ДOMA
Zu Hause
»Yasha! Wir haben kein Wasser mehr. Geh zum Brunnen!«
Die Stimme meiner Mutter klingt mir heute noch in den Ohren. Es ist seltsam, mich in den vierzehnjährigen Jungen von damals zurückzuversetzen, das Einzelkind, aufgewachsen in einem Dorf, das tausend Kilometer von Moskau entfernt lag.
Da stehe ich, spindeldürr, mit langen blonden Haaren und blauen Augen, die immer ein wenig erschrocken dreinblicken. Alle sagen, ich sei klein für mein Alter, und drängen mich, mehr Eiweiß zu essen. Als ob es hier so etwas wie frisches Fleisch oder Fisch gäbe.
Ich habe noch nicht Hunderte von Stunden trainiert und meine Muskeln gestählt. Stattdessen mache ich es mir im Wohnzimmer bequem und sehe fern.
Es gibt nur einen Fernseher im Haus, einen großen, hässlichen Kasten mit wenigen Programmen. Das Bild flimmert oft, aber noch schlimmer sind die häufigen Stromausfälle. Jedes Mal wenn ein Film oder eine Informationssendung interessant wird, beginnt das Bild zu flackern. Dann wird die Mattscheibe schwarz und man sitzt im Dunkeln.
Trotzdem sehe ich mir bei jeder Gelegenheit Dokumentarfilme an. Ich verschlinge sie förmlich. Sie sind mein einziges Fenster zur Außenwelt.
Ich schreibe über das Russland um 1990. Über ein Russland, das es nicht mehr gibt. Der Wandel, der in den großen Städten begann, wurde zu einem Tsunami, der das gesamte Land verschlang, obwohl es natürlich einige Zeit dauerte, bis er das Dorf erreichte, in dem ich lebte.
Bei uns hatte kein Haus fließendes Wasser, deshalb musste ich dreimal am Tag mit einem hölzernen Joch über den Schultern und zwei Metalleimern, die mir fast die Arme ausrenkten, zum Brunnen gehen. Ich klinge wie ein Bauer und muss in meinem ausgeleierten, kragenlosen Hemd und der Weste auch wie einer ausgesehen haben.
Dabei hatte ich sogar eine amerikanische Jeans, ein Geschenk von einem Verwandten in Moskau. Ich weiß noch, wie alle mich angestarrt haben, als ich sie angezogen habe. Jeans! Das war wie etwas von einem anderen Planeten. Und ich hieß Yasha, nicht Yassen. Zu der Namensänderung kam es durch einen Zufall.
Wenn ich erklären will, wie ich zu dem Menschen wurde, der ich heute bin, muss ich hier anfangen, in Estrov. Den Namen kennt heute niemand mehr, er ist auf keiner Karte verzeichnet. Den russischen Behörden zufolge hat es das Dorf nie gegeben, aber ich erinnere mich noch gut daran.
Ein Dorf mit achtzig Holzhäusern, umgeben von Feldern. Wir hatten eine Kirche, einen Laden, eine Polizeiwache, ein Badehaus und einen Fluss, der im Sommer blau leuchtete, aber das ganze Jahr über eiskalt war.
Mitten durch das Dorf führte die einzige Straße, die allerdings nur selten gebraucht wurde, da es kaum Autos gab.
Unser Nachbar Vladimov besaß einen Traktor, der oft an unserem Haus vorbeiratterte und öligen schwarzen Rauch in die Luft pustete, aber meist wurde ich von dem Hufgetrappel der Pferde geweckt.
Das Dorf lag eingezwängt zwischen einem undurchdringlichen Wald im Norden und Bergen im Süden und Westen. Der Blick aus dem Fenster war mehr oder weniger immer derselbe. Manchmal flogen Flugzeuge über uns hinweg und dann stellte ich mir die Menschen vor, die darin saßen und auf die andere Seite der Welt reisten.
Wenn ich im Garten arbeitete, richtete ich mich auf und sah ihnen und ihren im Sonnenlicht aufblitzenden Metallflügeln nach, bis sie verschwanden und nur noch das Echo ihrer Triebwerke in der Luft hing. Sie erinnerten mich daran, wer ich war. Meine Welt war Estrov und in dieser Welt brauchte man gewiss kein Flugzeug.
Das Haus, in dem ich mit meinen Eltern wohnte, war klein und einfach. Die Holzbretter waren farbig angestrichen, vor den Fenstern hingen Fensterläden und auf dem Dach stand eine Wetterfahne, die bei viel Wind die ganze Nacht quietschte.
Es lag in der Nähe der Kirche, mit etwas Abstand zur Hauptstraße und ähnlichen Häusern auf beiden Seiten. An den Wänden wuchsen Blumen und Brombeerbüsche rankten gen Himmel.
Es gab nur vier Zimmer. Meine Eltern schliefen im Obergeschoss. Mein Zimmer ging nach hinten hinaus, aber ich musste es teilen, wenn jemand bei uns übernachtete.
Meine Großmutter, die bei uns wohnte, hatte das Zimmer neben meinem, schlief aber lieber in einer Wandnische über dem Küchenherd. Sie war sehr klein und hatte eine dunkle Haut. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass sie von den Flammen geröstet wurde.
Einen Bahnhof gab es in Estrov nicht. Dafür war das Dorf nicht wichtig genug. Es gab auch keinen Bus oder andere Transportmöglichkeiten.
Meine Schule lag im nächstgrößeren Dorf, das sich Stadt nannte und drei Kilometer weit weg war. Im Sommer war der Weg staubig und mit Schlaglöchern übersät, im Winter matschig oder mit Schnee bedeckt.
Das Städtchen hieß Rosna. Den Schulweg ging ich täglich und bei jedem Wetter. Wenn ich zu spät kam, wurde ich geschlagen.
Die Schule war in einem großen Backsteingebäude mit drei Stockwerken untergebracht. Die Klassenzimmer hatten alle dieselbe Größe und es gab ungefähr fünfhundert Schülerinnen und Schüler. Ein Teil davon kam mit dem Zug. Bei ihrer Ankunft auf dem Bahnsteig waren ihre Augen vor Müdigkeit noch halb geschlossen.
Rosna hatte einen Bahnhof, auf den man sehr stolz war und den man an Feiertagen mit Blumen schmückte. Dabei handelte es sich nur um eine mickrige, heruntergekommene Haltestelle, an der neun von zehn Zügen vorbeirauschten.
Wir Schüler waren immer fein herausgeputzt. Die Mädchen trugen schwarze Kleider mit grünen Schürzen und hatten die Haare mit Bändern nach hinten gebunden. Die Jungen sahen in ihren grauen Uniformen mit den roten Halstüchern aus wie kleine Soldaten.
Für die guten Schüler gab es Fleißabzeichen. Was ich damals lernte, habe ich größtenteils wieder vergessen. Das geht sicher vielen ähnlich. Wichtig war die Geschichte, die russische Geschichte natürlich. Und wir lernten ständig Gedichte auswendig und mussten sie an unseren Pulten stehend aufsagen. Außerdem wurden wir in Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet. Die meisten Lehrer waren Frauen, unser Direktor aber war ein Mann namens Lavrov mit einem aufbrausenden Temperament. Er war klein, hatte aber breite Schultern und lange Arme. Ich sah oft, wie er einen Jungen am Kragen packte und gegen die Wand drückte.
Dann brüllte er so etwas wie: »Du bist ein miserabler Schüler, Leo Tretyakov! Reiß dich zusammen oder lass dich hier nicht mehr blicken!«
Sogar die Lehrer fürchteten ihn. Dabei war er im Grunde ein herzensguter Mensch. In Russland werden wir dazu erzogen, unsere Lehrer zu achten, und ich hielt seine cholerischen Anfälle für etwas völlig Normales.
Ich ging sehr gerne zur Schule und war ein guter Schüler. Leistung wurde mit Sternen honoriert – die Lehrer benoteten uns alle zwei Wochen – und ich war immer ein Fünf-Sterne-Schüler, ein pyatiorka.
Am besten war ich in Physik und Mathematik, beides Fächer, die bei den Obrigkeiten des Landes viel zählten. Wir wurden ständig daran erinnert, dass Russland den ersten Menschen – Yuri Gagarin – ins Weltall geschickt hatte. Am Haupteingang hing sogar ein Foto von ihm, das man beim Betreten der Schule grüßen sollte.
Ich war auch in Sport gut und weiß noch, wie die Mädchen aus meiner Klasse mir zuschauten und klatschten, wenn ich ein Tor schoss. Damals interessierte ich mich noch nicht besonders für Mädchen. Ich plauderte zwar gerne mit ihnen, war aber nicht unbedingt scharf darauf, auch meine Freizeit mit ihnen zu verbringen. Mein bester Freund war der eben erwähnte Leo. Wir waren unzertrennlich.
Leo Tretyakov war klein und mager. Er hatte abstehende Ohren, Sommersprossen und rötlich blonde Haare. Leo sagte oft zum Spaß, er sei der hässlichste Junge des ganzen Bezirks, und ich konnte dem nicht widersprechen. Mit Intelligenz konnte er auch nicht punkten. Er war ein Zwei-Sterne-Schüler, ein trauriger dvoyka, und eckte ständig bei den Lehrern an. Sie gaben es schließlich auf, ihn zu bestrafen, weil dies keinerlei Wirkung zeigte. Von da an saß er nur noch still vor sich hin träumend in der letzten Reihe.
Zugleich war er jedoch der Star des NVP-Unterrichts, des militärischen Trainings, an dem alle Klassen teilnehmen mussten. Leo konnte eine Kalaschnikow in zwölf Sekunden zerlegen und in fünfzehn Sekunden wieder zusammenbauen. Außerdem war er ein hervorragender Schütze.
Zweimal im Jahr fanden militärische Spiele statt, bei denen wir gegen andere Schulen antreten und uns mit Karte und Kompass im Wald zurechtfinden mussten. Leo war immer unser Anführer und wir gewannen jedes Mal.
Ich mochte ihn, weil er vor nichts Angst hatte und mich ständig zum Lachen brachte. Wir machten alles gemeinsam. Wir aßen zusammen unsere Pausenbrote auf dem Schulhof und spülten sie mit einem Schluck Wodka hinunter, den Leo zu Hause geklaut und in einem alten Parfümfläschchen seiner Mutter mitgebracht hatte. Wir rauchten in dem Wäldchen hinter dem Hauptgebäude Zigaretten und mussten fürchterlich husten, weil der Tabak so trocken war.
In den Toiletten gab es keine Trennwände, sodass wir unser Geschäft oft nebeneinander verrichteten. Das klingt vielleicht eklig, aber so war es eben. Klopapier musste man selbst mitbringen, was Leo nur immer vergaß. Dann riss er mit schlechtem Gewissen einige Seiten aus seinem Übungsheft. Auf diese Weise verlor er stets seine Hausaufgaben. Andererseits hatten diese wahrscheinlich auch nichts Besseres verdient – wie er sogar selbst sagte.
Am schönsten waren die Sommer. Dann rasten wir mit unseren Fahrrädern stundenlang über die Landstraßen, bretterten hangabwärts und strampelten wie besessen rückwärts, weil man nicht anders bremsen konnte. Alle Kinder fuhren dasselbe Modell, ein tödliches Gefährt ohne Federung, Licht und Bremse. Wir hatten kein bestimmtes Ziel, aber genau darin bestand der Reiz.
In unserer Fantasie brausten wir durch eine von Wölfen, Vampiren, Gespenstern und Kosaken bevölkerte Welt. Wenn wir danach ins Dorf zurückkehrten, schwammen wir im Fluss, obwohl das Wasser Parasiten enthielt, die einen krank machen konnten, gingen ins Badehaus und schlugen in der Schwitzstube mit Birkenzweigen aufeinander ein, weil das der Haut angeblich guttat.
Leos Eltern arbeiteten in derselben Fabrik wie meine, aber mein Vater, der an der Staatlichen Universität Moskau studiert hatte, bekleidete einen höheren Posten. In der Fabrik waren rund zweihundert Menschen beschäftigt, die mit Bussen in Estrov, Rosna und vielen anderen Orten abgeholt wurden.
Die Fabrik war mir ein Rätsel. Warum lag sie mitten im Nirgendwo? Wieso hatte ich sie noch nie gesehen? Sie war von einem Stacheldrahtzaun umgeben und am Tor standen bewaffnete Soldaten. Auch das verstand ich nicht. Die Fabrik produzierte doch nur Pestizide und andere Chemikalien für Bauern.
Wenn ich meine Eltern danach fragte, wechselten sie das Thema. Leos Vater war für das Transportwesen und die Busse zuständig. Mein Vater arbeitete als Chemiker in der Forschung, meine Mutter als Sekretärin in der Hauptverwaltung. Mehr wusste ich nicht.
An den Sommerabenden saßen Leo und ich oft am Fluss und sprachen über die Zukunft. Eigentlich wollte jeder nur weg aus Estrov. Abgesehen von der Arbeit gab es kaum etwas zu tun und die Hälfte der Einwohner war ständig betrunken.
In den Wintermonaten durfte der Dorfladen erst um zehn Uhr morgens öffnen, sonst hätten die Leute schon im Morgengrauen ihren Wodka gekauft. Im Dezember und Januar sah man oft Bauern draußen liegen, halb zugedeckt vom Schnee und halb tot nach dem Leeren einer ganzen Flasche.
Die sich so schnell verändernde Welt ließ uns zurück. Warum meine Eltern überhaupt hergekommen waren, war für mich ein weiteres Rätsel.
Leo war es egal, ob er später in der Fabrik arbeitete oder nicht. Aber ich hatte andere Pläne. Auch wenn ich nicht wusste warum, hielt ich mich immer für anders als alle anderen. Vielleicht lag es daran, dass mein Vater an einer großen Universität unterrichtet hatte und das Leben außerhalb des Dorfes kannte. Und wenn ich sah, wie die Flugzeuge in der Ferne verschwanden, hatte ich das Gefühl, sie wollten mir etwas mitteilen. Mir sagen, dass ich zu ihnen gehörte. Es gab ein Leben außerhalb von Estrov, das ich vielleicht eines Tages kennenlernen würde.
Über meinen Traum hatte ich bisher nur mit Leo gesprochen. Ich wollte Hubschrauberpilot beim Militär werden, oder, wenn das nicht ging, beim Seenotrettungsdienst.
Im Fernsehen hatte ich eine Sendung darüber gesehen, die mich nicht mehr losließ. Von da an verschlang ich alles, was ich über Hubschrauber in die Hände bekam. Ich holte mir Bücher aus der Schulbücherei und schnitt Artikel aus Zeitschriften aus. Mit dreizehn konnte ich alle beweglichen Teile eines Hubschraubers benennen. Ich wusste genau, wie er die verschiedenen Kräfte zum Fliegen nutzte. Ich hatte nur noch nie in einem gesessen.
»Glaubst du, du gehst irgendwann weg von hier?«, fragte Leo mich eines Abends. Wir lagen nebeneinander im hohen Gras und teilten uns eine Zigarette. »Und wohnst in einer Stadt, in deiner eigenen Wohnung und hast ein eigenes Auto?«
»Und wie soll das gehen?«
»Du bist intelligent. Du kannst nach Moskau ziehen und eine Ausbildung zum Piloten machen.«
Ich schüttelte den Kopf. Leo war mein bester Freund. Egal was ich mir im Stillen ausmalte, ich wollte nicht darüber sprechen, dass wir eines Tages getrennt sein könnten. »Meine Eltern würden es wahrscheinlich sowieso nicht erlauben. Und warum sollte ich von hier weg? Hier ist mein Zuhause.«
»Estrov ist ein Kaff.«
»Nein.« Ich sah dem Wasser im Fluss nach, wie es an den Steinen aufspritzte, betrachtete den Wald und die staubige Piste, die durch unser Dorf führte. Dann ließ ich den Blick zum Turm von Sankt Nikolaus schweifen.
Das Dorf hatte keinen Priester und die Kirche war geschlossen. Aber ihr Schatten reichte fast bis zu unserer Haustür und sie war ein fester Bestandteil meiner Kindheit.
Vielleicht hatte Leo Recht. Estrov war wirklich nichts Besonderes, aber trotzdem war es meine Heimat.
»Ich bin hier glücklich«, sagte ich. Und in diesem Moment glaubte ich es sogar selbst. »So schlecht ist es hier doch gar nicht.«
An diese Worte erinnere ich mich bis heute. Und ich rieche immer noch den Rauch eines Feuers irgendwo auf der anderen Seite des Dorfes und höre das Glucksen des Wassers.
Leo verdreht einen Grashalm zwischen den Fingern, ich sehe ihn noch vor mir. Unsere Räder liegen aufeinander. Einzelne kleine Wolken ziehen träge über den Himmel. Ein Fisch bricht durch die Wasseroberfläche, die Schuppen glitzern silbern in der Sonne. Es ist ein warmer Nachmittag Anfang Oktober. Und in vierundzwanzig Stunden wird alles anders sein, wird Estrov nicht mehr existieren.
Als ich nach Hause kam, machte meine Mutter schon das Abendessen. Essen war bei uns im Dorf ein ständiges Gesprächsthema, weil es so wenig davon gab und alle selbst Nahrungsmittel anbauten.
Wir hatten Glück. Wir besaßen nicht nur einen Gemüsegarten, sondern auch ein Dutzend fleißige Hennen. Deshalb hatten wir immer viele Eier – wenn uns die Nachbarn keine klauten.
Meine Mutter machte einen Eintopf aus Kartoffeln, Rüben und Dosentomaten, die in der Woche zuvor im Laden aufgetaucht und sofort ausverkauft gewesen waren. Genau das gleiche Essen hatte es schon am vergangenen Abend gegeben. Dazu gab es Schwarzbrotscheiben und natürlich mit Wodka gefüllte Schnapsgläser. Ich trank Wodka, seit ich neun war.
Meine Mutter war eine schlanke Frau mit leuchtend blauen Augen. Einst war sie so blond gewesen wie ich. Doch jetzt, mit gerade einmal Mitte dreißig, hatte sie bereits graues Haar. Sie band es straff zurück, sodass die Krümmung ihres Halses frei lag.
Sie lächelte jedes Mal, wenn sie mich sah, und ergriff immer für mich Partei. Einmal zum Beispiel wären Leo und ich fast verhaftet worden, weil wir vor der Polizeiwache Bomben gezündet hatten.
Wir waren im ersten Morgengrauen aufgestanden, hatten Löcher in den Boden gegraben und diese mit Reißnägeln und dem Schießpulver von ungefähr fünfhundert Streichhölzern gefüllt. Anschließend hatten wir uns hinter der Friedhofsmauer versteckt und abgewartet.
Es dauerte zwei Stunden, bis ein Polizeiauto über unseren versteckten Sprengsatz fuhr und die Explosion auslöste. Es gab einen Mordsknall. Das Vorderrad wurde zerfetzt. Das Auto geriet außer Kontrolle und fuhr durch ein Gebüsch.
Wir lachten, wie schon lange nicht mehr, aber als ich nach Hause kam, verflog meine gute Laune. Im Wohnzimmer saß Wachtmeister Yelchin und fragte, wo ich gewesen sei. Als ich sagte, ich habe für meine Mutter eine Besorgung gemacht, bestätigte meine Mutter das, obwohl sie wusste, dass ich log. Später schimpfte sie mich aus, aber ich merkte, dass sie unseren Streich insgeheim auch lustig fand.
Bei uns zu Hause redeten vor allem meine Mutter und meine Großmutter. Mein Vater war ein sehr nachdenklicher Mensch, der genauso aussah, wie man sich einen Wissenschaftler vorstellt. Er hatte graue Haare, ein ernstes Gesicht und eine Brille. Auch wenn er in Estrov lebte, gehörte sein Herz immer noch Moskau.
Er bewahrte seine alten Bücher auf, und sobald ein Brief aus der Stadt kam, zog er sich zurück, um ihn zu lesen. Beim Essen war er mit seinen Gedanken dann meilenweit weg von uns.
Ich hätte ihn mehr fragen sollen, denke ich jetzt, aber wahrscheinlich geht das allen so. Als Kind akzeptiert man seine Eltern so, wie sie sind, und glaubt, was sie einem erzählen.
Die Gespräche beim Essen verliefen oft etwas schleppend, weil meine Eltern nicht über ihre Arbeit in der Fabrik reden wollten und ich ihnen auch nicht alles über meinen Schultag sagen konnte.
Meine Großmutter lebte gedanklich immer noch in der Vergangenheit vor zwanzig Jahren. Sie sagte viel, aber das hatte überhaupt keinen Bezug zur Gegenwart.
An diesem Abend war es anders. Es hatte offenbar einen Unfall gegeben, ein Feuer in der Fabrik – nichts Ernstes. Mein Vater machte sich trotzdem Sorgen und äußerte ausnahmsweise einmal seine Meinung.
»Daran sind die neuen Investoren schuld«, sagte er. »Sie denken nur ans Geld. Sie wollen die Produktion steigern und dabei sind ihnen die Sicherheitsvorkehrungen völlig egal. Heute hat es bloß den Generator getroffen, aber einmal angenommen, das Feuer wäre in einem der Labore ausgebrochen …«
»Du solltest mit ihnen sprechen«, sagte meine Mutter.
»Sie würden nicht auf mich hören. Alles wird von Moskau aus geregelt und dort hat man keine Ahnung.« Er leerte sein Wodkaglas in einem Zug. »Das ist das neue Russland, Eva. Wir gehen dabei vor die Hunde, aber das kümmert sie nicht. Hauptsache, sie bekommen ihr Geld.«
Das ergab keinen Sinn. Die Herstellung von Düngern und Pestiziden konnte für Estrov doch nicht gefährlich werden, oder?
Meine Mutter schien dasselbe zu denken, denn sie sagte: »Du machst dir zu viele Sorgen.«
»Wir hätten da niemals mitmachen dürfen.« Mein Vater schenkte sich erneut ein. Er trank weniger als viele andere im Dorf und meist dann, wenn er mit dem Rest der Welt nichts mehr zu tun haben wollte. »Je schneller wir von hier verschwinden, desto besser. Wir waren lange genug hier.«
»Die Schwäne sind zurückgekehrt«, sagte meine Großmutter. »Sie sind um diese Jahreszeit so schön.«
Im Dorf gab es keine Schwäne. Und soweit ich weiß, hatte es auch nie welche gegeben.
»Gehen wir wirklich fort von hier?«, fragte ich. »Nach Moskau?«
Meine Mutter streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf meine. »Eines Tages vielleicht, Yasha. Dann kannst du an der Universität studieren wie dein Vater. Aber bis dahin musst du tüchtig lernen …«
Der nächste Tag war ein Sonntag und ich hatte keine Schule. Die Fabrik dagegen machte nie zu und meine Eltern waren beide für die Wochenendschicht eingeteilt. Sie arbeiteten bis vier Uhr nachmittags und ich sollte in dieser Zeit das Haus putzen und meiner Großmutter das Mittagessen geben.
Nach dem Frühstück kam Leo vorbei, aber wir hatten beide viele Hausaufgaben zu erledigen, deshalb wollten wir uns um sechs Uhr abends am Fluss treffen und vielleicht mit einigen anderen Jungs Fußball spielen.
Mittags lag ich auf meinem Bett und arbeitete mich durch ein Kapitel aus Verbrechen und Strafe – ein dickes Meisterwerk der russischen Literatur, das wir lesen sollten.
Wie Leo gesagt hatte, wussten wir zwar nicht, was wir verbrochen hatten, aber dieses Buch zu lesen war ganz sicher eine Strafe. Die Geschichte hatte mit einem Mord begonnen, aber seitdem war nichts mehr passiert und ich hatte noch sechshundert Seiten vor mir.
Ich lag also mit dem Kopf zum Fenster da und die Sonne schien auf die Buchseiten. Es war ein stiller Tag. Selbst die Hühner hatten ihr ewiges Gegacker aufgegeben und ich hörte nur das Ticken der Uhr an meinem linken Handgelenk, einer Pobeda mit schwarzen Zahlen auf weißem Zifferblatt und fünfzehn Steinen.
Sie war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hergestellt worden und hatte früher meinem Großvater gehört. Ich zog sie nie aus und sie war im Laufe der Jahre zu einem Teil von mir geworden.
Ich sah, dass es fünf Minuten nach zwölf war, und hörte im selben Augenblick die Explosion. Eigentlich war ich mir nicht sicher, ob es sich wirklich um eine Explosion handelte. Es klang eher, als würde eine aufgeblasene Papiertüte platzen.
Ich stand vom Bett auf und blickte durch das offene Fenster nach draußen. Einige Menschen gingen über die Felder, ansonsten gab es nichts zu sehen.
Ich wandte mich wieder dem Buch zu. Wie hatte ich das Gespräch meiner Eltern vom Abend zuvor so schnell vergessen können?
Ich las weitere dreißig Seiten. Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als ich wieder etwas hörte – leise und weit entfernt, aber eindeutig: Schüsse und das Knattern eines Sturmgewehrs. Aber das konnte nicht sein. Manchmal ging jemand im Wald auf die Jagd, jedoch nicht mit einem Sturmgewehr. Und Truppenübungen hatte es in dieser Gegend noch nie gegeben.
Ich blickte wieder aus dem Fenster. Hinter den Bergen im Süden von Estrov stieg Rauch auf. Da wusste ich, dass ich mir die Geräusche nicht eingebildet hatte. Es war etwas passiert. Der Rauch kam aus der Fabrik.
Ich sprang vom Bett auf, ließ das Buch fallen, rannte die Treppe hinunter und raus aus dem Haus.
Das Dorf lag vollkommen verlassen da. Unsere Hühner stolzierten über den Rasen und pickten im Gras. Irgendwo bellte ein Hund. Alles war so absurd normal.
Doch dann hörte ich Schritte und hob den Kopf. Unser Nachbar Vladimov rannte die Straße entlang und wischte sich dabei die Hände an einem Lappen ab.
»Herr Vladimov!«, rief ich. »Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er keuchend. Wahrscheinlich hatte er gerade seinen Traktor repariert, denn er war über und über mit Öl beschmiert. »Es sind schon alle da, um es sich anzusehen. Ich gehe jetzt auch hin.«
»Was meinen Sie mit alle?«
»Das ganze Dorf! Es gab einen Unfall!«
Bevor ich noch etwas fragen konnte, war er schon wieder verschwunden.
Kaum war er weg, ging der Alarm los. Ein ohrenbetäubender Lärm, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Es hätte nicht schlimmer sein können, wenn ein Krieg ausgebrochen wäre.
Und während mir vom Lärm noch der Kopf dröhnte, begriff ich, dass er aus der Fabrik kommen musste, die anderthalb Kilometer vom Dorf entfernt lag. Wie konnte er dann so laut sein? Nicht einmal der Feueralarm unserer Schule konnte da mithalten.
Das schrille Geheul der Sirene breitete sich überallhin aus, über Wald, Berge und Himmel. Zugleich schien die Sirene direkt neben mir zu stehen, vor unserem Haus.
Offenbar hatte es wieder einen Unfall gegeben. Aber das war vor einer halben Stunde gewesen. Warum hatte man den Alarm erst jetzt ausgelöst?
Die Sirene verstummte. Und in der plötzlichen Stille verwandelten sich die Gegend und das Dorf, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, zu fotoartigen Ansichten, die ich von außen betrachtete. Abgesehen von mir war keine Seele auf der Straße. Der Hund hatte aufgehört zu bellen, die Hühner waren in alle Richtungen geflohen.
Dann hörte ich das Geräusch eines Motors. Ein Auto ruckelte über die löchrige Straße auf mich zu. Als Erstes stellte ich fest, dass es sich um einen schwarzen Lada handelte. Dann entdeckte ich unzählige Einschusslöcher im Blech und die zerborstene Windschutzscheibe. Doch erst als das Auto anhielt, fuhr mir der Schrecken in die Glieder.
Auf dem Beifahrersitz saß mein Vater, hinter dem Steuer meine Mutter.