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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Cécile G. Lecaux
ISBN 978-3-492-97417-2
Oktober 2016
© Jodi Piccoult 1998
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Pact«, William Morrow & Co., New York 1998
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2006
Deutschsprachige Erstausgabe:
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co KG, Bergisch Gladbach
2000
Übersetzung:
© Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach 2000
Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Covermotiv: Daniel Lombard
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Wer hätte je geliebt,
der nicht die Liebe auf den ersten Blick gekannt?
– Christopher Marlowe
Hero and Leander
Nimm mich in deine Arme und schwöre, von diesem
Moment an ewiges Leid mit mir zu teilen.
– Thomas Otway
The Orphan
Es gab nichts mehr zu sagen.
Er bedeckte ihren Körper mit seinem, und als sie die Arme um ihn legte, konnte sie ihn in allen Altersstufen vor sich sehen: als Fünfjährigen und noch blond, schlaksig mit elf, als Dreizehnjährigen mit den Händen eines Mannes. Der dunkeläugige Mond zog langsam am Nachthimmel vorbei. Sie atmete den Geruch seiner Haut ein. »Ich liebe dich«, sagte sie.
Dann fiel ein Schuß.
Obgleich nie eine feste Reservierung vorgenommen worden war, wurde der Ecktisch im rückwärtigen Teil des chinesischen Restaurants Happy Family freitagabends immer für die Hartes und die Golds freigehalten, die schon seit ewigen Zeiten an diesem Wochentag gemeinsam dort speisten. Vor vielen Jahren hatten sie noch die Kinder mitgebracht und den Raum um sich herum mit Kinderstühlchen und Windeltaschen derart zugebaut, daß es den Bedienungen kaum noch möglich gewesen war, mit den dampfenden Platten bis zum Tisch vorzudringen. Inzwischen kamen nur noch sie vier, stürmten gegen sechs einer nach dem anderen herein und ließen sich auf ihre angestammten Plätze sinken, so als würden sie gemeinsam eine Art magnetische Anziehung erzeugen.
James Harte war als erster eingetroffen. Er hatte an diesem Nachmittag operiert und war überraschend früh fertig geworden. Er griff nach den Eßstäbchen, die vor ihm auf dem Tisch lagen, schälte sie aus der Papierverpackung und hielt sie dann in der einen Hand wie chirurgische Instrumente.
»Hi«, sagte Melanie Gold, die ihm plötzlich gegenüber saß. »Ich bin wohl zu früh dran.«
»Nein«, entgegnete James. »Die anderen sind zu spät.«
»Tatsächlich?« Sie zog den Mantel aus und legte ihn achtlos zerknüllt neben sich. »Und ich hatte gehofft, ich wäre früh dran. Ich glaube, ich bin noch nie zu früh gewesen.«
James machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich glaube, das warst du tatsächlich nie.«
Die beiden verband nur eine einzige Gemeinsamkeit, Augusta Harte, aber Gus war noch nicht eingetroffen. Und so saßen sie gesellig, aber auch ein wenig verlegen beisammen, eine Verlegenheit, die daher rührte, daß sie sehr persönliche Dinge voneinander wußten, die sie sich nie selbst anvertraut hatten. Vielmehr hatte Gus Harte sie bei ihrem Mann im Bett ausgeplaudert oder Melanie bei einer Tasse Kaffee anvertraut. James räusperte sich und ließ die Eßstäbchen geschickt durch die Finger gleiten. »Was meinst du?« fragte er Melanie lächelnd. »Sollte ich meinen Beruf an den Nagel hängen und Drummer werden?«
Melanie errötete, wie immer, wenn sie verunsichert war. Nachdem sie Jahre an einem Infotisch gesessen hatte, der sie in Taillenhöhe umgab wie ein Reifrock, gingen ihr konkrete Antworten leicht über die Lippen, während sie sich beim lässigen verbalen Schlagabtausch schnell überfordert fühlte. Hätte James gefragt »Wie viele Einwohner zählt Addis Abeba derzeit?« oder »Kannst du mir sagen, welche chemischen Substanzen in einem Fotofixativ enthalten sind?«, wäre sie niemals rot geworden, weil die Antwort, gleich wie sie ausfiel, ihn nicht hätte beleidigen können. Aber diese Drummer-Frage? Was wollte er hören?
»Du würdest es hassen«, entgegnete Melanie, bemüht, flapsig zu klingen. »Du müßtest dir das Haar wachsen und dir die Brustwarzen piercen lassen oder so was.«
»Darf ich erfahren, wie ihr auf Themen wie Brustwarzenpiercing kommt?« fragte Michael Gold, der sich in eben diesem Moment ihrem Tisch näherte. Er beugte sich herab und legte seiner Frau flüchtig eine Hand auf die Schulter, eine Geste, die nach so vielen Ehejahren als Umarmung durchgehen mochte.
»Mach dir keine falschen Hoffnungen«, erwiderte Melanie. »James erwägt ein solches Piercing, nicht ich.«
Michael lachte. »Ich würde sagen, das wäre ein Grund, dir deine Zulassung zu entziehen.«
»Wieso?« wollte James wissen und runzelte die Stirn. »Erinnerst du dich an diesen Nobelpreisträger, den wir auf der Kreuzfahrt nach Alaska im vergangenen Sommer kennengelernt haben? Er hatte eine gepiercte Augenbraue.«
»Genau das ist der Punkt«, entgegnete Michael lapidar. »Man braucht keine Approbation, um ein Gedicht nur aus Schimpfwörtern zu verfassen.« Er setzte sich, schüttelte die Serviette aus und breitete sie über seinen Schoß. »Wo ist Gus?«
James warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sein ganzes Leben wurde von der Uhr diktiert, während Gus nicht einmal eine trug. Das machte ihn rasend. »Ich glaube, sie bringt Kate zu einer Freundin, bei der sie heute übernachtet.«
»Habt ihr schon bestellt?« fragte Michael.
»Gus bestellt sonst immer«, erwiderte James entschuldigend. Normalerweise war Gus als erste da, und wie in allen anderen Dingen sorgte sie auch bei ihren allwöchentlichen Mahlzeiten dafür, daß alles glatt lief.
Als hätte ihr Ehemann sie heraufbeschworen, hastete in diesem Augenblick Augusta Harte durch die Tür des chinesischen Lokals. »Himmel, ich habe mich verspätet«, sagte sie atemlos und knöpfte dabei mit einer Hand ihren Mantel auf. »Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, was für einen Tag ich hinter mir habe.« Die anderen drei lehnten sich in Erwartung einer ihrer berüchtigten Geschichten vor, aber anstatt zu erzählen, winkte Gus die Bedienung herbei. »Das Übliche«, sagte sie lächelnd.
Das Übliche? Melanie, Michael und James tauschten einen Blick. War das alles?
Gus war professionelle Dienstleisterin, jemand, der sein Geld damit verdiente, daß er Zeit opferte, die andere nicht aufbringen konnten oder wollten. Vielbeschäftigte Neuengländer nahmen die Dienste ihrer Firma »Other People’s Time« beispielsweise in Anspruch, wenn sie nicht beim Straßenverkehrsamt anstehen wollten, um einen neuen Wagen anzumelden, oder keine Lust hatten, den ganzen Tag daheim zu bleiben, um auf den Fernsehtechniker zu warten. Sie strich sich glättend mit den Händen über das lockige rote Haar. »Zuerst«, sagte sie, ein Haargummi zwischen den Zähnen, »habe ich den ganzen Vormittag beim Straßenverkehrsamt verbracht, was schon unter normalen Umständen eine Qual ist.« Tapfer mühte sie sich ab, ihr widerspenstiges Haar in einem Pferdeschwanz zu bändigen, was in etwa so aussichtslos war, wie elektrischen Strom an die Leine legen zu wollen. Sie blickte auf. »Ich bin also die nächste und stehe vor dem Schalter, ihr wißt schon, so einer mit einer kleinen Fensterscheibe, und da hat der Sachbearbeiter wahrhaftig einen Herzanfall. Ich schwöre, daß das stimmt. Er ist vor meinen Augen auf dem Fußboden seines Büros zusammengebrochen.«
»Das ist ja furchtbar«, hauchte Melanie.
»Mmmm. Vor allem, weil sie daraufhin den Schalter geschlossen haben und ich mich noch einmal neu anstellen mußte.«
»Dann kannst du ja mehr Stunden in Rechnung stellen.«
»In diesem Fall nicht«, widersprach Gus. »Ich hatte um zwei schon einen Termin in Exeter vereinbart.«
»In der Schule?«
»Ja. Bei einem gewissen Mr. J. Foxhill. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen Drittkläßler mit reichlich Taschengeld, der jemanden brauchte, der stellvertretend für ihn das Nachsitzen übernahm.«
James lachte. »Das nenne ich einfallsreich.«
»Unnötig, darauf hinzuweisen, daß der Direktor hiermit ganz und gar nicht einverstanden war. Statt dessen hat er meine Zeit mit einer Lektion über Verantwortungsbewußtsein bei Erwachsenen vergeudet, obwohl ich ihm erklärt hatte, daß ich vorab keine Ahnung hatte, worum es bei diesem Auftrag ging. Und als ich dann auf dem Weg war, um Kate vom Fußballtraining abzuholen, hatte ich eine Panne. Als ich endlich den Reifen gewechselt hatte und beim Spielfeld ankam, war sie längst mit Susan nach Hause gefahren.«
»Gus«, erkundigte sich Melanie. »Was ist mit dem Angestellten von der Zulassungsstelle?«
»Du hast ganz allein einen Reifen gewechselt?« fragte James, Melanies Frage ignorierend. »Ich bin beeindruckt.«
»Das bin ich auch. Aber nur für den Fall, daß ich den Reifen verkehrt herum montiert habe, würde ich heute abend gerne mit deinem Wagen in die Stadt fahren.«
»Wieder Arbeit?«
Gus nickte und lächelte, als die Bedienung das Essen brachte. »Ich muß zur Kartenvorverkaufsstelle, um Karten für Metallica zu besorgen.«
»Was ist mit dem Sachbearbeiter?« fragte Melanie, diesmal mit etwas mehr Nachdruck.
Die anderen drei starrten sie an. »Meine Güte, Mel«, meinte Gus schließlich. »Du brauchst mich nicht gleich anzuschreien.« Melanie errötete, woraufhin Gus sofort einlenkte. »Ich muß gestehen, ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist«, gab sie zu. »Er wurde mit dem Krankenwagen weggebracht.« Sie häufte sich eine Portion Lo Mein auf den Teller. »Übrigens, ich habe heute im State Building Ems Gemälde gesehen.«
»Was hast du denn im State Building gemacht?« fragte James.
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe mir Ems Gemälde angesehen. Sie sehen so … na ja, so professionell aus mit dem goldenen Rahmen und der großen blauen Schleife darunter. Und ihr habt mich alle ausgelacht, als ich die Bleistiftzeichnungen aufbewahrt habe, die sie bei uns zu Hause zusammen mit Chris gemalt hat.«
Michael lächelte. »Wir haben gelacht, weil du gesagt hast, eines Tages würden sie dir ein Altersruhegeld einbringen.«
»Ihr werdet schon sehen«, meinte Gus. »Eine Gewinnerin eines staatlichen Wettbewerbs mit siebzehn, eine Gallerieeröffnung mit einundzwanzig … Es werden Bilder von ihr im Museum of Modern Art hängen, noch bevor sie dreißig ist.« Sie griff nach James’ Arm und drehte sein Handgelenk so, daß sie die Uhr lesen konnte. »Ich habe nur noch fünf Minuten.«
James ließ seine Hand in den Schoß zurücksinken. »Die Kartenvorverkaufsstellen öffnen abends um sieben?«
»Um sieben Uhr früh«, entgegnete Gus. »Der Schlafsack liegt im Wagen.« Sie gähnte. »Ich glaube, ich brauche einen Berufswechsel. Etwas weniger Stressiges … Fluglotse oder vielleicht Premierminister von Israel.« Sie griff nach einer Platte Mu-Shi-Hühnchen, begann die Pfannkuchen zu rollen und verteilte sie. »Was machen Mrs. Greenblatts Katarakten?« erkundigte sie sich geistesabwesend.
»Weg«, antwortete James. »Mit etwas Glück hat sie bald auf beiden Augen 20 Prozent Sehkraft.«
Melanie seufzte tief. »Ich möchte auch eine Kataraktoperation. Es wäre himmlisch, morgens aufzuwachen und etwas sehen zu können.«
»Du willst dich doch nicht ernsthaft operieren lassen«, bemerkte Michael.
»Warum nicht? Ich bräuchte keine Kontaktlinsen mehr. Und ich kenne einen guten Chirurgen.«
»James dürfte dich gar nicht operieren«, meinte Gus lächelnd. »Würde das nicht gegen irgendein Ethikgesetz verstoßen?«
»Das gilt nicht für virtuelle Verwandte«, widersprach Melanie.
»Das gefällt mir«, sagte Gus. »Virtuelle Verwandte. Es müßte diesbezüglich einen offiziellen Status geben … ihr wißt schon, so etwas wie eine standesamtliche Trauung. Wenn man lange genug miteinander verkehrt, gilt man vor dem Gesetz als verwandt.« Sie schluckte den letzten Bissen ihres Pfannkuchens hinunter und stand auf. »Nun«, sagte sie, »welch üppiges und entspannendes Mahl.«
»Du kannst noch nicht gehen«, sagte Melanie und bestellte bei einem Ober Glückskekse. Als der Mann zurückkam, stopfte sie eine Handvoll in Gus’ Manteltaschen. »Hier. Bei der Kartenvorverkaufsstelle wirst du nichts Eßbares kriegen.«
Michael nahm sich einen Keks und brach ihn entzwei. »›Das Geschenk der Liebe sollte angemessen gewürdigt werden‹«, las er laut vor.
»›Man ist so alt, wie man sich fühlt‹«, las James, nachdem er die Weisheit auf seinem Zettel überflogen hatte. »Das sagt mir im Augenblick nicht viel.«
Alle blickten auf Melanie, die den Papierstreifen jedoch nach dem Lesen wortlos einsteckte. Sie glaubte daran, daß, wenn man den Spruch laut vorlas, er sich nicht erfüllen konnte.
Gus nahm einen der übriggebliebenen Kekse von der Platte und brach ihn auf. »Stellt euch vor«, sagte sie lachend. »Ein Blindgänger.«
»Fehlt der Zettel?« fragte Michael. »Das müßte eine kostenlose Mahlzeit wert sein.«
»Sieh auf dem Fußboden nach, Gus. Er muß dir heruntergefallen sein. Wer hätte je von einem Glückskeks ohne Glückszettel gehört?« meinte Melanie.
Aber es lag kein Zettel auf dem Fußboden, es verbarg sich keiner unter einem Teller, und es hatte sich auch keiner in den Falten von Gus’ Mantel verfangen. Sie schüttelte betrübt den Kopf und hob ihre Teetasse. »Auf meine Zukunft«, sagte sie. Sie leerte ihren Tee und hastete dann davon.
Bainbridge in New Hampshire war ein verschlafenes Nest, in dem vornehmlich Professoren vom Dartmouth College und Ärzte vom örtlichen Krankenhaus wohnten. Es lag nah genug bei der Universität, um als verkehrsgünstig zu gelten, und doch weit genug weg, um sich für das Attribut »ländlich« zu qualifizieren. Zwischen alteingesessenen Milchbetrieben führten schmale Straßen hindurch zu zwei Hektar großen Grundstücksparzellen, die Ende der siebziger Jahre das Überleben des Örtchens gesichert hatten. Die Wood Hollow Road, in der die Golds und die Hartes lebten, war eine dieser Straßen.
Zusammen bildeten ihre beiden Grundstücke ein Quadrat; zwei Dreiecke, die entlang einer gemeinsamen Hypotenuse aneinandergrenzten. Das Grundstück der Hartes war in Höhe der Auffahrt sehr schmal und verbreiterte sich von da aus stetig, während es sich beim Grundstück der Golds genau umgekehrt verhielt, so daß die Häuser nur etwa 60 Meter auseinanderlagen. Zwischen ihnen befand sich ein kleines Wäldchen, das die Sicht auf das Nachbarhaus jedoch nicht völlig verdeckte.
Michael und Melanie folgten in ihren getrennten Fahrzeugen James’ grauem Volvo, als dieser in die Wood Hollow Road einbog. Eine halbe Meile bergauf, in Höhe des Granitpfostens, auf dem die Hausnummer 34 prangte, bog James links ab. Michael fuhr in die nächste Einfahrt. Er stellte den Motor des Geländewagens ab und trat hinaus in das kleine Lichtquadrat, das aus dem Wageninneren nach draußen fiel. Er wurde stürmisch von Grady und Beau begrüßt. Die beiden Irish Setter sprangen wedelnd um ihn herum, während er darauf wartete, daß Melanie ihrerseits ausstieg.
»Sieht aus, als wäre Em noch nicht zu Hause«, meinte Michael.
Melanie stieg aus ihrem Wagen und schlug in einer einzigen flüssigen Bewegung die Tür hinter sich zu. »Acht Uhr«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist sie gerade erst weg.«
Michael folgte Melanie durch die Seitentür in die Küche. Sie legte einen kleinen Stapel Bücher auf den Tisch.
»Wer hat heute Bereitschaft?« fragte sie.
Michael streckte sich. »Keine Ahnung. Ich jedenfalls nicht. Ich glaube Richards von der Weston-Tierklinik.« Er ging zur Tür und rief die Hunde, die zwar zu ihm herübersahen, jedoch keine Anstalten machten, ihre wilde Jagd hinter aufgewirbeltem Laub her abzubrechen.
»Welche Ironie«, bemerkte Melanie spöttisch. »Ein Tierarzt, der seine eigenen Hunde nicht im Griff hat.«
Michael trat beiseite, als Melanie zur Tür kam und pfiff. Die Hunde stürmten an ihm vorbei und brachten den frischen Duft der anbrechenden Nacht mit herein. »Es sind Emilys Hunde«, verteidigte er sich. »Das ist etwas anderes.«
Als um drei Uhr nachts das Telefon läutete, war James Harte sofort hellwach. Er überlegte, was bei Mrs. Greenblatt schiefgelaufen sein mochte, da sie der einzige potentielle ihn betreffende Notfall war. Er langte über die verlassene Betthälfte hinweg, die normalerweise seine Frau hätte ausfüllen müssen, nach dem Telefon. »Ja?«
»Spreche ich mit Mr. Harte?«
»Dr. Harte«, verbesserte er den Anrufer.
»Dr. Harte, hier spricht Officer Stanley von der Polizeiwache in Bainbridge. Ihr Sohn wurde verletzt ins Bainbridge Memorial Hospital eingeliefert.«
James fühlte, wie sich Sätze in seiner Kehle bildeten und ineinanderschoben. »Ist er… hatte er einen Autounfall?«
Hierauf entstand eine kurze Pause. »Nein, Sir«, entgegnete der Polizeibeamte schließlich.
James’ Herz zog sich angstvoll zusammen. »Danke«, sagte er und legte auf, um sich gleich darauf zu fragen, warum er sich bei jemandem bedankte, der ihm eben eine so schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte. Kaum hatte er aufgelegt, schossen ihm tausend Fragen durch den Kopf. Was hatte Christopher für Verletzungen erlitten? War er leicht oder schwer verletzt? War Emily noch bei ihm? Was war passiert? James stieg eilig in die Kleider, die er bereits in den Wäschekorb geworfen hatte, und war bereits nach wenigen Minuten unten. Er wußte, daß die Fahrt zum Krankenhaus exakt 17 Minuten beanspruchen würde. Er raste bereits die Wood Hollow Road hinunter, als er nach dem Autotelefon griff und Gus’ Nummer wählte.
»Was haben sie gesagt?« fragte Melanie zum zehnten Mal.
»Was haben sie genau gesagt?«
Michael knöpfte eine Jeans zu und schlüpfte barfuß in Sportschuhe. Zu spät registrierte er, daß er noch keine Socken anhatte. Scheiß auf die Socken.
»Michael.«
Er blickte auf. »Daß Em verletzt ist und ins Krankenhaus eingeliefert wurde.« Seine Hände zitterten, und doch war er zu seinem eigenen Erstaunen in der Lage, die erforderlichen Handgriffe zu tun: Mel zur Tür schieben, die Wagenschlüssel an sich nehmen und dabei überlegen, welches die günstigste Strecke zum Bainbridge Memorial war.
Er hatte sich schon des öfteren rein hypothetisch gefragt, wie es wohl wäre, wenn mitten in der Nacht ein Anruf käme, ein Anruf, der so erschütternd war, daß er einem die Sprache verschlug und man nicht glauben konnte, was man hörte. Tief im Inneren hatte er damit gerechnet, ein einziges Nervenbündel zu sein. Aber hier war er, setzte vorsichtig rückwärts aus seiner Auffahrt auf die Straße und hielt sich alles in allem sehr ordentlich; das einzige, was seine Panik verriet, war ein ganz leichtes Zucken an der Wange.
»James operiert dort«, sagte Melanie in einer leisen, undeutlichen Litanei. »Er wird wissen, mit wem wir uns in Verbindung setzen sollen, was wir tun sollen.«
»Liebes«, sagte Michael und tastete in der Dunkelheit nach ihrer Hand. »Noch wissen wir ja gar nicht, was mit ihr ist.« Aber als er am Haus der Hartes vorbeifuhr, registrierte er die friedliche Stille dort, die dunklen Fenster, und unwillkürlich verspürte er einen Stich, neidete er den Freunden die Normalität in dieser Nacht. Warum wir? dachte er, ohne die Autoscheinwerfer wahrzunehmen, die am Ende der Wood Hollow Road bereits in Richtung Stadt abbogen.
Gus lag auf dem Bürgersteig zwischen einem Teenagertrio mit grüngefärbter Igelfrisur und einem Paar, das dem Beischlaf so nah kam wie in der Öffentlichkeit eben möglich. Wenn Chris sich je eine solche Frisur zulegte, dachte sie, würden wir … Würden sie was? Haare waren bei ihnen nie ein Thema gewesen, weil Chris, solange sie denken konnte, das Haar nur wenig länger trug als bei einem klassischen Bürstenhaarschnitt. Und was Romeo und Julia zu ihrer Rechten anbelangte … nun, auch in dieser Hinsicht gab es keinen Grund zur Beunruhigung. Sobald diese Dinge begonnen hatten, eine Rolle zu spielen, hatten Emily und Chris begonnen, miteinander auszugehen, eine Beziehung, auf die beide Elternpaare eifrig hingearbeitet hatten.
In viereinhalb Stunden würden den Söhnen ihrer Kunden Spitzenplätze bei einem Metallica-Konzert sicher sein. Dann konnte sie endlich nach Hause und schlafen. Bis sie dort war, würde James von der Jagd zurück sein (sie nahm an, daß irgendeine Wildart gerade Saison hatte), Kate würde sich gerade für ein Fußballspiel anziehen, und Chris würde sich vielleicht gerade aus dem Bett wälzen. Dann würde Gus das tun, was sie an fast jedem Samstag tat, an dem sie weder Pläne hatte noch eine Invasion von Verwandten bevorstand: Sie würde Melanie besuchen oder sie zu sich einladen, und sie würden über die Arbeit, Teenager und Ehemänner reden. Sie hatte viele gute Freundinnen, aber Melanie war die einzige, derentwegen sie nicht erst aufzuräumen und zu putzen brauchte und in deren Gegenwart sie einfach alles sagen konnte, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen oder das Gefühl zu haben, dazustehen wie ein Idiot.
»Lady«, sagte einer der grünhaarigen Jugendlichen. »Haben Sie was zu rauchen?«
Der Satz wurde gesprochen wie ein einziges Wort, Hamsewaszurauchen, so daß Gus im ersten Moment sprachlos war ob der tieferen Bedeutung dieser Frage. Nein, wollte sie sagen, ich hab’ nich’, und du solltest auch nicht. Dann sah sie, daß der junge Kerl mit einer Zigarette – oder zumindest hoffte sie, daß es sich nur um eine gewöhnliche Zigarette handelte – vor ihrem Gesicht herumfuchtelte. »Bedaure«, entgegnete sie kopfschüttelnd. Unglaublich, daß es Teenager wie diesen gab, wo sie doch einen Sohn wie Chris hatte, der einer völlig anderen Gattung anzugehören schien. Vielleicht sahen diese Kinder mit ihren Stegosaurus-Frisuren und den Lederjacken ja nur in ihrer Freizeit so aus und waren in Gegenwart ihrer Eltern gepflegte, guterzogene Heranwachsende. Lächerlich, sagte sie sich gleich darauf. Allein der Gedanke, daß Chris ein Alter ego haben könnte, war absurd. Man konnte unmöglich ein Kind auf die Welt bringen und dann nicht merken, wenn mit ihm etwas so Drastisches passierte.
Sie fühlte ein Vibrieren an der Hüfte und rückte ein wenig zur Seite, da sie glaubte, das verliebte Pärchen wäre ihr im Eifer des Gefechts zu nahe gekommen. Aber die Vibration hörte nicht auf, und als sie nach der Stelle griff, um zu ergründen, was es damit auf sich hatte, fiel ihr der Pieper ein, den sie bei sich trug, seit sie ihre Firma Other People’s Time gegründet hatte. Es war James, der sie da so beharrlich anpiepte; was, wenn er ins Krankenhaus gerufen worden war und die Kinder etwas brauchten?
Bislang hatte, so wie es bei vielen Vorsichtsmaßnahmen der Fall war, allein die Existenz des Piepers genügt, Notfälle zu vermeiden. In fünf Jahren hatte der Pieper nur zweimal einen Ton von sich gegeben: einmal hatte Kate wissen wollen, wo sie den Teppichreinigungsapparat und die entsprechenden Reinigungsmittel aufbewahrte, und das zweite Mal waren die Batterien fast leer gewesen. Sie kramte das Gerät ganz unten aus ihrer Handtasche und drückte den Knopf, über den die Nummer des Anrufers angezeigt wurde. Ihr Autotelefon. Aber wer sollte sie um diese Zeit von ihrem eigenen Wagen aus anrufen?
James war vom Restaurant aus gleich nach Hause gefahren. Gus kroch aus ihrem Schlafsack, ging über die Straße und steuerte die nächste, mit wurstartigen Initialen verschandelte Telefonzelle an. Sobald James abnahm, hörte sie das Fahrgeräusch der Reifen auf dem Asphalt.
»Gus«, sagte James mit erstickter Stimme. »Du mußt sofort kommen.«
Nur Sekunden später rannte sie los, ohne sich um ihren Schlafsack zu kümmern.
Sie wollten das Licht einfach nicht von seinen Augen abwenden. Die Strahler hingen direkt über ihm, grelle silberne Scheiben, die ihn blendeten. Er fühlte, wie ihn mindestens drei Personen anfaßten – sie tasteten ihn ab, brüllten Befehle, schnitten ihm die Kleider vom Leib. Er konnte weder Arme noch Beine bewegen, und als er es doch versuchte, fühlte er, daß er festgeschnallt war und ein Kragen seinen Kopf stützte.
»Blutdruck fällt«, sagte eine Frau. »Nur noch bei siebzig.«
»Pupillen erweitert, aber reagieren nicht. Christopher? Christopher? Kannst du mich hören?«
»Er ist tachykard. Gebt mir zwei Infusionsflaschen mit großer Kanüle, 14er oder 16er. Gebt ihm Kochsalzlösung, beim ersten Liter schnellaufend. Und ich möchte Blutentnahmen … Ich will ein vollständiges Blutbild mit Differenzialblutbild, Thrombozyten, Gerinnungsfaktoren, Chemotest, Urinanalyse, Drogen-Screening, und schickt das Ergebnis des Screenings und der Blutgruppenbestimmung an die Blutbank.«
Dann fühlte er einen stechenden Schmerz in der Armbeuge und gleich darauf das reißende Geräusch abgerissenen Klebebands. »Was haben wir?« fragte eine neue Stimme, und es war dieselbe Frau, die antwortete. »Eine einzige Katastrophe«, sagte sie. Chris fühlte einen starken Schmerz in Stirnnähe, bäumte sich unter den Riemen, mit denen er festgeschnallt war, auf und fiel dann zurück in die weichen, warmen Händen einer Krankenschwester. »Schon gut, Chris«, sagte sie beruhigend. Woher wußten sie seinen Namen?
»Die Schädeldecke ist stellenweise sichtbar. Rufen Sie in der Radiologie an. Wir brauchen dringend den Kernspin.«
Hierauf folgte ein wirres Durcheinander von Geräuschen und Rufen. Chris richtete den Blick auf den Spalt in dem Vorhang zu seiner Rechten und sah seinen Vater. Das hier war das Krankenhaus; sein Vater arbeitete im Krankenhaus. Aber er hatte seinen weißen Kittel nicht an. Er trug Straßenkleidung, ein Hemd, das nicht einmal richtig geknöpft war. Er stand bei Emilys Eltern und versuchte, an einer Gruppe Krankenschwestern vorbeizukommen, die ihm entschlossen den Weg versperrten.
Chris riß so heftig den Arm hoch, daß die Infusionsnadel aus der Vene rutschte. Er blickte unverwandt auf Michael Gold und schrie, aber es kam kein Laut aus seiner Kehle, kein Ton. Statt dessen jagte eine Welle der Furcht nach der anderen durch seinen Körper.
»Ich scheiße auf die Vorschriften«, schimpfte James Harte. Gleich darauf war das Klirren herabfallender Instrumente zu hören, gefolgt von hastigen Schritten, und die Krankenschwestern waren einen Augenblick lang abgelenkt, so daß er hinter den fleckigen Vorhang treten konnte. Sein Sohn war auf eine Trage geschnallt, und sein Hals war mit einer Cervikalstütze fixiert. Er war sichtlich erregt und kämpfte gegen die Fesseln an. Alles war voller Blut, Gesicht, Hemd, Hals. »Ich bin Dr. Harte«, teilte er dem Notarzt mit, der auf sie zustürzte. »Ich gehöre zum hauseigenen Ärztestab«, fügte er hinzu. Er streckte den Arm aus und ergriff mit festem Druck Chris’ Hand. »Was ist passiert?«
»Sanitäter haben ihn zusammen mit einem Mädchen hergebracht«, entgegnete der Arzt ruhig. »Soweit wir auf den ersten Blick feststellen konnten, hat er eine Kopfverletzung, bei der die Kopfhaut von der Schädeldecke abgelöst wurde. Wir wollten ihn gerade in die Radiologie bringen, um festzustellen, ob er Schädel- oder Wirbelfrakturen davongetragen hat. Wenn nicht, machen wir ein Kernspin.«
James fühlte, wie Chris seine Hand so fest drückte, daß sein Ehering sich schmerzhaft in seine Haut grub. Wenn er noch solche Kraft hat, muß er in Ordnung sein, oder? ging es ihm durch den Kopf. »Emily«, flüsterte Chris heiser. »Wo haben sie Em hingebracht?«
»James?« fragte eine zögerliche Stimme. Er wandte sich um und sah Melanie und Michael am Rand des Vorhangs stehen, sichtlich geschockt von dem vielen Blut. James fragte sich flüchtig, wie sie es geschafft hatten, an den Drachen vorbeizukommen, die sogar ihm den Zutritt verwehrt hatten. »Ist Chris okay?«
»Es geht ihm gut«, entgegnete James, mehr zu sich selbst als zu sonst jemandem im Zimmer. »Er kommt wieder auf die Beine.«
Eine Assistenzärztin, die eben telefoniert hatte, legte auf. »Die Radiologie erwartet uns«, sagte sie. Der Notfallarzt nickte James zu. »Sie können ihn begleiten«, sagte er. »Sorgen Sie dafür, daß er ruhig bleibt.«
James ging neben der fahrbaren Trage her, ohne die Hand seines Sohnes loszulassen. Er fiel in Trab, als das Notfallteam in Höhe der Golds den Schritt beschleunigte. »Wie geht es Emily?« fiel ihm noch ein zu fragen, war aber verschwunden, ehe sie antworten konnten.
Der Arzt, der Chris erstversorgt hatte, wandte sich dem Ehepaar zu. »Sind Sie Mr. und Mrs. Gold?« fragte er.
Sie machten völlig synchron einen Schritt auf ihn zu.
»Würden Sie mich begleiten?«
Der Arzt führte sie zu einem kleinen Alkoven hinter den Kaffeemaschinen, der mit abgenutzten blauen Sofas und häßlichen niedrigen Resopaltischen bestückt war, und Melanie entspannte sich sofort. Sie war von Berufs wegen Expertin darin, verbale und nichtverbale Hinweise zu deuten. Wenn sie nicht sofort in ein Untersuchungszimmer geführt wurden, konnte keine akute Gefahr bestehen. Vielleicht war Emily bereits in einem Zimmer untergebracht oder wurde gerade geröntgt, so wie Chris. Vielleicht holte man sie auch gerade, um sie zu ihren Eltern zu bringen.
»Bitte«, sagte der Arzt. »Setzen Sie sich.«
Melanie wollte eigentlich stehenbleiben, aber ihre Knie verweigerten ihr plötzlich den Dienst. Michael blieb stocksteif stehen, wie erstarrt.
»Es tut mir wirklich sehr leid«, begann der Arzt, die einzigen Worte, in die Melanie keinen anderen Sinn hineininterpretieren konnte als ihre tatsächliche Bedeutung. Sie sackte noch mehr in sich zusammen, so weit, bis ihr Kopf unter den zitternden Armen vergraben war und sie nicht mehr hören konnte, was der Arzt sagte.
»Ihre Tochter wurde bei ihrer Einlieferung für tot erklärt. Sie hatte eine Schußwunde am Kopf. Sie war sofort tot; sie hat nicht gelitten.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich muß einen von ihnen beiden bitten, die Tote zu identifizieren.«
Michael bemühte sich, das Blinzeln nicht zu vergessen. Bis dahin war das immer ein Reflex gewesen, aber plötzlich war alles – Atmen, Stehen, Sein – eine Frage der Selbstkontrolle. »Ich verstehe nicht«, sagte er mit einer Stimme, die viel zu hoch war, um seine eigene zu sein. »Sie war mit Chris Harte zusammen.«
»Richtig«, erwiderte der Arzt. »Sie wurden zusammen eingeliefert.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Michael noch einmal, wobei er tatsächlich meinte, Wie kann sie tot sein, wenn er noch lebt?
»Wer hat das getan?« fragte Melanie gepreßt, die Zähne um die Frage zusammengebissen, als handle es sich um einen Knochen, den sie um jeden Preis festhalten mußte. »Wer hat auf sie geschossen?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Mrs. Gold. Ich bin sicher, daß die Polizisten, die vor Ort waren, bald hier sein werden, um mit Ihnen zu sprechen.«
Polizisten?
»Können wir?«
Michael starrte den Arzt verständnislos an und fragte sich, wie um alles in der Welt dieser Mann darauf kam, daß er irgendwo hingehen wollte. Dann fiel es ihm wieder ein. Emily. Die Identifizierung.
Er folgte dem Arzt zurück in die Notaufnahme. War das nur Einbildung, oder sahen die Schwestern ihn jetzt mit anderen Augen an? Er kam an Kabinen mit stöhnenden, verletzten, aber lebenden Menschen vorbei, bis sie schließlich vor einem Vorhang stehenblieben, hinter dem es völlig still war. Kein Geräusch, kein Kommen und Gehen, keinerlei Aktivität. Der Arzt wartete, bis Michael nickte, bevor er den Vorhang zur Seite zog.
Emily lag auf dem Rücken auf einem Behandlungstisch. Michael trat einen Schritt vor und legte eine Hand auf ihr Haar. Ihre Stirn war glatt und noch warm. Der Arzt hatte sich geirrt, sonst nichts. Sie war nicht tot, sie konnte nicht tot sein, sie … Er bewegte die Hand, und ihr Kopf rollte leblos zur Seite, so daß er das Loch über ihrem rechten Ohr sehen konnte. Es war so groß wie ein Silberdollar, mit gezackten Rändern und mit geronnenem Blut verkrustet. Es trat kein frisches Blut aus.
»Mr. Gold?« sagte der Doktor.
Michael nickte, machte dann auf dem Absatz kehrt und stürzte aus dem Behandlungszimmer. Er rannte an dem Mann auf der Trage vorbei, der eine Hand auf die linke Brustseite gedrückt hielt und viermal älter war, als Emily je werden würde. An der Assistenzärztin mit der Tasse Kaffee in der Hand vorbei. An Gus Harte, die ihm atemlos entgegenkam und eine Hand nach ihm ausstreckte. Er beschleunigte den Schritt. Dann bog er um die Ecke, sank auf die Knie und übergab sich.
Gus war den ganzen Weg bis zum Bainbridge Memorial gerannt und hatte sich dabei verzweifelt an die Hoffnung geklammert, eine Last, die mit jedem Schritt schwerer und sperriger geworden war. Aber James war nicht im Wartezimmer der Notaufnahme gewesen, und ihre inständigen Gebete, es möge sich um eine harmlose Verletzung handeln – einen gebrochenen Arm oder eine leichte Gehirnerschütterung –, hatten sich in nichts aufgelöst, als sie in der Aufnahme über Michael gestolpert war. »Sehen Sie noch mal nach«, bat sie die Krankenschwester am Empfang. »Christopher Harte. Er ist der Sohn von Dr. James Harte.«
Die Krankenschwester nickte. »Er war eben noch hier«, sagte sie. »Ich weiß nur nicht, wo sie ihn hingebracht haben.« Sie blickte mitfühlend auf. »Ich werde mich erkundigen, ob jemand etwas Genaueres weiß.«
»Tun Sie das«, sagte Gus so gebieterisch wie möglich, um dann in sich zusammenzufallen, kaum daß die Krankenschwester ihr den Rücken gekehrt hatte.
Sie ließ den Blick durch die Halle der Notaufnahme schweifen, von den leeren Rollstühlen, die verloren wie Mauerblümchen auf einer Tanzveranstaltung dastanden, zu dem Fernseher an der Decke. Am äußeren Rand der Halle sah Gus roten Stoff aufblitzen. Sie steuerte darauf zu und erkannte den scharlachroten Mantel wieder, den sie und Melanie um 80 Prozent reduziert bei Filene’s entdeckt hatten.
»Mel?« sagte Gus leise. Melanie hob den Kopf, ihr Gesicht ebenso von Schmerz gezeichnet wie Michaels. »Ist Emily auch verletzt?«
Melanie starrte sie lange schweigend an. »Nein«, sagte sie dann langsam. »Emily ist nicht verletzt.«
»O, Gott sei Dank, ich …«
»Em«, fiel Melanie ihr ins Wort, »ist tot.«
»Was dauert denn so lange?« fragte Gus zum dritten Mal und setzte ihre rastlose Wanderung vor dem winzigen Fenster des Privatzimmers, das Christopher zugewiesen worden war, fort. »Wenn er wirklich okay ist, wie kommt es dann, daß sie ihn noch nicht wieder zurückgebracht haben?«
James saß auf dem einzigen Stuhl, das Gesicht in den Händen vergraben. Er hatte die Kernspinaufnahmen selbst gesehen, und noch nie hatte er sich so sehr davor gefürchtet, eine intrakraniale Quetschung oder eine Epiduralblutung zu finden. Aber Chris’ Gehirn war völlig intakt, seine Verletzungen nur oberflächlich. Man hatte ihn zurück in die Notaufnahme gebracht, wo ein Chirurg die Kopfwunde nähte. Über Nacht würde er zur Beobachtung in der Notaufnahme bleiben, und morgen sollten noch einige Tests vorgenommen werden.
»Hat er dir irgend etwas gesagt? Darüber, was passiert ist, meine ich?«
James schüttelte den Kopf. »Er war verängstigt, Gus. Und er hatte Schmerzen. Ich wollte ihn nicht drängen.« Er stand auf und lehnte sich an den Türrahmen. »Er hat gefragt, wo sie Emily hingebracht haben.«
Gus wandte sich ihm langsam zu. »Du hast es ihm nicht gesagt«, stellte sie fest.
»Nein.« James schluckte schwer. »Als ich bei ihm war, habe ich gar nicht daran gedacht. Daß sie zusammen waren, als es passiert ist, meine ich.«
Gus kam zu ihm und schlang ihm die Arme um die Taille. Sogar jetzt verkrampfte er; Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit widersprachen seiner Erziehung, und auch eine Ausnahmesituation wie diese rechtfertigte offenbar keinen Regelverstoß. »Ich möchte gar nicht daran denken«, murmelte sie, die Wange an seinen Rücken geschmiegt. »Ich habe Melanie gesehen, und mir geht einfach nicht aus dem Sinn, wie leicht es mich hätte treffen können.«
James schob sie von sich und ging hinüber zu dem Heizkörper, der seine Hitze in den Raum ausstrahlte. »Was zum Teufel haben sie sich dabei gedacht, durch ein so mieses Viertel zu fahren?«
»Was für ein Viertel?« griff Gus dieses Detail sofort auf. »Woher kam denn der Rettungswagen?«
James wandte sich ihr zu. »Keine Ahnung«, antwortete er. »Das war nur eine Vermutung von mir.«
Gus fühlte sich plötzlich von Entschlossenheit beseelt. »Ich könnte runter zur Notaufnahme gehen, während wir warten«, sagte sie. »Solche Informationen sind doch sicher irgendwo vermerkt.« Entschieden ging sie zur Tür, die jedoch, als sie sie gerade erreicht hatte, von außen geöffnet wurde. Ein Pfleger rollte Chris herein, dessen Kopf dick bandagiert war.
Sie blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, in dem Verletzten den starken Sohn zu sehen, der sie noch am selben Morgen gesundheitsstrotzend überragt hatte. Die Krankenschwester gab irgendwelche Erklärungen ab, denen Gus keinerlei Beachtung schenkte, und ging dann zusammen mit dem Pfleger hinaus.
Gus hörte ihren eigenen Atem, Hintergrundgeräusch für das leise Tropfen von Chris’ Infusion. Seine Augen waren glasig von Sedativen, und sie blickten vage vor Angst. Gus setzte sich auf die Bettkante und schloß ihren Sohn vorsichtig in die Arme. »Schhhht«, sagte sie, als er anfing, in ihren Pullover zu weinen, zuerst nur ein paar Tränen, die sich jedoch rasch zu lautem, unkontrollierbarem Schluchzen steigerten. »Es wird alles gut.«
Minuten später beruhigte Chris sich wieder und schloß die Augen. Gus versuchte, ihn weiter an ihre Brust zu drücken, auch nachdem er eingeschlafen und sein Körper erschlafft war. Sie blickte zu James hinüber, der wie ein stoischer Wachtposten stocksteif auf dem Stuhl neben dem Bett saß. Ihm war nach weinen zumute, aber er würde keine Träne vergießen. James hatte nicht mehr geweint, seit er sieben war.
Gus weinte auch nicht gern in seiner Gegenwart. Nicht, daß er ihr je seinen Unmut über Tränen kundgetan hätte, aber allein der Umstand, daß er seine Erschütterung deutlich besser verbarg als sie, sorgte dafür, daß sie sich albern vorkam. Sie biß sich auf die Unterlippe und öffnete die Tür; sie wollte bei ihrem Zusammenbruch allein sein. Draußen auf dem Flur legte sie die Handflächen gegen die kühle Löschbetonwand und versuchte, nur an gestern zu denken. Erst gestern war sie einkaufen gewesen, hatte das Bad im Erdgeschoß geschrubbt und mit Chris geschimpft, weil er die Milch den ganzen Tag auf der Arbeitsplatte in der Küche hatte stehen lassen, so daß sie sauer geworden war. Gestern war das Leben noch in Ordnung gewesen.
»Entschuldigen Sie.«
Gus wandte den Kopf und sah eine großgewachsene dunkelhaarige Frau vor sich. »Ich bin Detective-Sergeant Marrone von der Polizeiwache in Bainbridge. Sind Sie zufällig Mrs. Harte?«
Sie nickte und schüttelte der Polizeibeamtin die Hand. »Haben Sie die beiden gefunden?«
»Nein. Aber ich wurde zum Tatort gerufen. Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»O«, sagte Gus überrascht. »Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht meine beantworten.«
Detective Marrone lächelte; Gus war im ersten Moment verblüfft davon, wie attraktiv diese Mimik sie schlagartig machte. »Eine Hand wäscht die andere«, sagte sie.
»Ich glaube kaum, daß ich Ihnen eine große Hilfe sein werde«, meinte Gus zweifelnd. »Was möchten Sie denn wissen?«
Die Beamtin fischte Notizblock und Kugelschreiber aus einer Tasche. »Wußten Sie, daß Ihr Sohn heute abend ausgehen wollte?«
»Ja.«
»Hat er auch erwähnt, wohin er wollte?«
»Nein«, entgegnete Gus. »Aber er ist siebzehn und war immer sehr verantwortungsbewußt.« Sie blickte auf die Tür zu seinem Krankenhauszimmer. »Bis heute«, fügte sie hinzu.
»Hmm. Haben Sie Emily Gold gekannt, Mrs. Harte?«
Gus fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Verlegen wischte sie sie mit dem Handrücken fort. »Ja«, antwortete sie. »Em … war wie eine Tochter für mich.«
»Und wie war ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn?«
»Sie war seine Freundin.« Gus war jetzt noch verwirrter als zu Beginn der Befragung. War Emily in etwas Illegales oder Gefährliches verwickelt gewesen? War das der Grund, weshalb Chris durch ein gefährliches Viertel gefahren war?
Ihr wurde erst bewußt, daß sie laut gedacht hatte, als sie sah, wie Detective Marrone die Brauen zusammenzog. »Ein gefährliches Viertel?«
»Nun ja«, entgegnete Gus errötend. »Das nehmen wir an, weil doch eine Schußwaffe im Spiel war.«
Die Beamtin klappte ihr Notizbuch zu und steuerte auf die Tür zu. »Ich möchte jetzt gerne mit Chris sprechen.«
»Das geht nicht«, protestierte Gus und versperrte der Polizistin den Weg. »Er schläft. Er braucht Ruhe. Außerdem weiß er noch nichts von Emily. Wir hatten noch keine Gelegenheit, es ihm zu sagen. Es geht ihm selbst noch zu schlecht. Er hat sie geliebt.«
Detective Marrone starrte sie eindringlich an. »Mag sein«, sagte sie schließlich. »Aber möglicherweise hat er sie auch erschossen.«
So wie Melanie den kleinen Laib Bananenbrot in der Hand hielt, war ihr Ehemann nicht sicher, ob sie vorhatte, ihn zu essen oder zu werfen. Sie schloß die von dem frischen Anstrich noch glänzende Haustür auf und trug das Brot zu den zwei Kisten, die ihnen als Tischprovisorium dienten. Beinahe ehrfürchtig berührte sie das Band aus französischer Spitze und löste das Kärtchen, das mit einem selbstgemalten Pferd verziert war. »Willkommen in der Nachbarschaft«, las sie laut.
»Dein Ruf als Tierarzt eilt dir offenbar voraus«, sagte sie und reichte Michael die Karte.
Michael überflog die kurze Nachricht, lächelte und riß dann die Zellophanverpackung auf. »Schmeckt gut«, sagte er. »Willst du mal probieren?«
Melanie erbleichte. Allein bei dem Gedanken an Bananenbrot wurde ihr ganz flau – das ging ihr in letzter Zeit vormittags mit allem Eßbaren so. Und das war seltsam, da sie laut jedem Buch, das sie zum Thema Schwangerschaft gelesen hatte – und das waren viele – ,die Morgenübelkeit im vierten Schwangerschaftsmonat überwunden haben müßte. »Ich werde anrufen und mich bedanken«, sagte sie, das Kärtchen wieder an sich nehmend. »Oha.« Sie blickte zu Michael auf. »Gus und James. Und sie haben Selbstgebackenes geschickt. Glaubst du, sie … du weißt schon.«
»Ob sie schwul sind?«
»Ich hätte es anders formuliert. Anhänger einer alternativen Lebensweise oder so was.«
»Hast du aber nicht«, entgegnete Michael grinsend. Er schnappte sich eine Kiste und ging nach oben.
»Welcher … Gesinnung sie auch sein mögen«, verkündete Melanie diplomatisch, »ich bin sicher, sie sind ganz reizend.« Aber als sie die Nummer wählte, fragte sie sich nicht zum erstenmal, wo sie hier nur gelandet waren.
Sie hatte nicht nach Bainbridge ziehen wollen; sie war rundum glücklich gewesen in Boston, obwohl auch das schon ein gutes Stück von ihrem Heimatstaat Ohio entfernt war. Aber dieses Städtchen hier lag wirklich mitten im Nichts, und sie war nie sehr gut darin gewesen, Freundschaft zu schließen. Hätte Michael nicht etwas weiter südlich Großtiere finden können, die seiner ärztlichen Hilfe bedurften?
Beim dritten Freizeichen meldete sich eine Frauenstimme. »Grand Central Station«, sagte die Stimme, und Melanie knallte den Hörer auf die Gabel. Sie wählte noch einmal, diesmal sorgfältiger, und es meldete sich dieselbe Stimme, in der ein leises Lächeln mitschwang. »Harte«, sagte die Frau forsch.
»Ja«, sagte Melanie. »Ich bin Ihre neue Nachbarin. Melanie Gold. Ich wollte mich bei den Hartes für das Brot bedanken.«
»Großartig, Sie haben es also bekommen. Sind Sie schon fertig eingezogen?«