Die Versunkene Hexe

Von Göttern und Hexen

Laura Labas

Inhalt

Die alten Götter

Die Jäger sahen erneut das Reh

Prolog

Und die Hochzeit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Mit Kreide machte er

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Der Boden erbebte,

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Es war einmal ein Prinz,

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Ach, wenn ich nur

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Ein letztes Mal

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Dann befahl ihr die Kammerfrau

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Zwei von ihren Tränen

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Rotkäppchen aber

Kapitel 70

Die alten Götter

Garvan – Gott der Erde

Karel – Gott des Kampfes

Lesha – Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit

Tujan – Gott des Todes und des Lebens

Maelis – Göttin des Waldes

Avel – Gott des Wassers

Jestin – Gott des Windes

Themera – Göttin des Feuers


Die neuen Götter


Yann – Gott des Kampfes

Diama – Göttin des Triumphes

Servane – Göttin der Wahrheit

Ewen – Gott des Todes

Kole – Gott des Feuers

Briny – Göttin des Reichtums

Thora – Göttin der Diebe und Halunken

Venou – Göttin der Meere

Aza – Gott des Waldes

Briac – Gott der Erde

Finian – Gott des Windes

Moran – Gott der Berge


Charaktere


Morgan Vespasian – Schmugglerin und Knochenhexe

Aithan Zaheda – rechtmäßiger Thronfolger Atheiras

Jeriah Cerva – Prinz von Neu-Atheira, Webhexer

Rhea Khemani – Webhexe

Cáel – Gott des Blitzes

Erik – Hauptmann der königlichen Leibgarde

Olivia Weryn – verfluchte Kronprinzessin von Vadrya

Neel Famurr – Assassine, ehemaliger Leichenfresser

Mathis – Aithans Vetter

Cardea – Bluthexe

Garth Larkin – Alpha der Schmugglerwölfe

Dux Aliquis – Hohe Priester der Bluthexe

Die Jäger sahen erneut das Reh

mit dem goldenen Halsband,

verfolgten es durch

Tal und Strauch,

doch es war zu flink für sie

und so kehrten sie

mit leeren Händen

zurück nach Haus.

Prolog

Cáel spürte die Kälte wie ein lebendiges Wesen, das seine Wirbelsäule hinaufkroch. Vor Stunden waren er und seine Mutter aufgebrochen, hatten sich einen Weg durch den dichten Wald erkämpft, während sich der zugezogene Himmel schälte. Dicke weiße Schneeflocken schlüpften durch das kahle Geäst und landeten um ihn herum auf dem gewundenen Pfad, der sich endlos weiterschlängelte. Cáels Füße, nur halb so groß wie die seiner Mutter, fühlten sich an wie der zugefrorene See, an dem sie vor ein paar Tagen vorbeigewandert waren.

»Warum kannst du uns nicht mit deinem Feuer wärmen?«, nörgelte er; beschwerte sich, weil ihm sonst die Kälte den Verstand raubte. Die Stille, die sich wie ein unüberwindbares Hindernis zwischen Themera, Göttin des Feuers, und ihm, Gott des Nichts, aufgebaut hatte.

»Ich habe es dir bereits erklärt, Cáel«, sagte sie mit deutlicher Ungeduld in der Stimme; doch sie antwortete und hielt nicht an diesem nagenden Schweigen fest.

»Erklär es mir noch einmal«, bat er, ruhiger dieses Mal und mit mehr Zuversicht in der Stimme. Als würde durch die Antwort seiner Mutter die Welt weniger grausam, der Wald weniger dunkel und die Jahreszeit weniger kalt werden. Ein Traumgespinst, aus dem er schon sehr bald gerissen werden würde, doch noch klammerte er sich mit seinen kleinen, blutigen Händen daran.

Stirnrunzelnd betrachtete er die aufgerissene Haut, das Blut, das seines und nicht seines war. Monster hatten sie verfolgt. Monster hatten sie gefunden. Sie hatten fliehen müssen. Wieder einmal. Laufen. Immer weiter.

»Die Schergen der neuen Götter können es spüren, wenn wir unsere Magie zu oft einsetzen. Eine Flamme schadet uns vielleicht nicht, doch je länger sie brennt, je heller sie wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns finden.« Er stolperte über eine tückische Weidenwurzel und fiel der Länge nach hin.

Themera drehte sich abrupt zu ihm um, der Saum ihres langen Umhangs wischte über den Boden, wirbelte Schmutz und Blätter auf, als sie sich vor ihn hinkniete. Mit ihren ebenfalls blutbesudelten Händen umfasste sie seine Schultern, schenkte ihm Kraft und half ihm beim Aufstehen.

Eine Träne kullerte ungebeten aus seinem Auge und er wischte sie sich grob von der Wange. Er durfte nicht weinen. Musste stark sein.

Fast … Fast wären sie wie Wildschweine ausgeweidet worden, bereit für das nächste Göttermahl. Fast wäre Cáel gestorben, bevor er herausfinden konnte, was für ein Gott er war. Fast wäre er niemals groß und stark geworden, um seine Mutter zu beschützen – so wie sie ihn seit seiner Geburt beschützte.

»Du bist so mutig«, wisperte sie mit einem Kratzen in der Stimme. Seine Mutter war wunderschön, besaß langes schwarzes Haar und stechend grüne Augen. Hell und doch voller Tiefe. Gleich den seinen. »Und tapfer, aber ich verspreche dir, es wird bald vorbei sein. Kein Davon­laufen mehr. Keine Kälte mehr. Halte noch ein bisschen länger durch.«

Er traute seiner Stimme nicht, war sicher, sie würde zittern und zerbrechen wie Glasscherben unter den Schmerzen seines Körpers, deshalb nickte er. Presste die Lippen zusammen und reckte das Kinn, ehe er nach Themeras ausgestreckter Hand griff und ihr durch den düsteren, düsteren Wald folgte.

Die Äste über ihnen ächzten unter der Last des Schnees, während Mutter und Sohn weiter voranschritten, und Cáel fühlte sich, als würde die Seele des Waldes, die Seele seiner Tante Maelis, direkt in seine eigene sehen. Würde erkennen, dass Mut und Tapferkeit nur etwas Dunkles kaschierten, das er seiner Mutter niemals zeigen dürfte.

Feigheit.

Kaum gelang es ihm, einen Schritt vor den anderen zu setzen, so lähmend war die Furcht tief in seinen Knochen. Die kalte Hand der Vorahnung und der Erinnerung legte sich um seinen Nacken, drückte immerfort zu, damit er sie nie vergaß.

Damit er nie die Angst vergaß.

Themera merkte nichts von seinem inneren Zwiespalt. Sie sah bloß den Sohn, den sie glaubte, erzogen zu haben. Stark und den Feinden trotzend, die sich enger um sie schlossen.

Ganz gleich, was sie versprochen hatte, es würde nie ein gutes Ende für sie geben. Niemals Wärme. Niemals ein Bett zum Schlafen und niemals eine Zukunft, in der ihre Familie vereint war.

»Garvan«, flüsterte er. »Lesha, Tujan …«

»Was sagst du da?«

»Maelis, Avel, Jestin, Karel …«, setzte er die Aufzählung der Götter fort. Der einzig wahren Gottheiten. »Themera.«

Er fing den Blick seiner Mutter auf. Ein sanftes, beinahe trauriges Lächeln zupfte an ihren roten Lippen. »Cáel«, raunte sie und gab ihm damit das größte Geschenk, das er sich hätte vorstellen können.

Schweigend wanderten sie weiter. Ihre Hände fest miteinander verbunden.

»Wir sind da, mein kleiner Gott«, weckte ihn Themera. Er hatte im Gehen gedöst, war seiner Umgebung kaum gewahr gewesen, doch nun blinzelte er heftig gegen den Schnee an, bis er die dunklen Umrisse eines riesigen, seltsamen Tempels ausmachen konnte.

»Was ist das?«, fragte er, als sie vor dem gusseisernen Zaun hielten und die tanzenden Lichter hinter den bleiernen Fenstern betrachteten.

»Ein Kloster.« Themera drückte einmal seine Hand, die er kaum noch spürte. »Hier leben Mönche, die ihr Leben der Huldigung der Götter widmen. Sie werden dich warm halten. Mit ihrem Glauben. Mit ihrem Feuer.«

Zunächst überstrahlte die Vorfreude auf ein warmes Bett alles andere und Cáel konnte es kaum erwarten, den Zaun zu überwinden und durch das Tor zu schreiten. Als er jedoch Themera vorwärtsziehen wollte und sie sich dagegen wehrte, prasselten die Worte ein weiteres Mal, stumm und nur in seiner Erinnerung, auf ihn ein. Sie werden dich warm halten.

»M-Mutter?«, stotterte er und die Feigheit und die Angst und die Furcht und alles, was er zurückgehalten hatte, brandeten gegen die Klippen seines Verstandes und der Stein bröckelte. Das Herz wurde ihm schwer und die Luft setzte sich in seinem Hals fest, während die kalte Hand erneut drohend in seinem Nacken lag.

Themera ging vor ihm in die Hocke, streckte ihre freie Hand aus und strich ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht. Seine Ohren brannten, als sie schutzlos dem Wind ausgesetzt wurden.

»Du musst mich vergessen, mein kleiner Gott«, erklärte sie ihm. »Hier beginnt dein neues Leben und du musst vergessen, was war und wer wir sind, hast du verstanden?«

»Das will ich nicht«, widersprach er und verfluchte innerlich seine bebenden Lippen. Aber an seinem Körper gab es nichts mehr, was nicht zitterte, und vielleicht konnte Themera die Schwäche in den dunkelsten Tiefen ja doch nicht erkennen. Vielleicht sah sie in ihm wirklich einen Gott. Ihren kleinen Gott.

»Du musst«, betonte sie, unnachgiebig, und in ihren Augen brannte ein Feuer, das ihn zu verletzen drohte.

Normalerweise wandte sie sich stets ab, wenn das passierte. Wenn sie ihre Gefühle nicht im Zaum halten und ihre Macht ausbrechen konnte, aber nicht dieses Mal. Dieses Mal ließ sie seine Hand los und packte ihn stattdessen an den Oberarmen, sah ihn mit dem aufwallenden Feuer an.

»Ich verfluche dich, mein Sohn. Mit der Kraft einer Mutter und der Macht einer Göttin verfluche ich dich. Unschuldig, schwach und allein wirst du sein. Ein Gott nicht länger, ein Mensch für immer.«

Ein brennender Schmerz schoss durch ihn hindurch, konzentrierte sich auf seine Brust, direkt über seinem Herzen und jedes weitere Wort seiner Mutter ging in dem Rauschen in seinen Ohren unter. In der Panik, die ihn erfasste, als er sich nicht mehr wie er selbst fühlte.

Als wäre ein Teil seiner Seele abgerissen und ihm entwendet worden.

»Sei ein guter Junge«, flüsterte sie, bevor sie sich abwandte und im Schneesturm davonschritt. Eine dunkle, fremde Gestalt. Er wollte ihr hinterherlaufen. Musste ihr nachgehen, doch er konnte sich nicht bewegen. Seine Füße klebten auf dem gefrorenen Boden fest.

Junge.

Junge.

Kein kleiner Gott mehr. Nunmehr ein Junge.

Dieses Mal wischte er die Tränen nicht weg, als sie über seine bleichen Wangen rannen. Er sagte nichts, als die Mönche ihn fanden und in ihr Heim brachten. Er fühlte nichts, als er in ihrer Mitte erwachsen wurde.

Immerzu sah er nur die schwindende Gestalt im Schnee, die einst seine Mutter gewesen war.

Und die Hochzeit

des Königssohnes

mit der kleinen Prinzessin

erwartete das Volk.

Es gab niemanden,

der sich nicht erfreute,

dem Feste beizuwohnen.

Kapitel 1

Er hatte sie getötet.

Cáel hatte sie getötet. Hatte das Blut gesehen, das sich unter ihrem leblosen Körper sammelte.

Ihre Lider geschlossen. Kein Atem ihre Lippen verlassend.

Er hatte sie mit seinen eigenen verräterischen Händen getötet.

Also wie war es möglich, dass er sie nur Augenblicke zuvor lebend gesehen hatte?

Wie war es möglich, dass Morgan lebte, wenn er das Leben der Frau, die er liebte, beendet hatte?

Um den Flu ch seiner Mutter zu brechen?

Um die Verbindung zu Morgan zu zerstören?

Mühsam rappelte er sich auf, während seine Sinne sich nicht ordnen ließen. Er war gegen eine Säule geschmettert worden und nun konnte er sich nicht mal mehr daran erinnern, warum er sich überhaupt in diesen Kampf eingemischt hatte. Alte Götter gegen neue. Aithans Anhänger gegen Jeriahs. Webhexer gegen Blutpriester und Heilerinnen.

Seine Finger zuckten und Blut floss seinen Arm herab. Die Schnittwunde unter seinem zerrissenen Hemd schloss sich allmählich. Mit sorgsamen Blicken suchte er den Thronsaal ab, in dem sich Berge von Leichen gebildet hatten, Scherben knirschten unter den schweren Stiefeln der Überlebenden, die sich noch wehrten. Servane, neue Göttin der Wahrheit, kämpfte gegen Garvan und Karel; wehrte sich gegen das Aufbäumen der Erde und den tödlichen Fäusten ihres Vaters. Tausend Jahre waren sie im Nichts versunken, nun bestraften sie ihre Kinder für den Schlaf. Servane schrie auf, als sich Karels Faust in ihre Brust bohrte. Garvan legte ihr von hinten die Hände an die Schläfen und drückte zu.

Cáel kniff die Augen zusammen, wollte dem Abschlachten nicht länger beiwohnen. Seine Gedanken kreisten nur noch um Morgan.

Sie lebte.

Er hatte es nicht sehen wollen. Die Wahrheit in dem dunklen Ort seines Herzens. Nur weil er ihre Wunden nicht mehr spiegelte, nur weil er sie vergessen hatte, nur deshalb … war die Verbindung nicht einfach verschwunden. Mit dem Opfer hatte er endlich den Fluch, den Themera auf ihn gelegt hatte, gebrochen, doch der Wunsch, der Morgans und sein Leben miteinander verknüpfte, war geblieben. Unumstößlich.

Für immer in seine Seele gebrannt.

Wut über diese unvorhergesehene Entwicklung vermischte sich mit bodenloser Erleichterung, dass sie noch lebte.

Morgan war nicht hinter den Schleier getreten. Sie wandelte noch auf Erden. Es gab noch eine Möglichkeit, sie zu … Was? Sie von seinen Gefühlen zu überzeugen?

Er stieß ein selbstironisches Lachen aus inmitten des Saals, von niemandem beachtet.

Sobald sie ihm gegenüberstand, würde sie versuchen, ihn zu töten. Es gab keine Zukunft für sie. Hatte es nie gegeben. Natürlich waren ihre Gefühle ihm gegenüber nie echt gewesen. Er hatte es in ihren Blicken gesehen, in ihrem Kuss gespürt. Für sie gab es nur den Hauptmann und er sollte sich damit abfinden. Hatte sich damit abgefunden, als er den Dolch in ihren Bauch gerammt hatte, in dem Moment, als sie sich für eine Sekunde gestattet hatte, ihm zu vertrauen. Ja, vielleicht hatte er sie bestrafen wollen für ihr falsches Spiel.

Für das Herz, das nicht ihm gehörte.

Aithan saß auf dem Thron, nach dem er sich so verzweifelt gesehnt hatte. Ein kleiner Junge wie … Er spann den Gedanken nicht weiter. Konnte sich selbst nicht in dem abfälligen Licht sehen, in das er Aithan tauchte. Olivia stand neben ihm, die Augen weit aufgerissen. Sah sie die Zerstörung, die sie über Yastia hereingebracht hatten? Fühlte sie den Schmerz der sterbenden Priester, Adligen und Heilerinnen?

Warum beschäftigte sich Cáel plötzlich mit den Gefühlen anderer?

Morgan. Es war ihre Schuld.

Wenn sie nur tot geblieben wäre. Wenn sie nur davongelaufen wäre …

Er war armselig. Erbärmlich. Dass er sich darüber Gedanken machte.

Sich von den verebbenden Kämpfen abwendend, stieg er die Treppe nach oben, die auf den Balkon führte. Von dort aus konnte er durch die zerstörten Fenster in die Nacht hinaussehen. Auf die brennende Stadt. Aithan hatte seinen Leuten freie Hand gewährt, sich zu nehmen, was sie wollten. Am Morgen würde er als neuer König offiziell den Thron besteigen und Cáel … Cáel fühlte sich beinahe so verloren wie damals im Schnee.

»Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.« Karel hatte sich ihm angeschlossen. Er legte seine Unterarme auf der geschwungenen Balustrade ab und hielt den Blick auf die Zerstörung gerichtet, anstatt die Stadt anzusehen. »Nur durch deinen Ehrgeiz ist es uns möglich geworden, wieder unsere Rollen einzunehmen. Ein paar der Kindsgötter konnten fliehen, aber wir werden sie finden …«

Kindsgötter. Cáel hasste den Begriff, so beschrieb es doch auch ihn. Nur weil er zwei Gottheiten als Eltern besaß, machte ihn das nicht weniger zu einem ihrer Kinder. Er war weder ihnen gleichgestellt noch den Halbgöttern, die sie nun finden und jagen mussten. Was tat er hier eigentlich?

Er hatte Jahrhunderte damit verbracht, einen Weg zu finden, die alten Götter zu erwecken, um sich endlich irgendwo zugehörig zu fühlen, und nun wünschte er sich an einen anderen Ort.

»Ich habe getan, was ich tun musste«, antwortete er, als Karels Ungeduld fast greifbar wurde. Der Gott das Kampfes war seinem Sohn vor seiner Erweckung vielleicht nie zuvor begegnet, dennoch schien er in Cáels Innerstes blicken zu können.

»Und nun werden wir sie für den Tod deiner Mutter bestrafen«, bohrte Karel weiter, als würde er Cáels Treue testen wollen.

»Natürlich.« Cáel neigte den Kopf.

Ein gellender Schrei lenkte Karels Aufmerksamkeit von ihm ab und zurück zum Thronsaal, in dem sich eine Heilerin gegen die grobe Behandlung eines Webhexers wehrte. Die überlebenden Bluthexen würden allesamt gefangen und irgendwo eingepfercht werden. Noch wusste Cáel nicht, was Aithan mit ihnen vorhatte, doch es erwartete sie sicherlich nichts Gutes.

Er nutzte die Möglichkeit, um sich davonzuschleichen. Hier konnte er nicht nachdenken, fand nicht die Ruhe, nach der er sich sehnte. Noch am Morgen war er sicher gewesen, das Richtige zu tun, obwohl sich sein Herz hohl und verfault angefühlt hatte. Dabei hatte er geglaubt, nicht mal dazu imstande zu sein, zu lieben und damit Garvans Plan zu befolgen. Nun aber belehrte ihn sein schmerzendes Inneres eines Besseren.

Weiterhin hegte er starke Gefühle für Morgan und sie zu sehen hatte ihn die Klippe hinabstürzen lassen.

Ohne sich um die anderen Gottheiten zu kümmern, verließ er den Thronsaal durch eine aus den Angeln gerissene Tür, wanderte über den blutbefleckten Teppich, umging entstellte Leichen und übel zugerichtete Wachmänner, die gerade so noch an ihrem Bewusstsein festhielten. Dann stieß er auf ein bekanntes Gesicht.

Dylain, der Sohn des Dux Aliquis’ und der Gatte von Jeriahs Schwester. Er hatte Cáel noch nicht bemerkt und kroch mit schwersten Verletzungen über den Boden zur Tür, die zu den Dienstbotentreppen führte. Keuchend arbeitete er sich Zentimeter für Zentimeter vor, die Fingernägel über den Stein kratzend, als er den Teppich verließ, während Cáel ihn beobachtete.

Nachdenklich lehnte er gegen die Wand und wartete darauf, dass dieser Feigling, der gern Frauen schlug, aufgab. Doch er klammerte sich wie ein Ertrinkender an die Hoffnung, hinter der Tür Freiheit und Heilung zu finden. Als könnte er sich von der Stichwunde in seinem Rücken erholen. Keine der Heilerinnen würde auch nur einen Finger krumm machen, um ihm zu helfen.

Cáel fühlte sich gelangweilt, nachdem Dylain auch nach weiteren Minuten nicht die Tür erreicht hatte, und so trat er um die kriechende Gestalt herum. Mit einem arroganten Lächeln, dem Morgan stets mit einem Augenverdrehen ihrerseits begegnet war, ging er vor ihm in die Hocke und rief seine Macht. Kleine Blitze zuckten zwischen den Fingern seiner ausgestreckten Hand, die Dylains Gesicht fast berührten. Dessen Augen weiteten sich vor Schreck.

»Herzog … Nygaard«, keuchte Dylain. »Helft mir …« Wie konnte er die drohenden Blitze ignorieren? Oder die Abscheu in Cáels Augen?

»Natürlich, mein Herr«, knurrte Cáel, bevor die Blitze von seinen Fingern auf Dylain übersprangen und diesen unkontrolliert erzittern ließen. Dampf stieg von seinem krampfenden Körper auf und verbreitete den Geruch von verbranntem Fleisch. Sekunden später starrte der Sohn des Hohe Priesters mit offenen Augen auf den Schleier, durch den er wahrscheinlich nie gehen würde. Dafür war er zu Lebzeiten zu grausam gewesen, seine Seele zu ruhelos. Als Geist würde er die Welten bewandern, ohne Ziel und ohne Rast.

Zufrieden richtete sich Cáel auf, als sich die Spitze eines Messers in seinen unteren Rücken bohrte. Tief genug, um seine Haut zu durchbrechen. Eine Hand legte sich auf seinen Arm, fest und entschlossen.

»Nett, dass du dieses Schwein erledigt hast«, erklang eine ihm bekannte Stimme, dennoch dauerte es einen Moment, ehe er sie zuordnen konnte. Seine Schultern entspannten sich und die Fremde ließ zu, dass er sich umdrehte.

»Cardea, wie schön, dich wiederzusehen.« Ihre Miene war grimmig, die Lippen zu einer Mischung aus Abscheu und Neugier verzogen. Morgan hatte wohl bei ihrer übereilten Flucht etwas Wichtiges vergessen. »Wie kann ich dir behilflich sein?«

Kapitel 2

Eriks Vater blickte seinen verloren geglaubten Sohn an, als würde er sich jede Veränderung einprägen, um nichts zu vergessen. Um Erik für immer in seinem Herzen zu tragen.

Ein sentimentaler Gedanke, gegen den sich Morgan nicht vollkommen wehren konnte, als sie die beiden beobachtete. Sie versuchte, das zu sehen, was der Kapitän sah. Nicht mehr den kleinen schlaksigen Jungen, von dem nur noch die blauen Augen und das hellbraune Haar zurückgeblieben waren. Ein muskulöser Körper, Narben auf seinen gebräunten Armen, die unter der zerfetzten Jacke hervorlugten, und eine verheilte Wunde auf seiner rechten Wange durch verschmierte schwarze Schminke schimmernd. Der dunkle Fünftagebart, den sich Erik erst seit seiner Rückkehr aus Idrela hatte stehen lassen, und die zusammengepressten Lippen, die weder von Wiedersehensfreude noch von Erleichterung sprachen.

»Du«, presste Erik schließlich hervor und zog sein Schwert mit dem Hirschkopf als Knauf. Morgan konnte nicht sagen, ob sie wirklich davon überzeugt gewesen war, dass er seinen Vater hier und jetzt auf dem schwankenden Schiff angriff, doch sie würde es nicht riskieren. Nicht, als sie die kleine, schmale Person unmittelbar hinter dem Kapitän wahrnahm.

Morgan sprang auf und stellte sich zwischen Vater und Sohn, erntete einen ungläubigen und einen wütenden Blick, dann trat das Mädchen hervor und Eriks Blick klärte sich.

»Vater?«, wisperte es, aber diesem blieb keine Zeit zum Antworten, als der Sturm an Stärke dazugewann und einen Teil der Mannschaft von den Füßen fegte.

Morgan selbst wurde von Erik aufgefangen und Rhea hielt Jeriah und Magus mit ihrer Magie an Ort und Stelle. Es gab eindeutig bessere Momente, um dieses Wiedersehen zu besprechen. Jetzt galt es, sich darum zu kümmern, es heil aus dem Schneesturm zu schaffen, ohne erneut in den Hafen Yastias getrieben zu werden. Dort warteten bloß Tod und Verderben auf sie.

Und Cáel.

Nein, an ihn durfte sie nicht denken, sonst würde sie von einer so bodenlos tiefen Wut beherrscht werden, dass sie sich selbst verlieren würde.

Sie löste sich von Erik und legte den einzigen Knochen, der ihr noch geblieben war, in den Mund, rief die Knochenhexe, die auf sie gewartet hatte. Innerhalb eines Wimpernschlags nutzten sie ihre Macht, um sich gegen den rauen Wellengang zu behaupten. Rhea webte ein Netz, mit dem sie verhinderte, dass jemand über Bord fiel, während sich Morgan weiterhin auf das Stillhalten konzentrierte.

Als sie den Blick eines Freibeuters auffing, sah sie die Angst in ihm. Knochen flackerten durch ihre Haut hindurch und offenbarten ein grausiges Bild, das Morgan selbst nicht begreifen konnte. Für sie existierte nur die Macht der Knochenhexe. Die Aufregung und die Sucht nach mehr.

Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als die Magie allmählich versiegte und das Schiff nicht länger wankte. Nur noch einzelne Schneeflocken fanden ihren Weg durch Rheas gesponnenes Netz und der Wind ließ nach, jaulte nicht mehr wie ein verwundetes Tier.

Für den Moment waren sie in Sicherheit.

Mit zittrigen Gliedmaßen sank sie auf die feuchten Planken, ignorierte die Fremden und ließ sich stattdessen von Erik aufhelfen. Es fiel ihr unglaublich schwer, die Augen geöffnet zu halten, als er sie durch die Tür in den Bauch des Schiffes führte. Rhea und die anderen folgten, was Morgan erleichterte. Sie wollte nicht, dass ihre Gruppe unter den Freibeutern getrennt wurde, nachdem sie so viel ihrer Kräfte verbraucht hatten. Die Knochenhexe war so erschöpft, dass sie sogar freiwillig die Klauen von Morgans Seele löste. Nichts war mehr übrig und sie brauchte Zeit, um sich zu erholen.

»Hier durch«, hörte sie die Stimme des Kapitäns und wenig später erreichten sie seine Kajüte, die gemütlich und vor allem geräumig war. Jemand entzündete Kerzen, sodass die Schatten des grauen Tages vertrieben wurden.

Ein paar Gegenstände waren in dem Sturm zu Boden gefallen, Becher und Bücher, eine Messingwaage und anderes Zeug, das Morgan bloß mit ihrem Blick streifte. Ein auf dem Boden verankerter Schreibtisch beherrschte den Raum neben Stühlen, Regalen, einem Konferenztisch und einem riesigen Bett vor einer Kommode. Auf der anderen Seite gewährte ihnen eine beeindruckende Fensterfront den Blick auf das sich beruhigende Meer.

Erik führte Morgan bis zu einem gepolsterten Stuhl, auf dem sie sich niederließ. Jeriah setzte sich neben sie, ohne Regung und ohne Gefühl. Es schien, als wäre er mit seinen Gedanken in einer anderen Welt, in der er sich vor dem Schmerz der Wirklichkeit flüchtete. Zu gern würde sie sich ihm anschließen.

Nein. Nicht mehr. Sie hatte nun endlich ein Ziel vor Augen, wusste, warum sie hier war und wohin sie früher oder später gelangen musste. Zurück nach Yastia. Zur Dreischicksalsstatue, um ihrer aller Schicksal zu verändern. Mit ihrem Blut auf dem immerwährenden Stein würde sie das Tor öffnen, das sie schließlich zu den Moiren bringen würde. Davon war sie überzeugt. So hatte sich dieses Wissen doch all die Zeit in ihr befunden und mit einem Mal waren die Schatten verschwunden; hatten den Blick auf den Ort freigegeben, der sie direkt zu den Schicksalsgöttinnen führen würde.

»Macht es euch gemütlich«, durchbrach der Kapitän die Stille. »Mein Name ist übrigens Erik Montean, aber um jedweder Verwechslung entgegenzuwirken, dürft ihr mich Montean nennen. Ich bin sicher, das ist es, was mein Sohn bevorzugt.«

»Und ich bin sicher, dass niemand hier im Raum deinen Humor zu schätzen weiß«, erwiderte Morgan, während Erik eisern schwieg. Wahrscheinlich hing seine Selbstbeherrschung am seidenen Faden und Morgan wollte vermeiden, dass es auf dem Schiff zu einer Konfrontation kam, die in einer noch heikleren Lage mündete.

Monteans Mundwinkel zuckten, doch die Botschaft hatte er verstanden, da er kein weiteres Wort verlauten ließ. Sie selbst zwang sich, nicht nach dem Nachnamen zu fragen, der sich ganz offensichtlich von Eriks unterschied. Wie hatte sie nicht wissen können, dass er diesen geändert hatte?

Kopfschüttelnd versuchte sie, Müdigkeit und Zweifel zu vertreiben. Ihre Freunde wirkten in sich selbst verschlossen und niemand riss sich darum, die Zügel in die Hand zu nehmen. Selbst Jeriah nicht, um den es hauptsächlich in ihrer unmittelbaren Zukunft gehen würde.

Er war die Hoffnung Atheiras, aber gerade in diesem Augenblick sah er vermutlich nur den Tod seiner Familie vor Augen.

Morgan verübelte ihm die Starre nicht und so übernahm sie die Rolle der Anführerin, um zumindest ihren Kurs zu bestimmen.

»Mein Name ist Morgan«, stellte sie sich schließlich vor. »Das sind Rhea Khemani, Magus und … Jeriah Cerva.« Monteans einzige Reaktion auf den Namen des frisch gekrönten Königs bestand aus einem Augenbrauenheben. Morgan holte tief Luft. »Ich habe herausgefunden, wie ich das Schicksal verändern kann«, wiederholte sie ihren Ausruf, den sie entlassen hatte, kurz nachdem sie das Schiff erreicht hatten. Allmählich schienen ihre Gefährten aus ihrem Schock zu erwachen und ihren Worten zu lauschen, also sprach sie weiter. Eriks Hand lag auf ihrer Schulter, was ihr genug Kraft gab, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen. »Zumindest weiß ich, wie ich die Insel erreiche, aber dafür müsste ich nach Yastia zurückkehren.«

»Das ist unmöglich«, warf Erik prompt ein und sie neigte den Kopf.

»Für den Moment, ja«, stimmte sie zu. »Wir müssen uns an einen sicheren Ort zurückziehen, uns sammeln und einen Plan schmieden, wie wir Aithan bekämpfen können.«

»Was ist mit Brimstone? So weit ist die Stadt nicht entfernt und ich bin erst vor wenigen Monaten dort gewesen. Es wäre ein guter Ort, um sich versteckt zu halten«, überlegte Rhea laut, während sie sich von Jeriahs Seite wegbewegte, um sich gegen die Schreibtischkante zu lehnen.

»Ich hörte, die Ältesten haben sich auf die Seite des verbannten Prinzen gestellt«, ertönte es von Montean, den Morgan beinahe wieder vergessen hatte. Er hatte sich vor der Fensterfront positioniert und ihnen nur leicht den Kopf zugeneigt. »Euch dort verstecken zu wollen, wäre vermutlich Selbstmord. Sie würden Cerva fassen und ausliefern.«

Morgan belohnte ihn nicht mit einer Antwort, obwohl sie dankbar war, diese Information erhalten zu haben.

»Bleiben noch Vinuth und Idrela«, fasste Morgan zusammen. Alles andere wäre zu weit entfernt und würde sie zu viel Zeit kosten.

»Lohnam ist eine wunderschöne Hafenstadt«, versuchte Montean ihnen seine Heimat schmackhaft zu machen.

»Ich werde keinen Fuß in die Stadt setzen«, knurrte Erik kompromisslos und die Hand auf Morgans Schulter verkrampfte sich. »Niemals.«

Ob das nun weise war oder nicht, war Morgan gleich. Sie würde Erik in keine Position zwingen, in der er sich derart unwohl fühlte. Er musste schon mit dem harten Schicksal zurechtkommen, die nächsten Wochen auf einem Schiff mit seinem Vater zu verbringen.

»Dann werden wir uns nach Idrela aufmachen. Osten oder Westen?« Morgan blickte in die Runde. Erik schwieg, Jeriah sah zu Boden und Magus hielt Stellung an der Tür.

»Osten«, antwortete Rhea und fing Morgans Blick ein. Ihr Gesicht war verschmutzt, das rote Haar zerzaust, aber in ihren grünen Augen herrschte wilde Entschlossenheit. »Nach Damari. Jeriah kann Sultana Beatrice um Unterstützung in diesem Krieg bitten.«

»Was für ein Krieg?« Jeriah machte ein abfälliges Geräusch und breitete hilflos die Arme aus; verzog das Gesicht, als er vermutlich seine Wunde spürte, die Rhea notdürftig geheilt hatte. »Aithan hat gewonnen, bevor der Krieg überhaupt beginnen konnte. So wie es bei meinem Vater vor fast zehn Jahren gewesen war. Bedauerlich, dass er schon tot ist und die Ironie nicht mehr anerkennen kann. Ich schätze, das muss ich wohl für uns beide tun.«

Morgan wollte ihn schütteln. Wollte ihn umarmen und ihm Trost spenden und sah all dies in Rheas Gesicht gespiegelt, doch niemand von ihnen rührte sich. Jeriahs Trauer und Selbstmitleid waren wie eine Mauer, die er um sich gezogen hatte, und noch war nicht der richtige Moment gekommen, um sie einzureißen. Zu groß war die Gefahr, ihn noch mehr zu verletzen.

»Gut, wir fahren nach Damari und versuchen, die Sultana von unserer Sache zu überzeugen.« Morgan hob eine Schulter. »Und wenn sie uns keine ihrer Ressourcen zur Verfügung stellt, dann finden wir einen anderen Weg, den Palast zu infiltrieren und Aithan zu zerstören.«

Jeriah beugte sich langsam zu Morgan vor, die Stirn gerunzelt. »Warum bist du plötzlich bereit, mir zu helfen, Wölfin? Muss ich dich daran erinnern, dass du Monate damit zugebracht hast, die alten Götter zu erwecken und damit gegen mich zu arbeiten?«

»Ich verstehe, warum du das denken könntest, ja.« Sie neigte leicht den Kopf.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er leise. Der alte Jeriah hätte seine Stimme erhoben und ein Respekt einflößendes Bild abgegeben. Dieser Jeriah hier konnte kaum genügend Kraft aufbringen, um überhaupt die Worte zu formen. »Hast du oder hast du nicht Cáel dabei geholfen, die alten Götter zu erwecken?«

»Das habe ich.«

Er sah von ihr zu Erik, der seine Hand nicht zurückgezogen hatte. Ein Hinweis darauf, dass Morgan Jeriah eine wichtige Information vorenthielt. »Erklär dich mir. Ich bin gerade wirklich nicht in der Stimmung, das Rätsel einer Knochenhexe zu lösen. Insbesondere dann nicht, wenn ich sie hätte hängen lassen, hätte ich die Chance gehabt.«

»Jeriah«, warnte ihn Erik.

»Schon gut«, sprach Morgan eilig in den angespannten Raum hinein. »Ja, ich half Cáel, doch nur weil ich sein Vertrauen brauchte. Ich wusste, dass sich die Möglichkeit nicht noch einmal ergeben würde. Natürlich hätte ich das Ende unserer Zusammenarbeit nicht vorhersehen können und sie hat recht unglücklich geendet, lass dir das gesagt sein, aber ich glaubte, dass es wichtig war, alles über die alten Götter herauszufinden. Zumindest so viel wie möglich. Sie wären mit oder ohne meine Hilfe erweckt worden. Cáel hätte schon eine andere Knochenhexe aufgespürt, wenn es darauf angekommen wäre. Aber dadurch, dass er mir vertraut hat und mich die Gottheiten kaum beachtet haben, konnte ich sie beobachten und fand ihre Schwächen heraus. Eine nach der anderen. Sie sind nicht unzerstörbar. Nicht unsterblich, wie sie uns sicherlich glauben machen würden.«

»Erzähl es uns«, verlangte Jeriah, in dessen Augen sie ein kurzes Aufblitzen wahrnahm. So ganz tot und fertig mit seinem Leben, wie sie gedacht hatte, war er wohl doch nicht.

»Nicht mit ihm hier.« Sie deutete auf Montean, der mit dem Finger auf seine eigene Brust deutete und besonders unschuldig dreinschaute. »Oder auf diesem Schiff. Diese Informationen sind zu wertvoll und wir können nicht riskieren, dass sie heraussickern.«

»Ich werde jedenfalls nicht gehen. Das hier ist mein Schiff und ich befehlige die Mannschaft«, entgegnete Montean beinahe trotzig, als sich hinter ihnen die Tür öffnete. Morgan hatte jedoch nur Augen für ihn und den Schmerz, den er seinem Sohn zugefügt hatte.

Wut, die sie bis dahin nur als schwachen Schimmer wahrgenommen hatte, brodelte nun an die Oberfläche und sie riss die letzten Fetzen Macht der Knochenhexe zusammen, um ihm zu zeigen, was sie von ihm hielt.

Sie schüttelte Eriks Hand ab und erhob sich vom Stuhl, spürte, wie sich der Schädel der Knochenhexe über sie senkte und ihre Erscheinung veränderte. Ihre Augen leuchteten weiß und die Knochen flackerten unter ihrer verrottenden Haut hervor.

»Du wirst das tun, was wir dir befehlen«, knurrte sie mit dunkler Stimme, die nicht gänzlich ihr gehörte. »Oder du wirst dir wünschen, es getan zu haben. Eine zweite Chance wird es nicht geben.«

»Bitte tu ihm nichts«, flüsterte das Mädchen, das Morgan zuvor an Deck gesehen hatte. Es hatte sich in die Kajüte geschlichen und überbrückte nun den Abstand zwischen sich und Montean, um sich vor den Kapitän zu stellen.

Ihr schwarzes Haar war zu einem unordentlichen Zopf geflochten, der über ihrer zierlichen Schulter lag. In hauptsächlich Lumpen gekleidet wirkte sie klein und unscheinbar, aber in ihren dunklen Augen fand Morgan eine beeindruckende Stärke. Zu dieser mischte sich Angst.

Angst vor dem Monster, als das sie Morgan in diesem Moment sah.

Morgan schämte sich. Ganz langsam löste sie den Griff der Knochen­hexe, richtete ihren Blick wieder auf Montean.

»Ich weiß, was du Erik angetan hast, und das werde ich dir niemals vergeben«, presste sie hervor. »Aber es liegt an ihm, dich auf die Art zu bestrafen, die er für angemessen hält.«

»Was für eine liebenswürdige Frau du dir ausgesucht hast, mein Sohn.«

Kapitel 3

Morgan hatte sich noch nie mit der See anfreunden können. Das Wanken des Schiffes und die sich ewig erstreckende Weite des Meeres verursachten ein unwohles Gefühl in ihrer Magengegend. Zwar musste sie sich nicht übergeben, doch gänzlich gesund fühlte sie sich auch nicht.

Nachdem das Gespräch in der Kajüte ins Leere verlaufen war, hatten sich Jeriah, Rhea und Magus zurückgezogen. Montean hatte ihnen allen Kajüten zur Verfügung gestellt und der Prinz, nein, der König brauchte dringend etwas Schlaf. Seine Verletzung war zwar nicht länger lebensgefährlich, aber Rhea hatte ihn nicht gänzlich heilen können.

Erik war mehr oder weniger aus der Kajüte geflohen, um möglichst viel Abstand zwischen sich und seinen Vater zu bringen. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Ebenso hoffte sie, dass er darüber hinwegsah, wenn sie ihn in seiner Einsamkeit störte.

Aus ihrer Kajüte hatte sie eine Decke stibitzt, mit der sie nun aufs Deck stieg. Da der Sturm an den Kräften der Mannschaft gezehrt hatte, war es mittlerweile ruhig. Nur die nötigsten Seemänner standen auf ihren Posten, alle anderen ruhten sich aus oder schaufelten etwas von dem Eintopf in sich hinein, der auch Morgan angeboten worden war. Sie konnte jedoch nur an Erik denken.

Er stand am Bug des Schiffes, die Unterarme auf der Reling aufgestützt, den Blick in die einschüchternde Ferne gerichtet. Der Wind fuhr durch sein kurzes Haar, das er sich in Idrela abgeschnitten haben musste. Durch den Bart und die Narbe auf seiner rechten Wange wirkte er wahrlich wie der Sohn eines Freibeuters. Nur die feine, wenn auch zerrissene und schmutzige Uniform passte nicht zu dem Bild des gewissenlosen Seefahrers.

Nachdem sie ihn erreicht und sich neben ihn gestellt hatte, betrachtete sie sein Profil noch einen Moment länger.

Erst als er sich ihr zuwandte, legte sie die Decke über seine Schultern. Es war so verdammt kalt hier und sie wusste nicht, wie sie es während des Schneesturms so lange ausgehalten hatten.

Erik nickte ihr dankbar zu, ehe er einen Arm ausstreckte und sie sich an ihn kuschelte, damit sie beide von der Decke und dem Körper des anderen gewärmt wurden. Sie nahm einen tiefen Atemzug und genoss den altbekannten Duft, der ihr in die Nase stieg. Seife und Tannenzweige.

»Ich halte es nicht mal aus, im selben Raum mit ihm zu sein«, raunte er heiser, als sie die Arme um seine Mitte schlang, um ihm Halt zu geben. Sie hatte durchweg seine aufgewühlten Gefühle gespürt und es hatte ihr fast körperliche Schmerzen bereitet, ihn dort drin nicht an sich zu ziehen; Montean nicht auseinanderzureißen, für den Schmerz, den er Erik zugefügt hatte und es noch immer tat. »Alle Erinnerungen steigen wieder auf. Die guten Momente, aber vor allem die schlechten. Tage, an denen ich glaubte zu verhungern. Nächte, in denen die Kälte mich sicherlich töten würde. Ich flehte ihn jedes Mal an, etwas zu tun, uns aus diesem Loch zu retten, und … tatsächlich gab es auch Stunden, in denen er mir versprach, sich zu bessern. Einmal …« Seine Stimme brach und er räusperte sich. »Einmal hat er es auch wirklich versucht. Es war das letzte Mal, dass ich seinen Lügen glaubte.«

»Was ist passiert?«

Lange Zeit antwortete er ihr nicht, legte nur seine Wange auf ihr Haupt und atmete tief ein und wieder aus. Sie hätte ihm ewig dabei zuhören können, während das Meer um sie herum rauschte und vom Schiff zerteilt wurde.

»Ich kam gerade vom Hafen Lohnams zurück, hatte ein paar Silberlinge verdient beim Schuhputzen und … es stand bereits Essen auf dem Tisch. Dampfendes Hühnchen, Möhren und Kartoffeln. Selbst ein Stück kostbare Schokolade, von der ich bis dahin nur gehört hatte.« Er seufzte tief. Sie wusste, wo diese Geschichte hinführen würde, dennoch konnte sie nicht umhin, sich ein anderes Ende zu wünschen. So fruchtlos dieses Verlangen auch war. »Ich dachte … Ich erinnere mich daran, beim Anblick das erste und einzige Mal erleichtert zu sein. Seit sehr langer Zeit musste ich mir einmal keine Gedanken darüber machen, wie ich an Essen kam. An diesem Tag zumindest würde ich nicht verhungern. Außerdem … ich dachte, er hätte endlich Arbeit gefunden. Damit hätte er sich das erste Mal an sein Versprechen gehalten, das er mir erst in der Nacht zuvor gegeben hatte. Ich war so leichtgläubig. Aß das Essen, das letztlich mein Verderben brachte.«

»Er hatte das Geld von Wucherern?«

Erik nickte. »Die eine Hälfte nutzte er, um das Essen zu kaufen, die andere setzte er beim Spielen von Pech und Krone ein. Sein Plan war es, mit dreimal so viel wieder nach Hause zu kommen. Seine Schulden zu begleichen und mit dem Rest weiterzuspielen, um uns reich zu machen. Unglücklicherweise kaufte er zu viele Weinflaschen und vergaß schließlich, wofür die restlichen Kronen bestimmt waren.« Morgans Hand grub sich in seine Jacke, als sie den Schmerz in seiner Stimme tief in sich selbst widergespiegelt fühlte. »Also kaufte er gleich noch mehr Wein. Schließlich kamen nach wenigen Wochen die Hals­abschneider und bedrohten ihn, schlugen ihn und nachdem er auch nach Ablauf der Frist seine Schulden nicht begleichen konnte, da … nahmen sie stattdessen mich und verkauften mich an den Sklavenhändler, der mich schließlich an einen der Namenlosen Orte brachte. Dort traf ich auf dich.«

Morgan sah zu ihm hoch und fing das gezwungene Lächeln auf, das ihren Magen verknotete. Wie er es nach diesem Verrat geschafft hatte, zu diesem ehrenvollen und gutherzigen Mann zu werden, konnte sie sich nicht mal ansatzweise vorstellen.

Nur zu gut erinnerte sie sich an den verlorenen Jungen im Käfig, dem sie ihre Blüte und ihr Herz geschenkt hatte, ohne Letzteres auch nur zu erahnen. Trotz der Begegnung, die ihrer beider Leben verändert hatte, wünschte sie sich, er hätte niemals diese Erfahrung machen müssen.

»Dein Vater hat nicht versucht, dir zu helfen? Dich zu schützen?«

»Er versuchte es, schätze ich.« Er hob eine Schulter. »Aber er war kein ernst zu nehmender Gegner und letztlich kam seine Gegenwehr viel zu spät. Ich überlebte meinen ersten Herrn und Deron kaufte mich. Zunächst kamen Jeriah und ich nicht gut miteinander aus. Er hasste mich allein dafür, für was ich stand. Sein eigenes Versagen. Der fehlende Respekt seines Vaters. Doch dann … das habe ich dir noch nicht gesagt, veränderte eine Nacht alles.

Er verließ im Geheimen die Stadt und ich folgte ihm, wie es mir aufgetragen worden war. Er wollte nur Abstand von seiner Familie und den Erwartungen, die auf seinen Schultern lasteten, doch er wanderte zu weit und wurde von einer Handvoll Banditen eingekreist. Sie wussten nicht, wer er war, doch seine Kleidung war für sie Grund genug, die Gelegenheit beim Schopf zu packen.« Dieses Mal war das Lächeln ehrlicher, das seine Lippen zierte. »Natürlich half ich ihm und wir beide konnten einige gute Schläge und Tritte landen, aber letztlich war es nicht genug. Sie schlugen uns halb tot und ließen uns nackt und blutend im Schlamm zurück. Wie sich herausstellte, reichte das aus, um zwei sture Köpfe zusammenzubringen.

Seitdem waren wir unzertrennlich. Er hat sich während der kommenden Jahre so verändert, sich weiter von seinem Vater entfernt und ist dabei zu dem besten König geworden, der jemand sein kann. Es schmerzt mich, ihm nicht helfen zu können. Ich kann mir nicht mal selbst helfen und die Wut auf meinen … auf Montean in den Griff kriegen.«

Den Kopf schüttelnd drückte er sie enger an sich. Ein kalter Windstoß fuhr unter die Decke und ließ sie beide erzittern. Morgans Gesicht fühlte sich bereits wie vereist an und lange würde sie es nicht mehr an Deck aushalten, noch weigerte sie sich allerdings, das Gespräch mit Erik zu beenden. Nicht jetzt, da er so offen und ehrlich zu ihr war. Ohne Barrieren und ohne Vorbehalte oder Vorwürfe.

»Du hilfst ihm bereits, indem du an seiner Seite stehst«, widersprach sie vehement. »Doch du musst dich auch um dich selbst kümmern, Erik. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie du dich gefühlt hast, als Montean plötzlich aufgetaucht ist. Und deine Halbschwester …«

Erik nahm seinen Arm von ihrer Schulter, hielt die Decke fest und drehte sich so, dass sie sich gegenüberstanden. Sie wollte ihren Blick abwenden, konnte die Intensität in seinen Augen kaum ertragen. Doch sie war es ihm schuldig, ebenso ehrlich zu sein.

»Kannst du nicht? Was ist mit Chelion?«