KAPITEL 1
KLICK.
Ein elektrischer Stoß ging durch mich hindurch, als hätte ich die Stromschiene der U-Bahn berührt.
Mein Blut raste wie geschmolzenes Blei durch versengte Adern.
Schmerz.
Orientierungslosigkeit.
Gefolgt von Energie. Grenzenloser Energie. Energie, die aus meinem Innersten zu kommen schien.
Schweiß schoss mir aus allen Poren.
Die Iris meiner Augen funkelte und färbte sich golden. Leuchtend gelbe Scheiben, die abgrundtiefe, tintenschwarze Pupillen umgaben. Die Welt war plötzlich gestochen scharf, bis ins kleinste Detail erfasst von den hauchfeinen Laserstrahlen meiner Augen.
Das Summen in meinen Ohren wich einer fast übersinnlichen Klarheit. Ein leises Grundrauschen füllte meinen Kopf, gefolgt von einem Pochen. Dann wurde der diffuse Klang zu einer Symphonie unterscheidbarer Meeresgeräusche.
Meine Nase erwachte, witterte Bestandteile einer Sommerbrise, identifizierte die Gerüche der Küste. Salz. Sand. Meer. Meine Nasenlöcher nahmen feinste Duftspuren wahr.
Meine Arme und Beine zitterten, durchströmt von gefangener Energie, die sich nach Freiheit sehnte. In animalischem Genuss bleckte ich unwillkürlich die Zähne.
Das Gefühl war so unglaublich, so machtvoll, dass ich freudig zu hecheln begann. Ich wünschte, ich könnte diesen Moment noch ewig auskosten. Ohne Ende. Es würde für immer so bleiben.
Ich hatte einen Schub.
Neben mir kniff Ben seine dunklen Augen zusammen und verzog das Gesicht. Sein durchtrainierter Körper bebte, jeder Muskel gespannt, während er versuchte, es mir kraft seines Willens gleichzutun. Vergeblich.
So funktioniert das nicht.
Aber ich hielt die Klappe. Wie könnte ich ihm einen Rat geben? Letztendlich verstehe ich unsere übermenschliche Kraft genauso wenig wie er. Meine Kontrolle war auch nicht besser als seine.
Jedenfalls nicht, sobald ich den Wolf in mir zum Leben erweckt hatte.
***
Wahrscheinlich fragt ihr euch jetzt, wovon ich überhaupt rede. Oder ihr habt euch schon entschieden, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe, und legt das Buch lieber beiseite. Das kann ich euch nicht verübeln. Vor ein paar Monaten hätte ich dasselbe getan.
Aber das war vor meiner Verwandlung. Bevor ein mikroskopisch kleiner Eindringling meine biologische Software veränderte. Bevor ich mich zu etwas entwickelte, das es so noch nie gegeben hat. Brandneu und archaisch zugleich.
Hier kommt die Kurzversion:
Vor ein paar Monaten hat ein hässliches Supervirus meine Freunde und mich angesteckt. Es war kein natürlicher Erreger. Er stammte aus einem geheimen Labor, in dem illegale Experimente durchgeführt wurden. Und der Winzling hatte es auf menschliche Träger abgesehen.
Wie ich zu dem Glück gekommen bin?
Ein skrupelloser Wissenschaftler, Dr. Marcus Karsten, hat den Erreger in die Welt gesetzt. Er war der Chef meines Vaters am Loggerhead Island Research Institute. In blinder Geldgier hat Karsten zwei Typen des Parvovirus gekreuzt, womit er versehentlich einen neuen Virenstamm schuf, an dem sich auch Menschen anstecken können. Leider haben wir uns bei einem Wolfshund namens Cooper angesteckt, Karstens Versuchstier.
Wenn ich nur daran denke …
Jedenfalls war ich tagelang krank. Wir alle waren krank. Bevor der Wahnsinn begann.
Mein Gehirn kochte über. Meine Sinne liefen Amok.
Manchmal verlor ich völlig die Kontrolle, konnte die animalischen Instinkte nicht mehr bändigen. Dann schlang ich rohes Hackfleisch herunter. Attackierte eine Rennmaus, die Gott sei Dank in ihrem Käfig saß. Bei meinen Freunden dasselbe.
Nachdem die erste Aufregung vorüber war, hatte sich unser Innerstes für immer verändert. Der bösartige Erreger hatte unsere Zellstruktur umgestaltet, unseren genetischen Code manipuliert. Canine DNA hat sich in meinen menschlichen Chromosomen häuslich eingerichtet.
Es ist nicht leicht, mit wölfischen Instinkten zu leben, die sich in deiner Doppelhelix verbergen.
Doch bringt unsere neue Physis auch gewisse … Vorteile mit sich.
Ich will ganz offen sein. Meine Freunde und ich haben Superkräfte. Übermenschliche Fähigkeiten. Verborgen, doch sehr real. Ihr habt ganz richtig gehört.
Wir sind sozusagen eine große Nummer. Oder wären es, wenn wir denn irgendjemand davon erzählen könnten, was nicht der Fall ist. Wir wollen schließlich nicht selbst zu Versuchstieren werden und in unsere Bestandteile zerlegt werden.
Wir reden von Schub, wenn wir das Gefühl beschreiben wollen. Es ist, als würde ich innerlich brennen, mein Bewusstsein windet und weitet sich, und plötzlich – wusch! – gehe ich ab wie eine Rakete. Dann sind meine Kräfte entfesselt.
Doch lerne ich immer mehr, meine Fähigkeiten zu kontrollieren. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Hoffe es zumindest.
Verdammt, ich will einfach wissen, was es damit auf sich hat.
Die Grundzüge verstehe ich ja. Wenn ich einen Schub habe, dann schalten meine Sinne auf Turbo. Dann sehe, rieche, höre und schmecke ich besser. Sogar die Gefühle werden intensiver.
Ich werde schneller. Stärker.
Lebendiger.
Ein Viral.
So nennen wir uns selbst. Virals. Wir hielten es für angebracht, uns einen Gruppennamen zuzulegen, da wir ja nun eine Gang genetischer Mutanten sind. Das hebt die Moral. Schweißt uns zusammen.
Wir sind insgesamt fünf Virals: Ben, Hi, Shelton und ich. Und natürlich mein Wolfshund Cooper. Schließlich war er der Indexpatient.
Im Kern geht es darum, dass wir die physischen Eigenschaften von Wölfen annehmen können. Aber das klappt nicht immer auf Kommando. Und manchmal geschieht die Verwandlung auch im unpassendsten Augenblick.
Um ehrlich zu sein, wissen wir auch nicht genau, was da mit uns passiert oder wie wir das wieder in Ordnung bringen sollen. Beziehungsweise was für Überraschungen als Nächstes auf uns warten. Doch eins steht fest: Wir sind anders. Freaks. Mischwesen.
Und wir sind auf uns allein gestellt.
***
Bens Frust wuchs und wuchs. Wütend riss er sich das schwarze T-Shirt herunter und schleuderte es in den Sand, als wäre das Kleidungsstück für sein Scheitern verantwortlich. Der Schweiß drang aus allen Poren seiner tief gebräunten Haut.
Ich wandte mich ab, damit er nicht sah, dass meine Augen bereits glühten. Wollte seinen Zorn nicht noch anstacheln. Wenn Ben Blue schlecht gelaunt ist, hat keiner was zu lachen.
Hi war vor Ben in die Hocke gegangen. Ein pummeliger Junge mit gewellten braunen Haaren, rotem Hawaiihemd und grünen Bermudashorts. Nicht gerade stylish und schon gar nicht passend zusammengestellt, aber typisch Hiram Stolowitski.
Er musterte die Dünenlandschaft. Sein Schub hatte längst eingesetzt. Von allen Virals hat Hi die geringsten Schwierigkeiten, ihn auszulösen.
»Ich sehe dich, Mr Rabbit«, murmelte er vor sich hin. »Vor Wolfmann Hi kannst du dich nicht verstecken.«
»Tolle Beschäftigung«, sagte ich trocken. Wenn ich einen Schub habe, höre ich noch das leiseste Wort laut und deutlich. »Willst du deine Superkräfte nicht zu was anderem benutzen, als arme Häschen zu verspotten?«
»Der Hase hat mich provoziert.« Er ließ sein Zielobjekt nicht aus den Augen. »Weil er so verdammt süß ist!«
Ich verdrehte meine goldenen Augen. »Wir sollten lieber vernünftig trainieren.«
»Dann trainier mal deine Sehkraft, Fräulein Oberschlau.« Hi streckte den Zeigefinger aus. »Knapp fünfzig Meter von hier, dritte Düne links, steht ein breitblättriger Rohrkolben, auch Lampenputzer oder Typhia latifolia genannt. Und der Hase ist gar kein Hase, sondern ein Kaninchen, hat braun gesprenkeltes Fell und schwarze Schnurrhaare. Ein Florida-Waldkaninchen, auch Östliches Baumwollschwanzkaninchen genannt beziehungsweise Sylvilagus floridanus, wie wir Lateiner sagen.«
Neben der Durchführung wissenschaftlicher Experimente liebte Hi es besonders, mit seinem umfassenden zoologischen Wissen anzugeben. Beides offenbar ein Erbe seines Vaters, der als Labortechniker im LIRI für den Zustand der Laborgeräte zuständig ist.
Dann stieß Hi plötzlich einen theatralischen Laut aus: »Oh! Jetzt hat er sich eine Freundin angelacht.«
Wir standen an der Nordspitze von Turtle Beach, an der Westküste von Loggerhead Island. Der Wald im Inneren der Insel erhob sich zu meiner Rechten. Links von mir erstreckte sich der Atlantik, der von hier bis nach Afrika reicht.
Ich konzentrierte mich auf die Stelle, die Hi mir beschrieben hatte, eine unebene Fläche, auf der Rohrkolben und Immergrün wuchsen. Ich fasste sie ins Auge, stellte meinen Blick auf null.
Das Bild gewann an Schärfe und war plötzlich von einer überwältigenden Klarheit – jenseits dessen, was ein menschliches Auge sonst leisten kann. Ich konnte jedes Blatt und jeden einzelnen Zweig voneinander unterscheiden. Und ich sah ganz deutlich zwei schnuppernde Kaninchen im Unterholz.
Ein halbes Fußballfeld von mir entfernt.
»Dein Blick ist noch besser als meiner«, sagte ich. »Also die Schnurrhaare kann ich von hier aus nicht erkennen.«
Hi zuckte die Schultern. »Dann bin ich dir endlich mal in einer Sache überlegen. Ich höre nicht so gut wie Shelton und hab auch nicht deine Spürnase.«
Neben mir war Ben immer noch am Grunzen und am Stöhnen. Er konnte den Schub einfach nicht auslösen. Mit weiterhin geschlossenen Augen fluchte er lautstark vor sich hin. Und unflätig.
Hi, der Bens Kampf beobachtete, kratzte sich am Kinn. Warf mir einen fragenden Blick zu. Zuckte die Schultern. Dann ging er lautlos um Ben herum, stellte sich hinter ihn und trat ihm ohne Vorwarnung in den Hintern.
Der Tritt war nicht von schlechten Eltern.
Ben stürzte kopfüber in den Sand.
»Ey, was soll der Scheiß?« Er rappelte sich auf und ging mit geballten Fäusten auf Hi los. Ein gelbes Feuer loderte in seinen Augen.
»Ganz ruhig, Kumpel!« Mit erhobenen Händen wich Hi zurück. »Ich wollte dich nur ein bisschen provozieren. Ging nicht anders.«
Bis jetzt hatte Ben seine Kräfte immer nur dann entfalten können, wenn er wütend geworden war. So wie jetzt. Er hätte Hi am liebsten den Kopf abgerissen.
»Stopp!«, schrie ich verzweifelt, um im letzten Moment einen Mord zu verhindern. »Ben, du hast einen Schub! Es funktioniert!«
Ben hielt inne und bewegte die Hände. Bemerkte die Verwandlung. Er nickte Hi mit finsterer Miene zu. Hi streckte ihm seinen gehobenen Daumen entgegen und grinste von einem Ohr zum anderen.
»Wir sollten uns was Besseres überlegen, sonst bezieht noch mal jemand von euch Prügel. Ich glaube, Big Mac kann sowieso mal wieder eine Abreibung gebrauchen.« Er trat auf Hi zu.
Hi fasste ihn an den Schultern. »Jederzeit, Kumpel, tu dir keinen Zwang an.«
Im nächsten Moment drückte Ben ihn so fest an sich, dass Hi die Luft wegblieb. »Klugscheißer!«
Hi keuchte. »Sag mal, hast du sie noch alle?«
Ben lachte. Dann hob er Hi in die Höhe und stemmte ihn mühelos über seinen Kopf.
Mir fiel die Kinnlade herunter.
Hi kreiste über Bens Kopf wie die Rotorblätter eines Hubschraubers. Ein Mal. Zwei Mal. Sein Gesicht nahm eine blassgrüne Farbe an. Wie eine Limone? Wasabi? Ein irisches Kleeblatt?
»Ich kotze gleich!«, warnte ihn Hi. »Alarmstufe rot.«
Ben eilte mit ihm bis zum Wasser.
Hi flog wie eine Stoffpuppe durch die Luft und landete mit dem Gesicht zuerst in der knietiefen Brandung. Tauchte prustend und fluchend wieder auf.
Ben grinste zufrieden. »Danke, das war’s.«
»So was von undankbar.« Hi schnäuzte sich das Wasser aus der Nase und begutachtete seine triefenden Kleider. »Allerdings ziemlich beeindruckend, das muss ich zugeben. Mister Universum ist nichts dagegen.«
Hi versuchte, seinen Kontrahenten nass zu spritzen, doch Ben tänzelte johlend davon. Dann sprintete er den Turtle Beach hinunter, sprang über die Dünen und war verschwunden.
»Wow!«, stieß ich aus. »Und wie schnell er ist, viel schneller als ich, selbst mit Schub.«
Hi schlurfte an den Strand zurück. »Ich hab ihn mit Absicht gewinnen lassen. Ist gut für sein Selbstbewusstsein.«
»Stimmt.«
»So bin ich eben.«
»Ein Heiliger!«
Es tat gut, Ben wieder lachen zu sehen. Seit dem Heaton-Fall hatten wir alle nicht viel zu lachen gehabt. Der mediale Wirbelsturm war rasch abgeflaut, doch unsere Eltern gaben nicht so schnell Ruhe. Was bedeutete, dass jeder von uns Hausarrest bekam. Für den Großteil des Sommers.
Und wenn ich Hausarrest sage, meine ich Hausarrest. Die Erwachsenen wussten genau, wie sie uns am härtesten treffen konnten. Keine Besuche. Weder Fernsehen noch Telefon. Nicht mal Internet. Es war brutal. Wie das Leben in einer Höhle.
Ohne jeden Kontakt zu meinen Freunden war ich allmählich durchgedreht.
Das Virus war ein Joker, der in unseren Körpern Amok lief. Alles war möglich.
War die Krankheit ein für alle Mal verschwunden? Hatten sich unsere Kräfte stabilisiert? Wusste noch jemand von Dr. Karstens geheimen Experimenten? Von Coop? Von uns?
Mit diesen Fragen war ich wochenlang allein gewesen.
Die Isolation hatte meinen Nerven nicht gutgetan.
Ben nahm als Erster Reißaus. Den Eltern Blue lag ohnehin nicht viel an Disziplin. Meine Entlassung folgte am ersten August, nach fast zwei Monaten der Gefangenschaft.
Gute Führung? Eher konstante Niedergeschlagenheit. Ich hatte Kit mürbe gemacht.
Schließlich hat Hi letzte Woche seine Freilassung erwirkt. Was mich überraschte. Soweit ich seine Mutter, Ruth Stolowitski, kenne, war ich sicher, er würde der Letzte sein. Doch offenbar ist dies Sheltons Los, der wohl immer noch eingesperrt ist. Anscheinend vertreten die Devers gegenüber Verbrechen eine Null-Toleranz-Politik, unabhängig von den näheren Umständen.
Doch ich durfte mir keinen Fehler erlauben. Ich war frei auf Bewährung. Kit wachte mit Argusaugen über mich. Dachte er zumindest.
Nachdem Hi auf freiem Fuß war, sind wir drei jede Woche nach Loggerhead gefahren. Wir brauchten ein bisschen Praxis, ohne neugierige Blicke auf uns zu ziehen. Die Einsamkeit war ideal. Und direkt vor der Nase meines Vaters konnte ich die Insel besuchen, ohne Verdacht zu erregen.
Loggerhead wird von der Charleston University verwaltet. Nur sehr wenige Leute besitzen eine Zugangsberechtigung. Glücklicherweise arbeitet mein guter, alter Dad hier. So wie die Eltern der anderen Virals.
Kit Howard ist als Meeresbiologe am LIRI angestellt, der hauseigenen Forschungseinrichtung der Universität. Als einer der fortschrittlichsten tierärztlichen Einrichtungen auf diesem Planeten besteht das LIRI aus einem eingezäunten Gebäudekomplex, der sich in der südlichen Hälfte der kleinen Insel befindet.
Aber das ist noch nicht alles. Loggerhead Island ist ein bestens ausgestattetes Beobachtungszentrum für Primaten, weil sich dort Horden frei lebender Rhesusaffen in den Bäumen aufhalten. Außer der Forschungseinrichtung existiert kein einziges Gebäude auf der Insel.
Man könnte also nirgends ungestörter sein als auf diesem Eiland, das sich unmittelbar vor dem Hafen von Charleston befindet. Ein perfekter Ort für ein paar Freaks wie uns.
Dies war das dritte Mal, dass wir unsere neuen Fähigkeiten erprobten, und wir stellten so langsam gewisse individuelle Unterschiede fest.
Unsere Kräfte und Möglichkeiten waren so komplex, dass wir sie nur allmählich begriffen. Vieles war mir immer noch ein Rätsel. Und tief in mir ahnte ich, dass wir erst an der Oberfläche unseres vollen Potenzials kratzten.
Eine explodierende Sandfontäne erregte meine Aufmerksamkeit.
Ich erblickte eine Gestalt, die sich in rasender Geschwindigkeit bewegte. Zoomte sie heran. Folgte ihr. Unwillkürlich spannte ich die Muskeln an, bereit, die Flucht zu ergreifen.
Dann erkannte ich ihn.
Es war Ben, der mit panischem Gesicht über den Strand jagte.
Im nächsten Moment verstand ich den Grund.
Er wurde verfolgt.