Herbert Friedrich
Nachmittag eines Schriftstellers
Erzählungen
ISBN 978-3-96521-550-4 (E-Book)
Umschlaggestaltung: Ernst Franta
Das Buch erschien 1987 im Verlag Neues Leben Berlin.
2021 EDITION digital
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„Kerls, wollt ihr denn ewig leben!“
Preußenkönig Friedrich II. an fliehende Soldaten in der Schlacht von Kolin oder von Kunersdorf
Diese Geschichte muss mit Truckenbrodt beginnen, obwohl er sehr rasch aus ihr herausgeht und später nur noch einmal vom Himmel herab zu mir kommt Nachher habe ich nie mehr etwas von Truckenbrodt gehört. Ich weiß nur, dass er Ende des Krieges noch gelebt hat. Und diese Geschichte fängt auch nicht in Nove Mesto an, Neustadt also, im Mährischen gelegen (wiewohl man in der Hauptsache davon erzählen müsste) und nicht im Frühjahr 1945, sondern knapp zwei Jahre früher, im mitteldeutschen Kannenberg, in dem Neorenaissancebau der Lehrerbildungsanstalt, als an einem Junitag wir Sechzehnjährigen in das Musikzimmer beordert wurden.
Da schlampten wir hungrig und lustlos durch lange, kühle Gänge, in unseren Hausuniformen wie die grauen Mäuse, die HJ-Binde am Arm. Studienrat Haschke, der sonst immer Knickerbocker trug, stand in Amtswalteruniform an der Tür. Drinnen aber, in dem in voller Sonne liegenden Musikraum, erwartete uns Feldgrau. Auf dem Podest neben dem Flügel saßen hochdekorierte Männer mit viel Paspeln und Litzen. Kühl abschätzend blickten sie uns an.
Ich hatte noch einmal pinkeln gehen wollen, war aber von Studienassessor Kappel zurückgepfiffen worden, als sei ich ein Deserteur. So war ich einer der letzten, der in das Musikzimmer kam, und blieb in der Nähe der Tür, was mir bei meinem Drang zur Toilette lieb war. Dann gab es die gewohnten Kommandos und Strammstehen und endgültiges Hinsetzen und Stille und Füßescharren und den Beethovenkopf vorn und den Römerkopf Kappel und die Amtswaltermütze Haschke und die drei Offiziere in Feldgrau.
Etwas an ihren Uniformen war anders, als ich es sonst zur Genüge hatte sehen können: Der Hoheitsadler, dieser Raubvogel, saß ihnen nicht auf der Brust, sondern auf dem Arm. Das war also Waffen-SS. Ich saß zwischen Meadow und Blacki und Fag – und irgendwo war auch Truckenbrodt –, und ich dachte, was da wohl kommen werde, Schlachtenberichte, Frontbegradigung, Dreck der Schützengräben, Situationsschilderung von Stalingrad, oft schon gehabt. Am 13. Februar hatte Reichspropagandaminister Goebbels den totalen Krieg verkündet. Kanonen statt Butter!
Sie hätten also allerhand reden können, diese SS-Leute; rosig sah es an keiner Front aus. Aufmunterung war nötig.
Freilich hing ich nicht lange dergleichen Gedanken nach. Ich dachte bald mehr an die Quaddeln, die Küchenchefin, die nun schon die nachmittäglichen Marmeladenbrote schmierte. Aber bis es diese gab, waren noch gut anderthalb Stunden Zeit. Und wie die vergingen, das war mir nicht ganz egal. Denn mit den Logarithmen kam ich nicht klar; und am nächsten Tag war eine Arbeit fällig. Auch Lateinvokabeln musste ich pauken. Transgressus sum. Hannibal, der von Spanien aufgebrochen war und die Alpen überschritten hatte, gelangte nach Italien. Wohin es mich einmal treiben würde, das wusste der Teufel.
Als ich so saß, geschah etwas Merkwürdiges: Assessor Kappel schritt an mir vorbei zur Tür, und ich hätte hinterhergewollt, weil mich doch die Blase drückte. Kappel aber klinkte nicht die Tür auf, sondern drehte den Schlüssel im Schloss um. Das konnte doch nicht wahr sein! Er schloss zu, zog den Schlüssel ab und schritt, ihn allen zur Schau um seinen Zeigefinger wirbelnd, wieder an mir vorbei.
Ich hingegen starrte den Schlüssel an und registrierte, wo der Schlüssel landete: neben Haschke auf dem Flügel. Haschke indes gab dem ranghöchsten Gast das Wort. Da kam es zwischen dünnen Lippen hervorgeträufelt, kaum dass sie bewegt wurden, während mich der Schlüssel interessierte. Heilig Vaterland. „Im schweren Kampf der Waffen steht unser ganzes Volk um seinen unvergleichlichen Führer geschart. Unser Dank ist unsere Treue.“
Ich blickte mit wahrer Wut auf den Schlüssel. Die Luft war zum Schneiden. Und der Römerkopf Kappel neben dem Gipskopf Beethovens, das war was. Und die Fenster waren verrammelt wie die Tür. Das Glas vermehrte die Wärme. Und die Stimme sickerte auf uns nieder, der waren wir unentrinnbar ausgesetzt.
„Wir alle bitten die Vorsehung, dass sie unserem Führer weiterhin die Kraft gebe, mit uns die Feinde niederzuringen. Wir brauchen euch, Kameraden! Kommt zu uns! Dich und dich und dich, wir brauchen euch alle!“ Die ausgestreckte Hand des Sturmführers fuhr auf unsere Köpfe zu, hieb einzelne heraus aus der grauen Masse, auch den Fag, was jener davon halte, sich freiwillig zur Waffen-SS zu melden.
Darauf lief es hinaus!
Mein Kamerad Fag sprang mit oft geübter Forsche auf und stammelte völlig überrascht etwas heraus, was überallhin passte.
Die SS galt als Elitetruppe, das edelste Metall, aus dem unsere Schwerter geschmiedet waren. Ausgewählte Leute waren das, denen Wunderdinge nachgesagt wurden. Die Getreuesten des Führers. Die Blutgruppe wurde ihnen – Gerüchten nach – in die Achselhöhle tätowiert. Wie viel ihrer Rituale waren mir noch unbekannt? Und nun wurde auf einmal nicht mehr gefragt, ob man eine Idealgröße hatte, reines Blut, die entsprechende Nase. Jetzt wollte man alles nehmen, was sich anbot. Die Front musste eine Menge von diesen Leuten gefressen haben, dass sie nun auf diese Weise nach frischem Blut suchten. Der Sturmführer schwenkte schon die Anmeldeformulare.
Ich aber hatte vor noch nicht langer Zeit Herrn Haschke bitter enttäuscht, als er der Klasse in Biologie einen arischen Menschen zeigen und an mir die Merkmale eines echten Deutschen nachweisen wollte. Er stellte mich seitlich an das (dort!) offene Fenster, damit man mein Profil sähe, wobei er vor allem auf den ausladenden Hinterkopf hinwies, welcher ein gewaltiges Denkerhirn versprach, den Beweis für die Überlegenheit des deutschen Volkes gegenüber minderwertigen Rassen. Fast väterlich hatte er seine Hand darauf gelegt, um die Form nachzuzeichnen. So wie er aber die Hand auf meinen Kopf legte, so schrumpften dessen Umrisse zusammen, wie bei einem Ball, dem die Luft ausging: weil nichts anderes die ausladende Form meines Schädels bewirkt hatte als das abstehende Haar.
Nach dieser herben Enttäuschung war ich für Haschke erledigt, nun aber, wie sich zeigte, noch brauchbar für die Waffen-SS.
Auf dem Flügel, an dem ich Musiklehrer Hölzchen mit meinen untauglichen Bemühungen zur Verzweiflung getrieben hatte, lagen die Anmeldebogen für diese auserlesene Schar. Und daneben lag der Schlüssel zur Tür. Der Weg durch die Tür führte nur über die Formulare, eine Verknüpfung, die mir gegen den Strich ging. Und diese zähe, schleppende Stimme war noch lange nicht fertig mit uns. „Ein glückliches Gefühl wird euch durchleben, unüberwindlich die Heimatgaue zu schützen.“
Auch das Zusammenkneifen der Knie half nicht mehr viel; ich musste dringend raus. Die Rettung kam unerwartet. Es war eine Stimme, die dem gerade wieder loslegenden SS-Mann das Wort abschnitt. „Bitte austreten zu dürfen, Herr Studienrat.“
Da also stand Truckenbrodt da, in einer der Reihen vor mir.
Alle Köpfe drehten sich ihm zu, schauten auf den besten Weitspringer der Klasse, den hervorragenden Sänger, an dem Musiklehrer Hölzchen seine Freude hatte. Rotschopf Truckenbrodt, mit den Sommersprossen, über das ganze schmale Gesicht gesprenkelt; stand dort Werner Truckenbrodt gelassen da und sprach das aus, was ich hätte sagen müssen.
Schon zwängte er sich an den Knien der Sitzenden vorbei, ehe der sprachlose Haschke etwas erwidern konnte und der SS-Mann wiederum auf den Studienrat blickte in Erwartung, was dieser nun unternehmen würde.
Da war Werner Truckenbrodt schon am Flügel und griff sich den Schlüssel, der auch meine Glückseligkeit, mein Wohlbefinden bedeutete.
Assessor Kappels schlanke Hand huschte zwar vor, doch Truckenbrodt hatte den Schlüssel schon. Das riss mich mit; unversehens stand auch ich und rief Haschke zu: „Bitte, ich muss auch!“, was Kappel hätte bezeugen können, was aber der Form nach völlig unmilitärisch war. So jagte ich hinter Truckenbrodt durch die Tür und holte ihn noch vor dem WC ein.
„Falkner von Zschachwitz“, sagte er erstaunt und griente. Und als wir gemeinsam vor der Rinne standen und uns erleichterten, meinte er: „Das passiert uns nicht wieder. Bei nächster Gelegenheit fahren wir zum Wehrkreiskommando nach Chemnitz.“
Truckenbrodt hatte der Waffen-SS die Werbeveranstaltung geschmissen. Viel war da nicht mehr herausgekommen im Musikzimmer. Aber das Eingeschlossenwerden hatte Truckenbrodt angestunken, der Freiheit beraubt, ein Freiherr von der Trenck schon im Kerker, so legte er los.
Wir hatten im Frühjahr dieses Jahres einige Tage gemeinsam im Krankenzimmer gelegen, der „Burg III“, beide mit Erkältung, etwas Fieber und so was. Und waren in unserer Langeweile Hoch- und Deutschmeister geworden, er Hermann von Salza, ich Falkner von Zschachwitz. Tod den Templern! hatten wir geschworen. Cum deo, Gottes Freund, aller Welt Feind. Wir hatten uns auch an Mittelhochdeutsch versucht. Ahi, wie kristenliche nu der habest lachet. Später, als ich wieder draußen war, in meiner Kameradschaft 1, der „Burg Dresden“, hatte ich ihm „durch Stafette“ Briefe zukommen lassen.
Er selber lag in „Burg Chemnitz“, der Kameradschaft 3. Er war der Sohn eines Waldarbeiters aus Mauersbach. Das Forsthaus, der Wald hatten seine Vorstellungen von Freiheit geprägt. „So geht's nicht“, sagte Truckenbrodt. „Freiwillig gezwungen. Und wenn es die SS ist …“
Mir war es hauptsächlich um das Pinkeln gegangen.
Nach dieser Sache lag Truckenbrodt bei den Herren Studienräten der Lehrerbildungsanstalt schief. Jedoch der wieder in Knickerbocker steckende Haschke sah mich kaum weniger scheel an; ich merkte es allenthalben. Truckenbrodt und ich saßen im selben Boot. Und nun musste ich mitschwimmen, um hier durchzukommen. Aber Truckenbrodt hatte ja seinen Plan.
Bei nächster Gelegenheit quetschten wir uns in einen der überfüllten stickigen Züge – Stehplatz – und fuhren zum Wehrkreiskommando nach Chemnitz und meldeten uns freiwillig als Reserveoffiziersbewerber zur Wehrmacht. Dadurch waren wir mit einem Schlag tabu für die SS und Vorbild für die gesamte Lehrerbildungsanstalt.
„Flucht nach vorn“, nannte Truckenbrodt das. Vor versammeltem Karree standen wir im Schulhof, noch nicht siebzehnjährig. Kein Geringerer als Haschke empfahl uns allen zur Nachahmung und lobte uns. Wir hätten den Zug der Zeit verstanden. Es war ein herrlicher Sommer, und wir waren jung, und es war weit bis Kursk, wo die sowjetische Armee zur Gegenoffensive überging. Und noch lange währte unsere Schonzeit in dem Sandsteinbau zu Kannenberg.
Erst im kalten Februar 1944 kam ich mit Truckenbrodt in die Ebenen Westpreußens zum Reichsarbeitsdienst und übte Kolbenhalsumfassen an französischen Gewehren und Spatengriffe.
Von da an sollte es noch ein volles Jahr dauern, bis wir dieses Nove Mesto erreichten. Längst waren wir nun beim Lehrgang der Reserveoffiziersbewerber, der sich immer mehr in die Länge zog, je näher die Front rückte. Wir immer her vor der Front, meinen achtzehnten Geburtstag noch im Soldatenheim von Bochnia begossen, kurz bevor die Russen es einnahmen; Panjewagen requiriert; auf einem Dorfbahnhof eingeschlafen beim Wachestehen, auf einer Munitionskiste hockend, vor dem Verladen in die Slowakei, geweckt von Truckenbrodt, ehe der Unteroffizier dieses Vergehen entdeckte. Belgische Armeepistole, Infanteriegeschütz sieben Komma fünf, schwere und leichte Granatwerfer, schweres MG, und immer gab es noch Waffen, an denen wir Reserveoffiziersbewerber auszubilden waren, um erfolgreich in den Krieg einsteigen zu können. Und noch immer kam die Front nicht zum Stehen. Panzerfaust und Ofenrohr und Arbeit am Scherenfernrohr und dazwischen marschiert, weil da schon wieder Geschützgrollen zu hören war. Wälder nach Partisanen durchkämmt; im Marschieren an einem finsteren kalten Januarmorgen eingeschlafen und mit dem Kopf gegen den vorausfahrenden Pferdewagen geknallt.
Am Abend sang Truckenbrodt im Kino von Zilina mit seiner Tenorstimme Lili Marleen und In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine und andere Sachen, bevor wir uns auf dem Klappgestühl langmachten und die Nacht über schliefen.
In einem kleinen Dorf wischte Truckenbrodt eines Morgens vorm Weitermarsch die Kreidenummer vom Tor des Häuschens, in dem wir beide übernachtet hatten, weil ihm das Mädel darin so gut gefiel. Denn diese mit Kreide geschriebene Zahl hatte das Vorauskommando angebracht und sie verriet allen folgenden Truppen, dass hier ein Quartier sei, in das soundso viel Soldaten gelegt werden könnten.
Dann in der Stadt Brno (Privatquartier) zeigte uns der Wohnungsinhaber einen Mantel, wie von den Motten zerfressen, braungefleckt zwischen den vielen Löchern. Seine Tochter hatte diesen Mantel getragen, als die Motten aus der Luft gekommen waren: Das Braune war Blut. Das Bild der Tochter hing an der Wand, schwarze Schleife darüber, Trockenblumen. Wunderschöne Augen.
Truckenbrodt stand da, blass, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und sprach bis zum nächsten Morgen kein Wort mehr. Die Läuse bissen uns. Wir kratzten uns selbst im Schlaf.
Und endlich dann: Nove Mesto.
Natürlich waren Truckenbrodt und ich nicht das ganze lange Jahr über von Westpreußen bis nach Nove Mesto allein, wie es den Anschein haben könnte. Wir steckten in einer Gruppe, und diese in einem Zug, und dieser in einer Kompanie. Bataillone gehörten dazu, ganze Heeresgruppen.
Und dann der Lehrgang, die dreißig Mann, die sich das ausgedacht hatten, Reserveoffiziere zu werden. Der Opitz, der Eberwein, der Nestmann, Scort und Bindfuß und Reinholz, wie sie alle hießen, mit denen man Wache schob, auf den Latrinen hockte, Schnee schippte, hinter dem MG lag, die jungen Hunde. Die Masse der Vorgesetzten dazu, Gefreite, Obergefreite, die ganze Rangfolge aufwärts, die Litzen immer prächtiger, Stimmen, die befahlen, kommandierten, brüllten, schnauzten, uns an den Horizont trieben, in vereiste Bäche jagten, Berge im Schnee hinaufhetzten. Auch sie alle mit Gesichtern, mit Rang, Titel, Namen, mit deftigen Spitznamen bedacht wie auch mit Flüchen. Und mitten darin Truckenbrodt und ich.
Natürlich kannten wir nach dem vollen Jahr Haut an Haut unseren (kurzen!) Lebensweg und unsere Familien. Ich kannte den Stammplatz des Waldarbeiters Truckenbrodt in seiner kleinen Wohnstube, wie er im verschlissenen Schaukelstuhl lehnte. Ich wusste, wo die Kuckucksuhr hing, und war informiert, dass ihn ein Baum an der Schulter erwischt hatte und welche Krankheiten Truckenbrodts Mutter plagten.
Auch von mir erfuhr Truckenbrodt allerhand: Wie ich dem Vater mittags das Essen an seine Asbestbude gebracht hatte und er den Staub heraushustete, wie froh er war, dass sein Sohn Lehrer werden konnte, und wie er geflucht hatte über das Freiwilligmelden in den Krieg. Meine Mutter hatte vor ihrer Heirat im Sachsenwerk Motorgehäuse lackiert, Farbdunst, da kannst du kaum atmen. Dann in der Arbeitslosenzeit hatte sie Stuben gewischt und Wäsche gewaschen für fremde Leute. Alle meine Kinderhemden hatte schon jemand anderes getragen; mein erstes Fahrrad hatte ich nie neu erlebt; meine Skier, die zu Weihnachten unter dem Baum standen, hatten eine mit Blech geflickte Spitze.
Das alles wusste Truckenbrodt von mir. Zuletzt, als wir schon durch die Slowakei krochen, vertraute ich ihm an, dass ich Gedichte schrieb:
„Kam’rad, kehrst du nach Haus zurück,
und ich lass’ hier mein Blut:
verhalt einmal in deinem Glück …
Steht an dem Schloss am Elbestrand
ein Mädel scheu und fein,
gibt im Vorübergehn die Hand …
Auch über das alles war Truckenbrodt im Bilde.
Wir hatten die Adressen ausgetauscht und kleine Briefe von dem anderen in der Tasche, die wir im jeweiligen Elternhaus abgeben wollten, wenn der Fall einträte … „Der schnellste Reiter ist der Tod … – Wer stets den Tod vor Augen hat …“, zitierte Truckenbrodt. Das aber waren keine Verse von Herbert Falkner, sondern von Geibel und Heyse. Wenn wir an diesen Fall dachten, schwiegen wir lange.
Jahreswechsel 1944 zu 1945, Silvesternacht, gemeinsame Wache vor dem Torhaus der Burg Oravsky Zamok in der knalligen Kälte. Sterne darüber, Stille, tiefer Schnee: Kam’rad, schweig jetzt, das Jahr will gehn … Verborgeneres, als dass ich Gedichte schrieb, konnte ich Truckenbrodt nicht anvertrauen.
Ein volles Jahr hatten wir uns auch aneinander gerieben, gegenseitig angekotzt, kaum noch ertragen, den Schweiß des anderen eingeatmet und dessen Blähungen. Gemeinsam Die Deutsche Wochenschau in den Kinos gesehen, die Front, die Dreckfontänen; was sich da auf uns zuwälzte von denen, die mit Hitlers Neuordnung Europas keineswegs einverstanden waren. Wehrmachtsberichte, Fähnchen gesteckt, wo liegt das und das, nahe, immer näher. Das OKW gibt bekannt; von uns nichts, noch waren wir außerhalb des Malstroms. Luftschutzübungen in Städten. Zeitungen im Umfang eingeschränkt. Achtung, Feind hört mit!
Bordkanten hatten weiße Anstriche. Ansiedlungen waren verdunkelt. Zeitungsmeldungen: Im Kampf für sein Vaterland fiel … Schwarz umrändert, das Eiserne Kreuz in der Ecke der Annonce, wenigstens das, ein Orden aus Druckerschwärze für den Toten. Gott ist mit Hitler!
Schon in unseren ersten Jahren zu Kannenberg. Kamerad Hund wird erfasst und registriert. Kennkarte mit Lichtbild und Fingerabdrücken. Aber wir hatten ja Soldbuch. Lebensmittelkarten, Urlauberkarten, Raucherkarten. Aber wir hatten keinen Urlaub, aber wir rauchten nicht. Wir benötigten auch weder Kohlenkarten noch Kleiderkarten (1 Taschentuch 1 Punkt, 1 Staubmantel 20 Punkte, 1 Schlafanzug 25 Punkte von 100 Punkten im Jahr).
Das deutsche Soldatentum hat sich den Lorbeerkranz, der ihm 1918 hinterlistig geraubt worden ist, nunmehr wieder fest um das Haupt gelegt …
Hat ein Soldatentum ein Haupt? Ich stritt mich mit Truckenbrodt über die Richtigkeit dieses Satzes, obwohl da nichts zu deuteln war: Denn er stammte von Hitler.
Wie viel Nächte zusammen verbracht, auf Wache, Patrouille, in Scheunen gepennt, in kleinen Bauernhäusern, in Wohnküchen, in Kasernen. Eine Nacht in strömendem Regen auf einem Waldweg gestanden, kein Vor, kein Zurück.
Da weißt du dann, dass Truckenbrodt eine Tante hat, zehn Jahre nur älter als er; deren Mann war Leutnant irgendwo in Frankreich. Bei dieser schönen jungen Frau verbringt Truckenbrodt einige Tage Heimat zwischen Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht. Und da kennst du die Seide von ihrem Nachthemd und wie weich und dennoch fest Brüste sind; und selbst das letzte erzählt Truckenbrodt. Und ich liege da, mit geschlossenen Augen, und das Blut klopft in meinen Schläfen und in meinen Leisten; dies in Podzamok oder im verdunkelten Brno, bevor es wieder ins Geschirr ging.
Kurz vor Nove Mesto noch sinnierte Truckenbrodt eines Nachts, ob das wohl geholfen hätte, das Abwischen der Kreidenummer am Tor dieses kleinen Bauernhauses in dem Dorfe Wasweißich; dass füglich die nachfolgenden deutschen Truppen diese Hütte geschont hätten, also nicht mit Quartier belegt; denn darin wohnte doch die Vlasta, Zöpfe um die Stirn gebunden, und ihre Brüste waren spitz. Truckenbrodt hätte dieser Vlasta gern weitere Einquartierung erspart, aber er würde nie erfahren, ob es gelungen war. Hatte er dies wenigstens im Gespräch aufgeworfen, so doch niemals, ob es genutzt habe, die Männerspur im verschneiten Wald der Oravska Magura zu verwischen, die er eigentlich dem Unteroffizier hätte zeigen müssen: denn dafür waren wir doch die Berge hochgejagt worden, Mann neben Mann! (Und Waldläufer Truckenbrodt kannte sich in Spuren aus!) Diese Frage also stellte Truckenbrodt nie.
Und ich, Zeuge vom Austilgen einer Spur, fragte mich das erst lange nach dem Kriege, als ich einmal an Truckenbrodt dachte.
Das alles war unser langer Weg nach Nove Mesto.