Jürgen Lang

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache

Warum das Deutsche weder schwer noch schwierig ist

deutsch

Wortart: Adjektiv, Adverb. Worttrennung: deutsch. Betonung: deutsch. Mittelhochdeutsch: diutisch, diutsch. Mittelniederdeutsch: dǖdesch, dǖtsch. Althochdeutsch: diutisc. Bedeutung: Deutschland, die Bevölkerung und die Sprache im Sprachraum betreffend.

Sprache

Wortart: Substantiv. Genus: Femininum. Worttrennung: Sprache. Betonung: Sprache. Plural: Sprachen. Mittelhochdeutsch: sprāche. Mittelniederdeutsch: sprāke. Althochdeutsch: sprahha. Germanisch: sprēkō. Bedeutung: Ausdrucksform, Verständigungsmittel.

Jürgen Lang

Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache

Warum das Deutsche weder schwer noch schwierig ist

Inhalt

DAS SCHRECKLICH SCHWERE DEUTSCH

WOFÜR WIR EINE GRAMMATIK BENÖTIGEN

DIE GRAMMATIK ZWISCHEN RICHTIG UND FALSCH

DIE SUCHE NACH DER RICHTIGEN FORM

BUCHSTABEN UND AUSSPRACHE

WÖRTER UND WORTGRUPPEN

WANN IST EIN SATZ EIN SATZ?

DIE SATZGLIEDER UND DAS SCHEMA SPO

DIE FUNKTION DER WORTARTEN

DAS SUBSTANTIV (DINGWORT, HAUPTWORT, NOMEN)

DAS GRAMMATISCHE GESCHLECHTDAS GENUS

DAS GENUS BEI PERSONENBEZEICHNUNGEN

DER NUMERUS – EINZAHL UND MEHRZAHL

BEDEUTUNGSGLEICHE UND GLEICHLAUTENDE SUBSTANTIVE

DIE DIMINUTIVA BEI SUBSTANTIVEN

DIE SUBSTANTIVKOMPOSITION

ÜBERLANGE SUBSTANTIVKOMPOSITIONEN UND KURZWÖRTER

DER GRAMMATISCHE FALLDER KASUS

DIE DEKLINATION DER SUBSTANTIVE

DIE APPOSITION

DAS ARTIKELWORT (ARTIKEL)

DAS PRONOMEN (FÜRWORT)

DAS ADJEKTIV (EIGENSCHAFTSWORT)

DIE PRÄDIKATIVE UND DIE ATTRIBUTIVE VERWENDUNG

DIE STEIGERUNG UND DAS VERGLEICHEN

DIE REKTION DER ADJEKTIVE

DAS NUMERALE (ZAHLWORT)

DAS VERB (TÄTIGKEITSWORT, ZEITWORT)

FINIT, INFINIT UND PARTIZIP

DAS VOLLVERB, PERSÖNLICH UND UNPERSÖNLICH

HILFSVERBEN, MODALVERBEN UND KOPULAVERBEN

DAS FUNKTIONSVERB UND DIE FESTE WORTVERBINDUNG

DIE AKTIONSARTEN UND DIE TRANSITIVITÄT

DIMINUTIVA

DIE STAMMFORMEN DER VERBEN

DIE ZEITFORMENDAS TEMPUS

DAS TEMPUS MIT MODALVERB

DER MODUS: INDIKATIV, IMPERATIV UND KONJUNKTIV

DAS GENUS VERBI: AKTIV UND PASSIV

KAUSATIVE UND HOMONYME VERBEN UND VERBPAARE

UNTRENNBAR UND TRENNBAR ZUSAMMENGESETZTE VERBEN

DAS ADVERB (UMSTANDSWORT)

DIE PRÄPOSITION (VERHÄLTNISWORT)

DIE PARTIKEL

DIE INTERJEKTION (EMPFINDUNGSWORT)

DIE KONJUNKTION (VERBINDUNG)

DIE WORTART ALS WORTGRUPPE

WENN EIN WORT DIE WORTART WECHSELT

AUS WÖRTERN WERDEN SÄTZE

DIE SATZARTEN

DIE SATZKLAMMER

DIE NEBENSATZARTEN

DIE PARENTHESE

SÄTZE MIT INFINITIV

DER REINE INFINITIV

DER MIT ZU VERBUNDENE INFINITIV

DER INFINITIV MIT UND OHNE ZU

DER ERWEITERTE INFINITIV

DER AKKUSATIV MIT INFINITIV

EIN BAUPLAN FÜR DIE DEUTSCHE SPRACHE

DAS GRUNDMODELL DES SATZBAUPLANS

DER ERWEITERTE SATZBAUPLAN

DIE GRENZEN DER POSITIONSFREIHEIT

DIE VERNEINUNG

DER BAU- UND FUNKTIONSPLAN IN DER ÜBERSICHT

ABHÄNGIGKEITSVERHÄLTNIS ODER WERTIGKEIT?

ÜBER SATZZEICHEN UND ZEICHENSETZUNG

AUS DEN TIEFEN DER DEUTSCHEN SPRACHE

VON THEODISKUS ÜBER DIUTISK ZU DEUTSCH

ENGLISCH UND FRANZÖSISCH, ABER KEIN DEUTISCH

DER UNTERGANG DER DEKLINATIONSKLASSEN DER DINGE

DAS GENUS – CHAOS MIT SYSTEM

DIE MÄR VOM NATÜRLICHEN GESCHLECHT

DIE SUCHE NACH DER GESCHLECHTERUNGERECHTEN SPRACHE

SCHWACHE, STARKE, REGELMÄßIGE, UNREGELMÄßIGE VERBEN

WIR WARTEN AUF DAS VERB

ELF, ZWÖLF, ZWANZIG STATT EINZEHN, ZWEIZEHN, ZWEIZIG

KOMPLIZIERTE SYSTEME UND KOMPLEXE DENKFEHLER

DEUTSCHE SPRACHESCHWERE ODER SCHWIERIGE SPRACHE?

DIE SUBSTANTIVKOMPOSITION, DER FUGENLAUT UND DIE LOGIK

DIE ZWEI SEITEN DES AKKUSATIVS

DER DATIV IST DEM GENITIV SEIN BESITZVERHÄLTNIS

JUGENDLICHER LEICHTSINN BEI HEIßEN 40 GRAD

DOPPELTGEMOPPELTES UND WICHTIGE BELANGLOSIGKEITEN

DIE VORANKÜNDIGUNG VOR DER ANKÜNDIGUNG

DER GRÜNSTE APFEL UNTER DEM BLAUSTEN HIMMEL

DER EINZIGSTE IST NICHT MEHR ALS EINER

DEKLINIERT MIT SICHEREM GUTEM GUTEN SPRACHGEFÜHL

NACH HAUSE GEHEN, ABER NICHT NACH KINO

WEGEN DES TROTZ DEM UND TROTZ DES WEGEN DEM

LIEGT ODER LIEGEN EIN ROTER UND EIN GRÜNER APFEL IM KORB?

DAS MÄNNLEIN STEHT IM WALDE, BIS ER KEINE LUST MEHR HAT

DER KONJUNKTIV DER SINNLOSIGKEIT

DAS LOSGELÖSTE MÖCHTEN

DAS SEIN MIT INFINITIV

DER TEILWEISE GEBRAUCH DES ADVERBS

DIE SCHEINBARE SUBSTANTIVIERUNG

DIE SCHEINBARE ZUSAMMENSETZUNG

DIE GETRENNTE ZUSAMMENSETZUNG

DIE KONTAMINIERTE ZUSAMMENSETZUNG

BEFEHL DEN IMPERATIV NICHT!

AB MONTAG, DEM ERSTEN UND DIENSTAG, DEN ZWEITEN

UNNÖTIG SCHWIERIG UND FRAGLICH PER BESCHLUSS

EIN TIPP FÜR DEN TRIP MIT STOPP ODER NONSTOP

DAS SCHWARZE LOCH IM SCHWARZEN LOCH

DER GROßE ROTE UND SAFTIGE, PRALLE APFEL

SKI LAUFEN ERLAUBT, ABER SKILAUFEN VERBOTEN

DAS RECHT, RECHT ZU HABEN

EIN SCHWANK ZUM SCHWÄNKEN UND SCHWENKEN

DEUTSCHDAS SUBSTANTIVIERTE ADJEKTIV, DAS KEINES IST

DIE WIEDERENTDECKTE LEICHTIGKEIT

ANDERE LITERATUR

FACHBEGRIFFE UND SACHREGISTER

Begriffe, Anmerkungen, Zitate, Symbole

Alle Gesetzmäßigkeiten der Grammatik werden im Stil einer Kurzgrammatik so weit wie möglich, aber nur so weit wie nötig dargestellt. Bei systematischen und regelmäßig wiederkehrenden Wortformen wird bewusst auf ständige Wiederholungen und ellenlange Wortlisten verzichtet. Bei der Rechtschreibung wird nicht durchgängig den Regelungen des amtlichen Regelwerks gefolgt.

Fragezeichen und Sterne am Satzanfang zeigen an, dass ein Satz im Sinne der Grammatik unklar oder falsch ist, zwei Sterne vor einem Wort wie ein durchgestrichenes Wort, dass das Wort falsch ist.

?* Das Mädchen spielt mit ihrem Zopf. unklar im Sinne der Grammatik

** Die Mädchen spielt mit ihrem Zopf. falsch im Sinne der Grammatik

Wegen des Wetters fällte fiel gestern das Spiel aus.

Das Wort **zumindestens existiert im Deutschen nicht.

Die aufgeführten Beispiele und Beispielsätze sind bewusst einfach gehalten und stark betonend, inhaltlich verhält es sich so, wie Mark Twain es beschreibt: „… es [das Buch, Anmerkung des Autors] fragt immerzu nach Dingen, die für niemanden irgendwelche Bedeutung haben … aber ich muss mich an das Buch halten.“ (aus: »Die schreckliche deutsche Sprache«)

Die Bezeichnungen der Sprachstufen Altdeutsch und Mitteldeutsch stehen für die altnieder- und althochdeutsche beziehungsweise mittelnieder- und mittelhochdeutsche Sprache und werden verwendet, wenn die Unterschiede in der jeweiligen Verwendung unerheblich sind oder der gesamte Sprachraum gemeint ist.

Die Wörter aus der indogermanischen Sprache und den germanischen Sprachen sind regelmäßig, die der altdeutschen Sprache teils rekonstruiert. Auf die übliche Markierung der Wörter mit einem Stern – *gablō ( Gabel) – wird verzichtet, da deren Rekonstruktion jetzt ja bekannt ist.

Angeführte Zitate werden im Original und Deutsch ihrer Zeit ohne die Anmerkung [sic] für „sīc erat scriptum so stand es geschrieben“ wiedergegeben. Ein Zitat aus einem anderen Werk steht in „klassischen Anführungszeichen“, der Titel des Werks in »eckigen Klammern« und beides jeweils in Kursivschrift.

Grammatisch sind die Dinge, die die Grammatik selbst betreffen. Grammatikalisch sind die Dinge in Bezug auf die Grammatik.

Bevor es losgeht

möchte ich mich bedanken. Bei den Deutschlernenden, die meine Konversationskurse besucht und mir ihre Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache in den Kursen öffentlicher wie privater Anbieter und mit den Lehrbüchern und Grammatiken verdeutlicht haben. Sie haben mich auf die Idee zu dem Buch gebracht. Bei den Deutschlehrern, mit denen ich mich über die Methoden und die Probleme bei der Vermittlung der deutschen Sprache ausgetauscht habe. Sie haben mich mit ihrem Festhalten an den Regeln der modernen germanistischen Linguistik und gleichzeitigen Gefangensein im System der zu vermittelnden Grammatik in der Idee zu dem Buch bestärkt. Vor allem aber bei all denen, die sich ganz oder teilweise durch die Vorversionen dieses Werks gearbeitet, ihre Ideen beigesteuert und mich mit zahlreichen Hinweisen und Ratschlägen unterstützt haben.

Danke schön!

Und jetzt also ein Buch über die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache.

Keine Sorge, es geht nicht um die Angst vor dem Verfall der deutschen Sprache, nicht um Anglizismen oder das überhandnehmende und die deutsche Sprache unterwandernde Denglisch, nicht um irgendeinen sterbenden Kasus und schon gar nicht um irgendwelche sofort umzusetzende Sprachbewahrungsmaßnahmen. Es geht um die Frage, warum die deutsche Sprache heute als schwer gilt und teilweise schwierig ist.

Nein, wir wollen der Sprache nicht die Quelle verschütten, aus der sie sich immer wieder erquickt, wir wollen kein Gesetzbuch machen, das eine starre Abgrenzung der Form und des Begriffs liefert, und die nie rastende Beweglichkeit der Sprache zu zerstören sucht.“ Dieses Zitat stammt von dem Sprach- und Literaturwissenschaftler Wilhelm Grimm und aus dem Jahr 1847. Schauen wir uns die heutigen Schulgrammatiken an – damit sind hier und folgend alle Grammatiken und Lehrbücher zur deutschen Sprache seit Mitte des 20. Jahrhunderts nebst digitalen Angeboten gemeint –, müssen wir feststellen, dass da seitdem so einige Dinge wohl arg schief gelaufen sind. In den Schulgrammatiken wird heute generell dazu tendiert, Normen zu setzen und jede Abweichung von einer Norm für falsch zu erklären, auch wenn im Vorwort einer Schulgrammatik vielleicht das Gegenteil behauptet wird. Es sind Sammlungen von Vorschriften, wann wo welches Wort zu stehen hat, wie eine Wortform lautet, wie sie sich in welchem Fall zu verändern hat, wie ein Wort auszusprechen oder wie es zu schreiben ist. Die Regeln werden zusammengetragen, teils gegenseitig übernommen, und so geformt, wie sie nach den Vorstellungen der Autoren, Redaktionen oder Herausgeber sein soll. Vor dem Anwenden und Vorschreiben der Regeln, werden diese allerdings nicht regelmäßig überprüft, sondern ungeprüft übernommen.

So stellt sich dann die Frage, ob die Sprache nicht nur in ein Korsett aus scheinbar verbindlichen Vorschriften und Regeln gepackt wird. Und was passiert mit den Wörtern und Wortformen, die nicht in das Regelkorsett passen? Sie werden kurzerhand zu einer Ausnahme von der Regel erklärt. Sie müssen auch zu Ausnahmen werden, wenn die zugrundeliegende Regel auf einer Ad-hoc-Lösung basiert. Doch wie das Adverb ad hoc schon verrät, ist die Lösung nur zur Sache passend erstellt, sie kann dann aber auch nur zu diesem Zweck funktioniert. Einer Überprüfung zur Allgemeingültigkeit hält eine Ad-hoc-Lösung in der Regel nicht stand. Da sich die Sprache ständig weiterentwickelt und damit auch die Vielzahl der Theorien über die Modelle und Systeme, scheitern die Schulgrammatiken letztlich an ihrem eigenen System: Sie können sich nicht aus ihrem eigenen Korsett befreien. Sie stecken fest, können die Flexibilität und Komplexität der Sprache nicht wiedergeben und nicht verhindern, dass aus ihren eigenen Verbindlichkeiten und Regeln grammatische und grammatikalische Ungenauigkeiten oder gar Fehler werden. Und dann wird die deutsche Sprache schwer und schwierig gemacht – und als solche vermittelt.

Jetzt also ein Buch über die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache.

Schauen wir uns an, wie schwer und schwierig die deutsche Sprache wirklich ist. Wo finden wir eine starre Abgrenzung, wo eine nie rastende Beweglichkeit? Zwei Ziele haben wir im Blick. Das erste Ziel ist ein Bau- und Funktionsplan für ein einfaches und leicht verständliches Deutsch. Welche Aufgabe haben die Satzglieder, welche die Wortarten? Wer bestimmt das Genus und wo kommen die Kasuszuweisungen her? Treffen wir auf eine komplexe Konstruktion, die nicht allein mit dem Bau- und Funktionsplan erklärt werden kann, begeben wir uns in die Tiefen der deutschen Sprache, wo sich so manches Rätsels Lösung findet. Anstatt Vorschriften und Regeln aufzustellen, erklären wir, wie die verschiedenen Bereiche der Grammatik im Deutschen aufgebaut sind, wie sie funktionieren und wie sie ineinandergreifen und sich bedingen. Dann zeigt sich, ob es überhaupt für jede Frage eine eindeutige Antwort gibt oder die Vielfalt der deutschen Sprache zu oft eine Alternative für eine Formulierung bietet – und ob die deutsche Sprache wirklich so schrecklich ist.

Führt unser einfacher und leicht verständlicher Bau- und Funktionsplan zu einer Diskussion über ein Wort oder eine Wortform, haben wir unser zweites Ziel erreicht. Die Grammatik der deutschen Sprache ist kein starres Gebilde, sondern regt zum Nachdenken über die Sprache an.

Natürlich gehen wir auch auf die zahlreichen Regeln in den Schulgrammatiken ein, vor allem wenn sie unklar oder fraglich sind, durch irgendwelche Ausnahmen ihren Wirkungsbereich erweitern sollen oder andere Regeln eingrenzen. Keine vorgegebene Regel wird aber einfach so akzeptiert, jede Regel wird überprüft und muss in ihrer Allgemeingültigkeit bestätigt werden können. Sie muss sich also in allen Fällen als richtig erweisen. Stellt sich eine Regel als nicht allgemeingültig heraus, trifft sie also nicht auf alle Fälle zu, ist sie falsch – und somit keine gültige Regel.

»Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache« ist ein Buch für alle, die nicht nur wissen möchten, wie etwas gesagt oder geschrieben wird, sondern die sich auch für das Warum interessieren. Es ist ein Buch für alle, die die Grammatik der deutschen Sprache verstehen und nachvollziehen können möchten, ohne dafür aber gleich auch Germanistik studiert haben zu müssen. Wer nur den Regeln der modernen germanistischen Linguistik folgend und nur diese für verbindlich haltend gern auf der Suche nach richtigen und falschen Wortformen ist, wird an diesem Buch nicht viel Spaß haben.

Das Buch zeigt einen Weg zu einer einfachen und verständlichen deutschen Sprache, die Überlegungen und Empfehlungen sind aber weder Missionierung, noch – frei nach Goethe – dazu da, damit man wisse, dass der Autor etwas weiß. Jedermann ist es unbenommen, Besseres zu bieten.

So, genug der Vorrede, es geht los.

Wir wohnen nicht in einem Land,

sondern in einer Sprache.

Emile Cioran

Das schrecklich schwere Deutsch

Ihre bestätigenden Seufzer sind quasi zu hören, wenn er ausführt, dass es bestimmt keine andere Sprache gibt, die „so ungeordnet und unsystematisch“ ist. Die seufzenden Menschen sind die, die diese ungeordnete und unsystematische Sprache erlernen. Der, der ihnen aus tiefster Seele spricht, ist Samuel Langhorne Clemens und die ungeordnete sowie unsystematische Sprache ist die deutsche Sprache. Samuel Langhorne Clemens lebte von 1835 bis 1910, war ein Schriftsteller aus den Vereinigten Staaten von Amerika und ist vermutlich besser bekannt als Mark Twain und für Mark Twain ist ein Durchschnittssatz in einer deutschen Zeitung eine erhabene und ehrfurchtsvolle Kuriosität. „A person who has not studied German can form no idea of what a perplexing language it is Ein Mensch, der nicht Deutsch gelernt hat, kann sich keine Vorstellungen davon machen, wie verwirrend diese Sprache ist“, schreibt er über die Wirren und den Schrecken der deutschen Sprache in seinem sehr amüsanten Essay »The Awful German Language Die schreckliche deutsche Sprache«.

Bei seinen Bemühungen, die deutsche Sprache zu erlernen, stößt Mark Twain scheinbar auf so manche Widrigkeit. In der Folge hält er die Zuordnung der Artikel unbelebter Dinge für beliebig und unlogisch, bleiben ihm die vier Fälle unseres Kasussystems ein Rätsel, möchte er den Dativ gänzlich abschaffen und erscheinen ihm zusammengesetzte Substantive ebenso endlos wie die Sätze an sich, in denen zu guter Letzt auch noch ein Teil des Verbs an das Satzende gestellt wird. Nicht wenigen Deutschlernenden wird das bekannt vorkommen. Wer die deutsche Sprache lernen möchte, sollte Twains Meinung nach so um die dreißig Jahre einplanen, und selbst das wird wohl nicht reichen: „Nur die Toten haben genügend Zeit, sie zu lernen.“ Recht hartnäckig und weit verbreitet hält sich der Mythos von den zahlreichen Schwierigkeiten in der deutschen Grammatik, in der es laut Twain für zahllose Konstruktionen „mehr Ausnahmen von der Regel als Beispiele für sie gibt“. Die geplagten, seufzenden Deutschlernenden werden jetzt fragen, wo da der Mythos ist.

Wofür wir eine Grammatik benötigen

Ungeordnet und unsystematisch? Mehr Ausnahmen von der Regel als Beispiele für sie? Es ist nicht einfach zu verstehen, was eine Sprache kompliziert macht oder schwierig werden lässt und wofür wir überhaupt eine Grammatik oder sonst ein Regelwerk benötigen. Das zeigt sich nicht nur, wenn heutzutage auf die Frage „Wie geht‘s?“ mit einem knackigen „Muss!“ geantwortet wird oder ein „Hau rein!“ als eine anerkannte Formulierung für eine Verabschiedung gesehen wird. Bei all denen, die gerade dabei sind, die deutsche Sprache zu lernen, führen solche Floskeln vermutlich zu einem hektischen Blättern in den Lehr- oder Wörterbüchern, denn so etwas kommt in ihrem Deutschkurs oder Deutschunterricht nicht vor.

Ein Muttersprachler zuckt bei einem solchen Dialog vielleicht innerlich zusammen, für ihn sind die Ausrufe aber – so katastrophal sie sein mögen – nicht gänzlich unverständlich. Das liegt auch daran, dass ein „Ganz gut“ oder „Geht so“ nicht viel inhaltsschwerer ist als ein „Muss!“ und ein „Mach‘s gut“ oder „Tschö“ nicht als ein „Hau rein!“. Ob ein Muttersprachler eine solche Formulierung – oder überhaupt irgendeine – auch erklären kann, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die meisten werden sich aber ganz bestimmt glücklich schätzen, so manche grammatische Konstruktion ihrer Sprache mit dem Aufwachsen sozusagen frei Haus mitgeliefert zu bekommen. Und sie sind noch viel glücklicher, wenn sie nicht in die Verlegenheit geraten, eine dieser Konstruktionen oder Konstellationen erklären zu müssen.

Für viele ist die Grammatik mit ihren zahlreichen vermeintlichen Absurditäten – den einem gesunden Menschenverstand fernen Dingen – ein Schreckgespenst, das an die Schulzeit erinnert, als der gestrenge Deutschlehrer bei Sätzen wie

?* Der Bürgermeister gedenkt dem großzügigen Spender.

?* Wegen dem Wetter fällt das Spiel aus.

zur Bestätigung seines sehr großen Missfallens auf seine Schulgrammatik pochend mit einem vorwurfsvollen Blick den Kopf schüttelt, um bei

Der Bürgermeister gedenkt des großzügigen Spenders.

Wegen des Wetters fällt das Spiel aus.

anerkennend mit selbigem zu nicken. In der Schulgrammatik findet sich zum Verb gedenken der Eintrag „mit Genitiv“ und zur Präposition wegen der Hinweis „Präposition mit Genitiv, umgangssprachlich auch mit Dativ“ und weil das so in der Schulgrammatik steht, ist der eine Satz richtig und der andere falsch.

Für die Autoren der Schulgrammatiken und Lehrbücher ist wie für die meisten Deutschlehrer der Fall damit erledigt. Für diejenigen, die wissen möchten, warum hier der Genitiv stehen muss und ob nicht doch auch ein anderer Kasus möglich ist, ist die Frage dagegen keineswegs zufriedenstellend beantwortet. Nun ist einzuräumen, dass ein Schulbuchverlag keine sprachwissenschaftliche Forschungsinstitution ist und Deutschlehrer nicht unbedingt Sprachwissenschaftler sind. Es gehört entsprechend nicht unbedingt zu ihren Aufgaben, hier weitere Forschungen anzustellen. Die Zweifel an den Kasuszuweisungen sind allerdings durchaus berechtigt, immerhin verlangt hier das für eine konkrete Tätigkeit stehende Verb gedenken einen abstrakten Kasus wie den Genitiv, obwohl – wie wir später sehen werden – der Kasus für Handlungen zu Gunsten einer Person der Dativ ist. Auch klingt die Kontrollfrage „Wem gedenkt der Bürgermeister?“ im Unterschied zu „Wessen gedenkt der Bürgermeister?“ nicht zwingend falsch. Bei der Präposition wegen ist die Forderung nach dem Genitiv ebenso wenig klar, tritt der Dativ hier in Konkurrenz zum Genitiv oder umgekehrt? Ist überhaupt ein Kasus falsch?

In Anbetracht solcher Überlegungen sind die Kasuszuweisungen plötzlich gar nicht mehr so eindeutig und die Bezeichnung der Sätze als richtig oder falsch ist vielleicht etwas voreilig. Auffällig ist jedenfalls, dass der Dativ bei gedenken und wegen nicht vereinzelt oder regional beschränkt verwendet wird, sondern im Sprachalltag geläufig ist. Und wenn das wirklich ein Fehler ist, bedeutet das, dass ein Muttersprachler seine Muttersprache nicht beherrscht. Das ist allerdings generell in Frage zu stellen. Suchen wir in der Schulgrammatik nach der Erklärung für die Kasuszuweisung, werden wir regelmäßig nichts finden. Viel mehr als die Vorgabe von Ist- und einigen Soll-Zuständen steht dort nicht, vielleicht noch der eine oder andere umgangssprachliche Ausnahmefall. Nun mag die Begründung „weil es geschrieben steht“ in der einen oder anderen Religion ausreichend sein, in der Grammatik ist sie es nicht. Es ist verständlich, dass ein Schüler nicht gerade in eine Jubelarie verfällt, wenn die Korrektur eines Fehlers von seinem Deutschlehrer mit nicht mehr als einem Pochen auf die Schulgrammatik begründet wird. Eine entsprechende Herleitung und Erklärung für die je nach Autor, Redaktion oder Verlag gewünschten Ist- und Soll-Zustände wird in den Schulgrammatiken aber meist vergebens gesucht.

In keiner Sprache erhebt die Grammatik den Anspruch, durchgängig logisch fassbar zu sein. Deshalb sind die verständliche und nachvollziehbare Vermittlung der verschiedenen Systeme und deren jeweiliges Funktionieren beim Aufeinandertreffen und Ineinandergreifen umso wichtiger. Ohne rationale Argumente und sichere Herleitungen bleiben von einer Grammatik nur ellenlange Listen von Wörtern und Wortformen übrig, die als reiner Lernstoff stumpf auswendig zu lernen sind. Und das ist nicht gerade ein Anreiz, sich mit den Fragen der Grammatik zu beschäftigen.

Wir können es zwar nur annehmen, aber so ergeht es vermutlich Mark Twain. Er verzweifelt – wie viele andere Deutschlernende – an einzelnen Regeln und Regelungen wie der Zuordnung der Substantive beim Genus oder grammatischen Geschlecht, den Wortformen beim Kasus, der Deklination der Adjektive, den neuen Wörtern aus Wortzusammensetzungen oder den Satzklammern. Das kann einerseits daran liegen, dass ihm bei der Suche nach den Formen nicht die richtigen Wege gezeigt und erörtert wurden. Andererseits ist es möglich, dass die Sprachkonventionen und die deutsche Standardgrammatik wirklich so kompliziert sind. Da wir nur letzteres prüfen können, schauen wir uns die Grammatik mit ihren vielen Wortformen und deren Bildungen etwas genauer an.

Einen Punkt können wir allerdings vorwegnehmen, hier liegt Mark Twain – aber bei weitem nicht nur er – aus unserer Sicht völlig falsch: Es gibt im Deutschen nicht mehr Ausnahmen von einer Regel als Beispiele für sie und eine Regel wird auch nicht durch eine Ausnahme bestätigt, sondern widerlegt. Finden wir zwei Wortformen, die nebeneinander stehen oder nebeneinanderstehen, ist nicht zwingend die eine für richtig und die andere für falsch zu erklären. Nicht der Gebrauch der Sprache unterliegt eng gefassten Regeln für richtig und falsch, sondern die Kriterien für das, was in den Schulgrammatiken und Lehrbüchern als richtig und falsch gilt.

Das Funktionieren der Sprache sowie deren Systeme sollte stets aus dem Bewusstsein heraus beschrieben werden, dass sich die Sprache selbst entwickelt. Damit die Sprache eindeutig und einfach ist, müssen auch die Regelmäßigkeiten und Ordnungsprinzipien eindeutig und verständlich sein. Die syntaktischen Regeln beziehen sich auf größere zusammenhängende Einheiten, die semantischen und pragmatischen Regeln legen fest, ob ein Ausdruck sinnvoll ist beziehungsweise zu der jeweiligen Situation passt. Die Untersuchung der Semantik, Syntax und Pragmatik kann sich komplex gestalten: Einerseits bezieht sie sich immer auf alle Elemente, aus denen Sätze aufgebaut sind, andererseits müssen alle einzelnen Elemente immer in der Gesamtheit gesehen werden. Dabei geht es weniger um eindeutig richtige oder falsche Formen, am Ende unserer Erkundung steht ein verständlicher Sprachgebrauch mit einer maximal flexiblen und niemals einengenden Sicht auf die Möglichkeiten der deutschen Sprache.