der Straße, die nach ihrem Sohn benannt worden war, hatte man ihr urkundlich Mietfreiheit bis ans Lebensende zugesichert. Gleich nach der Wende kam Post, ab sofort müsse Miete gezahlt werden. 1995 starb Marie Harder.
Günter Harder verlor nicht nur sein Leben. Mit dem Ende der DDR hat man ihm auch den Nachruhm genommen, den er sich mit seinem beherzten Einsatz verdient hatte. Er verlor mit der Wende die ihm zustehende Anerkennung und seinen Platz in der Stadtgeschichte, weil zuvor sein Leben und Sterben vier Jahrzehnte missbraucht wurden und man ihn zu einem vorbildlichen Genossen, einem sozialistischen Vorbild stilisierte und seine Mörder als Agenten und Mordbanditen3. Dabei war Günter Harder nie Mitglied der SED und die Täter kann man kaum als skrupellose Geheimdienstleute bezeichnen, deren Bild die SED-Presse zeichnete.
Namen mögen vergänglich sein. Aber die Namen bestimmter Menschen bleiben aufgrund ihres Handelns oder ihres Schicksals im Gedächtnis, solange es Zeugnisse ihres Wirkens gibt, die beim Erinnern helfen. Wer nicht nur im Bewusstsein der eigenen Generation lebt, sondern auch in dem nachfolgender, ist nicht tot. Er ist nur fern.
Tot ist nur, wer vergessen wird!
Günter Harder hat es verdient, dass sein Name ins Stadtbild zurückkehrt!
Zwölf Jahre nationalsozialistische Diktatur haben nicht nur Deutschland in den Abgrund getrieben und ein Trümmerfeld hinterlassen. Nachdem die Stadt 1945 von der Landesregierung 300.000 Mark erhalten hatte, wurde in Neubrandenburg die Enttrümmerung eingeleitet. Das begann mit der teilweisen Räumung des Pferdemarktes. Dann kamen 1946 das Rathaus und das Palais an die Reihe. Danach wurden die Häuser an der Johanniskirche, zwischen der Pontanus- und Darrenstraße, der Marktplatz (Block Zandering und Block Donitza) beräumt. Nachdem der Stadt weitere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt worden waren, ging die Enttrümmerung planmäßig weiter. Bis 1948 waren 24.800 Quadratmeter Grundstücksfläche enttrümmert. Dabei gewann man 955.000 brauchbare ganze Mauersteine, 1400 Kubikmeter halbe Steine und 99,5 Tonnen Eisenträger, die in erster Linie zur Umsetzung des Befehls 209, des Neubauernprogramms, zur Verfügung gestellt wurden. Was an Steinen dort nicht benötigt wurde, konnte die Zivilbevölkerung gegen ein Entgelt für die Bergungskosten kaufen. Das war fast nichts. Darüber hinaus wurden fast 20.600 Kubikmeter unbrauchbarer Schutt abgefahren und einplaniert.
Im Jahr der Republikgründung 1949 sah es noch nicht viel besser aus. Ganze 30.000 Quadratmeter wurden enttrümmert, 1.453.000 ganze Mauersteine, 947 Kubikmeter halbe Mauersteine und 57,5 Tonnen Trägermaterial geborgen sowie 16.500 Kubikmeter Schutt abgefahren. Bewältigt wurde diese Arbeit von durchschnittlich 80 bis 100 eingesetzten Frauen und Männern.
Ende 1950 konnte man in der Innenstadt noch immer problemlos von Tor zu Tor blicken.
1947 wurden in der Stadt 110 Baugenehmigungen erteilt, im ersten Halbjahr 1948 waren es 63 und 1949 ganze 30 mehr. Das Bauamt schätzte die Bautätigkeit im privaten Bereich wegen des mangelnden Baumaterials äußerst gering ein. Bei den Bauarbeiten ging es in erster Linie um kleine Nebengebäude, Viehställe für die Kleintierhaltung, Änderungen an bestehenden Wohngebäuden, Laden- oder Werkstatteinbauten oder die Errichtung von Kiosken.
Trotzdem war das Bauamt nicht untätig. Es machte Pläne für die Zukunft und hatte reichlich davon in der Schublade, als das Land Mecklenburg-Vorpommern im November 1949 bekannt gab, im Jahr 1950 Investitionskredite für den Wiederaufbau von zerstörtem Wohnraum ausreichen zu wollen. Seit dem 1. April 1949 hatte die Stadt im Außenbereich zerstörte Häuser aufgenommen, Kosten- und Materialberechnungen ausgearbeitet und Objekte geplant. Als der Startschuss fiel, konnte Neubrandenburg auf einen Schlag 100 Kreditanträge einreichen.
„Täglich und ständig gehen noch Neuanträge und Gewerbeanmeldungen ein, die in vielen Fällen Ablehnung finden müssen, weil ein Bedürfnis für das Stadtgebiet Neubrandenburg nicht mehr vorliegt.“4 So ist in einem Bericht der Gewerbeaufsicht für das Jahr der Republikgründung zu lesen. Von den gut 800 Gewerbetreibenden Anfang 1949 – im Juli 1945 gab es rund 2005 – zählten 323 zum Handwerk und 90 zum Lebensmittelhandel. In der Stadt gab es unter anderen 35 Lebensmittelgeschäfte, 18 Bäckereien, acht Fleischer, sieben Fischhandlungen, sechs Milchhandlungen, zwei Rossschlächter und zwei Räuchereien. Dazu kamen 50 Schneiderinnen und 30 Schneider, 44 Schuhmacher, 23 Tischler, 18 Friseure, 16 Schlossereien, 16 Maschinenreparaturwerkstätten, 13 Uhrmacher, zwölf Maler und neun Maurer.6
Über eigene Werkstätten bzw. Läden verfügten 128 Gewerbetreibende. Insgesamt nutzten sie 9830 Quadratmeter Laden- und Werkstattfläche einschließlich Lagerräumen.7 Zum Vergleich: Heute belegen 70 Geschäfte im Marktplatzcenter 12.500 Quadratmeter Einkaufsfläche. Das benachbarte Marien-Carré umfasst über 8000 Quadratmeter. Und allein die gegenüberliegende H & M-Filiale im sanierten Haus der Kultur und Bildung bringt es auf eine Storegröße von 2350 Quadratmetern.
Während in den drei westlichen Besatzungszonen die Soziale Marktwirtschaft zusammen mit der Währungsreform 1948 und dem amerikanischen Marshallplan einen konjunkturellen Aufschwung brachte, der bald als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wurde, die USA, Frankreich und Großbritannien als Besatzungsmächte den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie förderten, ebnete die Sowjetunion im Osten dem Sozialismus den Weg.
Der Kalte Krieg zwischen den Systemen nahm an Intensität zu. In Korea standen sich die beiden Lager ab 1950 sogar militärisch das erste Mal gegenüber. Die Teilung der Welt galt auch für die beiden jungen deutschen Staaten, die 1949 gegründet worden waren. In der Bundesrepublik lief zum 1. Mai die Verwendung von Lebensmittelmarken aus. In der DDR wurde die Rationierung aller Produkte, bis auf Fleisch, Fett und Zucker, erst ab 8. Oktober 1951 aufgehoben, wobei die Preise für Backwaren und Textilien gesenkt wurden. Dafür beschloss das Politbüro der SED am 24. Januar 1950 die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit. Die Regierung der DDR verabschiedete gleichzeitig einen „Beschluss über die Abwehr von Sabotage“ und empfahl ebenfalls, ein solches Ministerium aufzubauen. Am 8. Februar stimmte die Volkskammer dem „Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit“ einstimmig zu. Eine Woche später wurden Wilhelm Zaisser zum Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke im Rang eines Staatssekretärs zu seinem Stellvertreter ernannt.
Der 24. März, Karsamstag, war ein angenehmer Frühlingstag in Neubrandenburg. Lagen morgens die Temperaturen gerade ein oder zwei Grad über null, stiegen sie am Nachmittag dank des strahlenden Sonnenscheins auf bis zu 14 Grad. Das Wetter schien mit Günter zu sein. Er soll vorgehabt haben, sich Ostern mit seiner Freundin zu verloben. Das hatte er wenige Tage zuvor seinem Kameraden Willy Wagner, einem späteren Korvettenkapitän der Volksmarine, in Parow erzählt.
Wahrscheinlich wolle er seiner Elli am Ostersonntag die Frage stellen, ob sie ihn heiraten wolle. Am Sonnabend zogen beide abends noch einmal los. Sie gingen in den Filmpalast. Das 1928 eröffnete Kino, das sich in seiner Architektur am benachbarten Stargarder Tor orientierte und über 700 Plätze verfügte, dürfte für ein verliebtes Pärchen die attraktivste der wenigen Möglichkeiten gewesen sein, am Ostersonnabend in Neubrandenburg etwas zu unternehmen. Der Film war mit Sicherheit kein Blockbuster. In der Region liefen zu dieser Zeit „Panzerkreuzer Potemkin“, eine 1950 veröffentlichte sowjetische Neufassung des Stummfilmklassikers von Sergei Eisenstein aus dem Jahr 1925, „Kutussow“, ein ebenfalls sowjetischer Film aus dem Jahr 1943, der am 2. Februar 1951 in einer DEFA-Synchronfassung in die ostdeutschen Kinos gekommen war, „Orientexpress“, ein deutsches Stummfilmmelodram, das trotz der Besetzung mit UFA-Stars wie Lil Dagover und Heinrich George sicher kein Kassenmagnet gewesen sein dürfte, war der Film doch Vorkriegsware aus dem Jahr 1927. Vielleicht haben sie die Komödie „Ehe man Ehemann wird“ gesehen. Thematisch hätte der Streifen aus dem Jahr 1941 gepasst.
Eine kecke Studentin verliebt sich in ihren Professor, einen Musikhistoriker und eingefleischten Junggesellen. Sie taucht in einer Unwetternacht hilfesuchend in seinem Landhaus auf und spielt ihm vor, auf der Hochzeitsreise den Ehemann bei einer Autopanne verloren zu haben. Das war eine flott gespielte Komödie mit bündelweisen Schwindeleien, die letztlich in ein Doppel-Happyend mündeten.
Nach dem Kino spazierten Günter und Elli Elsholz, sie arbeitete übrigens als Hausangestellte, noch ein wenig Hand in Hand durch die Stadt. Wahrscheinlich gingen sie nicht direkt die Stargarder Straße hoch zum Bahnhof, sondern die Straßen außerhalb des Walls entlang. Hier gab es keine kriegsbedingten Lücken in der Bebauung.
Zu den Besuchern der gegen 21 Uhr endenden Kinovorstellung gehörten auch Horst Paschen sowie Hans Kambs mit seiner Freundin. Der arbeitslose Bekannte von Paschen war kurze Zeit Angehöriger der Volkspolizei gewesen. Am Filmpalast trafen sie auf Paschens Cousin Kurt Kantak. Der war Unterkommissar der Volkspolizei und tags zuvor von Brandenburg an der Havel nach Neubrandenburg an die Tollense auf Osterurlaub gekommen. Da die drei bereits Eintrittskarten hatten, konnten sie nicht mehr zusammensitzen. Nach dem Film verabschiedete sich Kambs mit seiner Freundin, während Paschen und Kantak zum Bahnhof gingen, wo der Volkspolizei-Offizier auf dem Fahrplan schauen wollte, wann Züge in Richtung Brandenburg abgingen. Sein Urlaub wäre am Dienstag nach Ostern zu Ende gegangen.