Olympische Spiele. 100 Seiten

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Das Wohnzimmer meiner Eltern war abgedunkelt, wegen der Sonne. Die meisten von uns saßen in der Polsterecke, andere wie ich auf Stühlen um den Tisch herum, mein jüngerer Bruder Heiko hockte mit seinen Freunden auf dem Teppichboden. Die ganze Leichtathletik-Trainingsgruppe war da; wir waren B-Jugend, 15 bis 16 Jahre. Dieter war gekommen – er war Trainer, wusste alles über den olympischen Sport und studierte an der Kieler Universität. Mein Vater war gegen das Fernsehen. Vor den Olympischen Spielen 1960 ging er los und kaufte ein großes Standgerät mit abschließbaren Türen. Der Fernseher sollte nur zu den Spielen angestellt werden. Im Spätsommer hatten wir fast täglich auf dem Holsteinplatz trainiert; dabei war die Saison für uns schon vorbei. Wir trainierten für Rom, nach dem Training fuhren wir mit dem Rad zu uns nach Hause, zum Fernsehen: olympische Leichtathletik.

Einige der Stars hatten wir schon einmal aus der Ferne gesehen, bei den Deutschen Hallenmeisterschaften in der Kieler Ostseehalle. Armin Hary, er wirkte merkwürdig nervös, aber er hatte im selben Jahr einen neuen Weltrekord über 100 m aufgestellt. Jetzt kniete er im Olympiastadion von Rom in den

100-m-Finale, Rom 1960. Links außen: Armin Hary (BRD). Rechts außen wirft sich Dave Sime (USA) über die Ziellinie.

Am nächsten Tag war Weitsprung dran: »Steinbach sieht gut aus«, ich kommentierte (denn ich war Weitspringer). Dr. Steinbach sprang mit genau 8 m einen neuen deutschen Rekord, 10 cm weiter als Luz Long, der 1936 mit Jesse Owens im Gras lag (Reemtsma Olympia-Album) und erreichte Platz vier des Wettkampfs. Der 400-m-Lauf wurde wieder nervenzerfetzend. Das Finale hatte Charly Kaufmann nach unserem Urteil gewonnen, er lief tatsächlich Weltrekord, das Kampfgericht sah ihn zeitgleich mit Otis Davis, aus den USA, aber 1 cm hinter ihm. Die Amis verloren dann doch noch einmal gegen die Deutschen, ausgerechnet in der 4-×-100-m-Staffel; sie waren zwar schneller, wurden aber wegen eines Wechselfehlers disqualifiziert.

»Jetzt aber konzentrieren, Jungs«, Dieters mahnende Stimme. Wir hatten noch gar nicht bemerkt, dass das Fernsehen an einen anderen Olympia-Ort umgeschaltet hatte. Jetzt schauten wir von oben auf den Albaner See hinunter. Dort machten sich die Ruderer startbereit: das Achterrennen. Unser Achter, Studenten von der Kieler Uni mit ihrem Ratzeburger Trainer, dem Physiklehrer Karl Adam. Wieder Dieter: »Der ganz vorn im Boot ist mein Freund Hans Lenk. Gebt euch Mühe!« Das war ja klar, der Stolz unseres Bundeslands! Das Boot führte. Es hatte noch nicht gewonnen, als sich ein anderer Achter heranschob, aber mit unserer Anfeuerung schaffte es unser Boot als erstes über die Ziellinie.

Es war eine offene Welt, die sich in diesen Tagen vor uns auftat. Damals sahen wir nur den unverdorbenen Kern der Spiele. Doch meine unbekümmerte Haltung zum Sport wurde erschüttert, als ich einige Jahre später Mitglied eines

Zu jener Zeit war das Bewusstsein, dass Doping Betrug war, noch deutlich unterentwickelt. Während meines Studiums in Mainz versprach mir ein freundlicher, mir allerdings unbekannter Herr nach einigen guten Wettkampfergebnissen (1965), eine große Zukunft im Weitsprung. Ich wusste nicht, was er mit mir vorhatte, war aber darauf gespannt. Prof. Berno Wischmann, der Direktor des Sportinstituts, war wachsam. Er bestellte mich ein, ließ ein Donnerwetter auf mich los und klärte mich über Doping auf. Für mich löste sich der Zauber Olympias auf. Mein Interesse am sportlichen Wettkampf begann gegenüber meinem Interesse an Philosophie und Literaturwissenschaft in den Hintergrund zu treten. Was mich nun faszinierte, war die strukturelle Ähnlichkeit des sportlichen Wettkampfs mit dem antiken Drama. Dieses Interesse zog sich durch viele meiner späteren Arbeiten. Ihr Ausgangspunkt sollten die antiken Olympischen Spiele werden. Daher beginnt auch meine Darstellung in diesem Band mit der griechischen Antike.

Aus den Impulsen für die weitere Entwicklung der Olympischen Spiele wurde nichts. Der terroristische Anschlag erstickte die erhoffte Wirkung des Münchner Kongresses für zukünftige Spiele. Der zweite Grund waren die Organisatoren der nächsten Spiele 1976. In Montreal wurden die olympischen Ereignisse in den Dienst des Autonomiestrebens des frankophonen Teil Kanadas genommen. Auf einer Session des IOC (International Olympic Committee) in Québec 1990, zu der ich als Gastredner im Wissenschaftsprogramm eingeladen war, lernte ich den Willen der Québequois zur Selbstdarstellung

Eine ähnlich abwehrende Reaktion wie von Samaranch erhielt ich vom IOC-Präsidenten Thomas Bach. Auf einer Podiumsdiskussion 2008 bei der Verabschiedung des deutschen Olympiateams nach Peking sagte er tiefgreifende demokratische Veränderungen in China voraus, die die Spiele auslösen würden. Meinen Hinweis auf die relative Machtlosigkeit des IOC gegenüber der autoritären Führung des Riesenreiches und deren Ablehnung einer politischen Öffnung tat er unwirsch ab: »Sie werden China nach den Spielen nicht mehr wiedererkennen.« Das erwies sich als richtig, aber nicht im Sinn von Thomas Bachs Vorhersage.

Um das antike Olympia rankten sich im Altertum so viele Geschichten, dass man Mythos und Wahrheit kaum noch unterscheiden konnte. Olympia gab es tatsächlich: Es war jedoch versunken, von Erdbeben zerstört und von Hochwassern überflutet. Bevor es im Schlamm unterging, war es eine Kultstätte in einem weiten fruchtbaren Tal am Zusammenfluss der beiden Flüsse Alpheios und Kladeos. Aus der sanften Landschaft erhob sich der Kronoshügel; an seinem Fuß befand sich ein Areal, das in altgriechischer Zeit die Altis, den heiligen Bezirk der Kultstätte bildete. Nach seinem Untergang lebte Olympia in antiken Texten bis in die Neuzeit fort. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde es von dem englischen Reisenden Richard Chandler wiederentdeckt.

An diesem Ort fand über 1000 Jahre lang im Spätsommer das Fest der Olympischen Spiele zu Ehren des Zeus statt. Es war ein glanzvoller Kult des höchsten Gottes der Griechen; er strahlte über die gesamte Antike aus. Alle vier Jahre machten sich Griechen aus dem ganzen Mittelmeerraum auf die Reise nach Olympia. Dichter, Historiker, Reiseschriftsteller feierten den religiösen Kult und die athletischen Spiele; Philosophen lobten die Athleten als Beispiele von Kraft und Ausdauer.

Olympia lag weit entfernt von den Zentren der griechischen Zivilisation, an der Westküste des Peloponnes. In der Nähe befanden sich nur die kleineren Stadtstaaten Elis und Pisa. Jahrhunderte lang herrschte zwischen ihnen ein erbitterter Kampf um die Verwaltung des Heiligtums. Bei dem Streit ging es um die Ehre, das Fest auszurichten, aber auch ganz profan um die Einnahmen aus dem Kult. Als er in einen Krieg ausartete, wurde der Lokalhistoriker Hippias beauftragt, die Geschichte Olympias zu rekonstruieren. Seine Chronik, um 400 v. Chr. verfasst, rekonstruierte diese anhand der Namen der Olympiasieger. Die Liste beginnt mit dem ersten aller Olympiasieger im Stadionlauf. Er legte dieses Ereignis auf das Jahr 776 v. Chr. (nach unserer Zeitrechnung). Dokumente aus dieser Frühzeit gab es jedoch nicht, dafür aber eine Unzahl von Geschichten über alle möglichen Olympiasieger. Also musste er einige »freie Ergänzungen« vornehmen, gerade was die ersten Olympischen Spiele betraf (Ulrich Sinn). Seine Datierung ist aber insofern nicht aus der Luft gegriffen, als die Olympischen Spiele seit dem frühen 7. Jahrhundert v. Chr. als Fest aller Griechen galten. Das Ende Olympias wird üblicherweise mit dem Jahr 393 n. Chr. angegeben, das Jahr, in dem der zum Christentum übergetretene römische Kaiser Theodosius, der auch über Griechenland herrschte, alle heidnischen Spiele verbot. In Olympia hielt man sich nicht daran, aber das Fest hatte keine große Ausstrahlung mehr. Im 5. Jahrhundert gab man es nach und nach auf.

Athletische Wettkämpfe waren jedoch nur die eine Seite des olympischen Festes. Es gab eine Reihe weiterer bedeutsamer Merkmale, die in Olympia zusammenwirkten: die Fruchtbarkeit des Ortes, der Kult mit seinen Opfern und Zeremonien, die Architektur der Tempel und öffentlichen Gebäude, die athletische Konkurrenz und die Bekränzung der Sieger mit anschließender gemeinschaftlicher Feier, das gesellschaftliche Ereignis, das seinen Höhepunkt mit den Auftritten bekannter Dichter und Staatsmänner fand. Das alles erfüllte die

Das Interesse an Wettkämpfen war ein zentrales Merkmal der griechischen Kultur. In Olympia wurden die Wettkämpfe über ein Sich-Messen emporgehoben. Der Olympiasieger im Stadionlauf war nicht nur der schnellste Mann Griechenlands. Er hatte eine herausgehobene Rolle im religiösen Fest: Mit seinem Namen wurde die sich anschließende vierjährige Olympiade benannt. Olympiaden waren das Maß der Jahreszählung aller Griechen.

Der klassische Philologe Walter Burkert hat diese Verbindung Olympias mit dem griechischen Leben auf eine prägnante Formel gebracht: »Man geht nach Olympia, um zu opfern und um Sport zu treiben.« Teilnahme am Opfer undAltis