Das Buch
Im 8. Schwangerschaftsmonat erfahren Shabnam und Wolfgang Arzt, dass ihr Kind vermutlich an einem schweren Chromosomendefekt leidet. Die Ärzte drängen sie zur Abtreibung, aber sie entscheiden sich für ihre Tochter. Jaël kommt mit Trisomie 18 zur Welt, die von Ärzten prognostizierte Lebenserwartung beträgt wenige Stunden, Tage, Wochen. Doch Jaël wird 13 Jahre alt und prägt auf ihrem Weg alle, die sie kennenlernen, mit ihrer ansteckenden Lebensfreude, überbordenden Liebe und dankbaren Haltung zum Leben. Mit absoluter Offenheit, voller Wärme und großer Zuversicht beschreiben ihre Eltern, was es bedeutet, ein Kind zu lieben – und zu verlieren. Ihre Geschichte macht Mut, an den Wert des Lebens zu glauben und schwierigen Situationen mit Optimismus und Humor zu begegnen. Vor allem aber zeigt sie, was für ein großes Vorbild uns ein kleines Mädchen sein kann.
Die Autoren
Shabnam, Dipl.-Pädagogin und Deutsch-Dozentin, 1974 in Persien geboren, immigriert als Jugendliche nach Deutschland, wo sie Wolfgang Arzt, Theologe und Sozialpädagoge, Jahrgang 1971, kennenlernt. 2001 kommt ihr Wunschkind Jaël zur Welt, doch eine tödliche Diagnose zerstört das junge Glück. Ihre Erfahrungen verarbeiten sie in dem Blog Jaëls Welt. Nach 13 intensiven Jahren der Pflege verstirbt Jaël 2014. Shabnam und Wolfgang Arzt arbeiten heute für eine Kölner Sozialstiftung, die u. a. Kinderhospize unterstützt, zudem gehört Shabnam zum Vorstand der Kinderhospiz-Stiftung Bergisches Land. Sie leben in Solingen.
SHABNAM UND WOLFGANG ARZT
Was wir in 13 Jahren mit
unserer todkranken Tochter über
das Leben gelernt haben
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 10/2017
Copyright © 2017 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angelika Lieke
Bilder: © privat, Bild »Jaël im Bällebad«: © Uli Preuss
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines privaten Fotos von © Shabnam und Wolfgang Arzt
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-21488-3
V002
www.ludwig-verlag.de
In dankbarer Erinnerung
an unsere geliebte Tochter Jaël
Inhalt
Zur Entstehung dieses Buches
Wie alles begann
TEIL 1
Diagnose »Nicht lebensfähig!«
Wir sind schwanger!
Das Tagebuch
Sie ist da!
Zwischen Leben und Tod
Zeilen, die den Tod bedeuten
Der schlimmste Tag meines Lebens
Zu schön für Trisomie 18
Heimwärts
Das Wunder beginnt
Home sweet home
Personal Training
Willkommensparty in der Kirche
Weihnachtsfreude
Lachen und ein gesunder Dickkopf
Zappelfinger
»Und was ist mit Kämmen?«
»Genießt es!«
Vielleicht wird’s nur einmal Sommer
Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?
Ins Leben geliebt
TEIL 2
Sie sprachen vom Tod, wir feierten das Leben – dreizehn kostbare Jahre
Das unvollständige Sammelalbum
Definiere Glücklichsein
Schlaflos in Solingen
Vom Fordern, Fördern und Überfordern
Gesucht: Ein Nest für Jaël
Jaël und das System Schule
Der Vertrauensvorschuss ist aufgebraucht
Alles eine Frage der Haltung
Meister der Beziehung – Jaël und die Delfine
Uneigennützige Freundschaft
Belauschte Zaungäste
An der Talstation des Lebens
Als Paar durchkommen
Mit dem Tod auf Du und Du
Vom Sterben für das Leben lernen
Ein Zuhause auf Zeit – das Kinderhospiz
Loslassen üben
»Jaël heißt Glückseligkeit«
Die Entscheiderin
Glück ist, was einem erspart bleibt
Erprobte Kraftquellen
TEIL 3
»Flieg, Jaël, flieg!«
Erste Signale
Engel im Ausnahmezustand
Sweet Thirteen
Zeichen des Abschieds
Ein letzter Versuch
Der Duft von Wildrosenöl
Noch einmal ganz fest halten
Liebe wie Konfetti
Flieg, Jaël-Maus!
Der erste Tag ohne Jaël
Zwei Herren in Schwarz und Blumen in Zartrosa
TEIL 4
Ein echter Ritterschlag
Die Beerdigung
Die Lücke spüren
Grüße von drüben
Mit Jaël quer durch die USA
Zwischen Ohnmacht und Dankbarkeit – Gedanken einer Mutter
Meine Superheldin – Ein Vater blickt auf zu seiner Tochter
Was wir gelernt haben
Danke
Anhang
Anmerkungen
Zur Entstehung dieses Buches
Immer wieder forderten Freunde uns auf: »Schreibt doch ein Buch über Jaël.« Sie hatten uns dreizehn Jahre lang durch Höhen und tiefste Tiefen begleitet. Und nun wollten sie gerne etwas in der Hand haben, anhand dessen sie sich erinnern und ihren eigenen Kindern später einmal von Jaël erzählen könnten. Dieser Gedanke gefiel uns gut. Auch wir als Eltern verspürten den Wunsch, alles einmal aufzuschreiben. In einem eigenen Blog hatten wir deshalb schon früh begonnen, schriftlich zu reflektieren, was uns bewegt.
Geschrieben haben wir auf Grundlage von eigenen Tagebuchaufzeichnungen, unseren Blogartikeln, Erinnerungen, Gesprächen mit Freunden, Pflegepersonal und Ärzten, einem Ordner mit Dokumenten und Notizen von Klinikaufenthalten, Kindergarten, Schule. Wo wir uns zu einzelnen Aspekten kritisch geäußert haben, möchten wir diese Kritik sachlich und nicht persönlich verstanden wissen. Wir haben Frieden geschlossen mit den Ereignissen, wie sie geschehen sind. Wenn wir dennoch darüber schreiben, dann nicht, um Schuld zuzuweisen, sondern um zu reflektieren, warum wir uns als Eltern so verhalten haben, wie wir es taten, und weil wir glauben, dass wir von all diesen Erfahrungen lernen können – und andere mit uns.
Als wir mit dem Schreiben begannen, stellten wir fest, dass es uns schwerfiel, Jaëls ganze Geschichte aufzuschreiben. Nicht, weil es emotional schwierig war. Das war es natürlich, aber das wussten wir bereits vorher. Der Prozess des Schreibens war intensiv und tränenreich. Doch er hat uns auch geholfen, zu vergessenen oder in verdrängte Bereiche unserer Geschichte vorzudringen, die Dinge also noch einmal genau anzuschauen.
Das eigentlich Schwierige für uns war, das Erlebte so zu erzählen, dass es auch gedruckt werden kann. Wir sprechen sehr gerne von der Zeit mit Jaël, aber wir scheuten uns, es zwischen zwei Buchdeckel zu pressen, denn anders als im Blog befürchteten wir eine Zeit lang, ein Buch könnte eine abschließende, letztgültige Bewertung dessen sein, was passiert ist – und somit ein Ende der Geschichte.
Die Jahre mit unserer Tochter sind für uns wie ein kostbares Geheimnis, das wir gar nicht endgültig in Worte fassen können, weil wir uns dem nicht gewachsen fühlen. Wenn wir vor Schülern, in einer Kirche oder bei der Schulung von Ehrenamtlichen eines Kinderhospizes von Jaël sprechen, kreisen unsere Worte sorgfältig und vorsichtig um die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, es ist ein Prozess des Nachdenkens und Deutens, der immer noch anhält, während wir erzählen. Die Geschichte ist nicht vorbei, auch wenn sie einen vorläufigen Endpunkt erreicht hat. Und so haben wir uns entschieden, dieses Buch einfach als das zu betrachten: als ein Staunen, ein nachdenkliches Kreisen, ein schriftliches Berichten von Geschehnissen, die für unser Leben überaus kostbar sind. Wenn unsere Leserinnen und Leser das Buch auf diese Weise lesen, dann fühlen wir uns richtig verstanden und wohl mit dem gedruckten Wort. Wir hoffen, dass unsere Geschichte dem einen oder anderen Auftrieb geben möge in krisenhaften Zeiten. Den Mut, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und nicht das Modell, das andere von ihm haben. Die Liebe, um das Leben als das zu feiern, was es im Wesentlichen ist: ein Beziehungsgeschehen zwischen unperfekten Menschen, die alle einmal sterben werden – eine Geschichte von Umarmen und Loslassen.
Wie alles begann
Wolfgang
Es ist der 27. Juni 2001. Achter Schwangerschaftsmonat. Eigentlich ein wunderschöner und warmer Sommertag, wäre da nicht der Termin zur pränatal-medizinischen Untersuchung in der Universitätsklinik Köln. Wir haben inzwischen wirklich genug von diesen Untersuchungen. Wir möchten keine Diagnose mehr, wir möchten einfach in Ruhe unser Kind bekommen.
Der Termin zwei Wochen zuvor in einer Düsseldorfer Praxis hatte seine Spuren hinterlassen. Eine Praxis in direkter Nähe zur Königsallee im abweisenden, sterilen Design – in einem Science-Fiction-Film die ideale Kulisse für einen Ort, an dem perfekte Menschen dafür sorgen, dass sie ein fehlerfreies Kind bekommen. Nur dass wir uns nicht im Film befinden. Oder wenn, dann in einem schlechten. Die Frauenärztin hatte bei Shabnam zu viel Fruchtwasser festgestellt und uns zur Ursachenforschung nach Düsseldorf überwiesen. Da sitzen wir nun im weißen Designer-Wartezimmer, gemeinsam mit mehreren Frauen, die offensichtlich alleine gekommen sind. Ich bin hier also der einzige werdende Vater. Wo sind die anderen? In diesem Moment komme ich mir recht überflüssig vor.
Im Untersuchungszimmer bearbeitet der Mann in Weiß mit dem Ultraschallscanner den Mutterbauch so hart und lieblos, dass wir uns beide gedemütigt fühlen. Er wolle beim Kind einen Schluckauf provozieren, um herauszufinden, ob es schlucken kann, erklärt er. Wir sind verstört: Da ist man noch nicht auf der Welt und muss schon beweisen, was man kann. Uns als Eltern ist es ziemlich egal, ob das Kind Schluckauf kann. Eine Fruchtwasseruntersuchung kommt für uns nicht infrage, geschweige denn eine Abtreibung. Wir lieben unser Kind und wollen es haben. So wie es ist. Fertig. Dreißig Minuten dauert die Ultraschalluntersuchung. Am Ende schickt uns der Arzt in die Mittagspause. Danach wolle sein Kollege noch mal schauen.
Zurück in der Praxis also noch einmal die gleiche unnachgiebige Prozedur. Nun kann Shabnam ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Wir begreifen beide, dass die Ärzte unser Kind nicht als Mensch betrachten. Sondern vor allem als Problem. Und dieses Problem braucht zum Abschluss einen Namen, eine Diagnose. Also dann: Arthrogryposis mit Krämpfen in Händen und Füßen, kaum überlebensfähig nach der Geburt, weil es große Probleme beim Atmen und Trinken haben werde. Jetzt wird die Stimme des Arztes eindringlich: »Wir hatten in den letzten zwei Monaten bereits vier derartige Fälle. Eines der Kinder ist auf die Welt gekommen und hat jetzt große Probleme. Wollen Sie das Ihrem Kind und sich selbst wirklich antun?« Meine Frau und ich sehen uns an und wissen nur eines: Das hier wollen wir uns auf keinen Fall weiter antun.
Wir verlassen die Praxis. Traurig, schockiert, verunsichert. Wir waren uns doch beide einig, dass wir unser Kind wollen, und haben das auch unmissverständlich kommuniziert. Dennoch sprach der Arzt von einer Abtreibung und hat massiven Druck aufgebaut. Wie sollen erst Eltern, die sich vielleicht nicht ganz sicher sind, diesem Druck standhalten? Geschweige denn Mütter, die alleine zur Untersuchung kommen? In diesem Moment wird mir bewusst, wie wichtig meine Anwesenheit an diesem Ort ist.
Als wir draußen sind, haben wir beide Tränen in den Augen. Geschäftsleute in Anzügen und Menschen mit Einkaufstüten hasten an uns vorbei. Ihre Gesichter nehmen wir nicht wahr. Wir fühlen uns, als ob wir nicht dazugehören. Unser Kind ist nicht gesund, nicht perfekt, möglicherweise »schwerstmehrfachbehindert«. Wir wollen es trotzdem. Und stoßen damit in dieser Welt auf Unverständnis. Wir weinen. Während der kompletten Rückfahrt im Auto. Zu Hause in der Wohnung. Warum muss ausgerechnet uns das passieren? Das ist nicht fair. Und dann mobilisieren wir die letzten Kräfte und beten für unser Kind.
Nach Düsseldorf also Köln. Die Frauenärztin sagte, hier seien wir besser aufgehoben. Und außerdem haben sie ein ganz neues Feinultraschallgerät. Sogar in Farbe. Wir betreten die Uniklinik. Hier wirkt alles etwas menschlicher. Kein Wunder, hier kommen ja auch Menschen zur Welt. Der junge Arzt ist freundlich und einfühlsam und nimmt sich viel Zeit für seine Untersuchung. Dennoch: Wenn diese pränatalen Untersuchungen eines ganz sicher auslösen, dann eine Abneigung gegen Ultraschallgeräte. Man fühlt sich so ohnmächtig. Weil alles, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, wie eine unbekannte Fremdsprache wirkt. Da hilft auch die Farbe nicht. Wir können nichts deuten. Der Arzt schaut auf den Bildschirm, wir schauen auf sein Gesicht. Auf die Augenbrauen, die Mundwinkel. Um herauszufinden, ob es ernst, sehr ernst oder gut steht um unser Kind. Die Zeit dehnt sich. Dann endlich spricht er mit uns. Zunächst eine Überraschung: Der Arzt revidiert die Diagnose, die seine Kollegen aus der Praxis für Pränataldiagnostik zwei Wochen zuvor in den Raum gestellt haben. Keine Arthrogryposis. Er sieht aber eine Verengung der Speiseröhre, geschlossene Hände, eine sogenannte Sandalenlücke am rechten Fuß.
An diesem Nachmittag fällt zum ersten Mal der Begriff »Trisomie 18« (Edwards-Syndrom), ein Chromosomendefekt, der beim Kind kurz nach der Geburt zum Tod führe. Doch da ist noch ein »Aber«, das uns Hoffnung gibt. Der Arzt spricht den Satz, der ein Leben lang in uns nachhallt: »Aber – Trisomie 18 kann sie eigentlich nicht haben, dafür ist sie viel zu schön!«
5. Dezember 2014. Ein eiskalter Wintertag. Eine mittelalterliche Friedhofskapelle. Darin ein Blumenmeer, ein weißer Sarg und an die dreihundert Menschen. Sie sind gekommen, um Abschied zu nehmen. Um unser Kind auf seinem letzten Weg zu begleiten. Sie sind hier, um ein wundervolles Mädchen zu verabschieden. Nur wenige Stunden, Tage, Wochen hatten die Ärzte ihr gegeben. Dreizehn kostbare Jahre lang durften wir ihre Eltern sein. Ihr Name ist Jaël. Und das ist ihre Geschichte.
TEIL 1
Diagnose »Nicht lebensfähig!«