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Harlan Ellison®

ICH MUSS SCHREIEN UND
HABE KEINEN MUND

ERZÄHLUNGEN

Herausgegeben und mit einem Vorwort

von Sascha Mamczak

Originalausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Copyright © 2014 by Harlan Ellison

Published by arrangement with the Author and The Kilimanjaro Corporation.

Harlan Ellison is a registered trademark of The Kilimanjaro Corporation.

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe und der Übersetzungen
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Siehe auch die Einzelnachweise am Ende des Bandes

Copyright © 2014 des Vorworts by Sascha Mamczak

Zitat aus Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam

(aus dem Amerikanischen von Walter E. Richartz): Copyright der deutschsprachigen
Übersetzung © 1967/2010 by Diogenes Verlag AG, Zürich

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-13201-9
V002

www.diezukunft.de

INHALT

Vorwort

»Bereue, Harlekin!«, sagte der Ticktackmann

Die Stadt am Rande der Welt

Ich muss schreien und habe keinen Mund

Zauberhafte Maggie Moneyeyes

Die Bestie, die im Herzen der Welt ihre Liebe hinausschrie

Ein Junge und sein Hund

Hilflos Wind und Wellen ausgeliefert vor der Küste der Langerhansschen Inseln: 38° 54’ Nördliche Breite, 77° 00’ 13’’ Westliche Länge

Das Winseln geprügelter Hunde

Der Todesvogel

Ich suche Kadak

Croatoan

Die bessere Welt

Jeffty ist fünf

Das Nachtleben auf Cissalda

Zähl ich den Glockenschlag, der Stunden misst

Der Wächter der verlorenen Stunde

Das weiche Äffchen

Warum wir träumen

Der Mann, der Christoph Kolumbus an Land ruderte

Mephisto in Onyx

Nachweise

VORWORT

Dies sind Geschichten aus einer Zeit, in der der Mensch keinen größeren Feind hat als sich selbst. Dies sind Geschichten aus einer Welt, die so monströs ist, dass sie sich selbst zu verschlingen droht. Dies sind Geschichten aus unserer Zeit, aus unserer Welt. Geschichten von einem der maßlosesten und feinfühligsten, verrücktesten und intelligentesten, diszipliniertesten und wildesten, anstrengendsten und lässigsten, berühmtesten und unbekanntesten Schriftsteller, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Geschichten, die zum Besten gehören, was die Literatur überhaupt je hervorgebracht hat …

Hallo. Mein Name ist Sascha Mamczak. Ich habe die zwanzig in diesem Band versammelten Erzählungen von Harlan Ellison ausgewählt und freue mich sehr, dass Sie das Buch gekauft haben (oder kurz davor sind, es zu kaufen). Und ich weiß, was Sie gerade denken: Klar, das muss er in seinem Vorwort ja machen – einen Autor, von dem man hierzulande kaum je etwas gehört, geschweige denn gelesen hat, so zu loben, dass es sich fast schon wie eine peinliche Bildungslücke anfühlt, Harlan Ellison nicht zu kennen. Aber keine Sorge: Die Literatur ist ein Kontinent, den nur die allerwenigsten von uns in all seinen Ausformungen, Bruchlinien und Verwerfungen ganz und gar erschließen können, und eines ist auch völlig richtig: Im Gegensatz zu den USA, wo Harlan Ellison nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Journalist und Kritiker, als Dozent und Aktivist, als öffentliche Person seit vielen Jahrzehnten ein fester Bestandteil der kulturellen Landschaft ist, ist seine Bekanntheit in Deutschland über einen kleinen Kreis von Experten und eingeschworenen Fans nie hinausgekommen. Vielleicht haben Sie in einer Anthologie einmal eine Story von ihm entdeckt, vielleicht haben Sie auch eine der wenigen deutschen Ellison-Kurzgeschichtensammlungen bei sich im Regal stehen und vielleicht erinnern Sie sich sogar noch an den etwas schrägen Film A Boy and His Dog, der auf Ellisons gleichnamiger Erzählung basiert – aber viel mehr war da nicht, und das meiste davon ist so lange her, dass es sich wie eine andere Epoche anfühlt.

Dafür gibt es natürlich Gründe. Zum einen schreibt Harlan Ellison keine Romane (die Novelle Mephisto in Onyx dürfte das längste sein, was er seit Jahrzehnten an Prosa veröffentlicht hat), und ein Autor, so talentiert er auch sein mag, der keine Romane, sondern ausschließlich Erzählungen schreibt, gilt in den Augen des Literaturbetriebs und des Publikums als Autor zweiter Klasse, als einer, der sich mit Fingerübungen verzettelt, der sich vor dem eigentlichen Sinn und Zweck des Schriftstellerdaseins drückt; man muss schon, wie unlängst Alice Munro, den Literaturnobelpreis gewinnen, um als reiner Kurzgeschichtenautor seinem Können entsprechend wahrgenommen zu werden. Hinzu kommt, dass Harlan Ellison ziemlich merkwürdige Erzählungen schreibt, für die das Attribut »fantastisch« bestenfalls eine Hilfskonstruktion ist: Die meisten seiner Geschichten sind darauf angelegt, jedes Genre, jedes Label, jede Schubladisierung zu unterlaufen, und was nicht gelabelt und schubladisiert, was nicht klar zugeordnet werden kann, hat insbesondere in Deutschland auf allen Ebenen der literarischen Verwertungskette einen schweren Stand – »Wohin damit?«, fragt sich der Verlagslektor, der Buchhändler, der Rezensent, der Leser. Und schließlich: So fantastisch Ellisons Erzählungen auch anmuten, sie sind nicht auf jene Weise fantastisch, die wir gewohnt sind. Unsere Metaphernradare und Allegorienscanner, mit denen wir die Geschichten etwa eines E.T.A. Hoffmann oder Stephen King erfassen und interpretieren (das Monster im Keller ist der Vater, der den Protagonisten in seiner Kindheit regelmäßig verprügelt hat, das zum Leben erwachende Auto ist die menschliche Hybris, die sich zur Nemesis wandelt, und so weiter), versagen, wenn wir in Der Todesvogel unvermittelt mit einem Multiple-Choice-Test zum Wesen Gottes konfrontiert werden (dem eigentlichen Wesen, nicht irgendeinem religiösen Mumbo-Jumbo); wenn uns in Hilflos Wind und Wellen ausgeliefert ein in den Text geworfenes Stück kalte Wirklichkeit das Herz zerreißt (die Wirklichkeit, von der wir jeden Tag in der Zeitung lesen); wenn wir begreifen, dass in Jeffty ist fünf die Zeit für manche Menschen anders vergeht als für uns (nicht nur bildlich anders, sondern wirklich anders); wenn uns in Die bessere Welt klar wird, dass der größte aller Schrecken mit komödiantischen Mitteln erzeugt wird (und wir trotzdem lachen); wenn in Die Bestie, die im Herzen der Welt ihre Liebe hinausschrie die Geschichte plötzlich einen Sprung macht, aber nicht in einen anderen Handlungsstrang, sondern dorthin:

Wennseits, hinter gedanklichen Zwischenräumen, Zeit genannt, hinter Spiegelbildern, Raum genannt; ein anderes Damals, ein anderes Jetzt. Dieser Ort dort drüben … Dort, in dieser ultimativen Mitte, von der alles nach außen strahlt, unendlich viel komplexer wird, das Rätsel der Symmetrie, Harmonie, Aufteilung von Gesang in fein abgestimmter Abfolge an diesem Ort, wo alles begann, beginnt, immer beginnen wird. In der Mitte. Wennseits.

»Wennseits«: Das ist Harlan Ellisons literarischer Ort, ganz egal ob die jeweilige Erzählung in der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft oder in allen Zeiten gleichzeitig angesiedelt ist. »Wennseits« heißt aber nicht, dass wir es hier mit etwas völlig Beliebigem zu tun hätten oder mit Kunst, die sich ausschließlich von Kunst nährt, ganz im Gegenteil: Ellisons Kunst entsteht dort, wo die tatsächliche Wirklichkeit auf die wahrgenommene Wirklichkeit trifft – und sich diese beiden Wirklichkeiten gegenseitig an die Gurgel gehen. Seine Kunst entsteht dort, wo Kunst eigentlich immer entsteht, wenn sie sich nicht als Zeitvertreib für die jeweils herrschende Klasse versteht, wenn sie sich nicht als Ergänzung des Lebens, sondern als das Leben an sich versteht: dort, wo sich eine Lebensform – wie die menschliche – nicht nur ihrer selbst bewusst wird, sondern in einem undurchdringbaren, gleichgültigen, mörderischen Kosmos zu sich selbst findet: wennseits. Natürlich lässt sich vieles, was Ellison sprachlich, stilistisch, handlungstechnisch macht, im weitesten Sinne als Avantgarde charakterisieren, als, wenn man so will, Pop-Version eines Kafka, Joyce oder Borges, aber trotzdem ist es völlig unmöglich, eine Harlan-Ellison-Geschichte zu interpretieren, weil sie bereits eine Interpretation ist: die Interpretation eines Universums, das uns erst Freuden empfinden lässt und uns dann diese Freuden wieder brutal entreißt; einer Welt, in der die Zeit alles auflöst, was wir eben noch als fest und beständig, als wertvoll begriffen haben; einer Gesellschaft, in der Ruchlosigkeit und Dummheit regelmäßig über Klugheit und Sensibilität siegen. Wir haben nicht darum gebeten, in diesem Universum, dieser Welt, dieser Gesellschaft zu existieren, und deshalb müssen wir auch nicht auf die Knie gehen und dafür danken. Nein, wir können dieses Universum packen und es kräftig durchschütteln, wir können diesem Universum die Meinung geigen. Genau das ist es, was eine Harlan-Ellison-Geschichte macht.

Genau das ist es auch, was Harlan Ellison macht, wenn er gerade keine Geschichten schreibt, seit er in den 1950ern das Provinznest seiner Kindheit hinter sich gelassen, in New York die ersten Storys und Reportagen publiziert hat und 1962 nach Los Angeles gezogen ist, um dort Hollywood aufzumischen: Er kämpft gegen die Dummheit, die Gedankenlosigkeit, die Unterwürfigkeit, die Ausbeutung, die Manipulation. Von einigen dieser Kämpfe, die sich ganz konkret in Gerichtsverfahren niedergeschlagen haben und denen man im Internet wunderbar nachspüren kann, könnte man den Eindruck bekommen, dass sie nur um ihrer selbst willen gekämpft wurden – weil Harlan Ellison eben ein schlecht gelaunter Misanthrop ist und nichts besseres zu tun hat, als sogar seinen eigenen Namen als Trademark registrieren zu lassen (haben Sie das kleine ® auf dem Umschlag bemerkt?). Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Harlan Ellison kämpft diese Kämpfe, weil es sonst kaum jemand tut; er kämpft diese Kämpfe für uns. Wer Ellisons Geschichten liest, weiß: Hier ist ein Schriftsteller, der erkannt hat, dass das Leben, das wir führen, und das Leben, das wir führen wollen, allzu oft zwei grundverschiedene Dinge sind, dass gesellschaftlicher Konformismus, politisches Diktat, ökonomischer Zwang die besten Absichten pervertieren können und (wenn wir nicht aufpassen) ihre eigene Logik, ihre eigene Wirklichkeit erzeugen (und wie oft in der Geschichte unserer Spezies haben wir nicht aufgepasst).

Da kann es wohl nicht verwundern, dass etliche der in diesem Band versammelten Erzählungen wie eine düstere Klage wirken, wie ein Abgesang auf die menschliche Zivilisation. Aber gleichzeitig lauert auch überall das, was uns überhaupt erst zu Menschen macht: das Herz und der Verstand im heroischen Kampf mit sich selbst. Überall lauert das, was wir uns immer wieder klarmachen sollten: dass die Welt nicht so sein muss, wie sie uns gegenübertritt, dass es, wie es in einer der Geschichten heißt, »einen Weg hinaus gibt. Man muss einfach weitergehen, bis man ihn findet«. Überall lauert das, was uns alle vereint: die Fähigkeit zum Mitleid, zur Zuneigung, zur Liebe; und das Wissen, dass Mitleid, Zuneigung und Liebe, dass wir nur für eine kurze Zeit existieren – und dann nicht mehr. Aber diese kurze Zeit ist lang genug, um das Richtige zu tun, um die richtigen Kämpfe zu kämpfen, um die richtigen Worte zu sagen oder zu schreiben.

Harlan Ellison hat in seinem Leben nicht immer, aber sehr oft die richtigen Worte gesagt und geschrieben, und auch wenn sein Auftreten in der Öffentlichkeit und die schiere Wucht seiner Worte suggerieren, dass hier ein Autor mit einer Botschaft unterwegs ist, die er unbedingt loswerden will, ist doch das Gegenteil wahr: Harlan Ellison hat keine Botschaft – er will nur mit uns sprechen. Braucht es dafür einen Roman? Keineswegs: Die Mehrzahl der Romane, die Monat für Monat auf den Markt geworfen werden, sind nichts als aneinandergereihte Notizen für Kurzgeschichten, die nie geschrieben wurden, aber besser geschrieben worden wären. Braucht es dafür Realismus? Überhaupt nicht: In praktisch allen großen realistischen Texten, ob von Dickens, Hemingway oder Tolstoi, findet man den Kern der Erkenntnis dort, wo sich die Wirklichkeit auflöst, wo sie ihre Form ändert, wo sie Zähne bekommt und nach uns schnappt. Das Einzige, was es wirklich dafür braucht, sind die ganz besondere Weise, die ganz besonderen Mittel, das ganz besondere Talent eines Harlan Ellison, in einem Mahlstrom aus Worten und Sätzen, aus Bildern und Zitaten, aus Poesie und Tatsachen jene Frage freizulegen, die Sixto Rodriguez in einem Song einmal so formuliert hat:

I wonder about the tears in children’s eyes

And I wonder about the soldier that dies

I wonder will this hatred ever end

I wonder and worry my friend

I wonder I wonder wonder don’t you?

Schließen Sie die Augen, vergessen Sie für einen kurzen Augenblick all das, was in Ihrem Leben dröhnt und nagt und zerrt und zerstört, und blicken Sie auf das, was wirklich real ist, was wirklich etwas bedeutet – diese Frage.

Don’t you?

Rodriguez’ Song I Wonder wurde zu Beginn der 1970er-Jahre geschrieben. Kurz darauf geriet der Sänger mehr oder weniger in Vergessenheit – um Jahrzehnte später wieder neu entdeckt zu werden. Die 1960er und 1970er waren auch die entscheidenden Jahre für Harlan Ellison; ohne die politische, soziale, intellektuelle Explosion in jener Zeit wären die Geschichten in diesem Band so nicht geschrieben worden. Harlan Ellison ist zwar nie in Vergessenheit geraten, aber er hat, zumal in Deutschland, längst nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die er verdient. Doch das ändert sich jetzt. Sie ändern das jetzt. Und Sie müssen gar nicht viel dafür tun.

Sie müssen nur diese Seite umblättern …

»BEREUE, HARLEKIN!«,
SAGTE DER TICKTACKMANN

Es gibt immer Leute, die fragen, was das alles eigentlich soll. Für diejenigen, die sich diese Frage nicht verkneifen können, die auf zugespitzte Argumente beharren, die unbedingt wissen müssen, »wo es langgeht« – bitte schön:

Die Mehrzahl der Menschen dient also dem Staat mit ihren Körpern; nicht als Menschen, sondern als Maschinen. Sie bilden das stehende Heer und die Miliz, die Gefängniswärter, die Konstabler, Gendarmen etc. In den meisten Fällen bleibt da kein Raum mehr für eigenes Urteil oder moralisches Gefühl; sie stehen auf derselben Stufe wie Holz und Steine; vielleicht könnte man Holzmänner herstellen, die ebenso zweckdienlich wären. Solche Wesen flößen nicht mehr Achtung ein als Strohpuppen oder ein Dreckklumpen. Sie sind nicht mehr wert als Pferde oder Hunde. Und doch hält man solche Menschen für gewöhnlich für gute Bürger. Andere, wie die meisten Politiker, Gesetzgeber, Advokaten, Pfarrer und Würdenträger, dienen dem Staat vor allem mit ihren Köpfen; doch weil sie selten moralische Urteile fällen, könnten sie – ohne es zu wollen – ebensowohl dem Teufel dienen wie Gott. Nur wenige Helden, Patrioten, Märtyrer, wirkliche Reformer und Menschen dienen dem Staat auch mit dem Gewissen, weshalb sie sich ihm oft widersetzen müssen; sie werden gewöhnlich von ihm als Feinde behandelt.

Henry David Thoreau:

Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

Darauf läuft letztlich alles hinaus. Beginnen wir also in der Mitte. Wie es angefangen hat, erfahren wir später. Und das Ende kommt dann ganz von selbst.

Aber weil es diese Welt war und keine andere, diese Welt, zu der sie geworden war, ohne dass irgendjemand etwas dagegen unternommen hätte, wurden diejenigen, die die Maschine reibungslos am Laufen hielten, die mit der besten Butter die Nocken und Triebfedern der Kultur schmierten, monatelang nicht auf seine Aktivitäten aufmerksam. Erst als nicht mehr zu übersehen war, dass er irgendwie, irgendwann einen zweifelhaften Ruf erlangt hatte, wenn nicht gar berühmt und für ein (wie es die Bürokratie zwangsläufig bezeichnete) »seelisch gestörtes Segment der Bevölkerung« zum Helden geworden war, übergaben sie die Angelegenheit dem Ticktackmann und seiner Gerichtsmaschinerie. Zu dem Zeitpunkt war er jedoch bereits zu einem festen Bestandteil der Realität geworden, denn schließlich war es diese Welt und keine andere, und sie verfügten über keine Möglichkeit vorauszusehen, dass er »sich ereignen« würde. Vielleicht handelte es sich um den Erreger einer Krankheit, die, lange überwunden geglaubt, plötzlich in einem System wiedergeboren wurde, in dem jegliche Immunität dem Vergessen anheimgefallen war und ihre Wirkung verloren hatte. Jedenfalls hatte er jetzt Form und Inhalt.

Er war eine Persönlichkeit geworden, etwas, das sie vor vielen Jahrzehnten aus dem System herausgefiltert hatten. Aber da war es wieder, und da war er, eine entschieden eindrucksvolle Persönlichkeit. In gewissen – vor allem bürgerlichen – Kreisen regte sich Abscheu. Wie degoutant! Ein Anarchist. Beschämend, wirklich. In anderen Kreisen, in denen das Denken der äußerlichen Form und dem Ritual unterworfen war, dem Anstand und der Schicklichkeit, wurde nur leise gekichert. Aber ganz unten, ah, ganz unten, wo die Leute ihre Heiligen und ihre Sünder noch wirklich brauchten, ihr Brot und ihre Spiele, ihre Helden und Schurken, wurde er für einen Bolivar gehalten, für einen Napoleon, einen Robin Hood, einen Dick Bong (das größte aller Fliegerasse), einen Jesus, einen Jomo Kenyatta.

Und an der Spitze – wo das leiseste Beben, die schwächste Schwingung die Reichen und Mächtigen von ihrer Fahnenstange zu schütteln droht – wurde er für eine Gefahr gehalten, für einen Ketzer, einen Rebellen, eine Schande, eine Bedrohung. In allen Schichten war er bekannt, bis tief hinein in das Herz der Gesellschaft, aber die wirklich wichtigen Reaktionen wurden hoch oben und tief unten ausgelöst. Bei den Gewinnern und bei den Verlierern.

Und so wurde seine Akte zusammen mit seiner Stechkarte und seiner Kardioplatte der Dienststelle des Ticktackmanns ausgehändigt.

Der Ticktackmann: fast zwei Meter groß, meist schweigsam, ein sanfter, schnurrender Herr, solange zeitlich alles glattging. Der Ticktackmann. Selbst in den Waben der Hierarchie, wo Furcht erzeugt, jedoch selten empfunden wurde, hieß er nur der Ticktackmann. Allerdings nannte ihn niemand so, der ihm gegenüberstand und seiner Maske in die Augen sah. Niemand nennt einen Mann bei einem verhassten Namen – nicht wenn dieser Mann hinter seiner Maske in der Lage ist, die Minuten, die Stunden, die Tage, die Nächte, die Jahre deines Lebens zu annullieren. Von Angesicht zu Angesicht wurde er mit »Oberster Zeitbewahrer« angesprochen; es war sicherer so.

»Dies ist, was er ist«, sagte der Ticktackmann mit aufrichtiger Sanftmut, »aber nicht, wer er ist. Auf dieser Stechkarte, die ich in meiner linken Hand halte, steht ein Name, aber dieser Name bezeichnet, was er ist, nicht, wer er ist. Auch die Kardioplatte in meiner rechten Hand trägt eine Bezeichnung, aber nicht mit seinem Namen, sondern mit einem Namen.« Zu seinen Mitarbeitern, all den Frettchen und Frampern, den Spitzeln und Spionen, sogar zu den Mineez sagte er: »Wer ist dieser Harlekin?« Und dabei schnurrte er nicht mehr. Die Zeit war aus den Fugen geraten.

Es war die längste Rede, die sie jemals von ihm gehört hatten, seine Mitarbeiter, die Frettchen und Framper, die Spitzel und Spione – nur nicht die Mineez, denn die waren fast nie da und konnten das nicht wissen. Aber selbst sie beeilten sich, die Frage zu klären.

Wer ist der Harlekin?

Hoch über der dritten Ebene der Stadt kauerte er auf der summenden Aluminiumplattform seines Luftschiffs (von wegen Luftschiff – ein Swizzleskid war’s, mit einem notdürftigen Abschleppgestell) und starrte hinab auf die Mondrian-artig angeordneten Gebäude.

Irgendwo in der Nähe hörte er das metronomische Links-rechts-links der Zwei-Uhr-siebenundvierzig-Nachmittags-Schicht, die in ihren Turnschuhen das Timkin-Wälzlagerwerk betrat. Und exakt eine Minute später hörte er das leise Rechts-links-rechts der Fünf-Uhr-Morgens-Formation, die sich auf den Weg nach Hause machte.

Ein neckisches Grinsen legte sich über seine braungebrannten Gesichtszüge, und für einen Moment waren seine Grübchen sichtbar. Dann kratzte er sich in seinem Narrengewand die kastanienbraune Mähne, zuckte, wie um sich für das zu wappnen, was ihm bevorstand, mit den Schultern, riss den Joystick nach vorne und stemmte sich, während das Luftschiff in den Sturzflug überging, in den Wind. Ganz knapp sauste er über den Gleitsteig hinweg, wobei er mit Absicht die Quasten und Troddeln der modebewussten Damen knautschte und, die Daumen in die großen Ohren gerammt, die Zunge rausstreckte, mit den Augen rollte und »Wugga! Wugga! Wugga!« schrie. Es war eine unbedeutende Ablenkung, nicht mehr. Eine Fußgängerin geriet ins Taumeln und stolperte, Päckchen flogen in alle Richtungen. Eine andere machte sich ins Höschen. Eine dritte kippte seitlich um, und der Gleitsteig wurde automatisch angehalten, bis man sie wiederbelebt hatte. Wie gesagt, eine unbedeutende Ablenkung.

Dann wirbelte er auf einem vagabundierenden Windstoß davon, und fort war er. Heiho! Als er den Sims des Time-Motion Study Building umrundete, sah er, wie die Schicht gerade den Gleitsteig enterte. Mit geübten Bewegungen und unter möglichster Schonung ihrer Kräfte traten die Arbeiter seitlich auf das langsamste Band und tapsten, an eine Revuetruppe in einem Busby-Berkeley-Streifen aus den vorsintflutlichen 1930ern erinnernd, im Straußenschritt über die Bänder hinweg, bis sie in Reih und Glied auf dem Expressband standen.

Wieder zeigte sich in freudiger Erwartung das neckische Grinsen und entblößte links hinten eine Zahnlücke. Im Tiefflug setzte er über sie hinweg; dann bückte er sich und löste die Klammern, mit denen die Enden der selbstgebastelten Wannen befestigt waren und seine Fracht daran hinderten, vorzeitig abgekippt zu werden; und während das Luftschiff über die Fabrikarbeiter hinwegflog, ergossen sich Geleebonbons im Wert von einhundertfünfzigtausend Dollar über das Expressband.

Geleebonbons! Millionen und Milliarden violetter und gelber und grüner Geleebonbons, die nach Lakritz dufteten und nach Traube und Himbeer und Minze, die außen rund und glatt und knusprig waren und innen mehlig weich und zuckersüß, sie alle titschten und tanzten, glitschten und gluckerten, landeten auf Schöpfen und Schultern und Helmen und Halterungen der Timkinarbeiter, hüpften klimpernd über den Gleitsteig und rollten zwischen Füßen umher, erfüllten auf ihrem Weg nach unten den Himmel mit allen Farben der Freude und Ferien, prasselten herab wie Regen, ein dichtes Geplätscher, eine Sturzflut aus Süßigkeit und schimmerndem Glanz, der mit wehmütigem Wahnwitz in ein Universum der Vernunft und metronomischen Ordnung drang. Geleebonbons!

Die Schichtarbeiter brüllten und lachten angesichts des Bombardements und traten aus Reih und Glied. Die Geleebonbons gerieten in den Mechanismus des Gleitsteigs, und es folgte ein grässliches Geräusch wie von einer Million Fingernägel, die über eine Viertelmillion Schiefertafeln kratzen, und dann ein lautes Husten und Haspeln, und dann blieben sämtliche Gleitsteige stehen, und die Menschen wurden wie Mikadostäbchen wild durcheinandergeworfen, während sie noch immer lachten und sich kleine, kindisch gefärbte Geleebonboneier in den Mund schoben. Es war ein fröhlicher Ferientag, ein wohliger Wahnsinn, ein sensationeller Spaß. Aber …

Die Schicht wurde sieben Minuten lang aufgehalten.

Sie kamen sieben Minuten später nach Hause.

Der allgemeine Zeitplan geriet sieben Minuten lang ins Stocken.

Die Quoten wurden von den stillgelegten Gleitsteigen um sieben Minuten verzögert.

Er hatte den ersten Dominostein angestoßen – und einer nach dem anderen fielen die übrigen um: klick, klick, klick.

Dem System waren sieben Minuten abhandengekommen. Was nur eine Kleinigkeit war, kaum der Rede wert, aber in einer Gesellschaft, in der die einzigen Triebkräfte Ordnung und Einheit und Gleichheit und Pünktlichkeit waren, in der die Uhr alles galt und den Göttern der Zeit gehuldigt wurde, war es eine Katastrophe von höchster Bedeutung.

Und so erhielt er den Befehl, vor dem Ticktackmann zu erscheinen, und das wurde auf allen Kanälen des Kommunikationsnetzes ausgestrahlt. Um sieben Uhr sollte er antreten, und zwar verdammt noch mal pünktlich. Und sie warteten und warteten, aber er tauchte erst um halb elf auf und sang ein kurzes Liedchen über den Mondschein an einem Ort namens Vermont, von dem noch nie jemand etwas gehört hatte, und verschwand wieder. Und sie hatten alle seit sieben Uhr gewartet, und das warf ihre Terminpläne völlig über den Haufen. Blieb also immer noch die Frage: Wer ist der Harlekin?

Die unausgesprochene (und allemal wichtigere) Frage war jedoch: Wie sind wir nur in diese Situation geraten, wenn so ein verantwortungsloser Jux, so ein alberner Quatsch mit Geleebonbons im Wert von hundertfünfzigtausend Dollar unser ökonomisches und kulturelles Leben zum Erliegen bringen kann …

Gottverdammte Geleebonbons! Was für ein Wahnsinn! Woher hat er das Geld, um Geleebonbons im Wert von hundertfünfzigtausend Dollar zu kaufen? (Sie wussten, dass es so viel gekostet hatte, denn sie hatten ein Team von Situationsanalytikern von anderen Aufträgen freigestellt und in aller Eile zum Schauplatz des Verbrechens geschickt, um die Bonbons zusammenzufegen und zu zählen, um Ergebnisse vorzuweisen, was wiederum ihre Terminpläne durcheinanderbrachte und die ganze Abteilung um mindestens einen Tag zurückwarf.) Geleebonbons! Gelee…bonbons? Moment mal (immerhin ein Moment, über den wir Rechenschaft ablegen können), seit über hundert Jahren hat niemand mehr Geleebonbons hergestellt. Woher hat er sie dann?

Eine weitere gute Frage. Vermutlich wird sie nie zu eurer vollständigen Zufriedenheit beantwortet werden. Andererseits: Wie viele Fragen werden das schon?

Den Mittelteil kennt ihr jetzt. Hier ist der Anfang. So hat alles begonnen:

Ein Schreibtisch, ein Terminkalender. Tag für Tag, immer wieder aufs Neue. 9:00 Uhr: die Post öffnen. 9:45 Uhr: Treffen mit dem Planungsausschuss. 10:30 Uhr: mit J.L. Installationsdiagramme besprechen. 11:45 Uhr: um Regen beten. 12:00 Uhr: Mittagessen.

Und dergleichen mehr:

»Es tut mir leid, Miss Grant, aber der Termin für die Vorstellungsgespräche wurde auf halb drei festgesetzt, und jetzt ist es fast fünf. Tut mir leid, dass Sie sich verspätet haben, aber so sind nun einmal die Regeln. Sie können Ihre Bewerbung für dieses College nächstes Jahr noch einmal einreichen.«

Und dergleichen mehr:

Der Regionalexpress (10:10 Uhr) hält in Cresthaven, Gatesville, Tonawanda Junction, Selby und Farnhurst, aber nicht in Indiana City, Lucasville und Colton, außer sonntags. Der Eilzug (10:35 Uhr) hält in Gatesville, Selby und Indiana City; außer an Sonn- und Feiertagen, da hält er in …

Und dergleichen mehr:

»Ich konnte nicht warten, Fred. Ich musste um drei bei Pierre Cartain’s sein, und wir waren um drei viertel drei unter der Uhr am Bahnsteig verabredet, und du warst nicht da, also musste ich los. Du kommst immer zu spät, Fred. Wenn du da gewesen wärst, hätten wir die Sache gemeinsam unter Dach und Fach bringen können, aber so habe ich die Bestellung eben alleine angenommen …«

Und dergleichen mehr:

»Sehr geehrter Mr. Atterley, sehr geehrte Mrs. Atterly, bezüglich des fortwährenden Zuspätkommens Ihres Sohnes Gerold muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir ihn der Schule verweisen müssen, sofern nicht eine verlässliche Methode gefunden wird, die garantiert, dass er pünktlich zum Unterricht erscheint. Gerold ist zugegebenermaßen ein vorbildlicher Schüler, und seine Noten sind sehr gut, aber seine andauernde Missachtung des Stundenplans macht es unmöglich, ihm weiterhin Zugang zu einem System zu gewähren, in dem andere Kinder durchaus in der Lage sind, pünktlich dort zu sein, wo sie erwartet werden.«

Und dergleichen mehr:

»Wenn Sie nicht um 8:45 Uhr erscheinen, können Sie nicht wählen.«

»Es ist mir egal, ob das Skript etwas taugt – ich brauche es bis Donnerstag!«

»Bitte räumen Sie Ihr Hotelzimmer bis 14:00 Uhr.«

»Sie sind zu spät gekommen. Die Stelle ist bereits vergeben. Tut mir leid.«

»Wir haben Ihr Gehalt um die zwanzig Minuten gekürzt, die Sie vergeudet haben.«

»Himmel, wie spät ist es, ich muss unbedingt los!«

Und dergleichen mehr. Und dergleichen mehr. Und dergleichen mehr. Und dergleichen mehr mehr mehr mehr mehr tick tack tick tack tick tack, und eines schönen Tages dient die Zeit nicht mehr uns, sondern wir dienen der Zeit und werden zu Sklaven unseres Terminkalenders, Anbeter des Sonnenstandes, in ein Leben gepfercht, das von ständigen Einschränkungen bestimmt wird, weil das System nicht funktioniert, wenn wir uns nicht an einen genauen Zeitplan halten. Bis es mehr als nur eine kleine Unannehmlichkeit ist, sich zu verspäten. Bis es eine Sünde ist. Und dann ein Verbrechen. Und dann ein Verbrechen, das auf folgende Weise bestraft wird:

»MIT WIRKUNG VOM 15. JULI 2389, 24:00 UHR, verlangt die Dienststelle des Zeitbewahrers von allen Bürgern, ihre Stechkarten und Kardioplatten einzureichen. In Übereinstimmung mit Paragraf 555–7-SGH-999, der die Annullierung von Zeit pro Individuum regelt, werden alle Kardioplatten auf den jeweiligen Inhaber festgeschrieben …«

Was das bedeutet? Sie hatten eine Methode gefunden, die Lebensdauer der Menschen zu beschränken. Kam jemand zehn Minuten zu spät, verlor er zehn Minuten seines Lebens. Für eine Stunde wurde ein proportional längerer Zeitraum annulliert. Kam jemand fortwährend zu spät, erhielt er an einem Sonntagabend die Mitteilung des Ticktackmanns, dass seine Zeit abgelaufen sei und er am folgenden Montag um zwölf Uhr mittags »abgestellt« werde. Also bitte, Madame, Sir oder Bisex, bringen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung!

Und so wurde unter Einsatz dieser wissenschaftlichen Methode (deren grundlegende Funktionsweise nur der Dienststelle des Ticktackmanns bekannt war) das System aufrechterhalten. Etwas anderes war nicht zweckmäßig. Es war eine patriotische Pflicht. Die Termine mussten eingehalten werden. Schließlich befand man sich im Krieg.

Aber befand man sich nicht immer im Krieg?

»Das ist wirklich widerwärtig«, sagte der Harlekin, als Pretty Alice ihm den Steckbrief zeigte. »Widerwärtig und in höchstem Maße unangemessen. Schließlich ist heute nicht der Tag des Desperados. Ein Steckbrief!«

»Weißt du«, merkte Pretty Alice an, »du sprichst wirklich in einem merkwürdigen Tonfall.«

»Tut mir leid«, sagte der Harlekin demütig.

»Das muss dir nicht leidtun. Du sagst andauernd, dass es dir leidtut. Wirklich traurig, Everett, du mit deinen Schuldgefühlen.«

»Tut mir leid«, sagte er noch einmal, und dann schürzte er die Lippen, sodass einen Moment lang seine Grübchen sichtbar wurden. Das hatte er eigentlich gar nicht sagen wollen. »Ich muss wieder los. Ich muss irgendetwas machen

Pretty Alice knallte ihren Kaffeekolben auf die Theke. »Himmelherrgott, Everett! Kannst du nicht mal einen Abend zu Hause bleiben? Musst du immer in diesem grässlichen Clownskostüm herumrennen und den Leuten auf die Nerven gehen?«

»Ich …« Er brach ab und setzte sich die Narrenkappe auf die kastanienbraune Mähne. Glöckchen klimperten. Er erhob sich, spülte seinen Kaffeekolben aus und stellte ihn in den Trockner. »Ich muss los.«

Die Faxbox schnurrte. Pretty Alice zog das Blatt heraus, las es und knallte es vor ihm auf die Theke. »Da geht’s um dich. Natürlich. Du machst dich wirklich lächerlich.«

Er überflog es rasch. Dort stand, dass der Ticktackmann nach ihm suchte. Was ihm gleichgültig war – er würde weiterhin zu spät kommen. An der Tür dachte er einen Moment lang nach, drehte sich um und sagte verdrießlich: »Du sprichst auch in einem merkwürdigen Tonfall!«

Pretty Alice rollte mit den Augen und blickte himmelwärts. »Du machst dich wirklich lächerlich.«

Der Harlekin stolzierte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, die sich mit einem Seufzen schloss und automatisch verriegelte.

Kurz darauf klopfte es leise. Pretty Alice gab ein verzweifeltes Schnauben von sich und öffnete die Tür. Da stand er. »Ich bin etwa um halb elf wieder da, okay?«

Sie musterte ihn betrübt. »Warum erzählst du mir das? Warum? Du weißt doch, dass du zu spät kommen wirst. Du kommst immer zu spät, warum erzählst du mir dann einen solchen Unfug?« Sie schloss die Tür.

Auf der anderen Seite nickte der Harlekin still vor sich hin. Sie hat recht. Sie hat immer recht. Ich werde zu spät kommen. Ich komme immer zu spät. Warum erzähle ich ihr dann einen solchen Unfug?

Wieder zuckte er mit den Achseln. Und ging los, um ein weiteres Mal zu spät zu kommen.

Er hatte die Feuerwerksraketen abgeschossen, die bekannt gaben: »Ich werde an der 115. Jährlichen Invokation der Internationalen Ärztevereinigung teilnehmen, und zwar pünktlich um acht Uhr morgens. Ich hoffe, euch alle dort zu sehen.«

Die Worte hatten am Himmel gebrannt, und natürlich waren die Gesetzesvertreter vor Ort und lagen auf der Lauer. Und natürlich gingen sie davon aus, dass er zu spät kommen würde. Aber er traf zwanzig Minuten zu früh ein, noch während sie ihre Spinnennetze aufbauten, um ihn zu fangen. Er blies in ein riesiges Megafon und jagte ihnen damit einen solchen Schreck ein, dass sich ihre Netze zusammenzogen und sie nach oben gerissen wurden, wo sie nun hoch über dem Boden des Amphitheaters schreiend und zappelnd hingen. Der Harlekin lachte und lachte und entschuldigte sich übermäßig. Auch die Ärzte, die sich in feierlicher Konklave versammelt hatten, brüllten vor Lachen und nahmen die Entschuldigungen des Harlekin mit übertriebenen Verbeugungen an, und alle hatten einen Riesenspaß, und alle fanden, dass der Harlekin ein echter Gaudibursche in schicken Hosen war – alle außer den Gesetzesvertretern, die von der Dienststelle des Ticktackmanns losgeschickt worden waren; sie hingen dort oben auf äußerst ungebührliche Weise wie Fracht an einem Hafenkran.

(In einem anderen Teil der Stadt, in der der Harlekin seinen »Aktivitäten« nachging, geschah etwas, das rein gar nichts mit dem zu tun hat, was uns hier beschäftigt, außer dass es die Macht und Bedeutung des Ticktackmanns veranschaulicht: Ein Mann namens Marshall Delahanty erhielt von der Dienststelle des Ticktackmanns die Mitteilung, dass man ihn abstellen würde. Seine Frau nahm den Bescheid von einem Minee in grauem Anzug entgegen, der ihn mit traditionell trauriger Fratze überreichte. Auch ohne das Siegel zu brechen, wusste sie, worum es sich handelte – es war ein Billet-doux, das damals jeder sofort erkannte. Sie stieß ein Keuchen aus und hielt es weit von sich, als wäre es ein Objektträger mit einem Botulismuserreger, und sie betete, dass es nicht für sie war. Bitte lass es für Marsh sein, dachte sie so brutal wie realistisch, oder für eines der Kinder, aber nicht für mich, lieber Gott, nicht für mich! Und dann öffnete sie es, und es war für Marsh, und sie war gleichzeitig entsetzt und erleichtert – der Soldat in der Reihe hinter ihr hatte die Kugel abbekommen. »Marshall«, schrie sie. »Marshall! Eine Annullierung, Marshall! Omeingott, Marshall, was machen wir nur, was machen wir nur, Marshall, omeingottmarshall …« Und in jener Nacht war in ihrem Zuhause das Geräusch von zerreißendem Papier und Furcht zu hören, und der Gestank des Wahnsinns stieg den Rauchfang hinauf, und es gab nichts, rein gar nichts, was sie dagegen hätten tun können.

Aber Marshall Delahanty versuchte zu fliehen, und am nächsten Morgen, als es an der Zeit war, ihn abzuschalten, befand er sich zweihundert Meilen weit weg, tief in den Wäldern Kanadas, und die Dienststelle des Ticktackmanns löschte seine Kardioplatte, und Marshall Delahanty kippte mitten im Laufen vornüber, und sein Herz blieb stehen, und das Blut versiegte auf dem Weg zum Gehirn, und er war tot, nichts weiter. Auf der Sektorenkarte in der Dienststelle des Obersten Zeitbewahrers ging ein Licht aus, während der Bescheid zur Faxreproduktion eingegeben wurde, und der Name Georgette Delahanty wurde auf die Arbeitslosenliste genommen, bis sie wieder heiraten konnte. Damit ist diese Fußnote zu Ende, und alles Wichtige ist gesagt außer: Lacht nicht, denn genau das wird dem Harlekin passieren, falls der Ticktackmann jemals seinen richtigen Namen herausfindet. Das ist nicht lustig.)

Auf der Einkaufsebene der Stadt drängten sich die Donnerstagsfarben der Konsumenten: Frauen in kanariengelben Chitons und Männer in pseudotirolischer Tracht, die aus Jade und Leder gefertigt war und sehr eng saß, die Ballonhosen ausgenommen.

Als der Harlekin auf dem noch im Bau befindlichen Gerippe des Effizienzeinkaufszentrums auftauchte, das Megafon an den koboldhaft lachenden Lippen, deuteten alle hinauf und glotzten, und er schalt sie aus:

»Warum lasst ihr euch von ihnen herumkommandieren? Warum lasst ihr euch von ihnen sagen, dass ihr euch beeilen und wie Ameisen oder Maden herumwuseln sollt? Nehmt euch Zeit! Schlendert ein wenig herum! Genießt den Sonnenschein, genießt die kühle Brise, lebt euer Leben in eurem eigenen Tempo! Seid keine Sklaven der Zeit, denn das ist wie eine grässliche Art zu sterben, langsam, nach und nach … Nieder mit dem Ticktackmann!«

Wer ist dieser Spinner?, wollten die meisten Konsumenten wissen. Wer ist dieser Spinner du meine Güte ich komm zu spät ich muss mich beeilen …

Und der Bautrupp auf dem Einkaufszentrum erhielt von der Dienststelle des Obersten Zeitbewahrers die dringliche Mitteilung, dass sich der unter dem Namen Harlekin bekannte gefährliche Kriminelle auf ihrem Dach befände und ihre Hilfe bei seiner Ergreifung dringend erforderlich sei. Der Bautrupp sagte Nein, dafür hätten sie keine Zeit, sie müssten den Terminplan einhalten, aber der Ticktackmann ließ seine Beziehungen zur Regierung spielen, und so wurde den Männern befohlen, sofort mit der Arbeit aufzuhören und sich den Schwachkopf mit dem Megafon zu schnappen. Also stiegen ein Dutzend oder mehr vierschrötige Arbeiter in ihre Bauplattformen, gaben die Schwerkraftdämpfer frei und schwebten zum Harlekin empor.

Nach dem Debakel (bei dem, dank der Rücksichtnahme des Harlekins, niemand ernsthaft verletzt wurde) versuchten die Arbeiter, sich wieder zu sammeln und ihn ein weiteres Mal anzugreifen, aber es war zu spät. Er war verschwunden. Das Geschehen hatte jedoch eine große Menschenmenge angezogen, und der Einkaufszyklus wurde um Stunden aus der Bahn geworfen – um Stunden! Die Erwerbsbedürfnisse des Systems gerieten in entsprechenden Rückstand, und so wurden Maßnahmen ergriffen, den Zyklus den Rest des Tages über zu beschleunigen, aber immer wieder geriet er ins Stocken oder beschleunigte allzu sehr, und es wurden zu viele Schwimmerventile verkauft und nicht genug Weggler, was bedeutete, dass der Popli-Schlüssel nicht mehr stimmte, was es wiederum erforderlich machte, dass etliche Kisten verderbliches Smash-O eiligst in Läden gebracht wurden, die normalerweise nur alle drei oder vier Stunden eine Kiste benötigten. Die Lieferungen gerieten durcheinander, es gab haufenweise Irrläufer, und letztlich bekam das sogar die Swizzleskid-Branche zu spüren.

»Kommt nicht zurück, bevor ihr ihn habt!«, sagte der Ticktackmann sehr leise, sehr ernsthaft und sehr bedrohlich.

Also brachten sie alles zur Anwendung, was ihnen einfiel. Hunde. Sonden. Streichlisten für Kardioplatten. Teeper. Bestechungsgelder. Stiktytes. Einschüchterungsmethoden. Folter. Spitzel. Polizisten. Razzien. Fallaron. Verlockende Angebote. Fingerabdrücke. Bertillonage. Raffinesse. Hinterlist. Heimtücke. Raoul Mitgong (aber der war keine große Hilfe). Angewandte Physik. Kriminologische Techniken.

Und zum Teufel – sie erwischten ihn.

Wie sich herausstellte, war sein Name Everett C. Marm, und er war letztlich nichts Besonderes: nur ein Mann, der kein Zeitgefühl hatte.

»Bereue, Harlekin!«, sagte der Ticktackmann.

»Leck mich!«, erwiderte der Harlekin mit spöttischem Grinsen.

»Weißt du, wie lange du dich insgesamt verspätet hast? Dreiundsechzig Jahre, fünf Monate, drei Wochen, zwei Tage, zwölf Stunden, einundvierzig Minuten, neunundfünfzig Sekunden und null Komma drei sechs eins eins eins Mikrosekunden. Du hast alles aufgebraucht, was nur irgendwie ging, und noch viel mehr. Ich werde dich abschalten.«

»Jag doch jemand anderem Angst ein! Ich bin lieber tot, als mit einem Schreckgespenst wie dir zu leben in einer so bescheuerten Welt.«

»Es ist mein Job.«

»Red keinen Scheiß! Du bist ein Tyrann. Du hast kein Recht, die Leute herumzukommandieren und umzubringen, wenn sie zu spät kommen.«

»Du kannst dich einfügen. Du kannst dich anpassen.«

»Mach mich los, und ich passe meine Faust an dein Gesicht an!«

»Du bist ein Nonkonformist.«

»Das war früher kein Verbrechen.«

»Jetzt aber schon. Du solltest die Welt sehen, wie sie ist.«

»Ich hasse sie. Es ist eine schreckliche Welt.«

»Nicht alle sind dieser Meinung. Die meisten Menschen haben es gerne ordentlich.«

»Ich nicht – und die meisten, die ich kenne, ebenso wenig.«

»Das ist nicht wahr. Wie, meinst du, haben wir dich gefunden?«

»Das interessiert mich nicht.«

»Ein Mädchen namens Pretty Alice hat uns gesagt, wo du bist.«

»Das ist eine Lüge!«

»Doch, es stimmt. Du machst ihr Angst. Sie will dazugehören. Sie will sich anpassen. Ich werde dich abschalten.«

»Dann mach es doch!«

»Nein … ich werde dich nicht abschalten.«

»Du bist ein Idiot!«

»Bereue, Harlekin!«, sagte der Ticktackmann.

»Leck mich!«

Also schickten sie ihn nach Coventry. Und nahmen ihn in die Mangel. Sie machten genau das mit ihm, was sie in 1984 mit Winston Smith gemacht hatten, einem Buch, das keiner von ihnen kannte, aber die Techniken sind wahrlich uralt, und Everett C. Marm hatte ihnen nichts entgegenzusetzen. Und so erschien der Harlekin eines schönen Tages, nachdem einige Zeit ins Land gegangen war, im Kommunikationsnetz, wie immer neckisch und mit Grübchen und leuchtenden Augen, als wäre er nie einer Gehirnwäsche unterzogen worden, und sagte, dass er sich geirrt habe, dass es eine gute Sache, eine wirklich gute Sache sei, dazuzugehören, stets pünktlich zu sein, und Yippie, los geht’s, und alle starrten sie hoch zu ihm auf die Großbildschirme, die ganze Straßenzüge einnahmen, und sagten sich, na schön, war er also doch nur ein Spinner, und wenn das System so läuft, dann richten wir uns eben danach, denn es zahlt sich nicht aus, gegen die Obrigkeit zu kämpfen oder, wie in diesem Fall, gegen den Ticktackmann. Und so wurde Everett C. Marm vernichtet, was wirklich schade war, vor allem wenn man bedenkt, was Thoreau weiter oben gesagt hat, aber wo gehobelt wird, fallen eben Späne, und bei jeder Revolution sterben ein paar, die eigentlich nicht hätten sterben sollen, aber anders geht es nicht, so läuft das nun mal, und wenn man nur eine kleine Sache verändert, dann hat es sich vielleicht schon gelohnt. Oder um es klar und deutlich auszudrücken:

»Äh, verzeihen Sie, Sir, ich weiß nicht, wie ich, äh, wie ich Ihnen das sagen soll, aber Sie, äh, Sie sind drei Minuten zu spät gekommen. Und dadurch ist unser Terminplan, äh, ein wenig durcheinandergeraten.« Er grinste verlegen.

»Das ist doch lächerlich«, murmelte der Ticktackmann hinter seiner Maske. »Kontrollieren Sie Ihre Uhr!« Und er ging in sein Büro und summte: Mrmee, mrmee, mrmee.