Buch
In Egernsund an der jütländischen Küste verbrennt die Leiche eines jungen Mädchens unter den Holzscheiten eines Sankt-Hans-Feuers. Wurde die deutsche Gastschülerin mit türkischen Wurzeln das Opfer eines grausamen Ritualmordes? Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg von der deutsch-dänischen Sondereinheit GZ Padborg übernehmen den Fall und stoßen in der Familie der Toten auf eine Mauer des Schweigens. Auch die Ermittlungen in der beschaulichen dänischen Küstenstadt gestalten sich schwierig, denn die Bewohner sind sich einig: Der Täter muss von außerhalb kommen. Als eine Spur zu den Betreibern der örtlichen Ziegelei führt, beginnt der Zusammenhalt der eingeschworenen Gemeinschaft zu bröckeln …
Autorin
Anette Hinrichs ist als geborene Hamburgerin ein echtes Nordlicht. Ihre Leidenschaft für Krimis wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte in ihr den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München. Ihre Sehnsucht nach ihrer alten Heimat lebt sie in ihren Küstenkrimis und zahlreichen Recherchereisen in den hohen Norden aus. Mit »NORDLICHT«, ihrer Krimireihe um das deutsch-dänische Ermittlerteam Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg, begeistert Anette Hinrichs ihre Leser und landete auf Anhieb auf der Bestsellerliste.
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Boisen & Nyborg ermitteln in:
NORDLICHT – Die Tote am Strand
NORDLICHT – Die Spur des Mörders
NORDLICHT – Die Tote im Küstenfeuer
Weitere Fälle sind in Vorbereitung
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ANETTE HINRICHS
NORDLICHT
DIE TOTE IM KÜSTENFEUER
Kriminalroman
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Dieses Buch ist ein Roman, das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.
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Redaktion: Angela Kuepper und René Stein
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ISBN 978-3641-26398-0
V003
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Für Ingrid, Manu und Nicole –
Freundinnen und Mörderische Schwestern
Der Regen hatte aufgehört.
Er stand im Schutz der Bäume, blickte zum Ufer und atmete erleichtert auf. Es war nur ein kurzer Schauer gewesen, der seine Pläne nicht gefährden konnte. Um ihn herum war es vollkommen dunkel. Der Mond versteckte sich hinter dichten Wolken, und der Wind, der vom Fjord in Richtung Ufer wehte, war kaum spürbar. Land und Wasser verschmolzen in der Finsternis.
Es war der Abend vor Sankt Hans, dem Fest, bei dem das ganze Land feierte und die Feuer an den Küsten brannten. Er hatte mit seinem Vorhaben bis nach Sonnenuntergang gewartet, damit er nicht irgendeinem zufällig daherkommenden Wanderer aus dem naheliegenden Waldgebiet über die Füße stolperte. Jetzt war alles erledigt.
Trotz der milden Temperaturen fröstelte er. Das Shirt unter seiner Jacke klebte ihm schweißnass am Oberkörper, und sein Herz hämmerte von der vorausgegangenen Anstrengung noch immer ein wenig zu schnell. Er versuchte, das Unbehagen abzuschütteln. Selbst wenn er wollte, es gab kein Zurück. Jetzt sollte er lieber sehen, dass er endlich von hier wegkam, ehe ihn doch noch jemand entdeckte.
Die Dunkelheit umschloss ihn wie ein schützender Mantel, als er sich von seinem Platz löste und über das unebene Gelände schlich. Hohes Gras und anderes Gestrüpp erschwerte ihm den Weg, und er musste aufpassen, auf dem feuchten Untergrund nicht auszurutschen. Über seinem Kopf durchschnitt das Kreischen einer Möwe die nächtliche Stille und ließ ihn zusammenzucken. Dann wurde es wieder ruhig.
Die Regenwolken verzogen sich, und er drehte sich ein letztes Mal zum Ufer um. Das Wasser schimmerte silbergrau im Mondlicht, die Oberfläche war glatt wie ein Spiegel. Aus dem aufgeschichteten Scheiterhaufen ragten vereinzelte Äste als dunkle Silhouetten in den Abendhimmel. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde das Feuer brennen. Vielleicht nahmen die Menschen in der Umgebung dann einen Fleischgeruch wahr, doch jeder würde an irgendein Tier denken, das sich seinen Unterschlupf zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gesucht hatte. An einen Igel oder an ein Kaninchen. Der Alkohol würde in Strömen fließen, und der Wind würde diese unangenehmen Gedanken zusammen mit den Gerüchen weit forttragen. Zurückbleiben würde nur ein Haufen Asche.
»Skål!« Rune Poulsen hob sein Glas, sobald der letzte Ton von Midsommervisen verstummt war, das traditionell mit dem Anzünden des Feuers gesungen wurde.
»Skål«, schallte es mehrfach zurück.
Die Umherstehenden prosteten einander zu, ehe alle wie gebannt auf die Flammen starrten, die sich lodernd durch Holz und Reisig fraßen und schließlich nach der Strohhexe griffen. Funken stoben in den noch immer hellen Abendhimmel, und tosender Applaus brandete auf. Kinder lachten und jubelten, ein paar der Anwesenden begannen das nächste Lied anzustimmen.
Rune durchströmte ein tiefes Glücksgefühl und große Dankbarkeit für die Gemeinschaft, in der er sich befand. Familie. Freunde. Nachbarn. Menschen, die ihn schon sein Leben lang auf seinem privaten und seinem beruflichen Weg begleiteten. Ihm gehörte die örtliche Ziegelei, einer der ältesten dänischen Industriebetriebe, welcher sich bereits seit rund zweihundertfünfzig Jahren in nunmehr achter Generation in Familienbesitz befand. Sein Sohn Lars würde die Ziegelei von ihm übernehmen und damit die Tradition fortführen, etwas, das ihn schon heute mit Stolz erfüllte.
Rune legte seinen Arm um seine Frau Nora und küsste sie zärtlich auf die Schläfe, ehe er sein Bierglas seinem Freund Flemming zum Anstoßen hinhielt. »Skål. Lasst uns einen fröhlichen Abend haben.«
»Skål.« Flemming Kjeldsen deutete ein Lächeln an, ehe er einen kräftigen Schluck von seinem Bier nahm. Er war der Pfarrer von Egernsund, ein milde aussehender Endfünfziger mit Haaren wie Stahlwolle und sanfter Stimme, die oftmals gar nicht zu den spitzzüngigen Dingen passen wollte, die er so von sich gab. In seiner diesjährigen Feuerrede hatte er lange über das Böse gesprochen, das es mit dem Feuer abzuwehren galt, über Hexenjagd und Trolle und die Boshaftigkeit der Welt, um abschließend an die Werte und die Fürsorge ihrer Gemeinschaft zu erinnern. Jeder Bürger stand in der Verantwortung, diese zu stärken und zu schützen, appellierte er, eine Gemeinschaft, die nur so lange Bestand hatte, wie einer für den anderen eintrat.
»Hej!« Mathias Ravn trat zu ihrer Gruppe, ein hochgewachsener Mann mit zurückgegelten Haaren und markanter Habichtnase, dessen Intellektuellen-Dresscode sich nicht nur in seiner schwarzen Kleidung, sondern auch in der Wahl seiner Panto-Brille widerspiegelte. Drei Jahre zuvor war der Architekt mit Frau und Sohn von Kopenhagen an den Fjord gezogen. Er prostete mit seinem Bierglas in die Runde. »Das ist mal wieder richtig schön hier.«
Rune nickte bestätigend, während er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie Flemming das Gesicht verzog. Hatte der Pfarrer eben noch von Gemeinschaft gesprochen, war es bei ihm schnell damit vorbei, sobald es um Menschen von außerhalb ging. Den »Lackaffen aus Kopenhagen«, wie Flemming Mathias heimlich nannte, betrachtete er noch immer als Eindringling. Eine Sichtweise, die Rune nicht unbedingt teilte, obwohl er den Architekten selbst auch nicht besonders mochte. Das hatte weniger mit seinem Äußeren zu tun, sondern vielmehr mit seinem selbstgefälligen und jovialen Auftreten, das er häufig an den Tag legte.
Nora drückte Runes Arm. »Ich sehe mal nach den Kindern.«
Sie lächelten einander an. Seine Frau war für ihn der Inbegriff einer Jütländerin. Blond und blauäugig, mit stets frischer Gesichtsfarbe, dabei bodenständig und tüchtig. Sie konnte anpacken, besaß Herz und Verstand. »Bis später.« Ihr Lächeln streifte Flemming, während sie für Mathias nur ein kühles Nicken übrighatte.
»Und das Wetter hat sich auch gehalten«, fuhr der Architekt gerade mit seiner Konversation fort.
Alle blickten zum Himmel. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt. Tiefhängende Wolken in der Farbe von gebleichtem Schiefer türmten sich unheilvoll übereinander.
»Vermutlich nicht mehr lange«, stellte Rune trocken fest. Er sah zu einer Gruppe fröhlicher Jugendlicher, die zur Popmusik aus soeben aufgestellten Lautsprechern tanzte. Unter ihnen war auch sein Sohn Lars mit seinen Freunden.
Mathias räusperte sich. »Ich wollte euch jedenfalls nur Bescheid geben, dass die Würstchen fertig sind.« Er zeigte zu der Stelle, an der sich ein paar Nachbarn um einen Grill gesellt hatten. Dabei rutschte der Ärmel seines Jacketts hoch und entblößte eine schlichte und teuer aussehende Uhr mit Lederarmband. Der Architekt nickte in die Runde und ging davon.
»Wann hört der endlich damit auf, uns jedes Jahr aufs Neue unter die Nase zu reiben, dass er die Würstchen bezahlt?«, knurrte Flemming.
Ehe Rune antworten konnte, umschlangen ihn von hinten zwei schmale Kinderarme. »Hej, Spatz.« Er wandte sich seiner elfjährigen Tochter zu.
Ries Wangen waren vor Aufregung gerötet, und ihr kurz geschnittenes dunkles Haar klebte verschwitzt auf ihrer Stirn. Sie sah aus wie ein zartes Vögelchen, war zu klein und zu dünn für ihr Alter, doch ihr Äußeres trog. Seine Jüngste war der reinste Wildfang und gab in der Familie gerne den Ton an. Wie immer trug sie ihr Handy, ihren kostbarsten Besitz, an einem bunt geflochtenen Band quer über den Oberkörper gebunden. Seit sie das lang herbeigesehnte Smartphone von ihren Eltern zu ihrem elften Geburtstag geschenkt bekommen hatte, fotografierte sie alles, was ihr vor die Linse kam.
»Und, hast du heute Abend auch schon ein Video aufgenommen?« Rune strich seiner Tochter eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn.
Rie nickte. »Ich habe tolle Aufnahmen vom Feuer.« Ihre Augen glänzten. »Vielleicht mache ich irgendwann einen Film daraus.«
»Hast du denn genügend Material dafür?« Flemming beugte sich ein wenig zu der Kleinen herab.
»Jede Menge, ich könnte ein Dutzend Filme daraus machen«, prahlte sie. »Ich muss das ganze Zeug nur noch irgendwann schneiden. Das ist eine Heidenarbeit, sag ich euch.«
»Willst du nicht ein paar Aufnahmen von mir machen?« Flemming stellte sich in Positur. »In einem Film wollte ich schon immer mal mitspielen.«
Rie lachte. »Nö, lass mal.« Sie knuffte den Pfarrer mit ihrer kleinen Hand in die Hüfte und verschwand.
Flemming lachte dröhnend. »Skål.«
Sie stießen an, betrachteten das Feuer, das mittlerweile lichterloh brannte, und tranken einträchtig ihr Bier. Um sie herum wurde gelacht, getanzt und gesungen.
Nora stieß wieder zu ihnen. »Sagt mal, hat einer von euch Elin gesehen?« In ihren Augen lag ein gehetzter Ausdruck. Elin Akman war ihre deutsche Gastschülerin, die für ein Jahr bei ihnen lebte.
Rune schüttelte den Kopf. »Wollte sie nicht bei euch übernachten?« Sein Blick glitt zu Flemming.
Der Pfarrer zuckte die Achseln. »Da musst du meine Tochter fragen.«
»Annelie hat mir gerade erzählt, Elin hätte abgesagt.« Nora klang tief beunruhigt. »Schon gestern.«
Rune runzelte die Stirn. »Gestern schon?« Er sah seine Frau verwirrt an. »Und wo hat sie dann letzte Nacht geschlafen?«
»Das ist es ja.« Nora strich sich mit einer fahrigen Geste übers Gesicht. »Annelie dachte, Elin wäre bei uns zu Hause.«
Rune sah sich um. »Sie wird hier schon irgendwo sein. Du weißt doch, wie die jungen Leute heutzutage sind. Elin hat bei einer anderen Freundin übernachtet und einfach nur vergessen, uns Bescheid zu geben.«
»Und welche Freundin sollte das sein?« Noras Stimme klang jetzt panisch. Tränen schossen ihr in die Augen. »Was, wenn ihr etwas passiert ist?«
Runes Blick verfing sich im Feuer. Die Flammen schlängelten sich in den dunkler werdenden Abendhimmel. Überall an den Küsten brannten jetzt die Feuer, während die Menschen sich um die Flammen scharten und ausgelassen feierten. Am Sankt-Hans-Tag war die Welt in ihrem kleinen Land in Ordnung. Trotzdem erfasste auch ihn Unruhe, und er hörte den leisen Zweifel, der sich bei seiner Gegenfrage in seine Stimme schlich. »Was sollte ihr hier schon passiert sein?«
Das Licht im Hausflur funktionierte nicht. Langsam tastete sich Timur Akman die ausgetretenen Stufen bis in den fünften Stock hinauf. Ein Geruch von exotischen Gewürzen und kaltem Zigarettenrauch zog durchs Treppenhaus.
Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Stundenlang war er rastlos durch die Straßenzüge ihres Viertels gelaufen, hatte in dunklen Hinterhöfen und in Parkanlagen, in Graffiti verschmierten Hauseingängen, in einschlägigen Cafés, Döner- und Imbissbuden sowie an sämtlichen öffentlichen Plätzen Ausschau nach Sait gehalten. Sogar am S-Bahnhof war er gewesen. Ohne Erfolg.
Die Haustür quietschte beim Öffnen. Hinter dem satinierten Glaseinsatz der Wohnzimmertür brannte Licht. Das Murmeln von Stimmen war zu hören. Baba und Onkel Abdi. Er ließ seine Schuhe neben der Fußmatte stehen und verzichtete darauf, das Licht anzumachen. Leise schlich er sich auf Socken zum Zimmer seines Bruders am Ende des Flurs. Die alten Holzdielen knarrten unter seinen Schritten. Er schlüpfte leise in den Raum und zog die Tür von innen nahezu lautlos ins Schloss.
Das Gelb der Straßenlaternen fiel durch einen Spalt der Gardinen und malte geisterhafte Schatten an die Schlafzimmerwand. Im nächsten Moment durchflutete ihn eine Welle der Erleichterung.
Sait lag in Embryostellung in seinem Bett, die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen, nur der vom Schlaf verstrubbelte dunkle Schopf lugte hervor.
Timur widerstand der Versuchung, Sait zu wecken, um ihn zur Rede zu stellen. Sein Bruder war schon seit Tagen nicht mehr in der Schule gewesen. Das hatte Timur nur durch Zufall erfahren, als er ans Telefon gegangen war und die Fragen der Schulsekretärin beantworten musste, die ihn für seinen Vater gehalten hatte. Anstatt die Schulbank zu drücken, hatte sich sein Bruder den ganzen Tag irgendwo herumgetrieben.
Wie jung Sait aussieht, wenn er schläft. Zuneigung durchströmte Timur. Für einen Moment glitten seine Gedanken zu jener Zeit zurück, in der sie die Nachmittage noch gemeinsam vor dem Fernseher verbracht hatten, lachend und balgend auf dem Kelim, den ihr Großvater vor vielen Jahren aus Anatolien mitgebracht hatte. Damals hatte sein Bruder noch zu ihm aufgesehen. Eine Zeit, die unwiederbringlich vorbei war.
»Was machst du hier?« Sait rieb sich schlaftrunken die Augen.
»Ich habe dich gesucht, Sait«, erwiderte Timur vorwurfsvoll. »Schon den ganzen Tag. Die Schule hat angerufen. Keine Sorge, ich habe Baba nichts verraten. Wo warst du?«
Etwas im Gesicht seines Bruders veränderte sich. Verachtung lag in seinem Blick.
»Das geht dich nichts an. Geh zurück in dein Zimmer.« Saits Stimme war dunkel und von einer Selbstsicherheit, die nicht zu einem Fünfzehnjährigen zu passen schien. »Du hast hier nichts zu suchen.«
Es ist absurd, dachte Timur, dass er mir Befehle gibt und erwartet, dass ich ihm gehorche. Jegliches Gefühl von Zuneigung verschwand. »Wo bist du gewesen, Sait?«
Um kurz nach fünf am Morgen schob Torben Winter entnervt die Bettdecke zurück. Er hatte schon seit einer halben Ewigkeit wach gelegen und sich von einer Seite auf die andere gewälzt, nachdem ihn mitten in der Nacht eine Gruppe betrunkener Jugendlicher mit ihrem lauten Gesang aus dem Schlaf gerissen hatte. Jetzt fühlte er sich wie gerädert.
Vor den bodentiefen Fenstern des Hausbootes war es trotz der frühen Uhrzeit bereits hell. Die Sonne stand mehrere Handbreit über dem Horizont und brach sich in der Oberfläche der Ostsee. Das Wasser schimmerte wie eine glitzernde Decke, der Himmel war blau und wolkenfrei.
Denise, seine Frau, schlief tief und fest und hatte offenbar weder von der Schlaflosigkeit ihres Mannes noch vom nächtlichen Radau etwas mitbekommen.
Die Dänen waren schon ein merkwürdiges Volk, dachte Torben, als er leise aus dem Schlafzimmer schlich. Sangen Vi vil fred her til lands, sankte Hans, sankte Hans, was auf Deutsch so viel bedeutete wie: Wir wollen Frieden hierzulande, Sankt Hans, Sankt Hans. Doch gleichzeitig weckten sie mit ihrer Grölerei die halbe Nachbarschaft.
Dabei hatten ihn die Bräuche und das gemeinsame Singen der Dänen am Vorabend noch sehr berührt. Zusammen mit einem deutschen Segler-Ehepaar hatten sie sich einem Fackelzug angeschlossen und später beim Anzünden des Feuers mithilfe der Textblätter, die man ihnen in die Hand gedrückt hatte, in den Gesang eingestimmt. Für den Moment aber wünschte er sich, sie hätten ihren Sommerurlaub wie jedes Jahr in der Toskana verbracht.
Er erledigte seinen morgendlichen Toilettengang, tauschte seine Schlafshorts gegen Laufklamotten und trank in der Küche ein Glas Leitungswasser, ehe er kurz darauf auf den Steg trat.
Vom Regen der letzten Nacht war nichts mehr zu spüren, die Luft war angenehm kühl und frisch. Sonnenstrahlen wärmten ihm das Gesicht, als er in gemäßigtem Tempo dem Weg am Ufer entlang folgte. Vorbei an der Ferienhaussiedlung, deren Gärten bis ans Wasser reichten, den Häusern in Hanglage und dem gegenüberliegenden Badesteg, ehe er schließlich in Höhe der Kirche seinen Rhythmus fand. Als er am Havnevej den Hafen und die Ziegelei hinter sich gelassen hatte, wurde die Besiedelung spärlicher, ehe die Straße in einem Wiesen- und Waldgebiet mündete und in einen Schotterweg überging.
Am Ufer waren noch die Reste des gestrigen Sankt-Hans-Feuers zu sehen, verkohlte Holzstämme und Zweige zwischen Steinen und Aschebergen. Ein Stück weiter den Weg entlang, hinter einer Baumreihe, bot sich ihm ein ähnliches Bild. Überbleibsel einer weiteren Feuerstätte. Im Vorbeilaufen stach ihm ein ungewöhnlich geformter Ast ins Auge, der zwischen ein paar niedergebrannten Scheiten hervorlugte. Sieht aus wie ein Fuß, schoss es Torben durch den Kopf. Doch natürlich täuschte er sich. Weshalb sollte dort ein Fuß liegen? Offenbar vernebelte ihm der fehlende Schlaf das Gehirn.
Trotzdem hielt er an, lief die wenigen Schritte zu der Stelle zurück und trat näher an das schwarze Gebilde heran. »Scheiße«, flüsterte Torben. Dort lag tatsächlich ein verkohlter, menschlicher Fuß, zudem war der untere Teil einer Wade zu sehen. Das restliche Bein verschwand unter den Scheiten. »Verfluchte Scheiße.« Er brach in hysterisches Gelächter aus. Im nächsten Moment ergoss sich in einem Schwall sein Mageninhalt über der Asche.
Rasmus Nyborg nahm das Fläschchen aus dem Flaschenwärmer, legte es kurz an seine Wange, um die Temperatur der Milch zu überprüfen, und stellte es auf den Küchentisch ab. Neben ihm quengelte die sechs Monate alte Ida in ihrer Babywippe.
»Ist der Papa nicht schnell genug?« Er löste den Sicherheitsgurt der Wippe und nahm seine Tochter behutsam auf dem Arm. Mit der freien Hand langte er nach der Milchflasche und ging mit dem nun laut jammernden Baby ins Wohnzimmer, um es sich dort auf der Couch gemütlich zu machen.
Sobald Ida den Trinksauger im Mund hatte, verstummte das Gequengel schlagartig. Rasmus atmete erleichtert auf. Die letzten Stunden waren anstrengender gewesen als eine Doppelschicht bei der Polizei.
Er hatte zum ersten Mal allein auf seine Tochter aufgepasst, da Camilla abends bei Freunden eingeladen war. Die Schwierigkeiten hatten direkt begonnen, nachdem seine Ex-Frau die Wohnung verlassen hatte. Das Baby hatte zwei Stunden am Stück geschrien. Er hatte Ida gefüttert und gewickelt, gesungen und geschunkelt, sie durch die Wohnung getragen, mal an die Schulter gelegt, in der Armbeuge oder im Fliegergriff. Rasmus hatte sogar den Staubsauger angestellt, das hatte bei Anton im gleichen Alter wahre Wunder bewirkt, doch nichts hatte geholfen. Gerade als er so weit war, Camilla auf dem Handy anzurufen, hatte die Schreierei urplötzlich aufgehört. Ida war in ihrem Bettchen eingeschlafen, allerdings nur, um anschließend im Stundentakt wieder aufzuwachen. Rasmus war auf der Wohnzimmercouch jedes Mal wie elektrisiert hochgeschreckt und ins Kinderzimmer geeilt, um den Schnuller zurück in Idas Mund zu befördern, nachdem sie ihn zuvor im Schlaf verloren hatte. Zurück im Wohnzimmer hatte er in der Dunkelheit nach Geräuschen seiner Tochter gelauscht, und gerade, wenn er es endlich geschafft hatte, wieder einzuschlafen, war der ganze Spaß von vorn losgegangen.
Camilla war irgendwann gegen halb drei nach Hause gekommen, doch zu dem Zeitpunkt hatte die Kleine dann tatsächlich friedlich geschlummert und sich erst wieder um halb sechs bemerkbar gemacht. Rasmus hatte Ida aus dem Bettchen geholt und ihr die erste Milch zubereitet, damit Camilla noch ein wenig weiterschlafen konnte.
Jetzt war es gerade mal kurz vor sechs, und er war vollkommen erledigt. Müde berührte er mit Kinn und Nase den zarten Flaum des Köpfchens und sog den Babygeruch ein. Die Kleine schmatzte leise. So anstrengend die Nacht auch gewesen war, er liebte dieses kleine Wesen mit einer Intensität, die er niemals für möglich gehalten hatte.
Ida war mit zweiwöchiger Verspätung kurz vor Weihnachten auf die Welt gekommen. Ihre Geburt hatte Rasmus nahezu überwältigt, und Erinnerungen an Anton hatten ihn dabei zunächst wie eine Tsunami-Welle überrollt. Antons Augen, seine mit Sommersprossen gesprenkelte Nase, sein Lachen, der Moment, in dem Rasmus ihn zum letzten Mal im Arm gehalten hatte. Antons Kopf an seiner Schulter, sein blasses Gesicht, der stumpfe Blick. Das Blut. Ein Bild, das sich für alle Ewigkeiten in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Seine Angst, ob er überhaupt dazu fähig sein würde, ein anderes Kind zu lieben, war die Wochen vor Idas Geburt übermächtig gewesen, doch angesichts seiner neugeborenen Tochter wurde sie von seinen Glücksgefühlen restlos weggeschwemmt. Camilla und er hatten gleichzeitig geweint und gelacht, erleichtert darüber, dass ihr Kind gesund und zugleich mit lautem Organ die Welt erblickt hatte. Ein perfekter Moment, in dem nichts außer ihrer kleinen Familie eine Rolle spielte. Seine Glücksgefühle hatten sogar noch angehalten, als er im Krankenhausflur auf Camillas Freund Liam getroffen war, der dort im roséfarbenen Hemd mit Button-Down-Kragen und einem Strauß roter Rosen bewaffnet gewartet hatte. Der Typ war ihm nach wie vor ein Dorn im Auge, doch solange er sich nicht als Idas Vater aufspielte, kam Rasmus irgendwie klar.
Ida gluckste. Die Milchflasche war leer, und er legte die Kleine an seine Schulter, wo sie zufrieden vor sich hin brabbelte. Irgendwann rülpste sie und schmiegte ihr Köpfchen in seine Halsbeuge. Er schloss die Augen.
»Rasmus.« Jemand rüttelte ihn sanft an der Schulter.
Er blinzelte.
Camilla stand in einem ärmellosen grünen Wickelkleid neben der Couch und blickte auf ihn hinunter. Ihre rotblonden Locken waren noch feucht vom Duschen und kringelten sich fröhlich auf ihren Schultern.
Er war offenbar eingeschlafen. Suchend blickte er sich um. »Wo ist Ida?«
»Ich habe sie in ihr Bett gelegt. Sie war kurz davor einzuschlummern.« Camilla schmunzelte. »Ihr müsst eine aufregende Nacht gehabt haben, so erledigt, wie ihr beide seid.« Sie musterte ihn. »Hat alles gut geklappt?«
Rasmus setzte sich auf. »Alles bestens.«
Camilla schaute wissend und lächelte. »Dein Handy hat gerade geklingelt. Ich dachte, ich geb dir besser Bescheid. Für den Fall, dass es etwas Wichtiges ist.«
»Danke. Wie spät ist es?«
Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Halb sieben. In der Küche steht übrigens Kaffee, falls du welchen möchtest.«
»Gerne.«
Camilla ließ ihn allein, und Rasmus gähnte und stand auf. Viel lieber hätte er sich noch eine Runde aufs Ohr gehauen, aber das ging natürlich nicht. Davon abgesehen, dass er einen Termin im Politigården hatte, dem Hauptquartier der dänischen Polizei, war er hier nur zu Gast. Sein Blick glitt für einen kurzen Moment durch den Raum. Er mochte Camillas Wohnung. Es war ein typischer Altbau: hohe Decken, Parkett und Kassettentüren. Die Wände waren in lichtem Grau gestrichen, die Einrichtung schlicht und modern. Eine Mischung aus geerbten Stücken und Designklassikern, darunter ein paar Überbleibsel aus ihrer gemeinsamen Wohnung in Aarhus. Die weiße PH5-Leuchte über dem Esstisch, der antike Barschrank, der noch von Camillas Großeltern stammte, und die schwarzen Wishbone Chairs, ein großzügiges Geschenk seiner Familie zu ihrer Hochzeit. Wie in der gesamten Wohnung waren auch hier überall Fotos verteilt. Von Camillas Eltern und ihren Großeltern, ihren Freunden und Freundinnen. Rasmus hatte sogar eins von sich und seiner Schwester Jonna entdeckt, doch auf den meisten Bildern war Anton zu sehen. Sein Blick blieb an der auf dem Boden ausgebreiteten Krabbeldecke hängen, die seine Mutter Freja in liebevoller Handarbeit aus alten Kleidungsstücken ihrer Kinder für ihre jüngste Enkelin genäht hatte. Die kleine Frottee-Maus, die Rasmus seiner Tochter am Abend mitgebracht hatte, lag noch darauf.
Ein schönes Zuhause, dachte Rasmus und ging in den Flur zur Garderobe. Wenn auch nicht sein Zuhause. Der Gedanke versetzte ihm einen leichten Stich, und er schob ihn rasch beiseite.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche und stellte überrascht fest, dass Søren Molin versucht hatte, ihn zu erreichen. Der Kollege von der Polizei Sønderborg gehörte genau wie Rasmus zu der deutsch-dänischen Sondereinheit, die bei Tötungsdelikten in der Grenzregion zusammengerufen wurde. Ihr letzter gemeinsamer Fall lag bereits einige Zeit zurück, doch nach den dramatischen Ereignissen im Spätsommer des letzten Jahres war das Team zusammengerückt und hatte auch privat Kontakt gehalten.
Rasmus hörte seine Mailbox ab. In Egernsund, das zur Kommune Sønderborg gehörte, gab es einen Leichenfund. Er betätigte umgehend die Rückruftaste.
Es war bereits halb elf, als Rasmus rund dreihundert Kilometer von Kopenhagen entfernt in seinem hellblauen Bulli die Landstraße 401 kurz hinter der Egernsundbroen verließ und in den Ort hineinfuhr, in dem er vor Jahren schon einmal zum Segeln gewesen war. Egernsund lag auf der Halbinsel Broager, eingebettet zwischen sanfter Hügellandschaft und Flensburger Förde, und war hauptsächlich für seine Klappbrücke und die Ziegelherstellung bekannt.
Abgesehen von dem schmalen Strandabschnitt mit seinen Badestegen, dem kleinen Leuchtturm und den vereinzelten Häusern in Hanglage gab es wenig Malerisches. Schlichte Ziegelgebäude und alte Schornsteine prägten das Ortsbild.
Während die Strände und Campingplätze der anderen Küstenorte hoffnungslos von den deutschen Nachbarn überfüllt waren, verirrten sich hierher nur selten Touristen, und falls doch, dann handelte es sich meistens um Segler vom naheliegenden Jachthafen Marina Minde oder um Wanderer, die den Spuren des Gendarmstiens folgten, der einst als Patrouillenweg entlang der deutsch-dänischen Grenze gedient hatte. Doch die Einheimischen blieben ohnehin lieber für sich, es waren zurückhaltende, freundliche Menschen mit einem starken Gemeinschaftsgefühl.
Rasmus erreichte den überschaubaren Hafen, dessen größte Attraktion neben der Klappbrücke und einem Anleger mit einer Skulptur aus bunt glasierten Ziegelsteinen ein Imbiss auf einem großen Parkplatz war. Kurz war er versucht, anzuhalten, um sich schnell einen Hotdog und einen Kaffee zu holen, doch er war ohnehin spät dran und fuhr weiter.
Die Straße führte nun direkt am Ufer entlang. Linker Hand befand sich Nybøl Nor, ein nördlicher Seitenarm der Förde. Kleine bunte Boote lagen an den Stegen vertäut und wippten fröhlich auf den Wellen. Zur Landseite reckte sich der Schornstein der örtlichen Ziegelei in die Höhe.
Die Häuserdichte nahm weiter ab, und auf einem der Stege standen zwei einsame Angler. Schließlich ging der Asphalt in einen Schotterweg über. Eine idyllische Wiesen- und Waldlandschaft erstreckte sich zu beiden Seiten der unbefestigten Straße. Kleine Steinchen stoben auf und flogen gegen die Karosserie des VW-Busses. Rasmus drosselte das Tempo. Hinter einer Biegung sah er bereits von Weitem die Einsatzfahrzeuge, die entlang einer Baumreihe abgestellt worden waren. Rot-weißes Polizeiband versperrte die Durchfahrt, ein paar Schaulustige drängelten sich um die beste Sicht. Zwischen den Bäumen leuchteten die weißen Spurensicherungsoveralls der Kriminaltechniker auf.
Rasmus parkte seinen Bulli auf dem seitlichen Grünstreifen und zog sich Schutzkleidung über, ehe er dem Uniformierten am Durchgang seinen Dienstausweis zeigte und dem angelegten Trampelpfad folgte. Wind kam auf und ließ das Absperrband flattern. Leichter Brandgeruch stieg ihm in die Nase.
Eine Lichtung tat sich auf. Ein paar Feuerwehrleute standen zusammen vor ihren Einsatzfahrzeugen, am Ufer kroch ein halbes Dutzend Spurensicherer um eine kreisrunde Brandstelle herum. Weitere Kriminaltechniker suchten in den angrenzenden Gebüschen und am Wasser nach Spuren.
Der Rauch des Feuers hatte sich längst verzogen, doch unter dem nahezu wolkenfreien Himmel hing noch immer Brandgeruch in der Luft.
Søren Molin stand etwas abseits und telefonierte, ein vollbärtiger Hüne mit kurz geschorenen blonden Haaren, die jetzt unter der Kapuze seines Overalls versteckt waren.
Bei Sørens Anblick verspürte Rasmus für einen Moment tiefe Dankbarkeit, dass sein Kollege sich nicht nur körperlich von seiner Schussverletzung erholt hatte, sondern mit der Genesung auch sein sonniges Gemüt zurückgekehrt war. Doch er nahm auch den Schatten wahr, der hin und wieder über das Gesicht des Polizisten huschte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Dass er dem Tod für kurze Zeit näher gewesen war als dem Leben, das ging auch an einem Søren Molin nicht spurlos vorüber.
Sein Kollege beendete sein Telefonat und kam ihm entgegen.
»Hej, Rasmus.« Søren schlug ihm zur Begrüßung mit seiner schaufelgroßen Hand freundschaftlich auf die Schulter. Dabei blickten seine Augen ungewöhnlich ernst.
»Schön, dich zu sehen.« Rasmus lächelte angespannt. »Ich wünschte nur, die Umstände wären andere.«
Søren nickte. »Die Kriminaltechniker sind schon seit gut zwei Stunden dabei, die Leiche freizulegen. Oder das, was davon übriggeblieben ist.«
Nun nickte auch Rasmus. Bei der Bergung von stark verkohlten Brandleichen musste wegen der großen Brüchigkeit behutsam vorgegangen werden, insbesondere wenn wie im vorliegenden Fall der Körper zusätzlich mit Brandschutt bedeckt war und die Gefahr bestand, dass verbliebene Identitätsmerkmale wie locker sitzende Zähne, Schmuckgegenstände oder Bekleidungsreste verloren gingen. »Sehen wir es uns an.«
Schweigend gingen die beiden Ermittler die wenigen Schritte zur Feuerstelle. Einer der am Boden hockenden Kriminaltechniker erhob sich, und Rasmus erkannte Henrik Knudsen, den Chef der Spurensicherung, anhand seiner buschigen Brauen und dunklen Knopfaugen, die zwischen Kapuze und Mundschutz hervorlugten.
»Hej, Rasmus.« Knudsen trat beiseite und gab die Sicht auf die Feuerstelle frei.
Verkohltes Holz und Äste. Haufenweise Asche. Im Zentrum lagen die Überreste eines Menschen.
Rasmus sog scharf die Luft ein. Während seiner Zeit als Mordermittler hatte er schon vieles gesehen. Aber das hier war übel. Sein Magen rebellierte.
»Heilige Scheiße«, flüsterte Søren neben ihm.
Der Oberkörper der Leiche war nahezu vollständig verkohlt, die knöcherne Schädeldecke aufgebrochen, das darunterliegende Gesicht eine einzige schwarze Masse. Unterhalb des Brustkorbs waren die Darmschlingen ausgetreten, Arme und Beine hatten eine seltsam gekrümmte Haltung. Dort, wo zuvor die Hände gewesen waren, befanden sich nur noch formlose Stümpfe. An den unteren Extremitäten war die Haut nicht vollständig versengt, zahlreiche Rupturen und Hautaufplatzungen entblößten freiliegende Muskelschichten. An den Füßen steckten noch die mit Ruß bedeckten, von der Hitze stark beschädigten Schuhe. Sneakers mit dicken Sohlen. Am Hals und am Rumpf waren geschmolzene Bekleidungsreste erkennbar.
Rasmus schluckte. Auch nach vielen Jahren in seinem Job wurden Momente wie dieser nie zur Routine. Den Anblick der furchtbar zugerichteten Leiche würde er vermutlich nicht so schnell wieder vergessen. Er hätte nicht einmal sagen können, ob die sterblichen Überreste einem Mann oder einer Frau gehörten.
»Hoffentlich wurde das Opfer nicht bei lebendigem Leib verbrannt«, murmelte sein Kollege.
Rasmus kämpfte mit einer erneuten Übelkeitswelle. Reiß dich zusammen.
»Ob die Leute währenddessen hier gefeiert haben?«, schob Søren hinterher. »Oh Gott, ich glaube, ich kann nie wieder zu einem Sankt-Hans-Feuer gehen.«
»Geht mir genauso.« Rasmus löste seinen Blick von der Leiche und wandte sich an Knudsen, der gerade an einem Spurensicherungskoffer herumhantierte. »Habt ihr einen Brandexperten verständigt?«
Knudsen nickte. »Ist bereits auf dem Weg hierher.« Der Blick des Kriminaltechnikers wanderte zu einem Punkt hinter dem Rücken des Ermittlers. »Endlich. Die Rechtsmedizin.«
Rasmus drehte sich um und entdeckte Dr. Adam Larsen vom zuständigen Institut in Odense mit seiner Arzttasche in der Hand und seinem Assistenten im Schlepptau. Beide Männer trugen die obligatorische Schutzkleidung.
»Guten Tag, die Herrschaften.« Dr. Larsen warf hinter seiner randlosen Brille einen prüfenden Blick in die Runde, ehe er sich der Leiche zuwandte.
Søren trat neben Rasmus. »Es gibt einen Zeugen, der beobachtet hat, wie das Feuer aufgeflammt ist. Gegen acht Uhr gestern Abend. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch das offizielle Sankt-Hans-Feuer weiter vorne am Ufer angezündet. Es sieht so aus, als hätten der oder die Täter es extra so abgepasst.«
»Also ein Ortskundiger?«
»Davon ist auszugehen.«
»Wurde der Zeuge schon befragt?«
Søren nickte. »Ein Wanderer, der in einem der Reihenhäuser vorne an der Straße in einer Ferienwohnung übernachtet hat. Er stand zu dem Zeitpunkt auf dem Balkon im zweiten Stock und konnte den Rauch beobachten, allerdings hat er sich darüber nicht weiter gewundert. Gestern Abend brannten die Feuer ja quasi überall an der Küste. Erst als er das Polizeiaufgebot heute Morgen gesehen hat, ist ihm klar geworden, dass etwas passiert sein muss.«
»Hat der Mann noch etwas Auffälliges beobachten können?«, hakte Rasmus nach.
Søren schüttelte den Kopf. »Dafür war die Entfernung dann doch zu groß. Außerdem war gestern Abend halb Egernsund auf den Beinen.« Er ließ seinen Blick schweifen. Schweiß stand auf seiner Stirn. »Hier allerdings nicht.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Ein deutscher Urlauber. Torben Winter. Er hat zusammen mit seiner Frau eines der Hausboote in Marina Minde gemietet und war zum Joggen unterwegs.« Søren wischte sich mit dem Ellenbogen den Schweiß von der Stirn. »Der Mann war völlig fertig, hat alles vollgekotzt. Fast wäre der uns hier noch zusammengeklappt. Ich musste ihn nach der Befragung mit einem Streifenwagen zurückfahren lassen.«
Rasmus ließ seinen Blick nachdenklich zur Feuerstelle schweifen, wo die Leiche gerade von Dr. Larsen in Augenschein genommen wurde. Wer tat so etwas Schreckliches? Vor einiger Zeit hatte er von einer südamerikanischen Sekte gehört, die Menschenopfer im Feuer darbrachte. »Was glaubst du, womit wir es hier zu tun haben? Ein Ritualmord?«
»Oder der missglückte Versuch einer Leichenbeseitigung.« Søren verzog grimmig das Gesicht.
Er könnte richtigliegen, dachte Rasmus. Schweigend beobachteten sie den Rechtsmediziner bei seiner Arbeit. Hin und wieder diktierte Dr. Larsen seinem Assistenten Stichworte zur äußeren Beschaffenheit der Leiche für den späteren Bericht.
Rasmus trat an den Rechtsmediziner heran. »Kannst du schon sagen, ob das Opfer noch gelebt hat?«
»Du meinst beim Ausbruch des Feuers?« Dr. Larsen krauste die Stirn unter seiner Kapuze. »Um mich da festzulegen, muss ich mir die Leiche erst in aller Ruhe im Institut ansehen.«
Rasmus nickte. Er hatte keine andere Antwort erwartet, trotzdem war es einen Versuch wert gewesen. Er wandte sich wieder Søren zu. »Ich frage mich, wie der Täter das Holz hertransportiert hat.«
»Vielleicht war hier alles schon für das Feuer vorbereitet, und er hat lediglich die Gelegenheit genutzt.«
»Möglich. Wissen wir schon, wer für die Aufschichtung der Sankt-Hans-Feuer verantwortlich war?«
Søren schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, dem nachzugehen. Bislang war ich der einzige Ermittler vor Ort.« Er grinste schief. »Jetzt sind wir immerhin schon mal zu zweit. Ein paar mehr Leute wären allerdings nicht schlecht.«
Rasmus nickte. »Ich regle das.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer der Leitstelle in Esbjerg. Während er darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung jemand abnahm, verharrte sein Blick auf der Feuerstelle. Ein Grab aus Asche, schoss es ihm durch den Kopf. Wer lag dort? Ein Mann? Eine Frau? Oder war es am Ende ein Kind?
Sebastian schlug die Augen auf. Er hatte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge, und hinter seiner Stirn rotierte der Schmerz wie ein Presslufthammer.
Sonnenlicht drang durch einen Spalt seiner Jalousie und warf einen Streifen helles Licht in sein Zimmer. Wie spät war es? Das Display seines Handys auf dem Nachttisch war schwarz.
Sebastian kramte in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen an den vergangenen Abend, und ihm fiel ein, dass er am Sankt-Hans-Feuer gewesen war. Später als alle anderen.
Jemand klopfte leise an seine Zimmertür. »Basti, bist du wach?« Das war die Stimme seiner Mutter. Er konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn sie ihn so nannte. Schließlich war er keine drei mehr.
Kiersten Ravn betrat den Raum. »Geht es dir besser?«
Einen kurzen Moment konnte Sebastian die Frage nicht einordnen, dann fiel ihm wieder ein, dass er gestern Morgen behauptet hatte, krank zu sein. In Wahrheit hatte er den furchtbarsten Kater seines Lebens gehabt, inklusive kompletten Filmriss.
Seine Mutter rümpfte die Nase. »Sag mal, hast du Alkohol getrunken?« Sie zog die Jalousie hoch und riss das Fenster auf.
Flutartig wurde es hell im Raum.
Sebastian hielt sich die Hand vor Augen. »Mensch Mama, muss das sein?« Er setzte sich ein wenig auf, was einen stechenden Schmerz in seinem Hinterkopf zur Folge hatte. Ihm entfuhr ein Stöhnen.
Kiersten Ravn stemmte die Arme in die Hüfte und musterte ihn streng. »Sag die Wahrheit«, forderte sie ihn auf. »Bist du krank, oder hattest du zu viel Bier?«
»Beides«, rutschte es ihm heraus, und er fügte schnell hinterher: »Aber bis gestern Abend war ich wirklich krank.«
»Aha, dann geh jetzt duschen.« Seine Mutter war einen Kopf kleiner als er und wirkte dabei so zart und schmal, dass man meinen könnte, jeder Windhauch würde sie umwehen, was ihrem energischen Auftreten jedoch keinerlei Abbruch tat. »Und räum deinen Saustall auf, ehe du zur Schule gehst, ansonsten befördere ich deine Sachen bald in den Müll.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand aus dem Zimmer.
Sebastian sank mit einem Stöhnen zurück ins Kissen. Wäre er doch bloß bei der Variante mit der Magenverstimmung geblieben. In der Schule tat sich in den letzten Tagen vor den Ferien ohnehin nichts mehr. Seine Mutter konnte wirklich ungemein nerven. Als hätte sie seine Gedanken gehört, stand Kiersten Ravn im nächsten Augenblick wieder in der Tür.
»Sag mal, hast du Elin seit Montag gesehen?« Ein besorgter Ton schwang in ihrer Stimme mit.
Sebastian räusperte sich, um die plötzliche Enge in seinem Hals zu vertreiben. »Warum fragst du?«
»Nora hat vorhin angerufen und nach ihr gefragt. Offenbar ist Elin nicht nach Hause gekommen.« Seine Mutter schien ihn mit ihrem Blick zu durchbohren. »Weißt du etwas darüber?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie zuletzt am Montag in der Schule gesehen.«
»Gut, dann steh jetzt auf. Auch die dritte Stunde fängt irgendwann mal an.« Kiersten Ravn warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Und zwar in exakt fünfundsechzig Minuten, die Pause bereits eingerechnet. Also beeil dich.« Seine Mutter verließ erneut sein Zimmer.
Sebastian schob die Decke beiseite. Seine Kopfschmerzen hatten sich in der letzten Minute gefühlt verdreifacht. Warum hatte seine Mutter auch von Elin anfangen müssen?
Er stand auf und durchwühlte die Schublade seines Schreibtisches nach dem Handyladegerät. Schließlich zog er es zwischen einem Dutzend anderen Kabeln heraus und schloss sein Smartphone an.
Sebastian wandte sich dem Kleiderschrank zu und stellte fest, dass er kein einziges sauberes Oberteil mehr besaß. Er fischte sich aus dem Klamottenstapel auf dem Boden ein zerknittertes T-Shirt heraus, das nicht ganz so stark roch, und schnappte sich die letzte Unterhose aus der Kommode.
Sein Handy piepte. Das Display zeigte einen eingegangenen Anruf auf seiner Mailbox an. Er hörte die Sprachnachricht ab. Während er Nora Poulsens besorgter Stimme lauschte, die nach Elin fragte, starrte er auf seinen rechten Handrücken. Die Schwellung am Knöchel war zurückgegangen, und auch die Rötung war verblasst. An den Stellen, wo die Haut aufgeplatzt war, hing verkrustetes Blut.
Sebastian wechselte in den Messenger und las zum hundertsten Mal Elins letzte Nachricht durch. Obwohl er die Worte mittlerweile auswendig kannte, waren seine Gefühle unverändert geblieben. Er war fassungslos. Verzweifelt. Wütend. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Dann löschte er die Nachricht.
Dunkle Wolken türmten sich am Himmel bedrohlich übereinander, und Nieselregen setzte ein. Rasmus fluchte, als die ersten Tropfen den Weg an der heruntergelassenen Kapuze vorbei in seinen Nacken fanden. Das dänische Wetter war unberechenbar. Der Vormittag hatte sich mit über zwanzig Grad noch sommerlich warm gegeben, mittlerweile war es Nachmittag und die Temperaturen rapide in den Keller gesunken. Nichts erinnerte mehr an den Jahrhundertsommer vom Vorjahr.