Copyright © Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. Nfg. & Co. KG, Graz – Wien 2021
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Dieses Manuskript wurde von der Literaturagentur Wildner vermittelt, www.literaturagentur.at
Covergestaltung: Catrin Sommer
Farbschnitt: Fotos von iStock.com/Ali Kahfi und iStock.com/RadomanDurkovic
Satz: Gerhard Gauster
Druck: Finidr, s.r.o.
Gesamtherstellung: Leykam Buchverlag
www.leykamverlag.at
ISBN 978-3-7011-8204-6
Gefördert von der Stadt Wien Kultur:
Was wäre wohl passiert, wenn sich nicht genau dieser eine kleine Sperminator-Hero gegen Millionen andere durchgesetzt hätte? Und wenn nicht genau in diesem Augenblick im Ziel eine winzige Lady freudestrahlend auf ihn gewartet hätte? Und wenn nicht diese beiden Turteltauben genau zusammengepasst hätten? Dann hätte es diese Geschichte wohl nie gegeben. Niemand würde heute wissen, dass Träume sich irgendwann doch erfüllen können, selbst wenn das Schicksal noch so ein Arschloch ist und man selbst den Glauben an das eine Wunder verloren hat.
So war es damals, als im wohlig warmen Mama-Nest ein neuer Bonsai keimte und das Abenteuer seinen Lauf nahm. Wahnsinn und Talent werden einem in die Wiege gelegt. Wenn man Glück hat. Okay, vom Wahnsinn war in diesem Fall vielleicht etwas viel dabei, dafür ließ sich auch das Talent nicht lumpen.
Und von nun an überschlugen sich die Ereignisse. Bastian war keines jener Sonntagskinder, denen das Glück von Beginn an förmlich an der Arschbacke zu kleben schien. Im Gegenteil, mit jedem »Happy Börthday«, der ins Land zog, verstand es das Schicksal mehr und mehr, ihm eins vor den Latz zu ballern. Aber das Leben ist kein Wunschkonzert, und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt …
Überall war Musik. Sie klang von draußen in sein Nest. Mama und Papa beschallten ihn abwechselnd damit. Mamas Weiße Rosen aus Athen konnte er nicht ausstehen, Papas Smoke On The Water fand er dafür voll krass. Da schüttelte es ihn so richtig durch in seiner kleinen Welt.
Seit einiger Zeit konnte er hören, was sich draußen tat.
»Hi, mein kleines Mädchen! Ich bin’s, deine Mama! Na, wie geht es dir in deinem Nest?«
Das war also Mama. Er wusste auch schon, dass es noch eine Mama gab, die Papa hieß. Wenn Mama sprach, war das für ihn sanft und weich, Papas Stimme klang eher so wie Mamas Magen, wenn er schon länger nichts zu essen bekommen hatte. Und Papa knurrte manchmal Sachen wie: »Wie geht es denn unserer Prinzessin in ihrem Nest?«
Was nun, dachte er, bin ich nun ein Mädchen oder eine Prinzessin?
»Und wenn es doch ein Junge wird?«, hörte er Mama fragen.
Papa knurrte: »Der Arzt hat ganz eindeutig ein Mädchen gesehen. Und du hast doch gehört, wie Tante Finni gemeint hat, dass es ganz bestimmt kein Junge werden wird, weil du so viel Süßes in dich reinfutterst. Das macht man nur bei Mädchen. Und die muss es wissen.«
»Die hat aber keine Kinder!«
»Egal! Wichtig ist, Mädchen lieben geile Rocknummern!«, wusste Papa, und schon war wieder mächtig was los. Papa knurrte ganz laut »Ta Ta Ta, Ta Ta Tata – Smoke On The Water«, und im kleinen Nest, das langsam immer enger wurde, ging’s hoch her.
»Nein, hör auf damit!«, schrie Mama: »Das kannst du unserem Mädchen doch nicht antun.«
Was antun? Er fand das prima!
Und plötzlich Stille, aber nicht für lange.
»Weiße Rosen aus Athen …«
Immer wieder dasselbe, von Papa richtig geile Musik und von Mama dieses grässliche Geknödel, das sich in seinen Ohren mehr als schräg anhörte.
»Schatz, was soll das?«, knurrte Papa wieder. »Das arme Kind bleibt ja freiwillig für die nächsten zwanzig Jahre in dir, weil es Angst vor deinen Schnulzen hat.«
»Du bist so gemein, ich mag diese Lieder, die sind von meiner Mama!«
Was, es gab noch eine Mama?
»Mein Mädchen soll mit angenehmer Musik aufwachsen, nicht mit der schrecklichen Hard-Rock-Scheiße von diesen drogensüchtigen Vollheinis! Ups – sorry für das ›Scheiße‹!«
»Scheiße«? Was war das wieder für ein Wort? Klang eigentlich gut, das wollte er sich merken. Egal – also, wenn er sich entscheiden dürfte …
»Dein Uralt-Kitsch ist keine angenehme Musik. Ich krieg Durchfall, wenn ich das noch länger hören muss. Und stell dir vor, unserer Prinzessin geht es genauso?«
Was immer Durchfall auch war, er fürchtete, er war knapp davor. Ihm hatte Papas »Rock-Scheiße« eindeutig besser gefallen, aber auf ihn hörte ja keiner.
»Was hältst du von Mozart?«, fragte Mama. »Ich habe mal gelesen, dass klassische Musik das Beste ist für kleine Prinzessinnen.«
Scheiße, er wollte die Rock-Scheiße …
»Okay, immer noch besser als Weiße Rosen, da singt wenigstens keiner.«
Er hatte auch mitbekommen, dass er eine eigene »Bude« bekommen sollte, wenn er mal sein Nest verlassen würde. Mama hatte ihm erzählt, dass sie es gar nicht mehr erwarten könne, bis er bei ihr sei. Na bravo, das konnte ja was werden. Musste er dann den ganzen Tag Schnulzen hören? Zum Glück war Papa auch da draußen, und der hatte ihm das von der »Bude« erzählt. Mama hatte aber anscheinend was dagegen. »Das ist ein Mädchenzimmer, keine Bude!«
Ihm war es egal, er wusste sowieso nicht, was das bedeuten sollte. Alles war »rosa«. Was bitte sollte nun dieses »Rosa« sein? Hoffentlich so etwas wie Musik, eine tolle Rock-Scheiße am besten, aber bei Mama hatte er da gewisse Zweifel. Egal, so wie’s aussah, gab es keine Chance, hier drinnen zu bleiben. Es wurde von Tag zu Tag enger. Wie sollte er da bloß rauskommen?
»Komm schnell!«, Mama schrie wie am Spieß. »Alles ist nass, da stimmt was nicht. Oder geht es schon los?«
Hey? Was hieß: Alles ist nass? Und was sollte nicht stimmen? Warum machte sie so ein Trara? Er war etwas verwirrt. Plötzlich krachte es gehörig und Papa schrie sein neues Lieblingswort. »Jetzt ist da auch alles nass! Ich bin über diese dämliche Rosenvase von deiner Mutter gestolpert – so eine Scheiße!«
»Egal, lass alles liegen, bitte komm schnell!«, flehte Mama, »ich glaube, wir müssen ins Spital, die Kleine will raus.«
Was? Meinten sie etwa ihn? Er wollte gar nicht raus! Da draußen war die Hölle los, jeder schrie, alles war nass und Papa war plötzlich ganz still.
»Scheiße!« Na also, ging doch!
»Schnell, schnell!« Mama übernahm das Kommando. »Ruf die Rettung! Pack die Sachen! Hol einen Fetzen, die Blase ist geplatzt! Und sag nicht immer dieses schreckliche Wort!«
Dann schwebte er – und mit ihm auch seine Mama. Gleich darauf wurden die beiden auf etwas Hartes gelegt und ab ging die Post. Sagte zumindest eine Stimme, und dazu noch: »Keine Angst, wir schaffen das!« He?
»Aua, die verdammte Küchentür«, Papa schrie sein Lieblingswort. Mama hechelte und eine fremde Stimme brüllte irgendetwas von »Sauerstoff«. Dann gab’s einen ordentlichen Rumpler, irgendetwas wurde zugeworfen, und endlich war wieder Ruhe im Busch. Aber nicht lange.
»Uahh!« Mama brüllte, so hatte er sie ja noch nie gehört. Ihr ganzer Körper wackelte und sie schrie wie Gene Simmons von Kiss, wenn er besonders cool sein wollte. Warum er das wieder wusste? Papa hatte es ihm erzählt. Und auch vorgemacht – »Uahh!«
Warum sich jetzt immer wieder ein Lichtstrahl in sein Nest verirrte? Eine dumpfe Stimme schrie: »Nein, bitte nicht, sie kommt jetzt schon!«
»Was? Jetzt?«, plötzlich brüllte da noch einer, »kann die sich die paar Kilometer bis zum Spital nicht zurückhalten?« Was hieß das jetzt schon wieder? Erst sollte er unbedingt raus und dann wieder nicht?
Angenehm war das wirklich nicht. Ganz schön eng der Gang, durch den er sich da zwängen musste. Vielleicht wär’s einfacher gewesen, wenn seine Mama mal stillgehalten hätte, aber das tat sie nicht. Im Gegenteil! Sie zappelte hektisch herum, da konnte sich ja keiner konzentrieren. Es wurde immer heller, die Luft zugleich immer knapper. Na super, am Ende würde er hier ersticken, noch ehe er seinen ersten voll zugedröhnten Rocker gesehen hatte, weil ihm irgendetwas die Gurgel abdrehte. Er hatte es ja gleich gesagt, er wollte da nicht raus.
»Verdammt, die Nabelschnur hat sich um den Hals gewickelt!« Das klang jetzt gar nicht gut. Und überhaupt nicht mehr dumpf. Mama schrie auch nicht mehr, aber keuchen hörte er sie. Und weinen. Warum tat sie das? Dann brüllte sie verzweifelt: »Hilfe! Mein Mädchen!« Gleich darauf wurde es kalt, irgendjemand riss die Autotür auf. Er hörte nur etwas wie »Notarzt!« und dahinter »Scheiße!« Es klang wie »Scheiß-Notarzt«. Wie schön, Papa war auch hier. Langsam sollte wirklich irgendjemand dieses Kabel von seinem Hals entfernen, sonst würde das nichts mehr werden mit der Musik. Und wirklich, der »Scheiß-Notarzt« arbeitete an ihm herum und plötzlich bekam er wieder Luft. Gerade noch mal gut gegangen. Puh, endlich draußen. Er freute sich schon sehr auf Papa und Smoke On The Water. Und auf Mama auch, aber nicht auf Weiße Rosen aus Athen!
Jemand hüllte ihn in eine warme Decke und rubbelte ihn ab. Und dann hörte er den Notarzt sagen: »Meine erste Geburt im Ambulanzwagen. Ich gratuliere Ihnen zu diesem prächtigen Jungen.«
»Scheiße! Alles rosa!«
Sie waren hinter ihm her. Vier Mann hoch. Oder besser gesagt, vier Jungs hoch. Wieder mal. Bastian rannte so schnell er konnte, durch den Flur, die Stiegen hinunter. Er hörte sie schreien: »Pummel-Basti!« und »Fetter Wolf!« und noch viele andere Worte, die man jetzt nicht unbedingt wiedergeben muss. Noch einmal um die Ecke, gleich hatte er sie erreicht, die rettende Tür zum Musikzimmer. Hoffentlich war sie offen. Sie kamen immer näher.
»Verdammt!«, fluchte Bastian. In Berlin hatte man sie vor einem Jahr eingerissen, aber jetzt könnte er eine so beschissene Mauer gut gebrauchen. Wie gerne wäre Bastian jetzt auf der anderen Seite einer megabreiten und himmelshohen Wand aus Stein und Stahl gestanden, die ihn vor dieser Terroristenbande hätte schützen können. Nichts da, die Tür ins Musikzimmer stand zwar offen, aber es steckte kein Schlüssel, mit dem er sie von innen hätte verriegeln können. Daher stolperte er durch den Raum zum Klavier, das an der gegenüberliegenden Wand stand. So oft schon hatte er darauf herumgeklimpert, heute sollte es seine Rettung werden. Darüber waren schmale Fenster, die ins Freie führten. Also rauf aufs Klavier, Fenster auf und raus. Da er aber alles andere als ein dünner Spargel war, blieb er in dem Fensterausschnitt stecken. Er spürte, dass sie seine Füße packten und ihn zurückziehen wollten. Im letzten Augenblick schaffte er es doch, sich durch die Öffnung in den Luftschacht zu wuchten. Dass er dabei einen Schuh an die johlende Meute verlor, war ihm zuerst gar nicht bewusst. Doch sie schienen sich damit zufrieden zu geben.
Jetzt musste er nur noch das Gitter über dem Luftschacht in die Höhe stemmen und auf den Gehsteig klettern. Das dauerte auch eine ganze Weile. Geschafft!
Doch plötzlich waren sie wieder da, sie liefen über den Schulhof und wieder hörte er die altbekannten Schimpfwörter. Bastian nahm seine Beine in die Hand und rannte einfach los.
Leider genau vor einen verrosteten Einser-Golf, dessen Fahrer es nicht mehr gelang, vor dem verzweifelten Schuljungen zu bremsen.
Als Bastian erwachte, hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Mama und Papa waren da, und Lisa, seine Schwester.
»Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, kleiner Mann!« Papa lachte ihn an. »Aber echte Rocker sind harte Knaben, die haut so schnell nichts um.«
Mama hatte dicke Tränen in den Augen. Sie warf sich über ihn, drückte ihm jede Menge nasse Küsse in sein Gesicht und schluchzte: »Ich habe solche Angst um dich gehabt!«
Lisa meinte nur trocken: »Na, wieder da?« Das war’s. Dabei hatte sie den ganzen Schlamassel ausgelöst. Langsam konnte sich Bastian wieder erinnern, und jetzt wusste er auch, warum er hier im weißen Spitalsbett lag und seine Familie sich anscheinend sehr freute, dass er wieder aufgewacht war. Jeder auf seine Weise halt.
Wenn man seine kleine Schwester so ansah, mit ihren blauen Augen und den Engelslocken, war es fast nicht zu glauben, dass Lisa eine richtig gemeine Zicke sein konnte. Und das mit acht. Lisa war das schmächtigste Mädchen in der Klasse und wurde im ersten Jahr von einigen ihrer Mitschüler gehänselt und verspottet. Besonders zwei rotgesichtige »Arschlochkinder«, wie Papa Berger sie damals nannte, versuchten alles, um Lisa das Leben zur Hölle zu machen. Bis die kleine Lisa zur Kampfmaschine mutierte und sich wehrte. Mit Fäusten oder auch dadurch, dass sie Katzenscheiße in die Jausenbrote ihrer Peiniger schmierte, als die gerade am Klo waren. Sie ließ sich einfach nichts mehr gefallen, und irgendwann wurde sie dann von allen respektiert. Seither führte Lisa eine große Lippe in der Volksschule, was man von ihrem Bruder nicht so sagen konnte.
Er war eher der Typ »stiller Träumer«, der in seinen Gedanken oft ganz wo anders war als der Rest der Welt. Meist verlor er sich in Melodien, die in seinem Kopf herumzogen wie weiße Schäfchenwolken am tiefblauen Sommerhimmel. Wenn ihn die Lehrerin an die Tafel bat, musste sie dreimal »Bastian!« sagen, bis er es einmal hörte. Er war trotzdem kein schlechter Schüler, war hilfsbereit und ließ seine Klassenkollegen abschreiben. Er hatte also durchaus ein paar Freunde, doch dank Lisa waren das nicht allzu viele. Denn um selbst im Mittelpunkt zu stehen, machte sie auch vor ihrem Bruder nicht Halt.
Einen Tag vor der Jagd auf Bastian hatte sie in ihrer Klasse erzählt, er wäre gar nicht ihr richtiger Bruder, sondern irgendwo in einer Höhle im Wald gefunden worden. Aufgezogen hätte ihn ein Wolf, das wäre auch der Grund, warum er zuhause im Keller wohne, kleine Katzen fresse und Mama und Papa Berger ihn ab und zu an die Kette legen müssten.
Die Mädchen aus Lisas Klasse liefen schreiend davon, als Bastian sich auf dem Gang draußen seine Schuhbänder zuschnürte. Die Jungs aus den höheren Klassen wollten wissen, was da los war. Als sie den Grund der Panik erfuhren, war für sie sonnenklar, dass sie diesen gefährlichen »Wolf« jagen mussten. Bastian wurde wieder mal durch das Schulgebäude gehetzt, wie schon so oft zuvor. Diesmal war der Auslöser der »Wolf« gewesen, es gab aber auch jede Menge andere Gründe. Weil er es als »dicker Brummer« im Turnunterricht nicht schaffte, über den Bock zu springen, oder beim Fußballspielen den Ball nicht traf, beim Laufen über seine eigenen Füße stolperte oder einfach, weil ihnen langweilig war und sie jemanden brauchten, mit dem sie etwas »Spaß« haben konnten.
Dass sie alle begeistert applaudierten, ja sogar »Zugabe« riefen, wenn Bastian bei diversen Schulveranstaltungen auf der Bühne die aktuellen Popsongs in das Mikro röhrte, und zwar saugut und gänsehautfabrizierend, war ihnen in diesem Moment völlig egal. Eine andere Baustelle. Musikalisch konnte ihm keiner etwas vorwerfen, da wurde er selbst von seinen Peinigern auch mal als »Genie« bezeichnet. Was bei den Jungs in diesem Alter aber viel mehr zählte, war Sport in allen Varianten. Wer sich da blöd anstellte, hatte von Haus aus schlechte Karten. Und Bastian hatte die allerschlechtesten.
»›Singing‹ ist kein Scheiß-Name!«
»Das habe ich auch nicht gesagt! Ich würde nie ›Scheiße‹ in den Mund nehmen!«
»Aber gemeint hast du es so! Außerdem – ›Singing‹ passt doch zu uns, es klingt irgendwie nach Musik!«
»Es müssen ja nicht auch die Ortsnamen in Englisch sein!«
»›Singing‹ heißt schon seit dreihundert Jahren so, damals haben die Bauern hier auf dem Land noch nicht mal gewusst, was Englisch überhaupt ist!«
»Egal! Ich mag den Namen nicht! Und basta!«
Tante Finni, die mit ihren grauen, in alle Richtungen stehenden Haarborsten aussah wie Mama Bergers Staubwedel, kam aus dem Nachbarort St. Josef. Obwohl es nur fünf Kilometer Luftlinie waren, lag doch eine Grenze dazwischen, und weil ab und zu sehr genau kontrolliert wurde, konnte ihr Anfahrtsweg manchmal mehr als eine Stunde dauern. Dann brauchte Tante Finni einen Schnaps, um sich von den Strapazen zu erholen und kam ins Philosophieren. Sie mochte es nicht, wenn alles »verenglischt« wurde und dass die Jugend kein »ordentliches« Deutsch mehr sprechen konnte. Papa Berger, der ewige Rocker, hasste es, wenn Tante Finni von der guten alten Zeit schwärmte, in der alles angeblich so viel besser gewesen war. Dann bekam er wieder seine roten Flecken im Gesicht, so wie immer, wenn er sich aufregte.
Und wenn Tante Finni dann noch mit »Wir hatten zwar nicht viel, aber wir waren glücklich!« nachlegte, war Papa Bergers seelisches Wohlbefinden endgültig im Keller.
»Tante Finni, hör doch auf damit! Wir sind im Jahr 1990! Früher wärst du jetzt schon lange tot. Damals sind die Menschen mit sechzig in die Grube gefahren, heute wirst du locker neunzig!«
»Wie du immer sprichst. Das hätte es früher nicht gegeben!«
Ehe die Flecken von Papas Gesicht auf seinen ganzen Körper übersprangen, flüchtete er meist in seine Garage und schraubte am Kadett herum. Dort hörte er seine coole Rockmusik aus Amerika und England, die, wie man sich vielleicht vorstellen kann, wiederum bei Tante Finni rote Flecken verursachte. Papa Berger war der einzige Mensch in ganz Singing mit einem Plattenspieler in der Garage. Zwischen den Autoreifen und dem Rasenmäher hatte gerade noch ein selbst gezimmerter Holzkasten Platz, in dem hinter einer Glastür ein uralter AEG Telefunken-Plattenspieler versteckt war. Den hatte ihm Opa vererbt, und darauf spielte Papa Berger so oft es ging Deep Purple, Led Zeppelin, Jimi Hendrix und die Rolling Stones. Bei offenem Garagentor und mit einer Lautstärke, dass die Megaboxen an der Garagendecke zu glühen begannen. Ganz Singing hatte was davon, aber das war Papa Berger egal.
Bastian fand nichts dabei, dass Papa den ganzen Ort mit Rockmusik überflutete. Er hatte Wichtigeres zu tun. Gut, dass er nur einen Tag zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben musste, wer weiß, vielleicht wäre sonst sein großer Tag ins Wasser gefallen – sein zehnter Geburtstag. Vor zwei Tagen war er entlassen worden. Es gab ein heftiges Donnerwetter vom Direktor für die vier Rabauken, die Bastian zu der schmerzhaften Bekanntschaft mit dem Golf gezwungen hatten, und die Warnung, dass sie beim nächsten Verstoß gegen Ordnung und Sitten von der Schule fliegen würden. Das war’s dann auch schon.
Bastian war also Kummer gewohnt. Heute wollte er davon nichts wissen, seine Geburtstagsfeier ließ er sich bestimmt nicht vermiesen. Heute gab es alles, was seine Mama sonst nicht so gerne sah: Schokoladezigaretten, klebrigen Bazooka-Kaugummi, prickelnd süßes Afri-Cola und obendrein zehn Mark extra von Tante Finni, wenn Lisa und er für sie Weiße Rosen aus Athen singen würden. Für Papa war das ein »Scheißlied«, und die beiden Miniatur-Bergers konnten es auch nicht ausstehen, aber die zehn Mark entschädigten die wehrlosen Kids doch für die dreiminütige Misshandlung. Eigentlich hätte man in diesem Moment das schöne Singing in »Whining« oder »Crying« umbenennen müssen.
Lisa war im Gegensatz zu ihm ein Mädchen geblieben, die ganze lange Zeit, vom Bauch bis zur Zustellung. Bei Bastian war in der Lieferzeit ja irgendetwas schiefgegangen. Der Arzt hatte damals beim Ultraschall eindeutig keinen Schniedel gesehen, jetzt aber hatte er einen! Mama Berger war doch etwas überrascht gewesen, sogar ein bisschen enttäuscht, könnte man sagen, denn darauf war sie nicht vorbereitet. Und Papa auch nicht, denn der musste ganz allein das Kinderzimmer von Rosa auf Blau umgestalten. Papa, der eigentlich Gustav hieß, hatte sich damals nach Bastians fulminantem Start in dieses Leben doch sehr gefreut. »Aus dir mach ich einen echten Rocker!«, versprach er ihm noch im Ambulanzwagen, in dem der kleine Berger-Bonsai das Neonlicht der Welt erblickte. Mama Maria war nur am Weinen. Sie behauptete, das wäre vor lauter Glück, aber eigentlich wollte sie alles andere als ein Rocker-Baby und weder Lederstrampelhose noch »Hells Bells« auf dem Latz. Sie hatte von herzigem Rosa und permanentem Kuscheln geträumt, und genau das hatte sie sich dann fünfzehn Monate später nachliefern lassen – Lisa. Lisa und Mama hingen fast den ganzen Tag zusammen, die kleine Göre wusste genau, wie sie Mama Berger um den Finger wickeln konnte. Und die bekam gar nicht genug von ihrer süßen Kleinen. Eigentlich gut, dass Bastian das mit dem Schniedel passiert war, dachte er manchmal, sonst müsste er beim Fernsehen auf Mamas Bauch liegen. So konnte er sich daneben ganz allein auf dem Sofa ausbreiten, während die beiden aus dem Kuscheln gar nicht rauskamen.
Wenn Papa am Abend mal früher nach Hause kam, konnte Mama hin und wieder zu ihren Freundinnen fahren. Dann dröhnten aus einer mächtig überdimensionierten Stereoanlage Rocknummern in einer Lautstärke durch das Haus, dass die Scheiben klirrten. Die Stereoanlage im Wohnzimmer brauchte sich vor dem alten Plattenspieler in der Garage nicht zu verstecken, da war ordentlich was los bei Bergers »ultimativer Rock-Night«, wie Papa das Spektakel nannte.
Papa, Lisa und Bastian waren mittlerweile zu absolut unglaublichen »Luftgitarrenheroes« geworden. Irgendwie war er schon etwas verrückt, der Papa Berger. Vor allem, wenn er in seiner Unterhose auf dem Sofa stand und zu Deep Purple mit seiner imaginären E-Gitarre Smoke On The Water grölte. Bastian konnte das inzwischen auch schon perfekt, aber was Lisa aufführte, konnte keiner der Männer toppen. Die spielte in einer eigenen Liga, da musste man aufpassen, dass der Kristallleuchter und die Wohnzimmervorhänge heil blieben. Wie ein Gummiball hüpfte sie durch das Haus, und nichts war vor ihr sicher. Während einer Jam-Session zu Bruce Springsteens Born In The USA musste das Aquarium dran glauben, weil Lisa rücklings vom Sofa in die Zierfische krachte. In einer turbulenten Hilfsaktion konnten einige der am Boden nach Luft schnappenden Wasserzappler gerettet werden. Mama war nicht wirklich erfreut, als ihr die bergerische Luftgitarrengang erklärte, dass an diesem Tag das Baden ausfallen musste, weil in der Wanne ein Flüchtlingslager für heimatlose Zierfische eingerichtet hatte werden müssen.
Mama dachte im ersten Moment, dass eines der männlichen Familienmitglieder das Aquarium zerstört hatte.
»Das schaut euch wieder ähnlich! Könnt ihr nicht aufpassen?«
Lisa sah sie mit großen Augen an und flüsterte ganz leise: »Das war ich. Aber ich wollte das nicht!«
Und schon war für Mama wieder alles in Ordnung. Dass die Fische ihre Heimat wegen der süßen, kleinen Lisa verloren hatten, war etwas ganz anderes. Den Männern hätte sie dieses Kapitalverbrechen noch tagelang nicht verziehen, zu Lisa aber sagte sie nur: »Ist ja nicht so schlimm. Zum Glück ist dir nichts passiert, mein Schatz!«
Zurück zu Bastians Geburtstag. Er war schon ziemlich aufgeregt, in einer Stunde sollten alle da sein. Mama hatte das Wohnzimmer dekoriert. Überall hingen bunte Girlanden, auf den Tischen standen ebenso farbenprächtige Lampions, und mittendrin saß schon seit Stunden Tante Finni und löste Kreuzworträtsel – beinahe unbemerkt von allen anderen. Mit den gewagten Farbkombinationen ihrer Bluse hob sie sich überhaupt nicht ab von dem knalligen Papierzeug, das sich über das gesamte Zimmer verteilte. Hätte sie nicht ab und zu mal beim Luftholen ein paar der winzigen Papierkonfettischnipsel in ihre übernatürlich große Nase gesnifft, hätte man durchaus glauben können, der Raum wäre zwar bunt, aber menschenleer.
So aber gab es alle Minuten einen Vulkanausbruch im großen Ohrensessel, weil die Papierschnipsel ja irgendwie Tante Finnis Nase auch wieder verlassen mussten. Und wenn Tante Finni nieste, dann hörte man das in ganz Singing.
Ihr Geschenk hatte sie Bastian schon am frühen Morgen überreicht – ein richtig großes Paket in einem Geschenkpapier mit rotgelbem Blümchenmuster. Fies war dabei jedoch, dass er es erst öffnen durfte, wenn alle da waren. Super, vielen Dank, Tante Finni. Die Karte dagegen durfte er gleich lesen, obwohl er auf die nicht halb so scharf war:
Happy Börthday, Bastian!
Kleiner Mann,
irgendwann bist du ein großer Mann!
Doch das dauert noch ewig lang.
Ich habe einen Wunsch:
mach eine große Freude uns.
Bleib so lieb, wie du bist heut
und lernen musst du auch, dann wirst du gescheit.
Jetzt bist du zehn, die Jahre vergehen.
Die Sonne soll dir scheinen schön.
Und wenn sie mal nicht scheinen tut,
hau nicht gleich drauf deinen Hut,
alles wird gut!
Na bumm. Wenn Bastian nicht gewusst hätte, dass Mama ihm dann die Schokotorte verweigern würde, wäre er sofort aufs Klo zum Kotzen gelaufen. Die Reime waren grenzwertig, und »Börthday« schrieb man ganz bestimmt anders, das wusste er schon mit zehn! Seinen Versuch, Tante Finni das zu erklären, stoppte sie sofort: »Was fällt dir ein, du kleiner Hosenscheißer. Ich hab schon Englisch gesprochen, da bist du noch in Abrahams Wurstkessel geschwommen!«
Sollte er ihr erklären, dass er in einem Ambulanzwagen zur Welt gekommen war? Wenn Tante Finni sich einen Wurstkessel in den Kopf gesetzt hatte, dann würde sie von ihrem Wurstkessel auch kein Mensch abbringen. Bastian schon gar nicht. Er war knapp davor, auf die Schokotorte zu verzichten und aufs Klo zu laufen …
Langsam trudelten auch die restlichen Gäste ein. Georg und Susi gingen in Bastians Klasse, beide hatten denselben Friseur. Die Haare hingen wie Spaghetti von ihren Köpfen – schulterlang. Bei Georg waren sie auch wirklich nudelgelb, Susi hatte schon Ketchup drauf. Ihre roten Fransen passten gut zu der dicken Brille, die ebenfalls knallrot war und ihr so richtige Riesenkulleraugen verpasste. Im Gegensatz zu Georg war sie etwas pummelig, aber das war Bastian ja auch. Selbst sein tägliches Luftgitarrentraining konnte die vielen Schokokekse nicht wettmachen, die Oma ihm immer zusteckte.
Ja, Oma war auch da. Die Mama von Papa Berger hatte erstaunlicherweise gar nichts Wahnsinniges an sich. Okay, vielleicht bis auf den Umstand, dass sie ununterbrochen lächelte. Bastian hatte sie noch nie mürrisch erlebt. Traurig schon, als sein Opa ein paar Jahre zuvor von der Küchenbank gekracht war und die Augen verdreht hatte, da hatte er sie sogar weinen sehen. Aber mit dem Lächeln hatte sie auch beim Weinen nicht aufgehört.
Bastian konnte damals durch den Türspalt genau beobachten, wie Opa am Boden ihrer Küche lag. Er hatte so einen komischen Blick drauf, Bastian wusste sofort, dass Opa jetzt keine der üblichen Grimassen schnitt, mit denen er die Kleinen sonst zum Lachen bringen wollte. Bastian war gleich auf den Dachboden verschwunden und hatte sich im großen Kleiderschrank versteckt, der so herrlich nach Opa roch. Oma hatte ihm und Lisa damals erklärt, dass Opa immer auf sie aufpassen werde. Und wirklich, das machte er: Denn Lisa und Bastian fielen in den kommenden Jahren von jedem Baum in ihrem Garten, brachen mehrmals im Winter im viel zu dünnen Eis auf dem Tümpel ein und nötigten zahllose Autofahrer zu einer Vollbremsung, weil ihr Ball über die Straße gesprungen war und sie hinterher. Nie war ihnen etwas passiert, weil Opa sich um sie gekümmert hat, da oben, wo immer er gerade war.
In der Nacht schlichen sich Lisa und Bastian oft heimlich aus ihrem Zimmer im ersten Stock hinaus in den Garten zum »Sternderlschaun«. Den Weg über das knarrende Vordach bis zur verrosteten Dachrinne, auf der sie dann runterkletterten, kannten sie schon blind. Niemand hatte sie da je erwischt, weil sie einen Deal mit Opa hatten. Dann lagen sie im weichen Gras, Hand in Hand, und schauten sich die vielen Sterne an, die über ihnen strahlten. Mama hatte ihnen erzählt, dass die Menschen, die sie am meisten lieb hätten, irgendwann zu Sternen würden. Damit man sie in schönen Nächten sehen könnte und in schlimmen Nächten wüsste, dass es sie trotzdem gab, auch wenn sie gerade hinter dicken Wolken versteckt waren. Opa war bestimmt auch so ein Stern. Wahrscheinlich der, der da links oben am hellsten funkelte. Dem schickten die beiden nächtlichen Ausbrecher oft ihre grauenhaftesten Grimassen rauf, genauso wie sie es mit Opa früher in der Küche gemacht hatten. Und manches Mal schnallten sie sich sogar ihre Luftgitarren um und rockten für ihn. Und sie stellten sich vor, wie er mitrockte, da oben …
Papa Berger hatte es nun auch endlich geschafft, sich von seinem Büro in der Molkerei zu verabschieden und parkte seinen C-Kadett in der Garage. Er wollte ja eigentlich Musiker werden, im Keller standen immer noch ein alter Kontrabass und seine Fender-E-Gitarre mit dem vorsintflutlichen Röhrenverstärker, die er alle heiligen Zeiten mal zur Hand nahm. Gelandet war Papa in der Molkerei und durfte dort den ganzen Tag Joghurts und Käse essen. Zumindest dachten sich die Kids das. So etwas nennt man heute »Produktmanagement«, früher war er einfach »Mädchen für alles«, hatte Papa mal erklärt. Bastian fragte sich damals, ob sein alter Herr vielleicht irgendwann auch keinen Schniedel gehabt hatte.
Jetzt war das Geburtstagskomitee endlich komplett und die Feier konnte beginnen. Lisa wollte ihrer Mama helfen, war aber wieder mal etwas zu schusselig. Daher hüpfte ihr beim Reintragen vor lauter Freude der Schokopudding aus der Schüssel und blieb genau auf dem Haufen aus Fliegen, Spinnen und Ungeziefer liegen, der am Morgen bei der großen Wohnzimmerreinigung aus den hintersten Winkeln hervorgekehrt worden war. Eigentlich hätte sie den Mist längst fortschaffen sollen, hatte es aber wieder einmal vergessen, und jetzt wurde die ganze Sauerei von einer klebrigen Masse zugedeckt. Keiner bemerkte es, nur Bastian sah aus den Augenwinkeln, wie Lisa den braunen Matsch mit ihren kleinen Händen vom staubigen Boden aufhob und wieder in den Napf hineinpresste. Schokopudding würde er heute sicher keinen essen.
Tante Finni rief begeistert: »Oh, Schokopudding! Her damit!«, und schon bekam sie diese ganz besondere Leckerei vor die Nase gestellt. Eigentlich war sie gar keine richtige Tante, sondern die Schwester von Oma, also auch nicht mehr die Jüngste. Alle sagten Tante Finni zu ihr, auch die Nachbarn. Obwohl sie auch nicht deren Tante war. Nach zwei Löffeln meinte sie, so etwas Tolles hätte sie schon lange nicht mehr gegessen. Ob da auch Rosinen drin wären? Mama wollte das gerade verneinen, aber Lisa kam ihr zuvor und erklärte, sie hätte den Pudding noch etwas verfeinert. Mama war zwar überrascht, aber weil Tante Finni den Schoko-Rosinen-Pudding so begeistert in sich reinschaufelte, verlor sie kein Wort mehr darüber, sondern war einfach nur stolz auf ihre Tochter, die mit ihren acht Jahren schon eine perfekte kleine Küchenfee abgab.
Jetzt wollte auch Oma Schokopudding. Lisa sah hilflos zu Bastian rüber, schweigend waren sich die beiden einig, dass Oma sich diese Mixtur nicht verdient hatte. Also musste Bastian alles wieder in Ordnung bringen, wie immer, wenn Lisa etwas verbockt hatte. Er nahm die Schüssel, rief Oma zu, »Gerne, ich bring dir welchen«, und im selben Moment stellte er sich selbst ein Bein, was gar nicht so einfach war. Er schaffte es und knallte mit der Schüssel samt Rosinenpudding auf den Wohnzimmertisch. In hohem Bogen flog das Ding aus seiner Hand durch die Luft und landete punktgenau im Aquarium, das seit zwei Wochen wieder in Betrieb war.
Entsetzte Blicke landeten auf Bastian. Papa versuchte, das Zeug aus dem Aquarium zu fischen, aber das glitschige Ding glitt ihm immer wieder aus den Händen. Mittlerweile hatte das ganze Wasser eine unangenehme Farbe angenommen. Durch bräunliche Schwaden sah man den Fischen ihre Verzweiflung an. Mama schrie, dass man sie sofort in Sicherheit bringen müsste, und da es im Berger-Haus ein eingespieltes Wasserrettungsteam gab, wurden die Tiere in ein Badewannen-Auffanglager umquartiert.
Das »Warum sind da so viele Fliegen und Spinnen im Becken?« von Tante Finni ignorierten die Einsatzkräfte geflissentlich. Man hatte jetzt Wichtigeres zu tun.
Nach dieser Aufregung kam erst mal Oma zu Bastian und steckte ihm einen Zehner zu, wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen, weil sie dachte, dieses Fiasko sei nur ihretwegen ausgebrochen. Lisa war deshalb etwas eingeschnappt und zeigte das auch offen.
»Oma, Bastian hat unseren schönen, selbstgemachten Schokopudding im Aquarium versenkt. Warum bekommt er dafür zehn Mark?«
Na super! Vielen Dank, Lisa, dachte Bastian. Er sah sich schon den Zehner wieder zurückgeben, aber Oma meinte: »Ja, ja, warte nur, Lisa. Für dich habe ich auch einen.« Oma, die gute Seele, griff nun ein zweites Mal in ihr Portemonnaie, und schon bekam auch Lisa eine finanzielle Entschädigung für die ganze Aufregung.
Darüber wollte Bastian heute Abend bei ihrem gemeinsamen »Sternderlschaun« im Garten noch mal reden. Dabei wusste er jetzt schon, was die kleine Kröte sagen würde: »Das hatte doch gar nichts mit dir zu tun, natürlich hab ich dich nicht anschwärzen wollen, ich war doch froh, dass du mir geholfen hast.« Aber sie wisse ja, wie Oma ticke – und zehn Mark könne sie eben auch gut gebrauchen. Zumindest das Letzte stimmte: Oma würde niemals jemanden benachteiligen. »Das war nicht böse gemeint«, Bastian war sich sicher, dass Lisa ihm das am Abend genau so erklären würde. Wie sie es immer tat, wenn er von ihr enttäuscht war.
Weil seine Augen nass wurden, musste er schleunigst nach draußen in den Garten. Irgendwie konnte er seine Schwester nicht verstehen, zuerst musste er ihr aus der Patsche helfen, und dann fiel sie ihm in den Rücken. Das ging schon seit Jahren so.
Susi, Bastians moppelige Freundin mit der Brille, hatte Lisa längst durchschaut. Bastian hoffte, dass sie die Tränen nicht in seinen Augen sehen konnte, als sie ihm ihr Geschenk, eine Riesentafel Schokolade, raus in den Garten brachte und die beiden gemeinsam innerhalb von vier Minuten zweihundert Gramm Nuss-Nougat verputzten. Irgendwie tat es gut, gemeinsam zu futtern, wenn es einem schlecht ging.
»Entschuldigung, wenn ich das sage, aber Lisa ist schon ein echtes Biest. Ich habe genau gesehen, wie die Rosinen in den Pudding gekommen sind«, verriet Susi. »Und wie sie dich dann bei deiner Oma schlecht gemacht hat, das war nicht besonders nett von ihr.«
»Ich weiß, aber sie hat das bestimmt nicht so gemeint.«
Er wunderte sich selbst, warum er sein Schwesternmonster immer noch verteidigte, und wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln.
»Gut, dass Oma nichts vom Pudding abgekommen hat. Tante Finni ist ja noch etwas jünger, der macht das bestimmt nichts aus. Aber wer weiß, was mit Oma los gewesen wäre? Das hast du toll gemacht.«
Susi versuchte ihn zu trösten.
»Danke Susi!«, langsam vergaß Bastian, was Lisa da soeben gemacht hatte, weil Susi gerade besonders lieb lächelte.
»Wer weiß, vielleicht hätten sich die Fliegen in ihren dritten Zähnen verfangen und Oma hätte ihre Beißerchen vor lauter Schreck verschluckt?«
Jetzt lachten beide, und nicht nur die Schokolade schmolz in Bastians Händen. Susi sah mit ihren ketchuproten Haaren so richtig knuffig aus. Dass er Oma mit heldenhaftem Einsatz vorm Ersticken bewahrt habe, sei schon ein kleines Küsschen wert, meinte sie dann. Bastians Wangen wurden die reinsten Heizkissen. Susi schmeckte nach Brausepulver, und er wusste gar nicht, was er sagen sollte. Zum Glück rief Mama, dass sie alle reinkommen sollten.
Langsam beruhigte sich die Lage, das Aquarium war evakuiert, und die Fische in der Badewanne freuten sich über mehr Bewegungsfreiheit. Aber da war noch Tante Finni. Zuerst sollte Bastian ihr Geschenk aufmachen, und dann wollte sie ihr Lieblingslied hören: Weiße Rosen aus Athen. Bastian bedankte sich still bei seiner Mama, dass sie ihnen dieses Lied in einem Anfall von geistiger Abwesenheit irgendwann beigebracht hatte. Seither wartete Tante Finni bei jeder Gelegenheit darauf, dass Lisa und er dieses griechische Scheißlied singen würden.
Vielleicht ließ sie sich heute umstimmen. »Iiiichhh«, krächzte er, »Iiiich kann nicht singen, ich habe mich vorhin verkühlt, draußen. Meine Stimme …«
Mama fiel ihm in den Rücken und meinte: »Bastian, mach kein Theater, vor einer halben Stunde hat man von deiner Verkühlung noch gar nichts bemerkt. Wo soll die denn plötzlich herkommen?«
»Ich verstehe das, bei mir geht das auch immer so schnell.« Yeah, Papa hielt zu seinem Sohn. »Bastian, hast du die Kraft, Tante Finni statt der Weißen Rosen unsere unglaubliche Luftgitarrenshow zu zeigen?«
Ja, natürlich! Ehe er noch den Mund aufmachen konnte, mischte sich Tante Finni ein und meinte: »Nichts da, der Junge singt. So schlimm kann das nicht sein.«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Bastian, du wirst doch deiner lieben Tante wegen dem bisschen Verkühlung nicht ihren Wunsch abschlagen, oder?«
Du bist nicht meine Tante, dachte Bastian! Sagen traute er sich das nicht. Er wusste, es hatte keinen Sinn, und auch Papa gab sich geschlagen. Lisa verhielt sich überhaupt ganz ruhig, sie hatte wieder einmal gehofft, dass Bastian die Sache alleine schaukeln würde. Wie immer. Diesmal hatte das aber nicht geklappt, nach dem Geschenkeauspacken würde auch sie Weiße Rosen trällern müssen.
Hektisch holte Lisa das riesige Paket von Tante Finni aus der Garage, wo es seit heute früh zwischengelagert wurde. Bastian konnte es beinahe nicht mehr erwarten, denn in dieser Verpackung hätte durchaus auch eine ausgewachsene E-Gitarre Platz haben können. Vielleicht würde es Tante Finni auf ihre alten Tage ja doch noch schaffen, ihn mit einem richtig coolen Geschenk zu überraschen. Papa hatte ihr bestimmt verraten, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als eine eigene Gitarre.
Das Ding dürfte schwer sein, Lisa musste ganz schön schleppen. Dass ihr die große Schachtel auf dem langen Weg ins Wohnzimmer zwei Mal runtergefallen war, erwähnte sie mit keinem Wort.
Jetzt saßen alle auf der Ledercouch und starrten erwartungsvoll auf Bastian. Irgendwie musste der Karton feucht geworden sein, im Viervierteltakt tropften kleine Wasserperlen auf den Teppichboden. Mama half Bastian beim Öffnen. Als sie den Deckel hoben und Tante Finni von der Couch begeistert »Happy Börthday!« schrie, bemerkten die beiden ganz unten in der Box jede Menge Glasscherben, und dazwischen drei mickrige Goldfische, die friedlich vor sich hindösten. Im Licht des Wohnzimmerleuchters glitzerte es aus der Schachtel wie aus einem winterlichen Schneehaufen, ein kleines Rinnsal träufelte fröhlich durch den Karton auf Mamas Filzpantoffel. So sah keine E-Gitarre aus! Bastians Träume vom eigenen, megageilen Musikinstrument lösten sich in diesem Moment in Luft auf.
Tante Finni war immer noch begeistert, verstand aber nicht, warum Bastian sich nicht freute.
»Bastian, jetzt hast du dein eigenes kleines Goldfisch-Aquarium. Wer Verantwortung für Tiere übernimmt, der lernt dabei fürs ganze Leben.«
Allzu viel Verantwortung würde er da nicht mehr übernehmen müssen. Denn die dösenden Goldfische dösten gar nicht, die waren schon im Goldfischhimmel, weil ihnen vor einer halben Stunde die flüssige Lebensgrundlage genommen worden war. Dank Lisa!
»Ihr hättet beim Öffnen besser aufpassen müssen!«, schrie Tante Finni, die endlich die Bescherung entdeckt hatte und sich im Stadium der Schnappatmung befand.
»Ich hab mir solche Mühe gegeben, ein ordentliches Geschenk für Bastian zu finden, und dann das!«
Mama und Bastian waren sich keiner Schuld bewusst, mussten das aber jetzt gemeinsam ausbaden. Ausbaden war gut, das hätten die Goldfische auch gerne getan, aber leider war es nun mal, wie es war. Warum Lisa so scheinheilig vor sich hinlächelte, würde Bastian erst viel später erfahren. Er drückte Tante Finni trotzdem zwei schnelle Küsschen auf ihre rot angelaufenen Wangen und sagte artig »Danke schön«, während Papa die leblosen Goldfische mitsamt der feuchten Aquariumskatastrophe im Müll entsorgte.
»Könnte man da nicht Fischstäbchen draus machen?«, wollte Lisa wissen.
Kaum konnte Tante Finni wieder einigermaßen normal schnaufen, beschwor sie neues Grauen herauf: »Puh. Auf den Schrecken brauch ich jetzt meine Weißen Rosen.«
Und weil sie schon in der Tasche nach ihrer Geldbörse suchte und niemand die angespannte Stimmung noch mehr aufheizen wollte, verzichteten Bastian und Lisa auf den neuerlichen Versuch eines Gegenvorschlages in Form einer noch nie dagewesenen Luftgitarrenshow und beugten sich dem Schicksal:
»Weiße Rosen aus Athen …« – sie hassten dieses Lied!