Jörg Graser

Weißbier im Blut

Roman

LangenMüller

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© für die Originalausgabe und das eBook:

2012 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: atelier-sanna.com, München

Foto Jagdgewehr: Shutterstock/Marius de Graf

Satz und eBook-Produktion: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

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ISBN 978-3-7844-8137-1

Wir haben nur ein Leben,

es geht bald vorbei.

Was wir für Gott getan haben,

ist alles, was bleiben wird.

Muhammad Ali

1

Kreuzeder ließ sein Handy bimmeln. Erst nach dem achten Klingelton setzte er sein Weißbierglas ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum aus den Bartstoppeln.

»Kreuzeder.«

»Hier Becker. Wir haben einen Mord! In Rechenbrunn, Kressenau drei. Ein Bauernhof.«

»Jetzt hab ich mir grad einen Schweinsbraten bestellt.«

»Dann bestellen S’ ihn wieder ab.«

»Ich ess ganz schnell.«

»Sie essen gar nicht. Sie fahren jetzt sofort da raus. Sie wissen selber, dass das um Sekunden geht. Jede Sekunde, die Sie vertrödeln, ist schon wieder ein Vorsprung für den Täter.«

»Jaja.«

Ein Mord in der Mittagspause! Vor zwanzig Jahren, als er noch achtzig Kilo schwer war, wär der Kommissar Kreuzeder auf diesen Anruf hin aufgesprungen, hätte sich mit knurrendem Magen hinters Steuer geklemmt und wär wie eine gesengte Sau zum Tatort geprescht. Aber mittlerweile hatte er schon bald hundert Kilo und dachte gar nicht daran, auf seinen Schweinsbraten zu verzichten. Er ließ es sich schmecken und gönnte sich dazu noch ein paar Weißbier und etliche Obstler. Je mehr er das Gefühl hatte, dass die Menschheit an einem Abgrund entlangtaumelte, umso weniger wollte er sich einmischen. Er verscheuchte nicht mal mehr die Fliegen von seinem Braten. Das Handy bimmelte erneut. Er ließ es bimmeln.

Früher hätte er ein Wirtshaus wie den Grauen Raben nur zu Ermittlungszwecken betreten. Hier war alles zerkratzt, die Steinfliesen, die Tische, die Stühle und sogar die Gäste. Aber das Essen war auch nicht schlechter als in der Polizeikantine, durch die er bereits gewohnt war, das nasse grüne Papier zu ignorieren, das als Salat serviert wurde. Außerdem konnte er hier die Fettaugen in der Soße besser verdauen, denn es gab die dazu erforderlichen Mittel. Und er hatte hier einen verwaisten Stammtisch entdeckt, der durch einen Wimpel für einen Raucherclub reserviert war. Das bayerische Rauchverbot hatte die Stammtischbrüder vertrieben, aber der Wirt hatte ihre Bekennerfahne nicht weggeräumt, aus Protest und weil sowieso immer genug Tische frei waren. Das war genau das, wonach Kreuzeder der Sinn stand: ein Stammtisch ganz für sich allein. Nun thronte er, obwohl selber Nichtraucher, nahezu täglich hinter diesem blauen Wimpel mit der silbernen Borte, auf den »Smoking Champions« gestickt war. Vom Morddezernat bis zum Grauen Raben brauchte er eine halbe Stunde. Der Dezernatsleiter Becker schaffte es an diesem Tag in zwanzig Minuten.

»Ich hab’s doch gewusst.«

»Mahlzeit.«

»Jetzt werden S nicht auch noch frech. Das hat Folgen, Herr Kreuzeder. Diesmal kommen Sie mir nicht davon. Sie hören jetzt augenblicklich auf zu essen.«

»Bin gleich fertig.«

»Sofort hab ich gesagt! Was ist los mit Ihnen? Sind Sie krank? Haben Sie irgendwelche Depressionen?«

»Nicht, dass ich wüsst.«

»Machen wir uns nichts vor. Sie sind seit Jahren völlig desinteressiert. Ihre Aufklärungsquote tendiert gegen null. Sie sind der schlechteste Mordkommissar von ganz Niederbayern, wahrscheinlich von der ganzen Welt.«

»Jaja.«

»Wir haben einen Mord, Herr Kreuzeder, wenn Ihnen das was sagt. Einen Mord!«

»Zahlen!«

Die Kellnerin rief »Komme gleich« und verzog sich zitternd hinter die Theke, wo sie ein paar Zettel aus einem Kästchen fischte und mit einem Kugelschreiber darauf herumrechnete. Zwischendurch bohrte sie mit ihrem Zeigefinger im Ohr und schenkte sich einen Whisky ein, den sie während des Rechenvorgangs unbedingt brauchte. Becker war fassungslos.

»Wollen Sie jetzt im Ernst hier warten, bis die Dame so weit ist?«

»Ich bin kein Zechpreller.«

»Was ist bloß los mit Ihnen? Wenn Sie nicht mal mein bester Mann gewesen wären, hätt ich Sie schon längst rausgeschmissen.«

»Das können Sie gar nicht.«

»Und ob ich das kann. Auch für einen Beamten gibt es den Punkt, wo er untragbar wird. Und den haben Sie schon längst überschritten.«

Eine Whiskyschwade, durchmischt mit dem Duft von Maiglöckchen und kaltem Schweiß näherte sich dem Tisch. Die Kellnerin war mal eine schöne Frau gewesen. Sie hätte früher glatt im Moulin Rouge auftreten können. Vielleicht nicht gerade in Paris. Straubing hat auch ein Moulin Rouge. Aber inzwischen musste sie um jeden Verehrer kämpfen.

»Also wenn Sie Unterstützung brauchen, Herr Kreuzeder, für meine Stammgäste geh ich durchs Feuer.«

»Ist schon in Ordnung, Gerda.«

»Zum Beispiel als Zeugin. Wenn Sie mal eine Zeugin brauchen. Ich kenn die Prozedur.«

»Nein, nein, lassen S’ nur.«

Kreuzeder klappte seinen Geldbeutel auf. Er mochte diese Frau, jedenfalls solange sie auf der anderen Seite des Tisches blieb. Sie zog den Zettel zu Rate, auf dem sie ihre Rechenkunst ausgeübt hatte.

»So. Das wär jetzt der Schweinsbraten gewesen, fünf Weißbier und sechs Obstler. Macht zweiunddreißig Euro zwanzig.«

»Vierunddreißig.«

»Die Firma dankt.«

Als sie rausgab, kam Becker wieder in Schwung.

»Hab ich das richtig gehört? Sechs Obstler? Wollen Sie jetzt in diesem Zustand Auto fahren?«

»In was für einem Zustand?«

»Das kommt in Ihre Akte, Herr Kreuzeder. Und zwar alles. Und jetzt nehmen S’ ein Taxi und das zahlen S’ gefälligst selber.«

2

Es dauerte noch eine Weile, bis das Taxi eintrudelte. Der Fahrer war nur schwer für den Auftrag zu begeistern, nachdem er die Alkoholfahne gerochen hatte. Er legte vorsichtshalber eine Tüte neben seinen Passagier auf den Rücksitz. Becker verzog sich erst, als der Wagen außer Sichtweite war. Seitdem er zum Kriminaloberrat befördert und Leiter des Morddezernats geworden war, hatte er sich nur noch selten persönlich an einen Tatort bemüht. Die Nerven spielten nicht mehr mit. Er verlegte sich darauf, seine Untergebenen anzutreiben, und führte sogenannte Qualitätskontrollen ein. Er verlangte ausführliche Protokolle von seinen Mitarbeitern und verfasste Beurteilungen. Aber je schlechter die Noten waren, die er Kreuzeder verpasste, desto dünner wurden dessen Berichte. Manchmal war auf seinem Diktiergerät, das er der Sekretärin auf den Tisch legte, nur noch ein Schnaufen zu hören.

Die Fahrt mit dem Taxi führte ihn zweiunddreißig Kilometer in den Bayerischen Wald hinein, vorbei an Wiesenhügeln und Fichtenwäldern, an Möbelhäusern und Baumärkten, und durch Dörfer mit Kirchen, Wirtshäusern, Edeka, Aldi, Norma, Lidl, Penny, Netto, Real oder Rewe. In Rechenbrunn gab es außerdem noch eine Tankstelle. Der Ortsteil Kressenau bestand aus einzelnen, über Feldwege erreichbaren Bauernhöfen, die über Hügel und Waldlichtungen verstreut waren. Schließlich kamen sie nicht mehr weiter. Die Zufahrt zum Hof Nummer dreieinhalb war mit Autos vollgestellt. Kreuzeder musste sich zu Fuß hinbequemen. Der Taxifahrer war erleichtert, dass die Tüte keine Verwendung gefunden hatte und er ordentlich bezahlt wurde, und brauste sofort davon.

Der Hof war uralt, unten aus Granitsteinen und oben aus von Sonne und Wind über Jahrhunderte schon fast schwarz gegerbtem Holz. Kann auch sein, dass es von etlichen Altölanstrichen so dunkel war. Er stand trotzig und stolz auf einer Anhöhe. So was gab es nur noch selten im Bayerischen Wald. In den Sechziger- und Siebzigerjahren waren die Leute hier durch Urlauber aus dem Ruhrgebiet zu Geld gekommen und hatten ihre alten Waldlerhäuser weggerissen. Vielleicht waren die Bewohner dieses Hofs zu misstrauisch gewesen, um »die Fremden« zu beherbergen. Jetzt standen hier überall Neugierige herum und Polizisten, die die Neugierigen am Weitergehen hinderten. Den Kreuzeder wollten sie natürlich auch nicht durchlassen, schon wegen seiner Fahne, aber er hat seinen Dienstausweis gezückt.

»Mordkommission Passau. Wie schaut’s aus?«

»Keine Ahnung. In der Scheune hat’s einen derbröselt. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Mhm.«

Die Kollegen von der Spurensicherung, weithin erkennbar an ihren Marsanzügen, waren schon fleißig dabei, den Tatort zu inspizieren und alles zu fotografieren. Sogar ein Huhn, dessen weißes Federkleid mit getrockneten Blutspritzern gesprenkelt war, wurde eingefangen und mehrerer Federn beraubt. Die Scheunenwand war von innen her eingedrückt, offensichtlich durch den staubigen alten Mähdrescher, der zur Hälfte im Freien stand, mit dem zersplitterten Holz unter den Rädern. Zwischen den niedergewalzten Brettern ragte ein Arm hervor. Die Finger der Hand waren gespreizt. Ein paar schwarze Lederfetzen im Dreck könnten einmal zu einer Aktentasche gehört haben. Kreuzeder entdeckte den Geländewagen des Gerichtsmediziners. Der Arzt lehnte an der Seitentür und rauchte ein Zigarillo.

»Wo ist denn der Rest von der Leiche?«

»Vermutlich im Mähdrescher.«

»Also Gulasch.«

»Wohl mehr eine Roulade. Diese Maschinen machen doch so Bündel. Wir warten auf den Mann, der das Ding aufschraubt. Dann darf ich alles abkratzen und einsammeln.«

»Mahlzeit.«

»Ich bin Pathologe geworden, weil mir die Kranken auf die Nerven gegangen sind. Als Arzt hast du ja den ganzen Tag nur mit Kranken zu tun, von früh bis spät. Und Tote haben den Vorteil, dass sie nicht mehr jammern. Aber sie können einem auch ganz schön auf den Wecker gehen. Diese vorwurfsvollen Blicke …«

»Na, dann schaun Sie mal, ob Sie ein Auge finden.«

Kreuzeder wandte sich an einen Kollegen von der Spurensicherung, der mit einer Pinzette ein zerfranstes Lederstück aus dem Matsch fischte und in einem Zellophanbeutel verstaute.

»Was dabei, womit wir was anfangen können?«

»Lauter Schmarren.«

»Sauber.«

Er sah sich um. Einer der Streifenwagen hatte ein Freyunger Kennzeichen. Auf dem Beifahrersitz saß ein Polizist und aß ein Butterbrot. Den knöpfte er sich vor.

»Sind Sie von hier?«

»Mhm.«

»Wer hat denn die Polizei verständigt?«

»Der Bauer. Holzner heißt er. Wir haben dann gleich in Passau angerufen, wie wir die Scheiße gesehen haben.«

»Haben Sie eine Flüstertüte?«

»Haben wir noch nie gehabt.«

»Dann müssen S’ jetzt Ihre Stimmbänder strapazieren. Alle Autos, die nicht auf den Hof gehören, müssen weg. Und von dem Auto, das übrig bleibt und das nicht dem Bauern gehört, da stellen S’ den Besitzer fest.«

Der Polizist hatte aufgehört zu kauen und sah sich ratlos um.

»Dazu müssen S’ natürlich aus dem Auto aussteigen, Herr …«

»Wobka.«

»Wir sind heut alle gefordert, Herr Wobka.«

Im Haus waren die Vorhänge zugezogen. Kreuzeder watete durch den Matsch und ging hinein, ohne anzuklopfen. Im Vorraum standen drei Paar Gummistiefel. Die Küche war verwaist und so gemütlich wie ein Krankenhausaufenthalt. Aus dem Halbdunkel schimmerten giftgrüne Plastikmöbel aus den Siebzigerjahren. Am anderen Ende des Raums war eine Tür, hinter der Musik dudelte. Es war das Wohnzimmer. Die Töne kamen aus dem Fernseher. Superman flog gerade zwischen Wolkenkratzern umher. Es war wohl eine Wiederholung, weil es ja erst nachmittags war. Soweit es bei dem wenigen Licht zu erkennen war, gab es drei Zuschauer, den Bauern, seine Frau und ein Kind. Sie ließen sich nicht stören.

»Mahlzeit.«

Der Mann war der Einzige, der sich umdrehte.

»Mahlzeit.«

»Ich bin von der Kripo. Kann ich Sie mal was fragen?«

»Von mir aus.«

»Ja, wenn Sie bitt schön mal in die Küch mitkommen würden. Sie auch, Frau Holzner.«

Die beiden Bauersleute erhoben sich schwerfällig aus ihren Sesseln und folgten dem Kommissar missmutig in die Küche.

»Ich möcht nicht unbedingt vor dem Kind mit Ihnen reden. Ist Ihnen der Tote bekannt?«

Der Bauer murmelte mehr, als dass er sprach. Sein Gesicht war so widerborstig wie seine struppigen Haare. Er sah aus, als hätte ihm gerade jemand seinen Traktor zerbeult.

»Nicht, dass ich wüsst. Man sieht ja nix. Der ist ja in der Maschin.«

»Wo sind S’ denn gewesen, wie das passiert ist?«

»Am Feld.«

»Sie auch, Frau Holzner?«

Die Bäuerin nickte.

»Kann das sonst noch irgendwer bezeugen?«

Der Bauer brummte erst, bevor er sich zu einer Antwort bequemte.

»Hmm. Ich weiß nicht. Ich hab niemand gesehen. Wissen S’ schon was?«

»Nein. Ich bin grad erst gekommen. Außerdem ist mir schlecht. Ich hab einen ziemlich fetten Schweinsbraten erwischt.«

»Mögen S’ einen Obstler?«

»Wenn S’ einen dahaben.«

Der Bauer nickte seiner Frau kurz zu, und sie holte zwei Schnapsgläser aus dem giftgrünen Hängeschrank und stellte sie auf den Tisch, während er eine Flasche hinter dem Vorhang hervorzog, die auf dem Fensterbrett gestanden hatte. Es war kein Etikett drauf. Er pellte den Gummistopfen herunter und schenkte ein. Die beiden Männer tranken. Holzner blickte den Kommissar erwartungsvoll an, und der sah sich direkt zu einem Lob genötigt.

»Sehr gut. Haben S’ den selber gebrannt?«

»Sag ich nicht.«

Die Wohnzimmertür sprang auf, und der Bub kam hereingerannt. Sein rundes Gesicht strahlte. Er hatte struppige Haare wie sein Vater und eine helle Kinderstimme.

»Der Superman ist der Sieger!«

Kreuzeder schmunzelte.

»Das hab ich mir fast gedacht.«

»Der kämpft für das Gute und gegen das Böse.«

»Sowieso.«

Die Holznerin schob ihren Sohn zurück ins Wohnzimmer.

»Jetzt geh nur wieder rüber, Moritz, und tu schön fernsehen.«

»Wo doch grad Werbung ist.«

»Dann schaltst halt so lang um.«

Sie machte die Tür hinter ihm wieder zu. Holzner schenkte erneut ein und bot seinem Gast nun sogar einen Stuhl an, was der gerne annahm.

»Gibt’s hier noch viel Bauern in der Gegend?«

»Die meisten haben schon aufgegeben.«

»Lohnt sich nimmer, gell?«

»Mei, nicht so recht. Prost.«

»Prost.«

Die Gläser klirrten. Die Männer tranken. Der Freyunger Polizist kam herein. Er hatte einen Zettel in der Hand.

»Also das Auto gehört einem Herrn Brodl.«

Der Bauer verfiel wieder ins Murmeln.

»Brodl gibt’s da mehrer.«

Wobka warf einen Blick auf seinen Zettel.

»Brodl Otto. Der war in der Sparkass tätig.«

Das Murmeln wurde immer brummiger und war nur mehr mit Mühe zu verstehen.

»Der Brodl Otto. Da schau her. Ja, ja. Ja so was.«

Kreuzeder stellte sein Glas wieder auf den Tisch.

»Was könnt denn der hier gewollt haben?«

»Keine Ahnung.«

»Haben S’ Schulden?«

»Schulden? Nicht direkt. Ein bisserl vielleicht. Wieso?«

3

Ein paar Tage gingen ins Land, bis Kreuzeder wieder im Dezernat auftauchte. Es war gegen elf Uhr vormittags. Er trug einen alten Nadelstreifenanzug, der den Charme eines Staubfängers aus einem Import-Export-Laden in Bahnhofsnähe ausstrahlte. Der Stoff war entweder dunkelblau oder schwarz, so genau war das nicht auszumachen. Mit seinen fettigen schwarzen Haaren, die ihm in sein unrasiertes bulliges Gesicht hingen, sah er darin aus wie ein aus den Fugen geratener Schwergewichtler, dem die Preisgelder, die er sich zusammengeboxt hatte, in den Fingern zerronnen waren. Er machte sich einen Kaffee, verzog sich damit an seinen Schreibtisch und vertiefte sich in das Heimatblatt, die Passauer Neue Presse.

Kriminaloberrat Becker hatte Wind vom Erscheinen seines Untergebenen bekommen, vielleicht hatte er ihn gerochen, jedenfalls hatte er sich mit einer Akte unterm Arm in dessen Büro begeben und beobachtete ihn eine ganze Weile stumm. Dabei bekam sein Haupt allmählich Farbe. Als es dunkelrot mit einem bläulichen Schimmer geworden war, brach er sein Schweigen.

»Also, ich hab hier eine Akte, da steht alles drin, Ihre Verfehlungen von den letzten zwei Jahren. Da zeichnet sich ein Bild ab, das ist unfassbar. So was darf’s eigentlich gar nicht geben. Ich fass einmal stichpunktartig zusammen. Sie kommen und gehen, wann Sie wollen. Manchmal bleiben Sie wochenlang dem Dienst fern.«

»Mit ärztlichem Attest.«

»Also ich bitt Sie, was sollen wir mit diesen Attesten anfangen? Da steht immer nur drauf Kreislaufstörung oder Vertigo. Ich weiß genau, was Vertigo heißt.«

»Umso besser.«

»Das soll vielleicht medizinisch klingen. Aber Vertigo heißt Schwindel. Und letztlich heißt das nichts anderes, als dass Sie Ihren Rausch ausschlafen.«

»Soll ich vielleicht betrunken in den Dienst kommen?«

»Das machen Sie sowieso dauernd. Wenn Sie einmal zur Arbeit erscheinen, dann sind S’ ziemlich angeheitert, gell, pöbeln alle Leute an, mich, Ihre Kollegen, die Angehörigen von den Mordopfern. Da haben wir Beschwerden hier in Ihrer Akte, das ist ungeheuerlich. Ich brauch bloß aufschlagen, irgendwo. Hier zum Beispiel.«

Er öffnete die Akte an einem der zahlreichen Merkzettel.

»Da haben Sie zu der Frau eines höheren Beamten gesagt, sind S’ froh, dass sie ihn los sind, und spendieren S’ dem Mörder einen Schnaps.«

»Weil’s wahr ist.«

»So was sagt man nicht zu einer frischgebackenen Witwe, die unter Schock steht.«

»Von wegen Schock. Die hat sich bloß nicht getraut, dass sie sich freut. Dabei war dieser Mord ein einziger Segen für sie.«

Kreuzeder legte die Zeitung weg, spazierte zum Waschbecken, zog einen völlig zerknitterten schwarz-rot-goldenen Schlips aus der Jackentasche und band ihn sich mit einem schiefen Knoten um den offen stehenden Kragen.

»Bei Ihnen stimmt was nicht im Kopf, Herr Kreuzeder. Ich muss Ihnen das einmal ganz offen sagen. Entschuldigen S’ schon. Sie haben viel zu lang im Morddezernat gearbeitet. Über zwanzig Jahre. Das kann einen Menschen schon aus der Bahn werfen.«

»Ich muss jetzt leider los. Tut mir leid.«

»Was haben Sie denn vor?«

»Ich muss auf eine Beerdigung.«

»Wer ist denn gestorben?«

»Das Opfer.«

»Der Fall Rechenbrunn?«

»Genau.«

Er fischte einen Kamm aus der Gesäßtasche, machte ihn nass und zwang damit seine Haare glatt nach hinten. Das machte es eher noch schlimmer. Jetzt sah er aus wie ein Verbrecher, der in Geldnot ist. Becker nickte.

»Gut. Wenn Sie endlich mal ermitteln, da will ich Sie nicht länger aufhalten.«