Paula Bleckmann / Ralf Lankau (Hrsg.)
Digitale Medien und Unterricht
Eine Kontroverse
Dr. Paula Bleckmann ist Computerspielsuchtexpertin und Professorin für Medienpädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Sie habilitierte sich in Gesundheitspädagogik und promovierte in Medienpädagogik. Sie forscht und publiziert zu Medien(sucht)prävention, digitaler Bildungspolitik und Elternberatung.
Dr. Ralf Lankau ist Grafiker, Philologe, Kunstpädagoge und Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Er forscht und publiziert zu Digitaltechnik, Kommunikationswissenschaft und (Medien-)Pädagogik.
Grußwort
Einleitung
Technikfolgenabschätzung bei »Digitaler Bildung«
Einleitung
Technikfolgenabschätzung bezieht ethische Fragestellungen von vornherein mit ein
Technikfolgenabschätzung problematisiert Innovationsgeschwindigkeit
Technikfolgenabschätzung ist inter- und transdisziplinär
Technikfolgenabschätzung ist systemvergleichend
Fazit und Forderungen für die Bildungs- und Forschungspolitik
Literatur
Auf dem Weg in die digitale Zukunft der Schulen
Die didaktisch-methodische Verankerung
Die Qualifizierung der Lehrkräfte
Die Herstellung der technischen Voraussetzungen
Entwicklungsorientierte Medienpädagogik im Zeitalter der verschwindenden Schrift
Pädagogik vom Kinde aus – Pädagogik vom Computer aus
Geronnene Vergangenheit
Werdende Zukunft
Vermittlung
Medienmündigkeit als Bildungsziel
Reifungen
Befähigung zur »Freiheit zu«
Ermöglichungsräume anbieten
Indirekte und direkte Medienpädagogik
Schreiben und Denken
Programmieren
Verfall des Schriftverständnisses
Verkümmerung der Hand
In Bildern denken lernen
Aufgaben der Pädagogik
Interesse und Ehrfurcht
Literatur
Vom Unterrichten zum Bildungscontrolling
Grundsatzfrage: Allgemeinbildung vs. Ausbildung
Zurück in die 1950er Jahre statt Aufbruch ins 21. Jahrhundert
Kybernetik und Behaviorismus
Revolution im Unterricht und Computerpflicht
Learning Analytics – oder: Big Data ist teaching you
Grundsatzentscheidung: Schulen vom Netz und keine Lernprofile
E-Learning-Paradox
Perspektiv- als Paradigmenwechsel
Föderal und lokal statt zentral: Forderungen aus pädagogischer Sicht
Der Diskurs über den Sinn der Digitalisierung steht noch aus
Literatur
Hat die Digitalisierung der Lebenswelten unserer Kinder und Jugendlichen so viele Vorteile?
Ausgangslage und Ziele des Projektes BLIKK-Medienstudie
Grenzen der BLIKK-Medienstudie
Ergebnisse und deren Diskussion
Signifikante Entwicklungsstörungen
Motorische Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen
Aus-BLIKK
Literatur
Die Rechnung kann nicht ohne den Wirt gemacht werden: Das Gehirn des Kindes
Literatur
Bildung und Medien – die Perspektive eines Kinder- und Jugendarztes
Was ist Bildung?
Was sind Medien?
Keine Bildung ohne Medien?
Literatur
Polizeiliche Prävention zu Mediengefahren
Persönlichkeits- und Urheberrechte, (illegale) Downloads
Cybermobbing
Mögliche rechtliche Konsequenzen
Crossmediale Angriffe auf Kinder – die dunkle Seite des Marketings
Crossmediales Marketing
»Oktonauten« in der »SUPER RTL VORSCHULWELT«
Zeit und Raum aufheben
Mit Schafen rechnen lernen
Wechselnde Querbezüge
Kostenloses Marketing durch Kinderserie
Werbekompetenz?
Angriff aufs Bewusstsein
Content is King
»Mami hasst Euch«
Literatur
WLAN an Kitas und Schulen: Ein Hype verdrängt Risiken
Offizielle Warnungen vor Dauerbestrahlung
Lernen und WLAN: Auswirkungen auf Kognition und Verhalten
Ärztekammern und Wissenschaftler fordern: Verbot von WLAN an Schulen
Kultusbehörden ignorieren die Studienlage
Lösungen für eine strahlenminimierte Umgebung
Literatur
Regional koordinierte digitale Bildungsprojekte
Ausgangslage – Erwartungshaltungen und Möglichkeiten
Ausgangspunkt für eine regionale Koordination in der Ortenau
Die Ergebnisse des Projekts »NOW«
Fazit und Ausblick
Literatur
Vom Bedarf zum flächendeckenden Angebot: Das Präventionsprogramm »ECHT DABEI – Gesund groß werden im digitalen Zeitalter«
Angebote in der Ortenau durch das Präventionsnetzwerk Ortenaukreis
Von der Bedarfserhebung zum flächendeckenden Angebot ECHT DABEI in der Ortenau
Fazit
Literatur
Vorbeugen gegen Digital-Risiken: Hintergründe, Präventionsansätze und das Programm ECHT DABEI
Warum brauchen wir Medien(sucht)prävention in Kitas und in der Grundschule?
Welche Präventionsstrategien bieten sich an?
Impulse für präventive Maßnahmen
»ECHT DABEI – gesund groß werden im digitalen Zeitalter« – Praxis im Setting Kita/Grundschule
Literatur
Autorinnen und Autoren
Sie werden sich fragen, warum ein Physiker und Klimaforscher bei einer Tagung zu »Bildschirmmedien und Kinder« ein Grußwort spricht. Die Antwort ist einfach: Zurzeit bin ich der Vorsitzende der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Herr Professor Lankau ist ein Mitglied der VDW, und es gibt in der VDW eine Studiengruppe zum Thema »Digitalisierung und Ökonomisierung der Bildung«, geleitet von Paula Bleckmann, in der Herr Lankau aktiv teilnimmt. Da die VDW diese Tagung als einen Beitrag zur genannten Studiengruppe ansieht, hat sie einer gemeinsamen Veranstaltung zugestimmt. Darüber hinaus ist es Herrn Lankau gelungen, dank des attraktiven Programms der Tagung einen renommierten Verlag zu gewinnen, der die hier in Offenburg gehaltenen Vorträge veröffentlicht.
Wissenschaftler tragen dafür Verantwortung, dass ihre Ergebnisse öffentlich kommuniziert und diskutiert werden und nicht zum Schaden der Menschheit genutzt werden. Im Idealfall sollte also bei der Anwendung neuer Techniken gleichzeitig ein öffentlich geförderter Forschungszweig zur Technikfolgenabschätzung existieren, der ausreichend finanziert und interdisziplinär sowie transdisziplinär aufgestellt ist, Warnungen aussprechen kann und hoffentlich zu entsprechenden politischen und juristischen Aktionen führt. Leider ist eine begleitende Forschung zur Abschätzung der Folgen neuer Techniken in der Realität bisher nicht der Fall gewesen. Die Europäische Umweltbehörde in Kopenhagen hat beeindruckende zwei Bände zu »Späte Lehren früher Warnungen« (Late Lessons of Early Warnings) veröffentlicht. Dennoch möchte ich über ein gerade noch erfolgreiches Beispiel und ein vielleicht noch erfolgreiches Beispiel der Reaktion auf Befunde der Technikfolgenabschätzung jeweils globalen Ausmaßes berichten:
1) Fluorchlorkohlenwasserstoffe und stratosphärische Ozonschicht: Die Kühl- und Reinigungsmittel sowie Treibgase FCKW haben die Ozonschicht angegriffen, es drohten vermehrter Hautkrebs und Ernteeinbußen. Das zunächst lasche Montrealer Protokoll von 1987 als Ausführungsbestimmung zum Wiener Abkommen über den Schutz der Ozonschicht von 1986 wurde durch das verstärkte Auftreten des antarktischen »Ozonlochs« (eigentlich nur ein starker Verlust in bestimmten Höhen) verschärft, und seit 1994 ist die Produktion der FCKW und anderer in der Stratosphäre ozonzerstörender Substanzen in den Industrieländern und etwas später in den Schwellenländern verboten. In einigen Jahrzehnten, wenn die Konzentration der FCKW-Moleküle in der Atmosphäre abgeklungen sein wird, gehört das Ozonloch wahrscheinlich der Vergangenheit an.
2) Erhöhter Treibhauseffekt und rascher Klimawandel: Das Verbrennen fossiler Energieträger und die weitverbreitete Abholzung von Wäldern hat den Treibhauseffekt der Atmosphäre verstärkt, vor allem durch die Zunahme der Kohlendioxidkonzentration, wodurch die Erdoberfläche bereits um 1 °C erwärmt wurde. Die Eisgebiete der Welt schrumpfen deshalb so rasch, dass der Meeresspiegel um etwa 3,8 mm pro Jahr ansteigt. Neue Wetterextreme treten auf, die Schäden belaufen sich auf über 100 Milliarden Euro pro Jahr und der Meeresspiegel wird mindestens über Jahrhunderte weiter ansteigen. Das Pariser Abkommen hat hehre Ziele vereinbart, viele große Vertragsstaaten reduzieren zwar ihre Emissionen, aber viel zu langsam. Nur die neue Technik Fotovoltaik könnte zusammen mit Verhaltensänderungen jedes einzelnen Menschen noch eben ausreichen, um nicht Hunderte von Millionen Menschen in die Flucht zu schlagen. Der jüngste Sonderbericht des Weltklimarates vom 8. Oktober 2018 zur Erreichbarkeit einer Erwärmung von nicht über 1,5 °C zeigt, dass nur eine massiv gesteigerte Klimapolitik dieses hehre Ziel des Abkommens noch erreichbar macht.
Neben den Atomwaffen, die noch immer zur Selbstzerstörung unserer Zivilisation reichen, auch wenn sie durch Rüstungskontrolle teilgebändigt sind, erwächst wahrscheinlich eine neue globale Bedrohung aus der zurzeit politisch fast überall gefeierten Digitalisierung: die starke künstliche Intelligenz (KI). Deshalb hat die VDW eine weitere Studiengruppe »Technikfolgenabschätzung der Digitalisierung« eingerichtet, die im April 2018 eine erste Stellungnahme zu den Asilomar-Prinzipien veröffentlicht hat.
Zum Thema Regulierung empfiehlt die Studiengruppe Folgendes: KI muss ethischen und rechtlichen Prinzipien folgen, also der Erklärung der Menschenrechte, das Vorsorgeprinzip ist auf technische Entwicklungen auszuweiten und rechtlich zu verankern, Technikfolgenabschätzung ist verbindlich zu gestalten. Die Ausarbeitung muss jetzt beginnen.
Ich erwarte, dass auch die Studiengruppe »Digitalisierung und Ökonomisierung der Bildung« zu ähnlichen ersten Empfehlungen kommt. Die nächste VDW-Jahrestagung im Oktober 2019 wird sich dann dem Thema »Der Mensch und die Ambivalenz des Digitalen« widmen und von drei Studiengruppen gemeinsam gestaltet werden: der Studiengruppe zur Digitalisierung und Ökonomisierung der Bildung, der zu Künstlicher Intelligenz und der zur Gesundheit.
Für heute schalte ich in den Lernmodus um und bin gespannt.
Hartmut Graßl, Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)
Welche Rolle sollten die digitalen Medien in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen spielen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auch mit grundlegenderen Fragen befassen: Auf welche Zukunft möchten wir sie vorbereiten? Können digitale Medien hierfür produktiv genutzt werden? In welchen Entwicklungsphasen, in welchem Ausmaß, in welcher Weise und für welche Lernziele? Oder steht der Einsatz digitaler Medien dem Erreichen der gewünschten Entwicklungsziele entgegen, abhängig von Entwicklungsphasen, Umfang und Art des Einsatzes? Und auch: Wie können wir angesichts der Macht von Medien-Großkonzernen sicherstellen, dass diese grundlegenden Fragen überhaupt noch gestellt werden, wenn es um politische Entscheidungen zur »Bildung in der digitalen Welt« geht?
Im vorliegenden Band sind 13 Beiträge vereint. Sie gehen zum Teil auf Vorträge der Fachtagung »futur iii 2018 – Bildschirmmedien und Kinder« zurück (Lankau, Grassl, Büsching, Teuchert-Noodt, Zieher, Breyer-Mayländer, Hoffmann, Hensinger, Leipner). Die Tagung wurde von der Hochschule Offenburg in Kooperation mit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.) und dem Bündnis für humane Bildung ausgerichtet. Darüber hinaus haben wir Autoren um Beiträge angefragt, die die Kontroverse um die Rolle digitaler Medien für das Lernen und gesunde Aufwachsen im digitalen Zeitalter um wichtige Aspekte bereichern (Zimmer, Hübner, Reckert, Stalter).
Beide Herausgeber kennen nur zu gut die Rolle des »Alibi-Kritikers«. Zugespitzt formuliert: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Podium zum Thema »digitale Bildung« zwischen einer Game Designerin, einem Didaktik-Professor, der die Potenziale von Gamification untersucht, einem Netzbetreiber und einem großen Hardware-Hersteller. Sie allein sollen über die Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen ein kurzes Statement abgeben. Keine gute Voraussetzung für einen ernsthaften fachlichen Diskurs. Nun legen wir hier einen Band vor, in dem eindeutig die kritischen Stimmen überwiegen. Kein Grund, es anders zu machen, meinen wir. Denn auf dieses eine Buch kommen mehr als hundert andere, in denen die kritischen Stimmen entweder gar nicht oder eben nur als Alibi-Kritiker vorkommen. Unser Ziel war es, auf der Tagung und in diesem Band sowohl den selten gehörten Kritikern ein Sprachrohr zu geben als auch Positionen einzubeziehen, die sich an der KMK-Strategie »Bildung in der digitalen Welt« orientieren. Vielen Dank an alle Autoren, insbesondere an diejenigen, die sich hier in der sicherlich ungewohnten Rolle als Vertreter einer Mindermeinung wiederfinden und sich dabei hoffentlich nicht als »Alibi-Befürworter« wahrnehmen. Eine Zukunft, in der digitale Medien dort – und nur dort – eingesetzt werden, wo sie dem Wohlergehen, der Emanzipation durch Bildung und der Mitmenschlichkeit dienen, wird nur möglich sein, wenn eine »Diskurserweiterung« gelingt, wenn Pädagogen, Pädiater, Polizisten, Programmierer und Psychologen,1 wenn also Menschen unterschiedlichster Professionen miteinander reden über das, was Bildschirme mit Kindern machen – und Kinder mit Bildschirmen.
Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die Beiträge des Bandes, die auch unabhängig voneinander und von der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden können. Zwischen den Aufsätzen eingestreut finden Sie kurze Erfahrungsberichte, die von der Initiative »Eltern für eine gute Schule« (www.eltern-fuer-eine-gute-Schule.de) gesammelt wurden. Die Initiative, so ihre Selbstbeschreibung, »besteht aus Eltern und interessierten Bürgern, denen die Entwicklung der Kinder am Herzen liegt und die unzufrieden mit dem derzeitigen Zustand der Schule sind.« Sie erbaten von Eltern, Lehrern und Jugendlichen Erfahrungsberichte rund um das Thema digitale Medien und stellten dabei unter anderem die Frage: »Wie haltet ihr es mit dem Handy, ohne dass es zu sehr euren Alltag bestimmt?«
Die ersten vier Beiträge behandeln das Thema aus einer übergeordneten Perspektive. Einen theoretischen Einstieg ins Thema geben Jasmin Zimmer, Paula Bleckmann und Brigitte Pemberger, indem sie zunächst die Vorteile der Technikfolgenabschätzung für die Bewertung und Steuerung von komplexen Zukunftsszenarien beschreiben. Entscheidungen über Technologien sollten demnach auf Grundlage von Erkenntnissen zur langfristigen Chancen-Risiken-Balance getroffen werden. Das wird nach Ansicht der Autorinnen bei der sogenannten »digitalen Bildung« bisher nur sehr unzulänglich verwirklicht.
Demgegenüber stellt Michael Zieher, Leiter des Referats für Medienpädagogik, Digitale Bildung im Baden-Württembergischen Kultusministerium die Pläne zur Umsetzung der landesweiten Digitalisierungsstrategie »digital@bw« vor. Ausgehend von einer positiven Bilanz thematisiert er die didaktisch methodische Verankerung im Unterricht, die Qualifizierung der Lehrkräfte und den Aufbau der technischen Voraussetzungen. Dabei stellt er Bezüge zu übergeordneten Strategiepapieren wie der KMK-Strategie »Bildung in der digitalen Welt« her.
Es folgt ein Beitrag von Edwin Hübner, der grundsätzliche Überlegungen zu einer Pädagogik vom Kinde statt vom Computer aus enthält. Bezüge zu politischen Strategiepapieren oder zum aktuellen Diskurs, wie er z. B. in der Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) geführt wird, lässt er außen vor. Einen hohen Stellenwert hat für Hübner die Erziehung zur Freiheit. Die Entscheidung über den Medieneinsatz müsse immer auch berücksichtigen, welche anderen (realen) Möglichkeitsräume hiermit möglicherweise verschlossen werden. Vertieft wird dies am Beispiel des Verlusts der Schreibkultur.
Ralf Lankau thematisiert den historischen Kontext und zugrunde liegende wirtschaftliche Interessen des Digitalisierungshypes. So wird die Grundsatzfrage, was Schule vermitteln soll, seit etwa 200 Jahren kontrovers diskutiert: Bildung oder Ausbildung? Historisch belegt sind außerdem wiederholte Versuche, Unterricht und Lernprozesse kybernetisch zu steuern. Aus humanitärer Sicht lautet die zentrale Frage: Kann man Lernprozesse wie Produktionsprozesse steuern und quantifizieren? Bildung 4.0 in Analogie zu Industrie 4.0?
Weitere drei Kapitel werfen einen interdisziplinären Blick auf Auswirkungen der zunehmenden Bildschirmdominanz in der heutigen Kindheit. Dabei geht es nur am Rande um das Setting Schule. Im Zentrum stehen die Mediennutzung in der außerschulischen Lebenswelt (Familie, Freizeit) und ihre Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung im körperlichen, psychosozialen und kognitiven Bereich. Uwe Büsching schildert als Vorstand des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) Ergebnisse der BLIKK-Studie. Bei dieser Querschnittstudie wurden in 79 pädiatrischen Praxen Eltern mithilfe von Fragebögen zum Sozialstatus, zum psychosozialen Verhalten der Kinder und zur Nutzung digitaler Bildschirmmedien in Familien befragt. Die Ergebnisse zeigen eindeutige Befunde über die Korrelate früher und dysfunktionaler Bildschirmmediennutzung, aus denen sich klare Handlungsempfehlungen an die Eltern ableiten lassen.
Die emeritierte Neurobiologie-Professorin Gertraud Teuchert-Noodt schildert Lernprozesse und die Entwicklung des kindlichen Gehirns. In ihrem Beitrag wird deutlich, wie das Gehirn Impulse verarbeitet, was lernförderlich oder lernverhindernd ist. Daraus leitet sie klare Empfehlungen für Lernumgebungen entsprechend des Lebensalters ab.2
Einen anderen Weg geht Till Reckert, der in seinem praxisnahen Beitrag anschauliche Sätze formuliert, die ein Kinderarzt Eltern in den U-Untersuchungen nahebringen könnte. Mit direktem Bezug zum Lebensalter und zu Erfahrungen der Kinder werden typische Situationen beschrieben und altersgerecht aufgelöst.
Nach dem Allgemeinen folgt das Besondere: Drei Beiträge gehen auf spezifische Digital-Risiken in abgrenzbaren Bereichen ein. Sonja Hoffmann referiert aus der alltäglichen Präventionsarbeit der Polizei. Dazu gehören rechtliche Fragen zu Nutzungs- oder Urheberrechten, aber auch die Frage, wie man sich bei strafbaren Handlungen (Cybermobbing, Grooming, Stalking u. a.) verhält. Denn es gibt kein Kinder- oder Jugendnetz, sondern nur ein großes, allgemeines Web mit allen Spielarten des Positiven wie Negativen. Kinder und Jugendliche brauchen – als besonders einfach zu beeinflussende Zielgruppe – neben Aufklärung auch konkrete Hilfestellungen und Regeln.
Das Thema Beeinflussung nimmt der Beitrag von Ingo Leipner auf, der Marketingstrategien beschreibt, die gezielt Kinder adressieren. Zwar gibt es auch für Werbung klare Regeln für den Kinder- und Jugendschutz, aber noch größere Interessen, diese zu umgehen und subtil die eigene Marke zu bewerben. Frühe Prägung ist besonders rentabel.
Peter Hensinger referiert in seinem Beitrag zu WLAN in Schulen vor allem gesundheitliche Aspekte. Aktuelle Studien kommen zu dem Ergebnis, dass elektromagnetische Strahlung Krebs hervorrufen kann. Da selbst das Bundesamt für Strahlenschutz und die Telekom empfehlen, an Arbeitsplätzen besser mit einem kabelgebundenen Netzanschluss zu arbeiten, sollten Schulen auf WLAN verzichten. Technische Alternativen stehen zur Verfügung, wie der Beitrag zeigt.
Abschließend folgen drei Beiträge über regionale Projekte zu digitalen Medien. In der Region Ortenau gibt es gleich zwei regionale Koordinationsinitiativen, die bundesweit Beispielcharakter haben, aber ganz unterschiedliche Ziele verfolgen. Der Beitrag von Thomas Breyer-Mayländer über die Bildungsregion Ortenau mit dem Ziel der Medienkompetenzförderung ist eine Art lokale Machbarkeitsstudie zum länderübergreifenden Plan (siehe den Beitrag von Zieher) – mit konkreten Strategien zum Einsatz digitaler Medien und Infrastruktur in Schulen. Im zweiten Beitrag geht es um das Präventionsnetzwerk Ortenau, das Aktivitäten zur Gesundheitsförderung und Prävention koordiniert, unter anderem das Programm ECHT DABEI, das vor Digital-Risiken schützen soll. Im dritten Beitrag beschreiben die Autoren ausführlicher die Module des Programms und fassen einleitend den Stand der Forschung im Bereich der Vorbeugung gegen problematische Bildschirmmediennutzung zusammen.
In der Gesamtschau der Beiträge zeigt sich etwas, das im Zusammendenken der beiden regionalen Koordinationsinitiativen in fast schmerzlicher Deutlichkeit hervortritt: Die Diskurse finden nicht zusammen. Es gelingt weder auf Bundes- noch auf Landesebene, Medienkompetenzförderungs- und Medien(sucht)präventionsinitiativen zu verknüpfen, obwohl in der landesweiten Strategie zur Umsetzung (siehe den Beitrag von Zieher) explizit zu lesen ist: »Um den steigenden […] Anforderungen […] gerecht zu werden, soll die Angebotslandschaft in den Blick genommen werden und so weiterentwickelt werden, dass die Angebote untereinander besser abgestimmt sind, sich nach Möglichkeit ergänzen und aufeinander aufbauen…«. Sic!
Eine mögliche Deutung: Mit dem häufig verwendeten Begriff »bedarfsgerecht« sind ganz verschiedene Dinge gemeint – im einen Fall eine Abfrage von Fortbildungsbedarfen zum Thema Bildschirmmedien bei Praktikern, im anderen Fall der Bedarf von Unternehmen in Bezug auf die Medien- und Informatikkompetenz der zukünftigen Mitarbeiter.
Fazit: Für eine goldene Zukunft braucht es nicht nur einen interdisziplinären, sondern auch einen transdisziplinären Dialog unter Einbeziehung der Lebenserfahrung von Praktikern. Dabei kann dieser Band keine fertigen Lösungen anbieten, sondern lediglich mögliche Ansätze aufzeigen, die im weiteren Diskurs erarbeitet und ausdiskutiert werden müssen. Man muss dabei nicht einer Meinung sein. Ganz im Gegenteil: Der intensive Diskurs zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern, zwischen Technikern, Informatikern und Pädagogen, Kinderärzten, Erzieher/innen und vielen anderen Menschen, die sich um das Wohl und Werden von Kindern kümmern, ist die Basis für das gemeinsame Ringen um eine humane Bildung in einer hochtechnisierten und zunehmend digitalisierten Welt. Dabei ist der gemeinsame Nenner immer der gegenseitige Respekt. Es gilt der alte Leitspruch der Rhetorik: Hart in der Sache, verbindlich in der Form (»Fortiter in re, suaviter in modo«). Dafür liefert dieser Band reichlich Material und fordert auf zu Gespräch und Diskurs.
Prof. Dr. Ralf Lankau und Prof. Dr. Paula Bleckmann
Jasmin Zimmer/Paula Bleckmann/Brigitte Pemberger
Ein forschungsmethodischer Zugang für die Erhebung langfristiger Chancen und Risiken
Wir möchten im folgenden Beitrag die Technikfolgenabschätzung als forschungsmethodischen Zugang beschreiben, anfänglich auf »digitale Bildung« anwenden und abschließend einige bildungs- und forschungspolitische Forderungen ableiten. Technikfolgenabschätzung erscheint langfristig sehr geeignet, um Erkenntnisfortschritte zu generieren, die politische Entscheidungen unterstützen, welche eine nachhaltige, am Menschen orientierte digitale Bildungspolitik ermöglichen. Diesem Ziel steht die aktuell zu beobachtende Polarisierung des Diskurses in eine Digital-Skepsis-Fraktion und eine Digital-Euphorie-Fraktion deutlich entgegen. Eine solche Polarisierung ist nicht nur beim Thema Digitale Bildung, sondern auch bei den Auswirkungen von Digitalisierung auf die körperliche, seelische und geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu beobachten.
Der britische Neuropsychologe Sigman weist auf Studien hin, denen zufolge Bildschirmmediennutzung bei Kindern etliche negative Auswirkungen habe und mit einer hohen Suchtgefahr verbunden sei (Sigman 2012, z. B. S. 114). Die amerikanische Game-Designerin McGonigal dagegen bezeichnet Computerspielen nicht nur als bisher ungenutzten Beitrag zum Weltfrieden, sondern auch als Therapie für Depressionen, als förderlich für die körperliche Fitness und die Beziehungsfähigkeit (McGonigal 2011). Gaming sei zudem langfristig geeignet, das schulische Lernen und den Lehrerberuf in seiner heutigen Form überflüssig zu machen. Kurz: Die virtuelle Welt sei in allen Bereichen »besser als die Wirklichkeit« (McGonigal 2012).
Ein verbreiteter »Kompromissvorschlag« ist die Idee, es müssten junge Menschen eben zu beidem befähigt werden, zum Ausschöpfen der Chancen wie auch zur Vermeidung der Risiken der Digitalisierung. Diese Idee, obwohl ein Fortschritt im Vergleich zu den genannten Extrempositionen, greift aber an einer entscheidenden Stelle zu kurz, indem sie das Chancen-Risiken-Management in die Verantwortung einzelner Personen stellt. Armin Grunwald, einer der führenden deutschen Experten für Technikfolgenabschätzung, kritisiert diesen Trend zur »Personalisierung und simplifizierenden Moralisierung«. Er hält es für zentral wichtig, »Strukturen, Systeme, Machtverhältnisse und Abhängigkeiten zu thematisieren und ihre Reform zu fordern, statt mit dem Finger auf die Konsumenten zu zeigen« (Grunwald 2017).
Riskant ist unseres Erachtens die von Grunwald kritisierte individuell moralisierende Herangehensweise, wenn sie mit einer zweiten verbreiteten Diskursrichtung zusammenkommt, dem Argumentationsmuster der »self-fulfilling prophecy«. Experten für technologische Entwicklungen behaupten, es gebe gar keine Wahl, keine Möglichkeit der demokratischen Steuerung, die Entwicklung sei nicht aufzuhalten. Gerade die unhinterfragte Akzeptanz dieses Argumentationsmusters führt dann in der Folge oft zu einer Erfüllung der »Prophezeiung«. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bietet der Vortrag des Experten für Künstliche Intelligenz (KI), Prof. Igel vom Educational Technology Lab, auf der Tagung der Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) in Mainz (Igel 2017a), in dem er betont, dass nicht der Mensch, sondern die Technologien als Akteure, als Veränderer, als Entwicklungstreiber aufträten. Einen Bezug zu ähnlich hochgesteckten Erwartungen an historische Bildungsmedien werden wir weiter unten herstellen. Bei Igel fehlt dieser Bezug allerdings. Ebenso fehlt die Thematisierung möglicher Risiken der Digitalisierung von Bildung. Es fällt schwer, dies als zufällige Auslassung zu interpretieren, gibt es doch z. B. an der Universität Cambridge seit einigen Jahren ein »Center for the Study of Existential Risk« (http://cser.org/research/http://cser.org/research/), in dem Risiken untersucht werden, von denen man glaubt, dass sie das Überleben der Menschheit gefährden können. KI wird dort als existenzielles Risiko gehandelt.
Interessanterweise betont Igel zugleich, »dass das Warten auf die politischen Impulse falsch« sei und es endlich an die Umsetzung gehen solle. Sein Argumentationsmuster ist also komplexer, es weist parallel zur behaupteten Selbstläufigkeit der Entwicklung noch eine Argumentationslinie auf, welche die positiven Potenziale herausstellt und die Langsamkeit politischer Entscheidungen beklagt. Es gibt also einerseits nichts zu entscheiden, andererseits sollten endlich Entscheidungen für mehr digitale Bildung getroffen werden, weil diese so mannigfache Vorteile mit sich bringe. Dafür seien aber demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse zu langsam. Der Technikphilosoph Albert Borgmann nennt es ironisch, dass beide einander widersprechenden Argumentationen zugleich verwendet werden, ohne dass den Urhebern dieser Widerspruch bewusst wäre (Borgmann 1996). Dieselbe hochproblematische Kombination von »no choice« und »better choice« findet sich bei anderen Autoren in sehr ähnlicher Weise, z. B. bei Dräger und Müller-Eiselt (2015, vgl. hierzu ausführlicher Bleckmann et al. 2017).
Wir möchten im Folgenden zeigen, dass die Technikfolgenabschätzung ein besonders vielversprechender forschungsmethodischer Zugang ist, um mit den angerissenen Problemfeldern konstruktiv umzugehen. Wir beschreiben jeweils eine Stärke der Technikfolgenabschätzung und wenden diese anfänglich auf den Diskurs um digitale Bildung an.
Grunwald misst einer ethischen Debatte zu Technikzukünften dann ein besonderes Gewicht bei, wenn Menschen mithilfe neuer Technologien körperlich oder geistig »verbessert« werden sollen. Folgende Fragen müssen nach seiner Ansicht gestellt werden: Sind Verbesserungen in einer Hinsicht mit Verschlechterungen in anderer Hinsicht verbunden? Wie wäre in einem solchen Fall abzuwägen? Wie kann das »Maß« von Verbesserungen bestimmt werden? Werden Rechte von Betroffenen berührt, ohne dass diese um Einwilligung gefragt worden sind oder gefragt werden könnten? (Grunwald 2012, S. 147). Woopen und Mertz beschreiben vier verschiedene Funktionen von Ethik innerhalb der Technikfolgenabschätzung: Legitimierung (Wie ist der Aufwand einer Technikfolgenabschätzung überhaupt zu rechtfertigen?), Konzipierung (Welches Studiendesign wird gewählt, welche Alternativen werden beforscht und bewertet?), Evaluation (Wie werden die Chancen und Risiken bewertet?), sowie Normbegründung (Welche Regeln können hieraus abgeleitet werden?) (Woopen/Mertz 2014).
Das von Grunwald vorgeschlagene Abwägen möglicher Verbesserungen gegen mögliche Verschlechterungen bei der »geistigen Verbesserung des Menschen« ist für den Diskurs um Digitale Bildung hochrelevant, insbesondere wenn es sich bei den Betroffenen um Minderjährige handelt. Ebenso muss abgewogen werden: Wie beurteilen wir eine Zentralisierung von Chancen (Profite von Großkonzernen, Wirtschaftswachstum) und eine Kommunalisierung der Risiken (Störungen im Wohlergehen von Einzelpersonen)?
Hartmut Graßl, Präsident der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), beklagt, dass durch »die nur schwach oder überhaupt nicht geförderte Forschung zur Technikfolgenabschätzung die großen Risiken bestimmter Technologien oft nicht früh genug« erkannt wurden. Als Klimaforscher hat er dies am Beispiel des Ozonlochs miterlebt. Weiter schreibt er: »Was mich besonders beunruhigt, ist Folgendes: Wir beobachten eine weiter erhöhte Innovationsgeschwindigkeit und wir wissen nicht, ob die Forschung zur Technikfolgenabschätzung überhaupt noch mitkommen kann« (Graßl 2017).
Die kritische relative Innovationsgeschwindigkeit definiert Weizsäcker als »die Geschwindigkeit, jenseits derer es regeltechnisch und lerntheoretisch schwierig oder unmöglich wird, die Innovationsrichtung sinnvoll zu steuern. […] Jenseits der kritischen Innovationsgeschwindigkeit gibt es ›Neuerung ohne Steuerung‹, und man kann aus Schaden nicht mehr klug werden«. Deshalb müsse man sich gesellschaftlich Zeit nehmen und Zeit schaffen. Das »Menschenrecht auf Versuch und Irrtum« müsse verteidigt werden (Weizsäcker 1998). Gerade in Europa ist diese Forderung besonders gut begründbar, weil hier in Artikel 191 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union das Vorsorgeprinzip verankert ist, wie z. B. in der Pharmaforschung prominent sichtbar (begründet durch die Erfahrungen des Contergan-Skandals). Es besagt, dass bei zu befürchtenden dramatischen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Umwelt die Beweislast umgekehrt wird. Der Hersteller muss beweisen, dass etwas nicht schadet, statt dass der einzelne Bürger oder seine Vertreter den Gefährdungsnachweis erbringen müssen. Für den Bereich der digitalen Bildung forderte die Arbeitsgruppe »Prävention internetbezogener Störungen«, die Empfehlungen für den Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung erarbeitete, eine erste, in eine ähnliche Richtung gehende Qualitätskontrolle (siehe Rumpf et al. 2016).
Eine zu hohe Innovationsgeschwindigkeit, eine »Neuerung ohne Steuerung«, birgt das Risiko von Investitionsruinen. Man denke an die inzwischen fast durchgängig verschrotteten Sprachlabors oder das Scheitern der Idee, Lehrer durch Fernseher zu ersetzen (Barth 1978). Interessant ist, dass vergangene Unterrichtstechnologien recht durchgängig die Bildungsschere weiter aufklaffen ließen, da gerade die schwächeren Schüler weniger gut in der Lage waren, die Technik zum Lernen produktiv einzusetzen. Ähnliche Fehlinvestitionen zeichnen sich z. B. in Neuseeland ab, die auf schlechte PISA-Ergebnisse mit massiven Investitionen in Laptops für Schüler in Höhe von über zwei Milliarden Dollar reagiert hatten und nun an vielen Schulen zurückrudern, weil der Ablenkungsfaktor so hoch ist (Bagshaw 2016). Es muss infrage gestellt werden, ob sich ein staatlicher Finanzhaushalt einen im pädagogisch-didaktischen Sinn derart klassischen Fall von nach bisherigem Forschungsstand nicht zielführender Technologiewahl zum Erreichen der gesteckten Lern- und Kompetenzziele überhaupt und erst recht bei gleichzeitig laufenden Sparmaßnahmen im Bildungsbereich leisten darf.
Gerade die »wechselseitigen Verständigungs- und Übersetzungsprobleme zwischen den Disziplinen und zwischen Wissenschaft und Praxis« werden in den neueren Verfahren der Technikfolgenabschätzung gut aufgegriffen, wie Rammert (2008) beschreibt. Technikfolgenabschätzung ist heute nicht nur interdisziplinär sondern transdisziplinär veranlagt. Das Expertenwissen von Wissenschaftlern aus sehr unterschiedlichen Disziplinen wie auch das breite Erfahrungswissen von Praktikern können dabei als Ressource genutzt werden, um das volle Spektrum möglicher Chancen und Risiken der technologischen Entwicklung aus der Perspektive der unterschiedlichsten Stakeholder-Gruppen zu berücksichtigen.
Der politische Diskurs um digitale Bildung ist in Deutschland dagegen geprägt von der Exklusion oder Immunisierung gegenüber Aussagen von Experten wie auch von Praktikern, die den derzeit politisch gewollten »Early High Tech Hype« nicht unterstützen (vgl. Bleckmann et al. 2017). Die gängigen Empfehlungen decken sich in weiten Teilen mit den Forderungen der unmittelbaren finanziellen Profiteure einer solchen Entwicklung. Diese Schlussfolgerung leiten wir aus einer Analyse der in den aktuellen Publikationen und Initiativen der Bildungspolitik berücksichtigten Quellen ab (DigitalPakt#D, KMK-Strategiepapier 2016, Aktionsrat Bildung, leider auch TA-Bericht zur digitalen Bildung, Deutscher Bundestag 2016). Das uns vorliegende, deutlich weitere Spektrum an Erkenntnissen und Meinungen im Sinne einer echten Inter- und Transdisziplinarität ist in diesen Veröffentlichungen nicht nur unterrepräsentiert, sondern gar nicht vorhanden.
Im Vergleich dazu ist der Diskurs innerhalb der Disziplin der Medienpädagogik weiter gefasst, nach den Maßstäben von Technikfolgenabschätzung jedoch immer noch deutlich zu eng. Die Zusammenarbeit von Mediendidaktikern, Medienpädagogen und Mediensozialisationsforschern steckt das Feld von vornherein recht weit ab, aber auch mit den Fachdidaktiken, insbesondere der Informatik-Didaktik, sucht man den Dialog. Die Medienpädagogik positioniert sich als akademische Disziplin in weiten Teilen kritisch gegenüber dem industriegetriebenen Hype. Die Engführung auf Mediendidaktik in den oben genannten politischen Veröffentlichungen wird hier kritisch gesehen.3 Mit der Hinzunahme einer »gesellschaftlich-kulturellen Perspektive« von Bildung in der digitalen Welt könnte nun eine Öffnung für die Perspektive der Medienwirkungsforschung erfolgen: »Wie wirken digitale Medien auf Individuen und die Gesellschaft, wie kann man Informationen beurteilen, eigene Standpunkte entwickeln und Einfluss auf gesellschaftliche und technologische Entwicklungen nehmen?« (Dagstuhl 2016).
An den Daten einer interdisziplinären Expertenbefragung wird deutlich, wie hilfreich eine Berücksichtigung von Expertenmeinungen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen für die digitale Bildung sein kann: Die Chancen und die Risiken und entsprechend auch das empfohlene Alter für den Nutzungsbeginn werden bei verschiedenen Medien je nach disziplinärer Verortung sehr unterschiedlich bewertet. So empfehlen z. B. »Medienexperten« beim Medium PC einen Nutzungsbeginn ab vier Jahren, hingegen Kinder- und Suchtexperten einen Nutzungsbeginn ab neun Jahren (Bitzer/Bleckmann/Mößle 2014).
In den Veröffentlichungen zur digitalen Bildung bleiben nach unserem Kenntnisstand bisher vier Arten von Beiträgen weitgehend unberücksichtigt: Stellungnahmen, die den »Early High Tech Hype« kritisch hinterfragen, Bücher und Veröffentlichungen von Autoren verschiedener Disziplinen außerhalb der Medienpädagogik, die sich kritisch mit der Thematik auseinandersetzen, Ergebnisse von Evaluationsstudien und schließlich die Meinungen von digitalkritischen Praktikern.
Zum ersten Bereich seien drei Beispiele genannt:
Die OECD formuliert (2015): »die schichtspezifischen Unterschiede in der Fähigkeit, digitale Medien zum Lernen zu nutzen, […] [sind] durch Unterschiede in traditionellen Basiskompetenzen erklärbar. Eine Förderung von Grundkenntnissen in Rechnen und Schreiben trägt mehr zur Angleichung von Bildungschancen bei als die Ausweitung und Subventionierung von Zugang zu High-Tech Geräten und Dienstleistungen.«
Auf dem letztjährigen nationalen IT-Gipfel vom Deutschen Mathematiker-Verband wurde zum Thema digitale Bildung das Statement gebracht, dass zur Vermittlung der theoretischen Grundlagen immer noch besser Tafel, Papier und das direkte Unterrichtsgespräch geeignet seien als Soft- und Hardware.
Die Gesellschaft Bildung und Wissenschaft fordert in einer Reaktion auf den DigitalPakt#D, vorrangig in die »Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen« zu investieren und Kitas und Grundschulen IT-frei zu belassen (Lankau 2016).
Zum zweiten Bereich: Kritische Autoren anderer Disziplinen werden ebenfalls nicht berücksichtigt oder reflexartig abgelehnt, wie Teuchert-Noodt (2017), Lembke und Leipner (2015), Bauer (2015), te Wildt (2015) und andere.4
Nun zum dritten Bereich, den empirischen Untersuchungen zu den Auswirkungen von digitalen Medien auf das Lernen, dessen Vernachlässigung in der Debatte besonders bedauerlich erscheint. Beispielhaft seien hier Carter, Greenberg und Walker (2016), Ravizza, Uitvlugt und Fenn (2017), Sana, Weston und Cepeda (2013), Vigdor, Ladd und Martinez (2014) sowie Zierer (2018) genannt. Einige der genannten Quellen zeigen gar keine Wirkungen, andere kontraproduktive Effekte im Sinne verringerter Lernleistungen und verschärfter Ungleichheit beim Einsatz von Digitalgeräten zum Lernen.
Das Erfahrungswissen von Praktikern (Transdisziplinarität) wird bisher grob auf zweierlei Weise in die Überlegungen zur digitalen Bildung einbezogen: Praktiker werden eingeladen, als Tagungsbeitragende über ihre guten Erfahrungen mit einer (meist vorbildlichen) Nutzung digitaler Medien in Bildungseinrichtungen zu referieren, oder sie werden als Interviewpersonen für qualitative Studien gewonnen. Je nach Haltung zu digitaler Bildung werden sie dann als fortschrittlich gelobt, wenn sie Digitaltechnologie in den Bildungsinstitutionen einsetzen, oder als rückständig kritisiert, falls sie es nicht tun. Im letzteren Fall werden oft noch Vorschläge zur Behebung des Problems der »Berührungsängste« aus dem Material erarbeitet, selbst wenn die Wahl für einen analogen Medieneinsatz aus einer sorgfältigen allgemeindidaktischen Überlegung resultiert, die die Pädagogik vor die Technik stellt (Zierer 2018). Diese Pädagogen werden jedoch nicht als Referenten eingeladen oder als ernstzunehmende Stakeholder befragt, obgleich ihre Sichtweise ganz andere Aspekte beleuchtet als diejenigen, auf die im Diskurs um digitale Bildung bisher der Fokus gelegt wird. In einer Abfrage zu bedarfsgerechten Präventionsangeboten im Setting Kindergarten und Grundschule erwies sich das Thema »Schutz vor problematischer Bildschirmmediennutzung« als häufigster genannter Problembereich aus Sicht der Praktiker (PNO 2016). Aktuelle Daten aus einer Praktikerbefragung scheinen auch die Berührungsängste-Hypothese zu widerlegen: Es gibt eine große Gruppe technisch versierter Digital Natives, die den Einsatz von Bildschirmmedien im Kindergartenalter nicht aus Mangel an technischer Expertise ablehnen, sondern weil sie den pädagogischen Sinn nicht sehen, so die vorläufige Auswertung der Daten (Zimmer/Bleckmann 2016).
So bedauerlich die beschriebene Exklusion sowohl von wissenschaftlicher Expertise außerhalb eines sehr beschränkten disziplinären Horizonts als auch von Praxiswissen erscheinen mag, so interessant ist es zugleich, diesen Prozess zu reflektieren, indem er seinerseits als Forschungsgegenstand betrachtet wird. Die Wissenssoziologie beschreibt inzwischen auch »das Problem der Erzeugung von Nichtwissen durch Interessenkopplung, die zu verengten Wahrnehmungshorizonten führen kann« (Böschen/Wehling 2012, S. 325). Gerade durch konzernfinanzierte Forschungsaktivitäten, wie Kreiß (2015, S. 105 ff.) sie beispielhaft für das Google-finanzierte Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft beschreibt, könnte die beschriebene Exklusion von Wissensbeständen aus dem Diskurs um digitale Bildung wenn schon nicht vollständig erklärt, so doch begünstigt werden. Eine andere Art der Betrachtung ist die Selbstkonzeptstabilisierung innerhalb bestimmter Disziplinen wie der Medienpädagogik, die sich mit bewährten »Neutralisierungsstrategien« gegenüber Befunden aus anderen Disziplinen abschottet (Bleckmann/Jukschat 2017). Ein Beispiel für eine besonders offensichtliche Umdeutung der Relevanz von Studienergebnissen nach den Interessen von Wirtschaftsverbänden bietet die Fehldarstellung von Ergebnissen aus der TIMMS-Studie durch den Aktionsrat Bildung in Bayern, die von einer aufmerksamen Leserin aufgedeckt wurde (http://lankau.de/2017/06/01/falsch-zitiert-und-falsch-gemeldet/). Die nunmehr unbegründete Schlussfolgerung wurde in der korrigierten Version nicht geändert, sondern beibehalten. Dies bestätigt den Verdacht, dass Konsequenzen nicht aus empirischen Ergebnissen abgeleitet wurden, sondern Studienergebnisse gesucht wurden, welche die von der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft gewünschten Forderungen plausibilisieren könnten (zur verzerrten Wiedergabe der ICILS-Studie siehe Bleckmann 2016).