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Titel der amerikanischen Originalausgabe
BOWL OF HEAVEN
Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst
Deutsche Erstausgabe 11/2013
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2012 by Gregory Benford und Larry Niven
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-11331-5
V003
www.heyne-fantastisch.de
PERSONEN UND SCHIFFE
Cliff Kammash – Biologe
Mayra Wickramsingh – Pilotin, Beth-Gruppe
Abduss Wickramsingh – Ingenieur, Beth-Gruppe
Glory – Zielplanet
Captain Redwing
SunSeeker – das Bussardkollektor-Schiff
Beth Marble – Biologin
Eros – das erste Landeschiff
Fred Ojama – Geologe, Beth-Gruppe
Aybe – Ingenieur, Cliff-Gruppe
Howard Blaire – Ingenieur, Cliff-Gruppe
Terrence Gould – Cliff-Gruppe
Irma Michaelson – Pflanzen-Biologin, Cliff-Gruppe
Tananareve Bailey – Beth-Gruppe
Lau Pin – Ingenieur – Beth-Gruppe
CAPTAIN REDWING HAT VIER BESATZUNGSMITGLIEDER AN BORD DER SUNSEEKER :
Jampudvipa, Jam genannt – indischer Brückenoffizier
Ayaan Ali – arabische Navigatorin/Pilotin
Clare Conway – Kopilotin
Karl Lebanon – Technologie-Offizier
ASTRONOMEN-VOLK
Memor – Aufmerksame Anwesende Astronomin
Asenath – Weisheitsprinzipalin
Ikahaja – Ökosystem-Savant
Omanah – Ökosystem-Gruppenmeisterin
Ramanuji – Biologie-Savant
Kanamatha – Biologie-Gruppenmeisterin
Thaji – Richter-Savant
(Die Aufgenommenen – jene fremden Wesen, mit denen bereits ein Kontakt stattfand und die in die »Schale« integriert sind; sie bekommen in Band 2 weitere Namen.)
VOLK-BEGRIFFE
TransSprache
Lange Aufzeichnungen
Letzte Eindringlinge
Untergeist
Dienstler
Die Erbauer
Dritte Variante (Astronomen-Variante)
Astronauten (Astronomen-Variante)
PROLOG
»Hier am Strand bin ich gewandert, Nahrung schöpfend, tief begeistert,
Aus dem Märchenschatz des Wissens, den des Menschen Geist bemeistert.«
TENNYSON, Locksley Hall
DIE LETZTE PARTY
Cliff wandte sich von den Personen ab, die gekommen waren, um Abschied zu nehmen, und betrachtete die Welt, die er nie wiedersehen würde.
Hinter ihm ging die Party weiter: Gelächter, Rufe, hämmernde Musik. Das Lachen klang manchmal ein bisschen zu schrill, die Musik war zu laut, die Unbeschwertheit nur gespielt, denn hinter all den Stimmen steckte unruhige, nervöse Erwartung. Von den Verwandten auf der Erde hatten sie sich bereits verabschiedet. Jetzt mussten Besatzungsmitglieder und Passagiere der SunSeeker von den Baugruppen des Raumschiffs Abschied nehmen, von den Ausbildern und den politischen und wirtschaftlichen Größen, die alles getan hatten, um ihnen den Flug in die Tiefen des Alls zu ermöglichen.
Das sich Cliff darbietende Bild war scharf, in allen Einzelheiten, aber es handelte sich natürlich um einen Schirm, der die zentrifugale Drehung der Station kompensierte. Deshalb blieb die Erde an Ort und Stelle, und er konnte die kleinen silbernen Flecken der Pakete erkennen, die dem SunSeeker-Komplex entgegenschwebten. Sie stammten von den Katapulten auf dem Mond, und eine zweite Fleckenlinie reichte zurück zu den größeren Tupfen der Konstruktionsanlagen in höheren Umlaufbahnen. Ein schmuddeliger neuer Asteroid näherte sich der Erde nach einer jahrzehntelangen Reise. Er wurde bereits von silbrigen Bienenschwärmen automatischer Fabriken begleitet, die seinen felsigen Kern aushöhlten und eine Hüttenkolonie errichteten. Mit gläsernen Häuten ausgestattete Biofabriken warteten auf die Arbeitsgruppen, die sich auf das Asteroidenopfer stürzen würden. Die flüssigen Reichtümer waren unter halb durchsichtigen Kuppeln verborgen, wo sie darauf warteten, vom Sonnenlicht geweckt zu werden.
Cliff dachte erneut daran, dass Maschinen im All wie Kunstwerke aussahen. Hier unterlagen sie nicht den Beschränkungen der Gravitation und wirkten daher wie verzerrte Abstraktionen euklidischer Geometrie: Würfel, Ellipsoide und stumpfe Zylinder, die Mobiles ohne Fäden bildeten. Mit der langsamen Eleganz von Gletschern bewegten sie sich vor dem Hintergrund der Sterne.
Im geostationären Orbit blieben Satelliten selbst dann Punkte, wenn er den Schirm auf maximale Vergrößerung schaltete. Dafür mangelte es in diesem hohen Bereich nicht an Luxushotels für sehr alte Menschen, zweihundert und mehr Jahre alt. Es gab zahlreiche religiöse Kolonien, die aber meistens wesentlich spartanischer ausgestattet waren als die Hotels; zwischen ihnen flogen Schiffe und Shuttles wie glitzernder Staub – das alles war Teil eines maschinellen Schwarms, der die Erde umgab.
Cliff beugte sich zur Seite und bemerkte den Glanz der Fresnel-Linse am L1-Punkt; von seiner Position aus konnte er sie nur als eine dünne Scheibe wahrnehmen. Sie hing zwischen Erde und Sonne und lenkte Licht vom immer noch überhitzten Planeten ab. Justiersegmente funkelten in matter Pracht.
»Es wird alles in Ordnung gebracht sein, noch bevor wir erwachen«, erklang Beths weiche Stimme hinter ihm.
Cliff drehte sich um und lächelte. »Aber wir werden überhaupt nicht älter sein.«
Beth blinzelte, lächelte ebenfalls und gab ihm einen Kuss. »Es ist schwer, einen Optimisten nicht zu lieben.«
»Ich hätte mich nicht auf das hier eingelassen, wenn ich nicht glauben würde, dass wir wieder erwachen.«
Sie trug ein Futteralkleid, das sie ganz sicher nicht nach Glory mitnehmen würde. Es schmiegte sich eng an ihren schlanken Körper, schloss sich um den Hals und reichte bis zu den bernsteinfarbenen Armbändern an den Handgelenken. Die rechte Seite zeigte nackte Haut in der Farbe von Chardonnay, als das Kleid die Polarisation wechselte und Cliff einen Blick auf Beths Körper gestattete. Opazität und Farbe variierten, ließen sich vermutlich mithilfe der Armbänder kontrollieren. Er hoffte, dass sie diese Show für ihn veranstaltete. Die Leute in der Nähe gaben vor, davon ebenso wenig zu bemerken wie von den tiefen Dekolletés, die man überall bewundern konnte, den eingebauten Push-up-BHs, Pailletten, Federn, Schlitzen und Lochmustern. Hinzu kamen Hosenbeutel bei einigen Jungs, Muscleshirts und Falkenmützen, die Männern etwas Animalisches gaben.
»Hier werden reichlich Signale verteilt, die nicht unbedingt subtiler Natur sind«, kommentierte Beth trocken.
Cliffs Stil war das nicht. »Alles nur Angeberei.« Er nahm Beth einfach in die Arme und küsste sie. Das funktionierte am besten, wie er schon früh gelernt hatte, insbesondere dann, wenn ihm nichts Originelles einfiel. Die meisten dieser Leute würde er ohnehin nie wiedersehen.
Ein über die Decke rollendes Spruchband unterstrich diesen Gedanken. Es stammte von den Montagegruppen, die bei Bau und Ausrüstung der SunSeeker jahrelang mit der Crew zusammengearbeitet hatten.
HOFFENTLICH HAT ES EUCH GEFALLEN, UNS AUF TRAB ZU HALTEN.
SO WIE ES UNS GEFÄLLT, EUCH AUF DIE REISE ZU SCHICKEN.
Terry und Fred, auf dem Weg zur Bar, blieben bei Cliff und Beth stehen, deuteten zum Spruchband und lachten. »Komisch«, sagte Terry. »Wir fliegen nach Glory, und diese Leute beginnen morgen mit der Arbeit am nächsten Ramscoop. Und doch feiern sie ausgelassener als wir.«
»Ja«, erwiderte Fred. »Seltsam. Wir freuen uns auf den Flug, aber ihre Freude darüber, dass wir losfliegen, scheint noch größer zu sein.«
»Menschen wie wir sind Mangelware«, sagte Terry. »Alle Psycher vertreten diese Ansicht. Warum ergreifen nicht alle die Chance, eine ganz neue, unberührte Welt kennenzulernen?«
»Anstatt hierzubleiben und die in Ordnung zu bringen, die wir verhunzt haben?«, fragte Cliff. Es war ein altes Thema für sie alle, aber ihm brannte es noch immer unter den Nägeln.
Beth zuckte die Schultern. »Wir überlisten das Klima, oder das Klima überlistet uns.«
»Es hat Übung darin«, sagte Terry. »Die früheren Generationen haben sich die Erde untertan gemacht, und dann hat sich die Erde gerächt. Jetzt sind wir dran, und uns steht ein ganz neuer Planet zur Verfügung.«
Ein großer Serviertisch kroch vorbei – schwebende Tabletts konnte man bei niedriger Drehgravitation nicht verwenden. Beladen war er mit exotischen Delikatessen in solcher Fülle, dass die Partygäste selbst in hundert Jahren nicht alle Teller leeren konnten. Fred gesellte sich ihnen zu und Terry ebenfalls; er zwängte sich einfach zwischen die anderen.
»Sieh an, sieh an«, sagte Beth herzlich. »Äh … vielleicht sollten wir jetzt gehen?«
Cliff blickte über die Menge. Ein hoher Beamter von der Erde führte einen Hund an der Leine, ein Geschöpf, das aussah wie ein Frühstücksgebäck mit Haaren. Der Hund war damit beschäftigt, Erbrochenes aufzulecken. Drei in der Nähe stehende Partygäste lachten bei dem Anblick. Cliff gewann den Eindruck, dass sich alle anderen mehr amüsierten als er.
Und wenn schon. Erneut dachte er daran, dass er die meisten von ihnen hier zum letzten Mal sah: die Konstrukteure der SunSeeker, die nervigen Beamten, die sich so aufspielten, als hätten sie bei dem Projekt tatkräftige Hilfe geleistet, all die Psycher und Ingenieure und Probelauf-Teilnehmer, die nie eine fremde Sonne sehen würden … Cliff verzog das Gesicht und genoss den kurzen Moment. Nun, alle Momente waren kurz, aber manche mehr und manche weniger. »Mein Herz ist voll, aber mein Glas ist leer.«
Beth nickte reumütig. »An Bord der SunSeeker gibt’s keinen Alkohol.«
»Während des Flugs? Ich schätze, Captain Redwing hätte was dagegen.«
»Ich schätze, er hätte nicht nur was dagegen. Mir erscheint er wie jemand, der fähig ist, Leuten Fußeisen anlegen zu lassen.«
Ihre scherzhafte Bemerkung wies sie beide darauf hin, dass sie Ablenkung brauchten – Ablenkung von den Zweifeln, den Ängsten und einem Gefühl ohne Namen. So sei es.
Arm in Arm standen sie da und beobachteten, wie sich die Erde langsam und majestätisch drehte. Die SunSeeker glitt in ihr Blickfeld wie ein schlanker, hungriger Hai.
Ja, ein Hai, der darauf wartete, in den Ozean der Nacht hinauszuschwimmen. Der magnetische Trichter bildete das große Maul – er wartete darauf, entfaltet und aktiviert zu werden, mit der Beschleunigung zu beginnen, die das Schiff aus dem Sonnensystem tragen würde. Cliff stellte sich vor, wie das Schiff zunächst in Richtung Sonne fiel, wie der Schlund des Bussardkollektors Teile des Sonnenwinds aufnahm und ersten Treibstoff daraus herstellte. Hinter dem Bugkomplex wölbte sich der rubinrot glühende Reif des Kontrolldecks. Winzige Gestalten in Montagekapseln überprüften noch einmal den langen, rotierenden Zylinder des Habitats und des Kryozentrums, wie eingequetscht zwischen den großen Lagergewölben mit der Ausrüstung. Dann kamen die zerknitterten, baumwollweißen und cybersmarten Radiatoren, die den Antrieb umgaben. Hinter zylindrisch angebrachten Öffnungen erstreckten sich die großen Fusionskammern: dicke, gerippte Fässer, die ihre Energie in die Schubmodule leiteten. Umgeben waren sie von einem Gerüst aus großen, gelben Treibstoffbehältern, die das Biest füttern sollten, bis es den interstellaren Raum erreichte. Anschließend würde es in einer magnetischen Blase durch die Jahrhunderte gleiten, geschützt vor dem Protonenhagel voraus. Die SunSeeker war ein Hai, der Lichtjahre fressen würde.
Sie alle waren mit ihr zur Oort’schen Wolke geflogen, hatten das Triebwerk erprobt und weitere Fehler entdeckt, selbst nach den vierzehn Testschiffen vor ihr. Sie hatten spezielle AI-Systeme eingesetzt, Mängel in Hardware, Software und Konzepten gefunden und behoben. Während der ersten Generationen interstellarer Raumfahrt lief jedes neue Schiff auf ein Experiment hinaus. Mit jedem neuen Modell lernten die Ingenieure und Wissenschaftler dazu, und das Ergebnis bestand aus besseren Schiffen. Direkte Evolution auf der Überholspur.
Jetzt stand die wirklich große Reise bevor, in die Tiefen des Alls. Für die Menschen, die sich mit der SunSeeker auf den Weg machten, bedeutete es auch eine Reise durch die Zeit, weit in die Zukunft – sie ließen alles hinter sich zurück.
»Sie ist wunderschön, nicht wahr?«, erklang hinter ihnen die Stimme eines Mannes.
Sie gehörte Karl, dem schlaksigen leitenden Flugingenieur. Er hatte einen Arm um Mei Ling geschlungen und rote Flecken im Gesicht, schien nach all der Knutscherei nicht ganz da zu sein. Mei Lings Augen glänzten, und sie wirkte sehr fröhlich, richtig aufgekratzt.
Mit einem Blick zur Seite sagte Beth: »Ja, und wir verlassen uns darauf, dass du sie glücklich machst.«
»Oh, das werde ich«, erwiderte Karl, ohne die doppelte Bedeutung zu erkennen. »Sie ist ein großartiges Schiff.«
Mei Ling hingegen hatte verstanden, wölbte eine Braue und nickte. »Wir nehmen Abschied von der Welt. Wie man wohl über uns denkt, wenn wir das Ziel erreichen?«
»Ich möchte gern für die älteste Frau der Welt gehalten werden«, sagte Beth.
Sie lachten. Mei Ling wandte sich an Cliff. »Es fällt schwer, von allem Abschied zu nehmen, nicht wahr? Du hast praktisch den ganzen Abend hier am Schirm gestanden und nach draußen gesehen.«
Mei Ling hatte immer ein besonderes Gespür dafür gehabt, was Menschen bewegte, erinnerte er sich. Bestimmt verstand sie, dass er jetzt etwas Fröhlichkeit brauchte. Was für sie alle galt. »Äh, ja. Ich schätze, ich bin ein Mann von Welt. Ich weiß nur nicht recht, von welcher Welt.«
Sie alle nickten ernst. Und dann, mit einem schnellen Lächeln, zeigte Karl seinen neuesten Trick. In der geringen zentrifugalen Schwerkraft schenkte er dunkelroten Wein ein, indem er ihn aus der Flasche fallen ließ und dann im richtigen Moment mit einem Tafelmesser schnitt, bevor der Wein das Glas erreichte. Drei schnelle Schnitte, und Mei Ling hielt die Gläser bereit.
»Beeindruckend«, sagte Beth. Sie tranken.
»Es gibt Neuigkeiten«, sagte Karl. »Was die Gravitationswellen bei Glory betrifft … Sie enthalten keine Signale. Es ist nur ein Rauschen, weiter nichts.«
»Wie hilft uns das?«, fragte Beth. Cliff konnte ihrem Gesichtsausdruck entnehmen, dass sie Karl nicht mochte, aber Karl selbst würde das nie erfahren.
»Es bedeutet zum einen, dass es auf Glory keine Superzivilisation gibt.«
»Wir wissen bereits, dass keine elektromagnetischen Signale existieren«, sagte Mei Ling.
»Stimmt«, bestätigte Karl. »Aber vielleicht gehen von wirklich hoch entwickelten Zivilisationen keine …«
»He, dies ist eine Party!«, verkündete Beth fröhlich. Karl begriff, zuckte die Schultern und führte Mei Ling fort, die nicht mehr ganz gerade ging.
»Wie herzlos von dir«, kommentierte Cliff.
»He, wir werden ihn die nächsten Jahrhunderte nicht sehen.«
»Aber es wird uns trotzdem wie letzte Woche vorkommen.«
»Angeblich. Was hältst du von den Gravitationswellen?«
In diesem Moment erklang die Stimme eines Sektionsleiters, der sich ein Mikrofon geschnappt hatte, um sich trotz des Partylärms Gehör zu verschaffen. »Wir haben gerade Startglückwünsche von Alpha Centauri empfangen, Leute! Sie wünschen uns viel Erfolg.«
Einige klatschten, und dann ging die Party weiter.
»Nette Geste«, sagte Beth. »Sie müssen die Nachricht vor vier Jahren geschickt haben.«
»Vermutlich traf sie schon vor einem Jahr ein, und man hat sie bis jetzt zurückgehalten«, sagte Tananareve Bailey hinter Cliff, der sie nicht hatte kommen hören. Sie zeigte weniger von ihrem Körper als die anderen Frauen, war aber trotzdem atemberaubend in ihrem braun-orangefarbenen Kleid, das gut zum Schwarz von Gesicht und Armen passten. Howard Blaire begleitete sie, einst ein Zoowärter und offenbar ein Bodybuilding-Enthusiast.
Beth nickte. »Wenn wir unterwegs sind, bedeutet die Verzögerungszeit, dass wir mit anderen Generationen sprechen. Seltsam. Aber zurück zu den Gravitationswellen …«
Howard überlegte kurz. »Die SunSeeker war fast fertiggestellt, als LIGO 22 die Wellen ortete. Während unserer ersten Probeflüge wurden die Daten verifiziert, und noch länger dauerte die Suche nach irgendwelchen Signalen in den Wellen. Offenbar gibt es keine. Nur allgemeines Rauschen, weiter nichts. Nein, wir fliegen nach Glory, weil es dort eine Biosphäre gibt. Ich habe mit einem der Astros gesprochen, und er meinte, die Gravwellen gingen vermutlich auf Überlagerung zurück. Sie könnten von zwei schwarzen Löchern stammen, die sich auf der anderen Seite der Galaxis umkreisen, und das Glory-System befindet sich zufälligerweise genau in der Sichtlinie …«
»Das denke ich auch«, erklang eine vertraute Stimme. Cliff und die anderen drehten sich um und sahen Fred, mit gerötetem Gesicht und offenbar ein wenig mitgenommen. »Das Ursprungsgebiet lässt sich nicht mit ausreichend hoher Auflösung erfassen. Glory befindet sich in der Ecke eines ein Grad umfassenden Himmelsbereichs; die Gravitationswellen könnten ihren Ursprung irgendwo in diesem Bereich haben oder sogar aus einer anderen Galaxie stammen.«
Beth sah Cliff an und rollte mit den Augen, was so viel bedeutete wie: »Ich bin zum Glück Biologin.«
Fred konnte manchmal ein bisschen anstrengend werden. Er war »fokussiert«, wie es die Psycher nannten. Manchen fiel es schwer, ihn zu ertragen, aber er hatte ein großes technisches Problem bei den Systemkomponenten gelöst, weshalb Cliff ihm einiges nachsah. Alle Besatzungsmitglieder hatten überlappende Kompetenzen, aber bei Fred zählte die Bandbreite seiner Fähigkeiten zu den Hauptqualifikationen. Natürlich war er für all diese Nuancen blind. Er deutete zum Schirm. »Es wäre schwer, den Anblick nicht zu bewundern. Schönheit und Bedeutung vereint, die Mona Lisa der Planeten.«
Beth murmelte zustimmend, und Fred sprach etwas schneller, als er fortfuhr: »Das ist die Erde selbst jetzt noch, obwohl Hunderte von Planeten mit atmosphärischen Signaturen entdeckt worden sind. Nirgends gibt es eine bessere Welt.«
Irma Michaelson kam mit ihrem Mann im Schlepptau vorbei und drehte den Kopf, als sie Freds Worte hörte. »Meinst du die neuen Daten der Voraus-Sonde?«
»Äh, nein …«
»Voraus-Sonde Nummer fünf hat sich gerade gemeldet«, sagte Irma. »Sie ist noch immer ziemlich weit entfernt und kann keine Oberflächenkarten oder dergleichen übermitteln. Die Bilder zeigen jede Menge Wolken, und man kann ein bisschen was von einem Ozean erkennen. Wie ich hörte, geben die Daten detailliert Auskunft über die Temperaturen in der Atmosphäre. Die Richtstrahlverbindung konnte gerade rechtzeitig hergestellt werden! Vielleicht müssen wir die Atmosphäre ein wenig verändern, um es gemütlich zu haben.«
»Welche Veränderungen sind nötig?«, fragte Beth.
»Es heißt, wir brauchen mehr CO2. Treibhausgase sind knapp auf Glory«, sagte Fred so schnell, dass die Worte ineinander übergingen. »Die Oberflächentemperaturen sind mehr wie in Kanada, und die tropischen Zonen lassen sich mit unseren mittleren Breiten vergleichen.«
Inzwischen ist es uns gelungen, die Erde neu zu terraformen und fast auf das Niveau des zwanzigsten Jahrhunderts zurückzubringen, dachte Cliff. Und jetzt kommt eine ganz neue Welt …
Er schob diesen Gedanken beiseite und hörte Fred zu, der noch immer sehr schnell sprach, mit glänzenden Augen. »Wenn wir gelernt haben, der Luft Kohlenstoff in großen Mengen zu entziehen, können wir ein Klima schaffen, das besser ist als das zur Zeit unserer Geburt. Vielleicht sogar das Beste, das die Menschen je hatten.«
Inzwischen hatte sich ein kleines Publikum zu seinem Vortrag eingefunden. Zum Abschluss schenkte er seinen Zuhörern ein schiefes Lächeln und verschwand in der Menge, die daraufhin noch lauter zu werden schien.
»Hier schwirrt jede Menge nervöse Energie herum«, sagte Beth.
»Ein Bad der Gefühle«, sagte Cliff verträumt und nickte in Richtung Erde. »Die große Sache dort besteht darin, dass unsere immer schlauer werdenden Maschinen Wetten einfordern. Wie sieht der Ruhestand für einen multikapillaren DNS-Sequenzer aus?«
Beth lachte, und in ihren Augen funkelte es. »Ich habe eine Prioritätsanfrage von SSC bekommen; darin werde ich um meine Meinung darüber gebeten, welche Schauspielerin mich in der Serie darstellen soll.«
»Die brauchen wir uns wenigstens nicht anzusehen.«
Beth zeigte auf den Schirm. »Ich denke immer wieder daran, dass ich wahrscheinlich nie wieder sehen werde, wie der warme Wind an einem Nachmittag im Spätsommer weiße Gardinen an einem offenen Fenster bewegt. Ich werde schon melancholisch, obwohl wir noch gar nicht losgeflogen sind.«
»Ich werde das Surfen vermissen.«
»Auf Glory gibt es Meere. Und einen Mond, wenn auch einen kleinen. Vielleicht genügt er, um ausreichend hohe Wellen zu schaffen.«
»Ich lasse mein Surfbrett zurück.«
Cliff stellte zufrieden fest, dass wieder Eis im Arktischen Ozean zu sehen war – langsam ging die Heißzeit auf der Erde zu Ende. Der riesige Eisblock, der sich vor einem Jahrhundert von der Antarktis gelöst und all die Überflutungen verursacht hatte, wuchs langsam nach. Die Inseln im Pazifik blieben verschwunden, und vielleicht würden sie, abgetragen von den Wellen, nie wieder zum Vorschein kommen. Dort konnte niemand mehr surfen.
Er bemerkte eine Phalanx aus Offizieren in blauen Uniformen mit goldenen Litzen. Sie hatten Aufstellung bezogen: Männer und Frauen aus der Oort-Crew, die nicht an Bord der SunSeeker gehen würden und aus zeremoniellen Gründen zugegen waren. Die für den Flug nach Glory vorgesehenen hagereren Crewmitglieder standen hinter einem großen Mann mit zerfurchtem Gesicht, der im Scheinwerferlicht blinzelte und noch immer nicht sicher zu sein schien, ob er sich am richtigen Ort befand.
»Captain Redwing möchte zu Ihnen sprechen«, ertönte die Stimme eines Deck-Lieutenants aus den Lautsprechern. Alle drehten sich zum Banner um, auf dem geschrieben stand:
LEBT WOHL, DIE IHR VERRÜCKT NACH DEN STERNEN SEID!
Redwing trug seine Paradeuniform, behangen mit glänzenden Medaillen, und sein rötliches Gesicht strahlte alle an. Cliff hatte gehört, dass er von der Frau geschieden war, die ihn begleiten sollte, aber die Hintergründe kannte er nicht. In Habachtstellung stand er da und nickte einigen Junioroffizieren zu. Das freundliche Lächeln, offenbar für alle Anwesenden bestimmt, verschwand nicht von seinen Lippen. Er wirkte imposant in seiner Uniform, ein Mann, der Autorität verkörperte.
»Zeit zu gehen, schätze ich«, flüsterte Cliff und versuchte, sich unauffällig der Tür zu nähern. Dabei warf er der Erde auf dem Schirm einen letzten Blick zu.
»Die letzte Nacht vor den getrennten Quartieren«, sagte Beth. »Kommst du zu mir?«
»Oh, klar, zu Befehl, Ma’am.«
»Es ist Tradition, denke ich.«
»Tradition? Wo?«
»Überall dort, wo es Samstagnacht ist.«
Sie schoben sich langsam durch die Menge, und ein seltsames Gefühl erfasste Cliff. Der Lärm der Party, die Musik, die Drinks, all die Umarmungen und Küsse, die vielen Gesichter voller Hoffnung, Freude und auch Trauer … Er verspürte den Wunsch, alles in Bernstein zu gießen und für die Zukunft zu bewahren.
Was er hier erlebte, war auf sonderbare Art und Weise eine … Geistergeschichte. All diese Leute, sympathisch, lästig, übereifrig und sexy – sie alle würden bald tot sein, ein Teil der Vergangenheit. Wenn er zusammen mit den anderen Besatzungsmitgliedern im Orbit von Glory erwachte, würden mehr als die Hälfte dieser Leute seit Jahrhunderten tot und zu Staub zerfallen sein, trotz einer durchschnittlichen Lebenserwartung von inzwischen 160 Jahren.
Er hatte es von Anfang an gewusst, und das war eine Sache, aber jetzt fühlte er es. Wenn sie erwachten, lag all das hier weit, weit hinter ihnen.
Cliff lächelte ein dünnes, blasses Lächeln und dachte: Ich sehe die Erde jetzt zum letzten Mal. Er betrachtete sie noch einmal auf dem Schirm, bewunderte ihre ruhige, stille Erhabenheit, seufzte dann voller dunkler Vorahnungen und folgte Beth hinaus.
ERSTER TEIL
»Der Besitz von Wissen tötet nicht
das Gespür für Wunder und Geheimnis.
Er schafft noch mehr Geheimnisse.«
ANAÏS NIN