Des Satans Eminenz


Der Herbst war schon weit fortgeschritten. Daher stand Katie, obwohl es erst sechs Uhr am Abend war, im Dunklen auf der Promenade. Sie liebte den Wallring unter den alten Bäumen, der beinahe vollständig um die Altstadt herum führte. Die Baumreihen waren hoch und dicht, sodass sie den Eindruck des Mittelschiffs einer gotischen Kathedrale erweckten. Wie die Streben der Spitzbögen neigten sich die kahlen Äste einander zu. Der dunkle Straßenbelag trug noch zu dem düsteren Eindruck bei. Wären nicht die wenigen Radfahrer mit den unsteten Lampen gewesen, Katie wäre mit ihrem schwarzen, bodenlangen Mantel und den ebenso schwarzen Haare mit der Dunkelheit verschmolzen. Nur ihr blasses Gesicht hob sich von der dunklen Umgebung ab.

Gleich am Rand des erhabenen Walls stand, als Teil der ehemaligen Stadtbefestigung, der Pulverturm. Katie Marrock lief ein Schauer über den Rücken, als die Erinnerungen an die Ereignisse vor sieben Jahren lebendig wurden. Sie schloss die grünen Augen, und die Bilder von den auflodernden Flammen, den vor Entsetzen aufgerissenen Augen ihrer Freunde und dem Anblick des halb verbrannten Prälaten, wurden umso deutlicher. Katie schüttelte sich, und das im Herbstnebel feucht gewordene Haar fiel ihr unangenehm kalt in den Nacken. Dann starrte sie weiter auf den Turm, der aus hellem Sandstein bestand und wuchtig etwa zwanzig Meter in die Höhe ragte. Nachdem der Brand üble Rußspuren hinterlassen hatte, war er schnell neu gestrichen worden. Als Farbe hatte man einen dem Sandstein ähnlichen Ton gewählt. Die Anwohner sollten nicht ständig an diese Schreckensnacht erinnert werden. Und die zahlreichen Touristen sollten keinen anderen Eindruck als den einer gediegenen, katholischen Provinzhauptstadt bekommen. Sah man einmal von den Quartieren ab, in denen sich die Studenten abends tummelten.

Das Christentum war vom heiligen Ludger und den Truppen Karls des Großen vor über einem Jahrtausend gegen große Widerstände der Sachsen durchgesetzt worden. Um mit ebenso viel Blut und Eisen war der Katholizismus gegen die Wiedertäufer verteidigt worden. Später, im dreißigjährigen Krieg, hatte der Bischof von M. die katholischen Truppen höchstselbst in Harnisch und mit dem Schwert in der Hand angeführt. Noch heute war er im Dom, von im Relief gemeißelten Kanonen und Blankwaffen umgeben, als Bomben-Bernhard zu bewundern.

Trotz alledem gab es noch einige wenige Männer und Frauen, die der alten Sitten der Ahnen folgten, soweit das in diesen modernen Zeiten möglich war. Die sich an versteckten, ehemaligen Kultorten, an Wodansteinen und Hünengräbern in der Stadt und der Umgebung trafen und die alten Götter ehrten. Die diskutierten, wie die Probleme der heutigen Zeit in die Zeiten der Ahnen zu übertragen und von diesen entschieden worden wären. Genauso harmlos war die schwarzromantische Szene, die sich in den einschlägigen Clubs traf. Sie eiferten nicht um neue Anhänger, blieben unter sich, hörten ihre düstere Musik und kleideten sich ebenso dunkel wie Katie. Und ebenso wie Katie suchten sie manchmal Schönheit in der Düsternis und in den Geschichten der alten Romantiker. Versuchten, den Geist der Blauen Blume zu erahnen.

Aber es gab in dieser sich so gediegen und herablassend gebenden Stadt eine zweite Art dunkler Gestalten. Und die suchten alles andere als Schönheit. Sie fanden Macht, Erregung und Erfüllung düsterer Wünsche in der Begegnung mit dem alten Widersacher.

Katie wusste, wie harmlos manche von ihnen wirkten, denn nur die machtlosen unter ihnen zeigten ihre Gesinnung mit schwarzer Kleidung und den silbernen Symbolen ihrer Weltanschauung. Katie wusste sogar von drei geweihten Amtsträgern im Dom, von denen zwei dem Widersacher dienten, allein um ihre Knabenliebe ausleben zu können. Dem dritten war es um Macht gegangen. Die Macht, über die Dämonen zu gebieten und die anderen Anhänger des Teufels zu seinen willfährigen Sklaven zu machen. Und dieser eine hatte vor so vielen Jahren die Feuersbrunst im Pulverturm herauf beschworen und nahezu alle neu Verführten getötet. Außer ihr selbst waren gerade einmal drei andere Leute entkommen: Ihre Freundin Stephanie, bei der sie ein paar Tage verbrachte, und zwei Neulinge in der schwarzromantischen Szene, die sie seither nicht wieder gesehen hatte. Die einzige Genugtuung war, dass dieser Dritte selbst die Flammen zu spüren bekommen hatte, was sichtbare Spuren hinterlassen hatte.

Noch lange stand Katie in Dunkelheit unter den hohen Alleebäumen. Unverwandt starrte sie auf den von Brandspuren gereinigten Turm. Dabei übersah sie die vielen anerkennenden Blicke der Vorbeifahrenden, die ihrer schlanken Figur und den langen Haaren galten. Vielmehr versuchte sie, durch die kleinen, vergitterten Fenster zu sehen, mit dem inneren Auge durch die dicken Mauern zu dringen. Hatte man auch das Innere gereinigt und frisch gestrichen? Hatte man den satanischen Altar entfernt und die Blutflecken weg gewaschen?

„Katie?“, hörte sie hinter sich jemand fragen. Aber sie war derart in ihren Gedanken, Erinnerungen und Zweifeln vertieft, dass sie nicht darauf reagierte. „Katie?“, erklang wieder die Stimme des Menschen, den sie niemals hier erwartet hätte. Sie drehte sich um, und das erste, was ihr auffiel, war das Fehlen des Collars am Hals des Mannes.


Fünf Minuten später saßen sie in der letzten Reihe der Michaels-Kapelle, die auf der anderen Straßenseite, versteckt hinter einer hohen Hecke, am inneren Stadtring lag. Sie hatten diesen Ort nicht allein wegen seiner Abgeschiedenheit gewählte. Es war vielmehr so, dass Katie sich an einem anderen als einem geweihten Ort niemals länger als eine Minute in der Gegenwart von Will Degenhart aufgehalten hätte. Bis heute glaubte sie, dass er auf der Seite von Bischof Heller und seinen unheiligen Priestern gestanden hatte.

Trotz dieses Verdachts und der Vorsicht, die sie schmerzhaft hatte erlernen müssen, drohte Wills Charme sie schon nach wenigen Worten zu überwältigen. Seine sanften braunen Augen, der ehrliche Ausdruck in seinem Gesicht, das trotz seiner vierzig Jahre immer noch einen jugendlichen Eindruck machte, ließen sie beinahe vergessen, was sich vor Jahren zugetragen hatte. Schon fragte sie sich, ob er sie wirklich an Bischof Heller verraten hatte, als sie versuchte, ihre Freunde von der satanischen Messe fern zu halten. Vielleicht war es ja doch eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen, die zum Tod von einem Dutzend junger Menschen geführt hatte. Deren Neugier, deren Interesse am Jenseitigen sie in die Hände von Dämonenbeschwörern getrieben hatte. Die aus harmlosen Schwarzromantikern beinahe Satanisten gemacht hätte.

„Wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?“, fragte Will und legte seine warme Hand auf die ihre. Schnell entzog sie ihm diese, legte sie aber nur ein paar Fingerbreit weiter auf die Kirchenbank.

„Ich habe mein Examen abgelegt und lehre seit zwei Jahren an einer Privatschule südlich von M.“

Er setzte ein Lächeln auf, das gleichzeitig spöttisch und gutmütig war. „Und du stehst in Schwarz vor deiner Klasse?“

„Die Schulleitung kennt den Unterschied zwischen Gothics und Satanisten.“ Das letzte Wort betonte sie scharf, was an seinem Lächeln nicht das Geringste änderte. „Und mit Nieten und weißer Schminke hatte ich es ja noch nie. Meine Schüler stehen auf meinen Look. In der Oberstufe sind heute viel krassere Outfits angesagt.“ Insgeheim ärgerte sie sich, dass ihr Tonfall trotzig geworden war. Sie hätte sich ein souveräneres Auftreten gewünscht. „Und du bist immer noch Sektenbeauftragter des Bistums? Der Bock als Gärtner?“ Bei dieser Frage glühten ihre Augen grün im Licht des Kerzenmeers unter einer Anna Selbdritt.

Für einen Augenblick erstarb das gewinnende Lächeln im Gesicht des gutaussehenden Theologen. „Du willst mir also immer noch nicht glauben, dass ich kein Anhänger von Heller war und bin?“

„Nein, zu oft habe ich dich um ihn herum kriechen gesehen?“

„Das war kein Kriechen.“ Echter Ärger schwang in seiner Stimme mit. „Wie anders hätte ich ihn beobachten sollen? Es war und ist der Auftrag der Bischofskongregation, ihn im Auge zu behalten.“

„Und dabei bist du ihm und den Verlockungen des Teufels verfallen.“

Will machte den Mund auf, schüttelte aber einfach nur den Kopf. „Ich arbeite seit zwei Jahren im Vikariat.“

Katie war froh, dass er sich um Finanzen und Buchführung kümmerte und nicht mehr um gefährdete Menschen. Sie wollte nicht weiter Vorwürfe erheben, die sie nicht beweisen konnte. Und sie konnte nicht einschätzen, was für eine Bedeutung es hatte, dass er seinen Auftrag direkt von einer Kongregation der Kurie erhalten hatte. Außerdem hatte es Zeiten gegeben, da hätte sie Will Degenhart gegen jedweden Vorwurf verteidigt. Zeiten, in denen er noch ein Collar getragen hatte.

„Was machst du in der Stadt? Bist du damals nicht aufs Land gezogen?“

„Ja, das bin ich“, beantwortete Katie nur den zweiten Teil der Frage. „Ich wohne in der Nähe der Privatschule.“ Sie war versucht, ihm von ihrer Wohnstatt zu erzählen. Durch Zufall und mit viel Glück hatte sie eine säkularisierte Kapelle mit kleiner Sakristei für einen Spottpreis kaufen können. Mit viel Arbeit und Einfallsreichtum hatte sie daraus eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern geschaffen, deren Decke und Fenster den alten Charakter des Gebäudes noch deutlich zeigte. Doch sie war nicht sicher, ob Will sich darüber lustig machen oder pikiert sein würde: mit ihrer Einstellung in einem Gotteshaus zu wohnen …

Will stand auf, sah einen Moment lang auf sie herab. „Wohnt in einem Gotteshaus und verehrt den Tod!“

Also doch! Auch wenn Katie sich fragte, woher er das wusste, warum er zunächst ahnungslos getan hatte, antwortete sie: „Ich verehre den Tod nicht. Und wenn, wo wäre der Widerspruch? Bei einem Gott, der zulässt, dass Männer wie du ihm dienen?“

„Männer wie ich …“ Er ging zum Portal der Kapelle, drehte sich noch einmal um und sagte: „Da du mir nicht sagst warum du in der Stadt bist, muss ich wohl das Schlimmste annehmen: Dass du dich wieder einmischst.“

Eine Weile starrte sie auf die Eichentür, nachdem er längst gegangen war. „Worauf du dich verlassen kannst!“, flüsterte sie. „Und ich werde morgen damit beginnen.“


Auf dem Weg zu ihrer Freundin Stephanie war sie tief in Gedanken versunken. Beim Zwinger, einem kreisrunden Gebäude, das ebenfalls zur uralten Stadtbefestigung gehört hatte, blieb sie stehen. Der Anblick des Gebäudes trieb ihr Schauer über den Rücken, denn es hatte einst als Foltergefängnis gedient. Die Vorstellung, unter welchen grausigen Bedingungen die Insassen vegetiert hatten, war schlimmer als der Tod: Kälte, Feuchtigkeit, verschimmeltes Essen, um das man mit den Ratten kämpfen musste. Sadistische Aufseher, die einen spüren ließen, dass man weniger wert als Auswurf war.

Über diese Gedanken war sie an der Engel-Villa angekommen. Stephanies Urgroßvater hatte die Villa errichtet, nachdem er ein Vermögen im Viehhandel gemacht hatte. Umso größer war die Ironie, dass seine Urenkelin und einzige Nachfahrin es ablehnte, Fleisch zu essen. Und das nicht einmal aus gesundheitlichen Gründen oder weil ihr die Kreaturen Leid taten. Es lag allein an ihrer seltsamen Vorstellung von Seelenwanderung: Stephanie war überzeugt, dass es ihr im nächsten Leben umso schlechter ginge, je besser sie es in der Gegenwart hatte. Das hinderte sie nicht daran, in diesem Traum von Eichendielen, Stuckdecken, Freitreppen und offenen Kaminen zu leben. Und eine weitere Ironie war es, dass die Vegetarierin, die die Tür öffnete, das Gegenteil einer ätherisch-blassen, unterernährten Asketin war. Stephanie war rund und rosig, das lange Kleid aus schwarzem Pannesamt spannte um die Hüften. Der Ausschnitt offenbarte ein Dekolletee, das einer mittelalterlichen Schankmaid gut zugestanden hätte.

„Komm rein, Süße! Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, sagte sie mit einer Stimme, die besagter Schankmaid ebenfalls gepasst hätte.

„Das habe ich auch“, antwortete Katie, als sie in der Halle mit der Eichentäfelung und den dunkelgrünen Seidentapeten den Mantel auszog. Stephanie nahm ihr das dunkle, schwere Stück ab und warf es auf das ausladende Chesterfieldsofa vor dem Kamin. Da Stephanie keinen Wert auf Ordnung legte, türmten sich darauf bereits zahlreiche andere Kleidungsstücke. Eine gute Seite an Stephanie war ihre Geduld. So wartete sie, bis sie in der Bibliothek mit den hohen Eichenregalen saßen, eine Kanne Earl Grey auf dem übervollen Schreibtisch. „Wen hast du gesehen?“ Plötzlich wich alle Farbe aus Stephanies Gesicht. Ihr Rücken wurde steif, sie schloss die Augen und krallte die Hände um die Stuhllehnen mit den Löwenköpfen. „Ihn? Nein!“