Bernd Stegemann
Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
Klett-Cotta
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-98419-4
E-Book: ISBN 978-3-608-12088-2
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Russische Troll-Armeen, chinesische Hacker, US-amerikanische Konzerne, sie alle bedrohen die liberale Öffentlichkeit, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in Europa entstanden ist. Seit der Aufklärung entsteht Öffentlichkeit immer da, wo freie Meinungen sich versammeln, um über Themen zu sprechen, die alle angehen. Wenn hingegen Algorithmen, die vortäuschen echte Menschen zu sein, die Öffentlichkeit mit Stimmungsmache überschwemmen, und wenn Facebook, Google und Co. zielgenaue Beeinflussungen platzieren, die am Ende politische Wahlen entscheiden, so könnte man sie als Feinde der Öffentlichkeit identifizieren. Doch ist die Lage so eindeutig?
Der Strukturwandel der Öffentlichkeit schreitet durch die globale Vernetzung rasend schnell voran. Die beiden momentan auffälligsten Veränderungen sind die technische Möglichkeit, dass jeder Empfänger nun auch ein Sender sein kann. Wer immer sich bei Twitter, Facebook oder TikTok anmeldet, kann seine Stimme und sein Bild um die ganze Welt schicken. Die andere Veränderung betrifft die Unsicherheit, ob die vielen Botschaften überhaupt noch eine menschliche Ursache haben. Immer öfter mischen sich künstlich generierte Stimmen in die Debatten ein. Was das mit der Öffentlichkeit macht, erfahren wir täglich neu, und die Probleme für das individuelle Urteilsvermögen werden mit jedem neuen technischen Tool anspruchsvoller. Die jetzt schon für alle spürbaren Folgen bestehen darin, dass die Öffentlichkeit zu einem stark erhitzten Ort geworden ist. Würde man sie als eine Person beschreiben, so wäre man ungern in ihrer Nähe. Sie ist reizbar, versteht alles falsch, reagiert auf die leisesten Töne mit aggressiver Zurechtweisung, und sie stellt sich taub, wenn sie kritisiert werden soll. Die Öffentlichkeit ist ein unangenehmer Zeitgenosse geworden.[1]
Die Frage, die mich auf den folgenden Seiten beschäftigen wird, schließt an diese Beobachtung an. Spätestens seit der Weltfinanzkrise 2008 nimmt die Polarisierung der Gesellschaften in Europa und Nordamerika zu. Überall entstehen Parteien und Bewegungen, die mit dem Konzept der bürgerlichen Aufklärung hadern. Dabei sind die Proteste gegen den »liberalen Westen« nicht auf eine Weltanschauung festgelegt. Rechts-identitäre Verteidiger gegen eine Islamisierung Europas stehen neben den identitätspolitischen Kämpfern für Minderheitenrechte und den Verächtern kapitalistisch bürgerlicher Freiheiten. Ihnen allen ist gemein, dass sie dem System, so wie es ist, kritisch bis zur Ablehnung gegenüberstehen.
Mit den Klimaprotesten, die seit 2019 vor allem durch Greta Thunberg entstanden sind, kam ein wiederum neuer Ton in die erhitzte Öffentlichkeit. Viele Binnenkonflikte einer spätmodernen Industriegesellschaft erscheinen seitdem in einem anderen Licht. Die wachsende Ungleichheit, die unstillbare Gier und der permanente Veränderungsdruck, die das Kennzeichen unserer nervösen Gegenwart sind, bekommen eine andere Überschrift. Das Anthropozän als das neue Erdzeitalter des Menschen stiftet als Epochenbegriff eine neue Perspektive auf unsere Zeit. Das milliardenfache »Ich« der Menschen ist zum geologischen Faktor aufgestiegen, und ob wir wollen oder nicht, wir werden mit den Folgen unseres Handelns konfrontiert werden. Im Anthropozän wird immer sichtbarer, dass alles menschliche Streben und Planen auf einer Erde stattfindet, die eigene Gesetze und Grenzen hat.
Die Art, wie diese neue Perspektive in der erhitzten Öffentlichkeit aufgenommen wird, und die politischen Entscheidungen, zu denen sie führt, werden die Entwicklung unserer Gesellschaft bestimmen. Bleiben wir gefangen im Wachstumsprimat einer konsumgetriebenen Wirtschaft und diskutieren wir die Widersprüche unserer Zeit weiterhin im Modus überhitzter Debatten? Oder schaffen wir es, die Dimension des Anthropozäns öffentlich sichtbar zu machen, so dass alle anfangen, ihr Leben daraufhin zu befragen? Der Kern dieser Frage lautet also: Ist die überhitzte Öffentlichkeit in der Lage, das Anthropozän angemessen zu begreifen? Die Beantwortung dieser Frage hat weitreichende Konsequenzen. Ohne Öffentlichkeit sind keine demokratischen Veränderungen möglich. Es braucht den vorpolitischen, öffentlichen Raum, in dem Werte und Meinungen durch wechselseitige Begegnungen gebildet werden, um zu demokratischen Entscheidungen zu kommen. Vor allem wenn es um Entwicklungen geht, die den Horizont des aktuell Denkbaren überschreiten, ist eine breite und ergebnisoffene Verständigung notwendig. Denn erst wenn ausreichend viele Menschen ihre Meinung bilden konnten, sind Entscheidungen, die den bisher gültigen Rahmen in Frage stellen, überhaupt möglich.
Dass der Status quo unseres Lebens angesichts des Anthropozäns kategorisch verändert werden muss, mag inzwischen einigen Wenigen bewusst sein. Die Dimension dieser Veränderungen spiegelt sich jedoch in keiner Weise in den Räumen wider, die die Öffentlichkeit diesen Debatten gibt. Und damit ist weniger die Quantität der Aufmerksamkeit gemeint[2] als vielmehr die Art der Kommunikation. Die öffentliche Kommunikation des Anthropozäns verläuft in den Debattenmustern des Holozäns. Dass mit alten Werkzeugen neue Probleme nicht zu bearbeiten sind, ist zwar bekannt, und niemand würde mit einem Schraubenschlüssel einen Softwarefehler im Handy beheben wollen, doch für das Anthropozän stehen die Konsequenzen dieser Erkenntnis noch aus. Es wird noch immer über die Erde gesprochen als wäre sie eine komplizierte Maschine, die im Störungsfall repariert werden kann. Und es wird versucht, Änderungen im Umgang mit dieser Maschine durch Proteste herbeizuführen, die genau so vor Werkstoren im 19. Jahrhundert hätten stattfinden können, oder die so wütend schreien, als wollten sie mit einer viralen Kampagne politisch unkorrekte Meinungen canceln.
Die spätmoderne Öffentlichkeit ist angesichts der Komplexität des Anthropozäns in einem denkbar schlechten Zustand. Doch wie lassen sich die Denkblockaden in der eigenen Gegenwart auflösen? Das erste Hindernis besteht bereits darin, dass die aktuellen Katastrophen nicht daraufhin unterschieden werden können, ob sie Vorboten einer größeren Veränderung sind, oder ob sie zu den normalen Zufällen des Lebens gehören. Es ist schlicht unmöglich, ein Ereignis in der Gegenwart im Hinblick auf alle seine zukünftigen Folgen zu begreifen. Und ebenso schwierig ist es, die wegweisenden von den nebensächlichen Ereignissen zu unterscheiden. Ist das Corona-Virus, das im Jahr 2020 in wenigen Wochen alle Länder der Welt erreicht hat, ein weiterer Vorbote des Anthropozäns, oder gehört es zu den immer wieder auftretenden Seuchen, denen die Menschheit seit jeher ausgeliefert war? Wird man Corona in einigen Jahrzehnten als Anfang vom Ende der globalen Zivilisation bewerten, so wie wir heute die Pest als einen Sargnagel des römischen Imperiums erkennen können? Eine solche Frage ist nicht zu beantworten.
Vielleicht besteht die Antwort auch nicht in einem einfachen Ja oder Nein, sondern in einer sehr viel komplizierteren Beobachtung. Denn eine mögliche Antwort kann lauten, dass das Corona-Virus beides zugleich ist. Es ist eine weitere Seuche, die sich in eine lange Geschichte von ansteckenden Krankheiten einreiht. Und es ist mehr als das, da die Reaktionen der Menschen und Gesellschaften auf diese Seuche neu sind. Das engmaschige Netz biopolitischer Regierungen wird im Seuchenfall sichtbar und führt zu weniger Ansteckungen und Toten. Zugleich wird das Netz der Regeln und Kontrollen selbst öffentlich sichtbar, wodurch die zahlreichen Bruchlinien in den spätmodernen Industriegesellschaften hervortreten. Zwei auf den ersten Blick gegenläufige Erkenntnisse können so gewonnen werden. Der Durchgriff eines biopolitischen Staates auf seine Bevölkerung ist gewaltig und rettet Leben, und zugleich sind die Lebensverhältnisse in der Bevölkerung extrem ungleich. Die Spaltung in das abgehängte untere Drittel, eine zunehmend orientierungslose Mittelschicht und eine kleine Oberklasse wird im unterschiedlichen Ansteckungsrisiko und den Reaktionen auf die Seuchenschutzmassnahmen sichtbar. Doch nicht nur die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft treten durch Krisen hervor, auch die Entwicklung von Gesellschaften wird durch die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, angeregt. Die Richtung, die sie dabei einschlagen, hängt hingegen weniger von dem Problem selbst ab als vielmehr von den Reaktionsmöglichkeiten der Gesellschaft.
Die soziologische Theorie, die sich am hartnäckigsten der Erforschung dieser komplexen Verhältnisse gewidmet hat, ist die Systemtheorie.[3] Ihre Ausgangsbeobachtung besteht darin, dass Systeme nur mit der ihr eigenen Logik auf Probleme reagieren können. Diese Beobachtung geht auf die kybernetische Revolution in der Biologie zurück.[4] Hier wurde zur Mitte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal verstanden, warum lebendige Organismen nur dann existieren können, wenn sie eine Grenze zwischen Innen und Außen erzeugen. Diese Grenze ist ein durchlässiger Schutz, der kontrolliert, welche Stoffe in das Innere einer Zelle gelangen können und welche nicht. Im Inneren entsteht so ein System mit eigenen Gesetzen, das mit seiner Umwelt durch eine Membran verbunden ist. Die Differenz zwischen der Zelle und ihrer Umwelt ist die Leistung des Lebens, durch die eine Ordnung im Inneren möglich wird, aus der die Evolution und weitere Ausdifferenzierungen folgen.
Der Clou dieser Beobachtung besteht darin, dass die Zelle durch ihre Zellwand überhaupt erst eine Umwelt für sich hergestellt hat. Nachdem zwei getrennte, aber verbundene Bereiche entstanden sind, existiert die Umwelt für die Zelle nur noch durch die Kriterien, die die Zelle selbst festlegt. Für eine Zelle, die salzhaltiges Wasser braucht, besteht die Umwelt vor allem aus der Frage, wieviel Salz darin vorkommt. Für die meisten anderen Eigenschaften ist sie blind. Zugleich kann die Zelle auf ihre Umwelt nur noch mit den ihr eigenen Möglichkeiten reagieren. Sie hat also zwei Grenzen: die reale ihrer Zellmembran und die systemische ihrer Reaktionsmöglichkeiten. Kommt es zu einer Umweltveränderung, die ihre Systemgrenzen übersteigt, zerfällt ihre innere Ordnung und es bleibt ihr nur der Tod. Die Grenze, durch die sie selbst entsteht, ist darum ein evolutionärer Gewinn und zugleich die Grenze ihres Lebens. Da ihre Wahrnehmung der Umwelt immer nur in einem kleinen Ausschnitt besteht und viele Gefahren darum unsichtbar bleiben, bedeutet jede Zunahme an innerer Komplexität auch eine komplexere Umweltwahrnehmung, die das Überleben sicherer macht.
Die Systemtheorie überträgt diese Beobachtung auf die Funktion von sozialen Systemen. Ihre Ausgangsthese besteht darin, dass sich in der biologischen wie der sozialen Welt Systeme dadurch bilden, dass sie Grenzen ziehen und mit Hilfe dieser Grenzen ihr Inneres ausdifferenzieren können. Die Art der Grenzziehung befähigt die Systeme, mit ihrer dadurch konstruierten Umwelt kommunizieren zu können. Beobachtet man mit dieser Methode die Gesellschaft als soziale Systeme, so sind die Erkenntnisse weitreichend. Als erstes fällt auf, dass kein System alleine existieren kann, sondern alle durch die Art ihrer Grenzziehung in der ihnen eigenen Logik mit ihrer Umwelt verbunden sind.
Die Gesellschaft besteht aus zahlreichen einzelnen Systemen, und die gesellschaftliche Evolution beruht darauf, welche dieser Systeme es schaffen, eine eigene Geschichte zu schreiben. Zugleich existieren die Systeme nicht für sich selbst, sondern sie erfüllen eine Funktion für andere Systeme. Zu den erfolgreichsten sozialen Systemen der Neuzeit gehört z. B. die Wirtschaft. Ihre Eigenlogik besteht darin, alle Handlungen mit der Unterscheidung von Zahlung oder Nichtzahlung zu vereinfachen. Ihre Funktion besteht darin, den Handel von Waren zu organisieren. Ein anderes erfolgreiches System ist die Wissenschaft. Ihre Leitdifferenz besteht darin, wahre von falschen Aussagen zu unterscheiden. Die wissenschaftlich wahren Aussagen grenzen sich von den wahren Aussagen der Religion ebenso ab wie von den Zahlungen in der Ökonomie. Die wissenschaftliche Wahrheit kann man nicht kaufen, und sie ist auch keine Frage des Glaubens.[5] Umgekehrt hat die wissenschaftliche Wahrheit keinen Einfluss darauf, ob jemand bezahlt oder nicht, und ebenso wenig lässt sich die Glaubenswahrheit von ihr vorschreiben, was sie für wahr zu halten hat.
Der evolutionäre Gewinn für Gesellschaften, die es schaffen, möglichst viele solcher autonomen Systeme nebeneinander arbeiten zu lassen, ist groß. Denn die Systeme können nicht nur ihre eigene Funktion immer weiter entwickeln, sondern sie dienen einander als Korrektiv. Da kein System mehr ein Durchgriffsrecht auf alle anderen Systeme hat, sind sie dazu gezwungen, sich gegenseitig zu akzeptieren. Die einzige Möglichkeit der Einflussnahme besteht im Medium der Kommunikation. Aus diesem Grund ist für die Systemtheorie die Kommunikation die zentrale Operation, an der ausdifferenzierte Gesellschaften beobachtet werden können. Die Kommunikation ist das einzige Mittel, mit dem Systeme ihren Grenzverkehr organisieren können. Folgt man dieser soziologischen Beschreibung, so stellt sich die Frage, wie eine solche Gesellschaft überhaupt noch als Ganzes zu organisieren ist und zu Entscheidungen kommt.
Die Macht- und Entscheidungsfrage, die für andere Theorien von überragender Bedeutung ist, wird von der Systemtheorie entdämonisiert und zu eine Operation innerhalb der Systeme erklärt. Macht ist eine von vielen Methoden, mit denen Komplexität reduziert werden kann.[6] Wer Macht hat, kann erwarten, dass seine Entscheidung übernommen wird, weil er sie auch erzwingen könnte. Braucht er dafür jedoch Gewalt, erweist sich, dass seine Macht nicht ausgereicht hat und er zu einem weiteren drastischen Mittel der Reduktion von Freiheit greifen musste. Macht ist also keine eigene Instanz und vor allem kein einzelner Mensch, sondern eine Funktion, die in allen Systemen anzutreffen ist. Die Kritik von Macht muss darum immer reflektieren, welche Funktion die Macht gerade ausübt. Eine einfache Feststellung, dass hier Macht im Spiel ist, reicht für die Systemtheorie ebenso wenig als Kritik aus wie die generelle Ablehnung von Machtstrukturen. Denn alle Systeme brauchen, um überhaupt funktionieren zu können, Grenzen und Methoden, mit denen Komplexität reduziert wird, um zu Unterscheidungen zu kommen.
So sehr sich die Systemtheorie von voreiligen kritischen Diskursen fernhält, ist sie doch nicht naiv in der Beobachtung von Gesellschaft. Ihre besondere Aufmerksamkeit richtet sie darum gerade auf die Systeme, die sich mit der Infragestellung der Systemgrenzen befassen. Hierzu gehören die Religion, die Kunst und die politische Öffentlichkeit. Alle drei Systeme nehmen schon aus ihrer Tradition heraus für sich in Anspruch, dass sie mehr sind als nur eine weitere Wahrheit. Die Religion hat über Jahrtausende die einzige Wahrheit verkündet. Ihr Wissen über den Umgang mit den Fragen der Transzendenz ist groß und vielfältig, darum kann von ihr bis heute vieles über den Umgang mit dem Unbekannten gelernt werden. Die Kunst wurde immer als die Ausnahme von der Normalität begriffen. In der Kunst kann es um alles gehen, da es ohne direkte Konsequenzen für die Realität bleibt. Die Freiheit der Kunst besteht darin, dass sie alle anderen Systeme in Frage stellen darf, ohne dafür nach den Maßstäben der anderen Systeme beurteilt zu werden. Dass in der Spätmoderne die Kunst immer öfter nach moralischen Kriterien bewertet wird, ist von daher erstaunlich und bedenklich zugleich. Die politische Öffentlichkeit schließlich stellt eine besondere Herausforderung für die Systemtheorie da. Denn in ihr treffen alle Systeme durch Kommunikation aufeinander. Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und alle weiteren Systeme äußern sich öffentlich und reagieren öffentlich aufeinander. Die Öffentlichkeit ist nach einer aphoristischen Zuspitzung von Niklas Luhmann darum der »heilige Geist« der Systeme.[7]
Die Politik hat als eigenes System die Funktion, aus diesem Stimmengewirr immer wieder einzelne Themen herauszugreifen und in eine Form zu bringen, über die eine Abstimmung möglich wird. Die Funktion der Politik besteht also darin, in einer ausdifferenzierten Gesellschaft Entscheidungen herbeizuführen, die dann kollektiv gültig sind. Ein zentrales Mittel, um diese Entscheidungen herbeizuführen, ist die Öffentlichkeit. In ihr werden die Themen sichtbar, die die jeweiligen Systeme umtreiben, und zugleich können die Widersprüche zwischen den verschiedenen Interessen ausgetragen werden. In der Öffentlichkeit selbst werden keine Entscheidungen getroffen. Sie ist aber der wichtigste Ort, um Entscheidungen vorzubereiten, die, nachdem sie getroffen worden sind, wieder öffentlich sichtbar gemacht werden müssen, damit sie akzeptiert werden und kollektive Gültigkeit erlangen.
Je weiter sich die Systeme ausdifferenzieren, desto wichtiger wird die Öffentlichkeit als letzter gemeinsamer Ort, an dem das verhandelt werden kann, was alle betrifft. Und zugleich ist diese Funktion immer schwerer zu erfüllen, je weiter sich die jeweiligen Systemlogiken voneinander entfernen. Im Anthropozän haben z. B. die Naturwissenschaftler immer größere Probleme, ihre Wahrheiten so zu kommunizieren, dass sie von anderen Systemen verstanden werden können. Zu diesen Schwierigkeiten kommt noch eine Veränderung der politischen Kommunikation. Was gegenwärtig unter den Schlagworten von Populismus und Identitätspolitik läuft, meint einen Politikstil, bei dem es nicht mehr um die Anschlussfähigkeit zwischen verschiedenen Systemen und Interessen geht. Wer Populismus oder Identitätspolitik betreibt, spricht vor allem zu seinen eigenen Anhängern und verstößt alle anderen ins Gebiet der Feinde. Eine solche Methode erhitzt die Widersprüche, um die eigenen Anhänger zusammenzuschweißen. Vordergründig werden dadurch die überkomplexen Probleme der Spätmoderne wieder politisch verhandelbar gemacht. Doch die Folgen von Identitätspolitik und Populismus bestehen vor allem darin, die Gesellschaft in unversöhnliche Communities zu spalten. Statt funktional ausdifferenzierter Systeme, die aufeinander abgestimmt operieren, stehen sich verfeindete Lager gegenüber, die die Komplexität auf eine einfache Freund/Feind-Unterscheidung reduzieren. Der Preis, der dafür bezahlt wird, sich durch diese Art der Reduktion von Komplexität Gehör zu verschaffen, ist sehr hoch, und er führt zu immer rabiateren Kollateralschäden. Denn die einfachen Lösungen der Populisten und Identitätspolitiker unterfliegen die anspruchsvollen Probleme des Anthropozäns so kategorisch, dass diese nicht einmal mehr als Problem gesehen werden können.
Die Systemtheorie schult die Beobachtungsfähigkeit, um die Reduktion von Komplexität danach zu beurteilen, was sie in der Realität anrichtet. Will man die Ursachen der Spaltungen innerhalb der Gesellschaft und die zwischen Erde und Mensch besser verstehen, fallen in der spätmodernen Öffentlichkeit besonders die populistischen und identitätspolitischen Reduktionen in besorgniserregender Weise auf. Die Systemtheorie verfügt über eine ungleich komplexere Art der Komplexitätsreduktion, da sie die sozialen Systeme ebenso wie die natürliche Umwelt als kybernetische Zusammenhänge beobachtet. Die Pointe an dieser Theorieentwicklung ist, dass sie der gesellschaftlichen Entwicklung der Gegenwart entspricht. Erst in modernen Gesellschaften haben sich die sozialen Systeme so weit ausdifferenziert, dass sie voneinander unabhängig funktionieren. Man könnte diese Ausdifferenzierung und die damit einhergehende Vermeidung einer zentralen Machtposition sogar als wichtigstes Kennzeichen moderner Gesellschaften bewerten. Die Systemtheorie konnte sich also erst in der Moderne entwickeln und zugleich ist sie die Theorie, mit der die Moderne realitätsnah reformuliert werden kann.
Zeitgleich mit der Systemtheorie haben sich die postmodernen Theorien als philosophischer Versuch entwickelt, die Gegenwart seit den 1970er Jahren zu beschreiben. Sie haben das Phänomen einer Gesellschaft, die nicht mehr aus einem Punkt heraus zu erklären ist, ebenfalls bemerkt, ihre Schlussfolgerungen sind jedoch völlig entgegengesetzt zur Systemtheorie. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die postmodernen Theorien die Ausdifferenzierung als einen Zerfall beschreiben, der zu einem weltanschaulichen Wert erklärt wird. Von ihnen wird also nicht nur beschrieben, dass die Systeme unabhängig voneinander existieren, sondern es wird vorgeschrieben, dass es keine Zusammenhänge mehr zwischen ihnen geben darf. In den postmodernen Theorien wird die neue Weltanschauung des neoliberalen Kapitalismus, der die Gesellschaft als atomisiertes Chaos individueller Interessen sieht, philosophisch geadelt.
Die Systemtheorie folgt hingegen auch hier dem ökologischen Denken. Dass die jeweiligen Systeme ihre Funktion verbessern können, liegt daran, dass sie zwar eine eigene Innenwelt hervorbringen, zugleich aber bleiben sie mit den anderen Systemen verbunden. Als alleinstehende Systeme hätten weder Wirtschaft, noch Religion, Kunst oder Wissenschaft eine Funktion. Sie brauchen einander als Umwelt, von der Irritationen ausgehen, wechselseitige Kritik erfolgt und das Material für zukünftige Aufgaben erwächst. So wie der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, so brauchen Systeme eine Umwelt und deren Probleme. Wären sie sich selbst überlassen, wären sie tot. Es geht also gerade um den lebendigen Zusammenhang von gegeneinander differenzierten Systemen. Und der jeweilige Wissensstand in den Systemen ist nur so relevant, wie er an seine Umwelt anschlussfähig bleibt.
Die Systemtheorie versucht moderne Gesellschaften nicht nur auf der Höhe ihrer Komplexität zu beobachten, sondern sie ist zugleich aufgrund ihrer Theoriegeschichte eine ökologische Art des Denkens. Gesellschaften werden von ihr wie die biologische Umwelt als unplanbares Zusammenwirken verschiedener Akteure begriffen.[8] Jede Handlung erfolgt in einer Umwelt, die durch zahlreiche Widersprüche, Regeln und Funktionen bestimmt ist. In den Systemen haben sich wie in den einzelnen Organismen Funktionen zusammengebunden und daraus eine eigene Existenzweise gemacht. Die Systemtheorie schaut darum auf die sozialen Systeme mit der gleichen sorgenden ökologischen Perspektive wie auf die biologische Umwelt. Beide Systeme sind hochkomplex, haben eine lange Vorgeschichte und sind bemüht, ihr eigenes Fortbestehen zu sichern. Und in beiden Systemen kann es zu Fehlentwicklungen kommen, die zum Zusammenbruch der ökologischen Ordnung führen können. Ein solches ökologisches Denken praktiziert damit gerade nicht die politisch verhängnisvolle Art einer Naturalisierung von Gesellschaft, sondern es schaut in die genau andere Richtung. Es betrachtet menschliches Handeln und biologisches Leben als gleichermaßen ökologische Systeme.
Die Gefahren für das Erdsystem werden im Anthropozän erst langsam bewusst. Die zahlreichen Blockaden in sozialen Systemen sind hingegen in den Geschichtsbüchern beschrieben. Fehlentscheidungen, Blindheit gegenüber kommenden Gefahren, menschliche Hybris oder das Festhalten an falschen Traditionen gehören zu den verhängnisvollen Handlungen, die Gesellschaften kollabieren lassen. Dass die Gründe für den Zusammenbruch von der jeweiligen Gegenwart fast nie rechtzeitig zu erkennen sind, gehört zu den grundlegenden Bedingungen des Lebens. Soziale Systeme wie Organismen operieren zukunftsblind. Sie schreiten mit dem Rücken zur Zukunft voran und können immer nur die gerade vergangene Gegenwart erkennen. Der Mensch hat in diese Blindheit die neue Eigenschaft einer Vorausschau und Planung hineingebracht. Diese geistige Fähigkeit ermöglicht die Organisation von Handlungen, die weit über die Gegenwart hinausreichen. Die Pyramiden und Kathedralen hätten ohne eine solche geistige Kraft ebenso wenig erbaut werden können, wie die Methoden der Wissenschaften hätten erfunden oder die Ökonomie eines globalen Kapitalismus sich hätte durchsetzen können.
Im Anthropozän treffen alle diese Entwicklungen aufeinander. Um den Komplex aus geistiger Verfassung, sozialen Systemen und ökologischen Zusammenhängen zu begreifen, wird es große kollektive Anstrengungen brauchen. Ob die Zeit reicht, in der die Menschen die sich verändernde Ökologie noch zu ihren Gunsten beeinflussen können, ist unbekannt. Dass wir nicht mehr allzu lange mit unserer Lebensweise fortfahren dürfen, zeichnet sich jedoch immer deutlicher ab. Insofern ist es tragisch, dass die freien Gesellschaften der Spätmoderne in einer verhängnisvollen Art blockiert sind. Die Blockade besteht darin, dass die öffentliche Kommunikation immer weniger in der Lage ist, die Zusammenhänge und Ursachen des Handelns reflektieren zu können. Sowohl die globalen Vernetzungen als auch die individuellen Widersprüche überfordern die öffentliche Kommunikation. Die einen sind überfordert, weil diese Aspekte zu chaotisch und komplex erscheinen, und die anderen, weil das spätmoderne Subjekt sich selbst immer unerklärlicher wird und zugleich immer radikaler seine Bedürfnisse durchsetzen will. Die realen Verhältnisse spitzen sich zu und setzen ihre öffentliche Beobachtung unter einen wachsenden Stress. Und wie alle Systeme, deren Stress die innere Resilienz übersteigt, gerät auch die Öffentlichkeit in ein dysfunktionales Verhalten, bei dem komplexe Probleme durch eine einseitige Perspektive falsch reduziert werden. Eine der negativen Folgen besteht darin, dass auch die Anschlusskommunikation auf die falsche Reduktion reagiert, was zu den aggressiven aber realitätsfernen Konflikten unserer Zeit führt. Die verhängnisvolle Konsequenz besteht darin, dass die Ideologie, die die Krisen des Anthropozäns immer weiter verschärft, im Chaos nicht mehr greifbar ist.
Im Zentrum der dysfunktionalen Öffentlichkeit befindet sich eine Blindheit gegenüber den Ursachen, die die Blockaden hervorgebracht haben. Denn das Besondere der neoliberalen Ideologie besteht darin, dass sie es geschafft hat, für niemanden mehr als Ideologie zu erscheinen. Sie erscheint als Natur und ist darum alternativlos gültig. Die beste Verteidigung von Herrschaft besteht seit jeher darin, sich als Ziel möglicher Angriffe unsichtbar zu machen. Wenn niemand mehr bemerkt, dass er einer Ideologie folgt, gibt es niemanden mehr, der dagegen rebellieren könnte. So wie die Ausdifferenzierung der sozialen Systeme das Kennzeichen der Moderne war, so ist diese selbstreflexive und paradoxe Wendung das Kennzeichen der Spätmoderne. Sie zu erkennen, ist die Voraussetzung dafür, ihre Macht zu kritisieren, und das wäre die Voraussetzung dafür, die Blockaden angesichts des Anthropozäns zu überwinden.
Die Krise der Spätmoderne besteht also in einer doppelten Problemlage. Zum einen wächst das Misstrauen gegenüber den Methoden einer komplexen Gesellschaft. Die politischen Rufe nach einfachen Lösungen, die schnelle und radikale Änderungen versprechen, werden immer lauter. Und zum anderen findet dieses soziale Ringen zwischen den Menschen nicht mehr im Nirgendwo statt, sondern es tritt immer deutlicher hervor, dass wir alle auf einer Erde leben. Und diese Erde ist nicht mehr in der Lage, die Kämpfe der Menschen um ein gutes Leben zu ertragen. Zum einen verzweifeln immer mehr Menschen an der Komplexität ihrer sozialen Verhältnisse, und zugleich braucht es sehr viel mehr Komplexitätstauglichkeit, um unser Verhältnis zur Erde nicht mehr als eines von Ausbeutung zu praktizieren, sondern ökologisch zu denken.
Die Industriegesellschaften sind überaus erfolgreich, die Erde für unseren Konsum zu zerstören, doch zugleich verhindert die geistige Einstellung, die für den ökonomischen Erfolg notwendig ist, jedes ökologische Umdenken. Dieser verhängnisvolle Zusammenhang tritt tragischerweise in einem historischen Moment auf, wo die Öffentlichkeit komplexitätsmüde ist. Die Abwehr von Ambivalenzen und Widersprüchen entspricht dem Effizienzgebot, alles abzulehnen, was das schnelle, nützliche Verständnis übersteigt. Zugleich nehmen die Ambivalenzen stetig zu und erzeugen den Stress, sich in einer unübersichtlichen Welt zurechtfinden zu müssen. Die einfachen Lösungen versprechen einen Ausweg aus der Überforderung. Doch die Widersprüche sind dadurch nicht gelöst, sondern sie türmen sich weiter bedrohlich auf. Das stählerne Gehäuse der Rationalität, das die geistige Heimat der Moderne war, ächzt gewaltig unter der Last der ungelösten und unlösbar scheinenden Probleme. Die einfache Lösung, die wie eine zurückgewonnene Souveränität wirkt, ist in Wahrheit das Eingeständnis, den Problemen nicht mehr gewachsen zu sein.[9]
Die Komplexitätsmüdigkeit hat ihre Ursachen aber nicht nur in den Stress-Faktoren der allgemeinen Entgrenzung, sondern auch in der abgebrochenen Tradition eines lebendigen Umgangs mit der Transzendenz. Mit Transzendenz wurden einst alle die Phänomene beschrieben, die in den Jahrtausenden zuvor das Denken mit einer unerklärlichen Aufgabe provoziert haben. Transzendenztauglichkeit meint nichts anderes als eine besondere Komplexitätstauglichkeit. Die Spätmoderne setzt die Gesellschaften und Menschen unter Stress, in dem sich zeigt, dass sie transzendenzuntauglich und leichtgläubig zugleich sind.
Diese Kombination ist gefährlich: Das Haus brennt ab[10] und seine Bewohner verlieren die Nerven, weil sie die Jahre zuvor mit Nachbarschaftskrächen verbracht haben. Statt zu löschen, schreien sie sich weiter an. Ist es einmal so weit, kommt jeder Rat zu spät. Bliebe uns aber noch ein Tag bis zum Brand, so wäre es jetzt an der Zeit, unser Leben zu verändern. Und sei es nur, damit wir den drohenden Katastrophen nicht weit unter unseren geistigen Möglichkeiten begegnen. Die Feinde der Öffentlichkeit sind also nicht immer so fern wie ein russischer Troll oder ein Tech-Riese aus den USA. Sie sitzen in uns allen, wenn wir unser herrisches Ich in die Arena führen, oder wenn wir mit lustvollem Schaudern den trotzigen Kämpfen der anderen zuschauen.
»Niemand kann für sich allein autonom sein.«
Jürgen Habermas[11]
Wir alle bewegen uns in der Öffentlichkeit. Wir informieren uns, lassen uns auf neue Ideen bringen, ärgern uns, sind gelangweilt oder regen uns schrecklich auf. Die Öffentlichkeit ist der zentrale Ort unserer Gesellschaft, auch wenn niemand genau zu bestimmen weiß, wo er sich befindet. Öffentlichkeit steckt als Smartphone in jeder Hosentasche und sie steht als Gebäude in unseren Städten. Der Bildschirm verheißt uns virtuellen Zugang zur ganzen Welt, während Parlamente, Theater, Marktplätze und Schulen zu Stein geronnene Formen von Öffentlichkeit sind. In beiden Arten von Öffentlichkeit spielt sich unser Leben ab, und nicht selten droht die Orientierung dabei verloren zu gehen.
Schon als kleine Kinder werden wir in den Kindergarten gebracht, um dort die ersten grundlegenden Unterscheidungen unserer Gesellschaft zu erlernen: Es gibt die Regeln der Familie und es gibt die Regeln der Anderen, die öffentlichen Regeln. Im Kaufhaus lernen wir, dass uns nicht alles gehört, was uns interessiert, im Straßenverkehr müssen wir die roten Ampeln beachten, und in der Schule müssen wir lernen, unsere Interessen nach dem Stundentakt des Lehrplans zu richten. In all den Lebensbezügen vom Marktplatz bis zum Arbeitsplatz formen die sozialen Kontakte unseren Charakter, und umgekehrt drückt sich unsere Persönlichkeit in unserer Kommunikation aus, bei der wir gelernt haben, zwischen öffentlich und privat zu unterscheiden.
Wir hängen an zahllosen Fäden, von denen uns jedoch nicht alle bewusst sind und nur die wenigsten von uns selbst beeinflusst werden können. Was uns als Freiheit erscheint, zerfällt in dem Moment zu einer Täuschung, wo uns das Chaos von Abhängigkeiten klar wird. Die erste Schulstunde beginnt am frühen Morgen, und der Arbeitstag dauert für die meisten Menschen acht Stunden. Wer daran etwas ändern will, braucht einen langen Atem, und der Erfolg ist mehr als ungewiss. Was wir als Freiheit erleben, ist nur eine kleine Insel in einem Meer von Regeln. Es gehört zu den Eigenarten des menschlichen Bewusstseins, dass es sich auf wenige Punkte zu konzentrieren vermag und so das Netz der Abhängigkeiten ausblenden kann. Und umgekehrt wäre unser Überleben gefährdet, wenn wir nicht durch unzählige Regeln mit unseren Mitmenschen verbunden wären. Solidarität und Entfremdung, Freiheit und Abhängigkeiten stehen in einem permanenten Wechselspiel. Wie ernst dieses Spiel verläuft und was für ein Leben es ermöglicht, darüber wird in der Öffentlichkeit gestritten.
Die neuzeitliche Gesellschaft zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie die Komplexität der Regeln immer weiter erhöht, sondern ihr Kennzeichen besteht vor allem darin, dass sie die Realität in zwei unterschiedlichen Fassungen kennt. Es gibt die reale Situation, in der man sich befindet, und es gibt die gedankliche Reformulierung dieser Situation. Es gibt die Schulstunde, die von Lehrern wie Schülern erlebt wird, und es gibt ein Nachdenken über diese Stunde selbst. In diesem Nachdenken öffnet sich der Raum für unendlich viele Fragen: Was muss in dieser Stunde gelernt werden, wie soll es gelehrt werden, ist der Stoff zeitgemäß, gehört die Institution der Schule verändert, reformiert oder gar abgeschafft, wie ist das Verhältnis von Lehrenden zu Lernenden, und wie ist das Verhältnis der Schule zur Arbeitswelt, zur Religion, zur Wissenschaft usw.? Der treibende Gedanke unserer Kultur besteht darin, dass wir leben und zugleich über das Leben nachdenken, dass wir Handeln und zugleich die Prämissen des Handelns reflektieren, dass wir etwas Neues planen und zugleich die Frage nach dem Wesen des Neuen und seiner Planbarkeit stellen können. Was in früheren Kulturen das seltene Privileg der Philosophie und der Religion war, ist zur alltäglichen Praxis geworden. An der Entwicklung dieser Fähigkeit zur Selbstreflexion hat die Öffentlichkeit einen großen Anteil.
Das Kennzeichen moderner Gesellschaften ist die stetig wachsende Beschleunigung, mit der die wissenschaftliche Forschung voranschreitet und technische Erfindungen ermöglicht. Von der Entdeckung der Elektrizität durch die Elektrisiermaschine im 17. Jahrhundert bis zu ihrer ersten alltäglichen Nutzung als Straßenbeleuchtung 1878 sind über zweihundert Jahre vergangen. Von der Erfindung des Computers bis zum ersten PC waren es noch einige Jahrzehnte, seitdem überschlagen sich die Innovationen in allen Bereichen, und inzwischen stehen wir permanent an einer Schwelle zur nächsten technischen Revolution. Der Quantencomputer und die künstliche Intelligenz werden alle bisherigen Kenntnisse der digitalen Revolution weit hinter sich lassen. Die Rechengeschwindigkeit und ihre Anwendungen werden sich von aktuellen Computern so kategorisch unterscheiden wie sich diese vom Rechenschieber unterschieden haben. Was das bedeutet, ist wie bei allen technischen Revolutionen nicht vorhersehbar. Das Einzige, was man sicher wissen kann, ist, dass es passieren wird, und dass die Gesellschaften mit den Folgen werden leben müssen. Im Anthropozän sind die Folgen der menschlichen Erfindungskraft zu einem erdgeschichtlichen Faktor geworden. Die Folgen unseres Tuns betreffen nicht mehr nur uns selbst, sondern die gesamte Erde. Was das für die Öffentlichkeit bedeutet, ist ebenso unbekannt, wie der weitere Verlauf der Erdgeschichte.
Der zukunftsoffene Umgang mit der selbsthergestellten Unsicherheit ist das herausragende Kennzeichen neuzeitlicher Gesellschaften. Zukunft wird geplant, und zugleich ist allen bewusst, dass die Zukunft kontingent ist und Überraschungen bereithält, mit denen niemand rechnen konnte. Kontingenz meint, dass ein Ereignis möglich ist, aber nicht notwendig so eintreten muss. Kontingenz ist das Kennzeichen einer offenen Gesellschaft und zugleich die Ursache für den permanenten Stress, den die Menschen darin aushalten müssen. Die Öffentlichkeit ist der Ort, an dem hierüber verhandelt wird, und sie ist zugleich der Ort, an dem neue Unsicherheit entsteht. Die spätmoderne Öffentlichkeit reagiert auf Kontingenz, produziert Kontingenz, und sie trainiert den Umgang mit der Unsicherheit, die aus der Kontingenz folgt. Darin unterscheidet sie sich grundlegend von der vorneuzeitlichen Öffentlichkeit. Dieser war vor allem an Kontinuität gelegen und daran, die Autorität der Macht für alle sichtbar zu machen und eine Wahrheit für alle und für alles durchzusetzen.