Bernward Schneider

Todeseis

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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die Literaturagentur erzähl:perspektive, München

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1. Auflage 2012

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Titanic_Eisberg.jpg?uselang=de

ISBN978-3-8392-3832-5

Vorwort

 

Der Kriminalroman entstand nach historischem Tatsachenmaterial. Ich habe mich bemüht, meine fiktive Kriminalerzählung so vollständig in den historischen Kontext einzupassen, dass keine Unstimmigkeiten im Vergleich zu den tatsächlichen Geschehnissen auftreten. Die Schilderung der Ereignisse in der Unglücksnacht beruht in erster Linie auf den Berichten von Überlebenden, nämlich Lawrence Beesley Wie ich den Untergang überlebte und Archibald Gracie und John B. Thayer Titanic Zwei Überlebende berichten. Eine große Hilfe waren mir auch die Tatsachen- und Hintergrundschilderungen anderer Autoren, die Augenzeugenberichte von Passagieren und historische Details zusammengetragen und sich in vielfältiger Weise mit den Hintergründen der Katastrophe auseinandergesetzt haben, insbesondere Walter Lord Die letzte Nacht der Titanic, John P. Eaton Titanic Legende und Wahrheit, Wolf Schneider Mythos Titanic, Robin Gardiner & Dan van der Vet Die Titanic-Verschwörung sowie Susanne Störmer Titanic Mythos und Wirklichkeit. Weitere Hinweise und Anregungen verdanke ich den Romanen von Robert Prechtl Der Untergang der Titanic, Pelz von Felinau Titanic, France Huser, Bernard Genies Die Nacht des Eisbergs, und nicht zuletzt dem Roman Titan von Morgan Robertson, der in meiner Kriminalerzählung erwähnt werden konnte, weil er schon 14 Jahre vor der Katastrophe von einem Autor geschrieben wurde, der den Untergang der Titanic in verblüffender Weise vorausgeahnt hat.

 

 

 

 

 

 

»Ich sah einen hoch aufgeschossenen Engländer von bestem Schlagund eine junge Frau, die ich mehrfach mit einer Art stiller Einladung anblickte, doch ins Boot zu kommen –

– vergebens.«

 

Charles M. Lightoller, Zweiter Offizier der Titanic

1. Kapitel
Dienstag, 9. April 1912

 

Gladys erkannte sofort, dass Phil und sie in eine Falle gelockt worden waren. Bereits beim Abendessen hatte sie das Gefühl gehabt, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch Phil, der sich in seinen Gedanken wohl schon auf der Reise nach Amerika befand, hatte es nicht bemerkt.

Es passierte, als sie das Lokal verließen, dass plötzlich mehrere Männer sie umringten; zwei oder drei kamen von der Straße, doch die anderen waren Phils Freunde, mit denen sie eben noch zusammengesessen hatten.

»Finger weg!«, zischte Phil, als der Erste der Männer Hand an ihn legte, aber gegen die Übermacht seiner Feinde, die eben noch Vertraute gewesen waren, kam er nicht an. Schon hatten die Männer sie an den Bordsteinrand gedrängt, wo zwei Silver Ghost mit der Spirit of Ecstasy als Kühlerfigur mit laufenden Motoren warteten, und durch die geöffnete Tür des vorderen Wagens stießen sie Phil in den Fond.

Gladys erging es nicht anders. Fast gleichzeitig griffen Männerhände nach ihren Armen, und einige Augenblicke später fand sie sich auf der Rückbank des zweiten Wagens wieder, der sich unverzüglich hinter dem ersten Automobil in den Straßenverkehr schob.

»Warum tut ihr das?«, rief Gladys erzürnt. »Haltet an und lasst mich raus!«

Sie saß eingekeilt zwischen zwei grobschlächtigen Kerlen, die ihr unbekannt waren und auf ihren Protest nicht reagierten. Von diesen Männern erhoffte sie sich keine Hilfe, wohl aber von dem Dritten im Wagen, von Jeffrey, dem Fahrer, der ihr als einer von Phils besten Freunden bekannt war, aber auch dieser blieb still.

»Jeffrey! Hast du nicht gehört?«

»Tut mir leid, Gladys«, gab Jeffrey zurück und warf ihr einen Blick durch den Rückspiegel zu. »Ich habe meine Befehle.«

»Befehle? Was für Befehle?«

Jeffrey antwortete nicht.

»He, ich habe dich was gefragt? Es hat dir niemand etwas zu befehlen, außer Phil, aber der ist gerade nicht hier!«

»Du weißt, was mir blüht, wenn ich mich nicht an die Anweisungen halte, Gladys«, sagte Jeffrey. »Also lass mich in Ruhe!«

Gladys sah, dass sie in die Tower Bridge Road eingebogen waren, wo sie hinter einem der neuen Autobusse herfuhren. Die nächtliche Straße war belebt; Straßenbahnen, Omnibusse und Mietdroschken waren unterwegs, und auf den Bürgersteigen sah man zahllose Passanten.

»Wer hat dir Anweisungen gegeben?«

Jeffrey reagierte nicht; unverwandt sah er durch die Windschutzscheibe nach vorn.

»Das Ganze ist ein böser Scherz, nicht wahr, Jeffrey?«

»Es geht nicht gegen dich, Gladys, also sei vernünftig und bleib ruhig«, sagte er. »Es ist das Beste, was du für dich tun kannst. Sei tapfer, es geht vorbei.«

Mit einem Gefühl von Bestürzung und Panik registrierte Gladys ihre Machtlosigkeit. Sie empfand ihre Hilflosigkeit umso eindringlicher, weil sie sich inmitten dieser Stadt der glitzernden Lichter ereignete, einer Stadt, von der sie gedacht hatte, dass sie sie beschützen würde; aber nun erinnerte sie sich daran, dass London in Wahrheit ein Ort voller Schrecken und Rätsel war, aller Glanz nur ein Trugbild über einem Abgrund, der diejenigen, die sorglos über seine rissige Oberfläche wandelten, täuschte. Wie hatte sie nur die bedrohliche, monströse Unmenschlichkeit dieser Stadt aus den Augen verlieren können? London war blind für menschliche Not.

»Klar geht es vorbei, aber am Ende bin ich tot oder was, Jeffrey?«

Der Fahrer des Silver Ghost blickte stumm auf den Straßenverkehr.

»Bitte, Jeffrey, antworte mir doch! Wohin fahren wir?«

Die Themse kam in Sicht, ein blaues, von schwarzen Schatten gesäumtes Band, tückisch und gefährlich, mit dem schaurigen Aussehen von Schwärze und gespiegeltem Licht. Die Unermesslichkeit Londons schien ihren Schatten erdrückend auf den Fluss zu werfen.

»Jeffrey, fahr an den Straßenrand!«, gab Gladys nicht auf. »Das ist auch ein Befehl! Phil wird sehr ärgerlich sein, wenn ich ihm erzähle, wie du mich behandelt hast.«

»Du wirst kaum die Gelegenheit haben, mit ihm darüber zu sprechen«, erwiderte Jeffrey, »und wenn du jetzt nicht still bist, Gladys, werde ich den beiden Herren an deiner Seite befehlen, sie sollen dafür sorgen, dass du mich nicht länger beim Fahren störst.«

Die beiden Silver Ghost rollten über die Tower Bridge mit ihren gotischen Brückentürmen, und Gladys schwieg. Dann erreichten die Wagen die alten Hafenanlagen der St. Katherine Docks, von wo aus sie sich weiter nach Osten wandten in Richtung der scheinbar endlosen, finsteren Straßenzüge, in denen es nur wenige Laternen gab und die menschenleere Stille einen furchtbaren Kontrast zu den geschäftigen Straßen bildete, die sie verlassen hatten.

Hier gab es weder Pferdeomnibusse noch Straßenbahnen, nur die eine oder andere menschliche Gestalt, die schattenhaft vorüberhuschte, und ganz selten einmal ein anderes Auto oder Gefährt. London war auch eine schweigende Stadt, wurde Gladys in diesem Moment klar, und dieses Schweigen war das seiner ungeheuren Größe. Bei Nacht, erkannte sie bestürzt, war London eine Stadt der Toten.

Vorbei an Häusern mit wenigen Fenstern, zwischen nackten Ziegelwänden hindurch, verlief die Straße unterhalb der großen Mauern und alten Lagerhäuser, während die angrenzenden Straßen sich hinter Gasanstalten und Mietshäusern zu verstecken schienen. Zu allen Zeiten war dies eine Gegend der Gesetzlosigkeit gewesen, das wusste sie nur zu gut, und am Execution Dock, auch eine Stätte des Todes, hatte man diejenigen in die Ewigkeit befördert, denen man Verbrechen auf hoher See zur Last legte.

Im Fahrzeug herrschte dumpfes Schweigen. Keiner der Männer schien ein Interesse daran zu haben, darüber hinwegzutäuschen, dass die Fahrt kein gutes Ende nehmen würde. Während der Wagen durch die engen Straßen eines finsteren, einsamen Viertels holperte, saß Gladys in den Sitz gepfercht, erfüllt von bangen und hoffnungslosen Gedanken an die Schrecken der Nacht. Die Magazine und Häuser ringsum waren alt und verfallen, und zwischen ihnen taten sich schmale Gassen auf. Es ging um ein paar dunkle Ecken, und dann rollte der Wagen minutenlang auf einer leicht abschüssigen Straße weiter, bis er auf ein verlassenes Grundstück abbog.

Nachdem der Wagen gestoppt hatte, wurden die Türen aufgerissen und Gladys aus dem Fond des Wagens gezerrt. In kaum mehr als 20 Metern Entfernung erblickte sie wieder die Themse, und mit einem Gefühl bohrenden Entsetzens wurde ihr klar, dass die Fahrt nicht zufällig in unmittelbarer Nähe des Flusses geendet hatte.

»Verdammte Idioten«, schrie Phil, der kurz vor ihr aus dem vorderen Wagen geholt worden war; »damit kommt ihr nicht durch!« Er fasste den neben ihm stehenden Mann an der Kehle, erreichte damit aber nur, dass der Kerl, der rechts neben Gladys stand, ein Messer zückte und es ihr an die Kehle drückte, eine unmissverständliche Warnung, wie man weiterem Widerstand von seiner Seite begegnen würde.

Phil ließ die Hand sinken und fügte sich in das Unvermeidliche, aber Gladys wusste, dass er es nur ihretwegen tat. Wäre er allein gewesen, hätte er sich nicht besänftigen lassen.

»Ich habe keine Zeit für einen Ausflug«, sagte Phil zu dem Mann, der ein paar Meter schräg vor ihm stand. »Es ist spät, Frank! Bringt uns zurück oder fahrt uns am besten gleich nach Hause!«

Der Angesprochene sah ihn lächelnd an. Er hieß Frank Jago und war Phils Partner im gemeinsam betriebenen Vergnügungsgeschäft. Wie Phil trug er einen schwarzen Smoking, weiße Fliege und eine weiße Hemdbrust. An seinem Revers steckte eine Blume.

»Ja, es ist spät«, entgegnete Frank Jago lächelnd, »zu spät, aber hab etwas Geduld, es wird nicht mehr lange dauern, dann ist es vorüber. Wir halten uns nicht lange mit dir auf!«

Gladys wurde schlecht. »Lass es dir nicht gefallen, Phil«, sagte sie laut. »Du bist der Chef. Sie dürfen das nicht mit uns machen!«

»Gladys hat recht«, fauchte Phil und sah zu den anderen Männern. »Jeffrey! Du bist mein Freund – verteidige mich gegen diesen Narren!«

»Tut mir leid, Phil«, sagte Jeffrey zögernd, »ich kann nichts für dich tun.«

Das war deutlich, umso mehr, weil es aus dem Mund eines alten Freundes kam, und Gladys dachte, dass auch Phil spätestens in diesem Moment wusste, was ihm blühte.

Die Männer, die sie verschleppt hatten, nahmen sie nun in ihre Mitte und stießen sie in Richtung des Flusses. Das ging alles so schnell, dass Gladys kaum Zeit hatte, darüber nachzudenken, was sie unternehmen könnte, um dem Schlimmsten zu entgehen.

Sie sah die Lagerhäuser und Backsteinmagazine, die sich an der Themse erhoben, dazwischen verlassene Docks, eingebettet in die Anmutung von Düsternis, die unter der schwach bewegten Wasseroberfläche lag. Der Geruch vergangener Zeiten lag über dem Ort, die trübselige Erinnerung an Heerscharen von Verlorenen – ein Ort des Jammers und des Elends, den man normalerweise mied. Die Themse war ein dunkler Fluss, der eine beängstigende Stimmung verströmte, die ihr die Kehle zuschnürte, ein Fluss, der die Hoffnungen und Träume der Menschen mit sich forttrug, um sie zu verschlingen; ein Todesfluss, der schon zahllose Selbstmörder und Mordopfer aufgenommen hatte.

Gladys wusste, dass hier auf Hilfe von dritter Seite nicht zu rechnen war. In dieser Gegend, die so weit entfernt von den großen Straßen lag, gab es kein Gesetz. Niemand würde ihnen beistehen, selbst Hilfeschreie, sollte sie jemand hören, würde keiner hier beachten. Die Menschen, die in diesen Straßen hausten, waren vom Schicksal und den Verhältnissen gebeutelt und mischten sich nicht in Dinge ein, von denen sie wussten, dass sie ihnen nur Ärger einbringen würden.

»Jeffrey, hör mir zu«, ließ sich die Stimme von Phil vernehmen, die all ihre Souveränität verloren hatte und mittlerweile einen spürbar gequälten Ton besaß. »Hast du vergessen, was ich für dich getan habe? Bin ich nicht immer großzügig zu dir gewesen? Glaubst du, ohne mich würde dein Junge heute auf eine bessere Schule gehen?«

Jeffrey war ein großer Mann mit freundlichem Gesicht.

»Ist schon recht, Phil«, sagte er. »Es tut mir auch wirklich leid, und du darfst es nicht persönlich nehmen. Aber so ist das Geschäft. Du weißt das selbst am besten.«

Mit Phil und Gladys in der Mitte war die Gruppe ein paar Schritte in Richtung Themse vorangegangen, aber nun blieb Phil stehen und machte eine Drehung, als wolle er zurückgehen.

»Okay, Frank«, sagte Phil, »ich bin bereit, mit dir zu verhandeln. Stell deine Forderung!«

Frank Jago lächelte höhnisch.

»Fesselt ihn«, sagte er, und zwei seiner Schergen traten hinter Phil, rissen ihm mit brachialer Gewalt die Arme auf den Rücken und banden seine Handgelenke fest aneinander.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass du damit durchkommen wirst«, schrie Phil verzweifelt sein Gegenüber an, während er vergeblich an seinen Fesseln zerrte.

»Sei ein Mann«, fauchte Frank, »und hör auf zu jammern.«

Phil trat mit den Füßen um sich, weil die Helfer seines Peinigers nun auch begonnen hatten, ihm die Füße zusammenzuschnüren, aber er verlor auch diesen Kampf, und am Ende waren seine Füße so fest gebunden, dass er keinen Schritt vor und zurück mehr machen konnte.

»Was soll das?«, rief er. »Wollt ihr mich tragen wie ein Baby?«

Gladys schrie auf, da die Antwort auf Phils Frage schrecklicher Gewissheit wich. Es war ihr nun ganz klar, was mit ihrem Geliebten geschehen sollte. Jemand packte sie von hinten und legte ihr eine dicke Hand über den Mund.

»Still, Täubchen!«, zischte er ihr ins Ohr. »Noch ein Muckser, und du wirst das Schicksal deines Geliebten teilen.«

»Damit kommst du nicht durch!«, heulte Phil auf, der noch nicht aufgegeben hatte. »Niemals, man wird mich rächen; lass ab, noch ist es nicht zu spät, wenn du es tust, wirst du es später bitter bereuen!«

»Ich bin schon damit durchgekommen, Phil«, sagte Frank Jago zu dem gefesselten Mann. »Glaubst du, ich würde dich ohne Zustimmung von oben ins Jenseits befördern? Nein, es ist alles geregelt. Morgen oder irgendwann in den nächsten Tagen wird man deine Leiche aus dem Hafenbecken fischen.« Er zuckte mit den Achseln. »Niemand wird graue Haare bekommen, weil du nicht mehr da bist, Phil. Der Polizeichef wird zu seinen Jungs sagen: Na prima, da haben sie uns mal wieder die Arbeit abgenommen.«

Phils markantes Gesicht war totenbleich geworden.

»Warum sagst du nicht einfach, wo dich der Schuh drückt, Frank? Erwachsene Männer reden miteinander und klären die Probleme, die entstanden sind. Wenn es ein Missverständnis gibt, hören sie zu, was der andere zu sagen hat, aber sie greifen nicht zu solchen Mitteln.«

»Spar dir deine schlauen Reden!«

»Schlaue Reden? Wie dumm muss eigentlich jemand sein, damit er sich auf dein Niveau begibt? Wer sich so verhält wie du, beschwört das Schicksal herauf; er sorgt dafür, dass das, was er anderen antut, irgendwann ihm selbst widerfährt. Wenn du dieses Vorhaben zu Ende bringst, fällt der Fluch deiner Tat auf dich zurück. Weißt du das nicht? Also gib dich mit dieser Drohung zufrieden und rede mit mir.«

Frank gab keine Antwort, sondern schenkte seinem Opfer ein letztes müdes Lächeln und wandte sich dann von ihm ab.

»Wer wärst du denn ohne mich?«, rief Phil seinem Peiniger hinterher. »Wenn ich dich nicht gefördert hätte, wärst du nie an deine Position gelangt. Geht man so mit seinem Partner um?«

»Besser reden als ich konntest du schon immer – aber bei mir wird dir das nichts nützen. Denk nicht an mein Schicksal, sondern bereite dich besser auf das deinige vor.«

Er machte eine Kopfbewegung in Richtung seiner beiden Kumpane, und diese packten Phil links und rechts an den Armen und schleppten den sich heftig sträubenden Mann ein paar Meter auf die Böschung des Flusses zu.

»Gib mir wenigstens eine saubere Kugel«, flehte Phil, und Gladys sah, dass ihr Geliebter jetzt weinte. »Lass mich nicht auf eine so elendige Weise krepieren. Wir sind Freunde, Frank – waren es lange Zeit; so etwas tut man einem Freund nicht an. Bitte, wenigstens diesen letzten Dienst musst du mir erweisen!«

Frank zeigte sich unbeeindruckt, und die beiden Helfer, die ihn in der Mitte hatten, zogen ihr Opfer noch zwei, drei Schritte näher an das Wasser. Dann ließen sie ihn los, und so stand er einige Augenblicke hilflos und allein an der Böschung des Flusses, ohne dass er irgendeine Chance gehabt hätte, dem nassen Monstrum zu entkommen. Er drehte den Kopf nach hinten und erblickte Gladys.

»Lass das Mädchen in Ruhe, Frank. Das musst du mir versprechen, sie hat mit unserer Fehde doch nichts zu tun.«

»Sie hat es selbst in der Hand, Phil«, sagte Frank. »So ein entzückendes Täubchen versenkt man nicht im Wasser, jedenfalls nicht, solange es sich an die Regeln hält. Und diese Braut wird schon verstehen, wie sie sich zu verhalten hat – die weiß, wo sie hingehört – und du …«, er warf Gladys einen larmoyant lächelnden Blick zu, »verstehst sicher auch, was ich damit meine.«

Phil stöhnte, heulte noch verzweifelter auf als beim ersten Mal, und Tränen quollen ihm aus den Augen.

»Wir sind so weit, Phil«, sagte Frank. »Falls du noch etwas loswerden willst, dann sofort, deine Zeit ist um.«

Phil hob das bleiche Gesicht. »Gladys, vielen Dank für alles, du warst ein tolles Mädchen; vergiss mich nicht. Ich kenne kein Gebet, aber falls du eines weißt, sprich es für mich, wenn ich nicht mehr bin. Mag ja sein, dass es mir da oben hilft. Wirst du das für mich tun, Gladys?«

Sie riss sich zusammen. »Aber klar, Phil. Solange ich lebe, werde ich an dich denken und für dich beten. Du warst ein guter Freund, ich hatte eine schöne Zeit mit dir.«

Phil schluchzte. »Danke, dass du das sagst, Gladys.« Er sah zu seinem Peiniger. »Du kannst mich jetzt erschießen, Frank, wenn du es dir nicht noch einmal überlegen willst. Dann hätte ich Grund, mich auch bei dir herzlich zu bedanken. Werde nicht zum Verräter an mir!«

»Verräter?« Frank stemmte die geballten Fäuste in die Hüften. »Dass du dieses Wort in den Mund nimmst, macht mich wütend. Der Verräter bist du!«

»Unsinn, Frank! Verdammt, wie oft soll ich es wiederholen! Ich habe eine Sache in petto, die uns allen Gewinn gebracht hätte. Du musst etwas missverstanden haben. Nimm mir die Fesseln ab, und dann unterhalten wir uns wie vernünftige Männer!«

»Ich habe meine Befehle. Vergiss es!«

»Ausgerechnet du, Frank, ausgerechnet du, mein bester Freund, willst mir das antun.«

»Nenn mich nicht deinen Freund!«

Phil weinte. »Jetzt weiß ich, wie Julius Cäsar sich gefühlt haben muss«, schluchzte Phil, der in seiner Verzweiflung Zeit zu gewinnen suchte und deshalb daherredete, was immer ihm in den Sinn kam. »Nun, warum soll es mir besser ergehen als ihm. Nur wollte ich wenigstens auf eine saubere Art gehen, so wie es ihm beschieden war. Damals war das Messer die saubere Waffe, heute ist es die Kugel.« Seine Stimme versagte, als ihm plötzlich die Vergeblichkeit seiner Bemühungen bewusst wurde. Während er nach weiteren Worten suchte, sprang Frank, der hinter ihm stand, auf sein Opfer zu und stieß ihm mit der ganzen Kraft des eigenen Gewichts ins Kreuz. Es war eine so gewaltige Attacke, dass Phil nicht nur den Halt verlor, sondern sein Körper regelrecht in den mächtigen Fluss hineinschoss.

Er ging im schwarzen Wasser unter, kam aber wieder hoch und kämpfte verzweifelt gegen das Ertrinken. Immer wieder schluckte er Wasser, röchelte. Als Gladys schreien wollte, wurde sie von dem Mann neben ihr grob gepackt, und sie wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht zur Seite, um den Todeskampf ihres Geliebten nicht länger mit ansehen zu müssen. Sie schluchzte, am ganzen Körper bebend, dann hörte sie plötzlich einen Schuss, und als sie wieder zum Fluss blickte, war Phil nicht mehr zu sehen.

Am Ufer stand Jeffrey, die Pistole in der Hand.

»Er ist tot, Gladys«, sagte er. »Mein Schuss hat ihn mitten in die Stirn getroffen. Er hat es hinter sich.«

Er sah zu seinem Boss. »Er war kein übler Kerl, Frank. Es ist nicht in Ordnung, jemanden wie ihn unnötig zu quälen.«

Frank Jago nickte. »Wenn du es nicht gemacht hättest, hätte ich ihm den Gnadenschuss verpasst. Danke, dass du es für mich erledigt hast. So, und nun lasst uns verschwinden, und das Mädchen …«, er deutete auf Gladys, »nehmen wir mit!«

Die Männer packten Gladys, und zügig ging es zurück zu den Silver Ghosts. Frank öffnete die Tür zur hinteren Bank und, indem er Gladys ein Stück zu sich heranzog, musterte er sie genüsslich.

»Von solchen Prachtexemplaren, wie du eins bist, gibt es selbst hier in London nicht viele. Du kennst die Spielregeln, nicht wahr?« Sie antwortete nicht. Er fasste sie grob am Kinn. »Antworte!«

»Ja, ich kenne sie«, sagte sie leise.

»Lauter!«

Statt einer Antwort riss sie den Kopf zurück und schlug die Hand des Mannes beiseite.

»Bist du etwa taub?«

»Ah«, sagte Frank. »Sie hat echt Klasse, das beste Pferd im Stall. Aber das Rassepferdchen bekommt nun einen neuen Rennstallbesitzer. Erst beißt sie um sich, aber wenn sie zugeritten ist, wird sie sich schon fügen, nicht wahr?« Ohne abzuwarten holte er aus und schlug Gladys ins Gesicht. »Antworte!«

Ihre linke Gesichtsseite brannte höllisch. Sie fühlte einen unbändigen Hass auf Jago, aber sie nickte.

»Ja, ich weiß Bescheid.«

Er stieß sie auf die Rückbank des Silver Ghost, sprang hinter ihr in den Wagen und ließ sich neben sie in die Polster fallen.

»Fahr los, Jeffrey!«

Die anderen beiden Männer waren ebenfalls zugestiegen. Jeffrey startete den Motor, und der Rolls-Royce rollte an.

»Du wirst mir noch heute Nacht beweisen, dass du die Spielregeln kennst, und dich mir in der Art unterwerfen, wie es sich gehört.«

In den Straßen, durch die sie fuhren, blitzten und schimmerten allenthalben Lichter durch die Schwärze, aber gegen die grässliche Dunkelheit kamen sie nicht an. Die Stadt war ein Ungeheuer, dachte Gladys, greifbar und präsent wie ein lebendiges Wesen. Verfluchte Stadt, dachte sie, am besten wäre es, sie ginge von hier fort.

Der Chauffeur schien keine Eile mehr zu haben. In langsamer Geschwindigkeit schob sich der Rolls-Roys durch die Nacht, und erst südlich der Themse kamen sie in hellere Gefilde.

»Wo soll ich hinfahren, Chef?«, fragte Jeffrey, als sie in Bermondsey in Richtung Borough fuhren.

»Fahr das Mädchen und mich ins Tabard Hotel«, erwiderte Frank.

»Ich muss noch meine Sachen holen«, sagte Gladys.

»Wo sind die?«

»In Phils Wohnung.«

»Du hast einen Schlüssel?«

Sie nickte.

»Phils Wohnung?«, sagte Frank. »Auch nicht schlecht. Gut! Jeffrey, ich habe es mir anders überlegt. Nicht ins Hotel. Setz mich mit dem Mädchen vor Phils Wohnung in Southwark ab!«

Es war eine gute Gegend, die der Wagen einige Zeit später erreichte. Jeffrey steuerte den Silver Ghost ein paar Straßen weiter und hielt dann vor einem hohen Gebäude mit Türmen an jeder Ecke, was das Gebäude wie eine mittelalterliche Burg aussehen ließ. Der zweite Wagen stoppte hinter ihnen.

»Ihr könnt nun nach Hause fahren, Jungs. Bei dem Mädchen brauche ich euch nicht.«

Gladys warf einen Blick die Straße hinunter. Die Allee wirkte wie ein blauschwarzer Tunnel aus Schatten, hie und da durchbrochen von goldenen Lichtern. Ihr Blick fiel auf Männer in schwarzen Abendanzügen und mit Zylinderhüten und Frauen, deren Diamanten blitzten wie Sternbilder am Winterhimmel, Menschen, für die die Welt noch in Ordnung war.

»Gladys ist eine Katze, Frank«, hörte sie Jeffrey sagen; »pass gut auf dich auf.«

Frank lachte. »Ich mag diese Sorte, keine Angst, mit Katzen werde ich schon fertig. Wenn sie nicht gehorchen, kommen sie in einen Sack und werden ersäuft.«

»Okay, dann bis morgen, Frank!«

»Ja, bis morgen, wir sehen uns zum Mittagessen in meinem Lokal.«

Der Türklopfer war neu, das Haus wirkte gepflegt, und es gab einen Lift, der sie in das oberste Stockwerk brachte.

Sie betraten die Wohnung, und Frank sah sich eine Weile mit zufriedenem Gesicht in den luxuriös eingerichteten Räumlichkeiten um.

»Ich glaube, ich habe dich richtig eingeschätzt, Täubchen«, sagte er, als er mit seiner Inspektion der Räume fertig war, »du kennst die Spielregeln und bist nicht dumm. Du wirst mir freiwillig zu Willen sein?«

Gladys nickte nur, dabei dachte sie, dass Frank Jago nicht sonderlich intelligent sein konnte, wenn er ihren Bekundungen traute und in Bezug auf sie zu solchen Fehleinschätzungen gelangte. Sie zog ihren Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. Frank griff nach ihren nackten Armen. »Zieh dich ganz aus!«, sagte er heftig atmend. »Ich bin ziemlich geladen und brauche Entspannung. Wir werden es im Bett deines verflossenen Liebhabers tun!«

Sie entgegnete nichts. In dieser Nacht, zu dieser Stunde, war es ihr egal, wenn er sie nahm. Sie wusste, dieses eine Mal würde ihr nicht erspart bleiben. Das war ihr bereits auf der Fahrt zu Phils Wohnung klar gewesen, aber mehr als dieses eine Mal würde es nicht geben, das hatte sie sich fest vorgenommen. Sie trat auf die von Frank abgewandte Seite des Bettes und setzte sich. Nach der neuesten Mode trug sie ein dünnes, an Trägern hängendes Abendkleid, das nicht bis zum Boden reichte, sondern ihre schlanken Fesseln zeigte. Bevor sie es auszog, knüpfte sie die Strumpfbänder auf und fühlte dabei das kleine Stilett, das an einer Schnalle in einer Halterung an ihrem Oberschenkel steckte. Langsam zog sie die Strümpfe aus und schob sie mit dem Stilett unter das Bett, dann hob sie ihr Kleid über den Kopf und schob es darüber, und bevor Frank Jago auf den Gedanken kommen konnte, ihre Sachen zu inspizieren, wandte sie ihren nackten Körper ihm entgegen.

Er lächelte, als er sie in dieser Pose erblickte, und seine Augen begannen zu flackern.

Gladys wusste um die Macht ihrer erotischen Ausstrahlung. Diese Ausstrahlung war ihre Waffe, eine äußerst scharfe, geeignet, jeden Mann sofort zu entwaffnen, indem sie sein Begehren entflammen ließ, und Frank Jago war nicht der Typ, dem es anders ergangen wäre. Sie sah ihm zu, wie er sich entkleidete. Er war nicht schlecht gebaut, dachte sie beim Anblick seines nackten Körpers, aber sie hatte trotzdem kein Interesse an ihm. Er stieg zu ihr auf das Bett, und sie wandte sich ab und drehte das Gesicht zur Wand. Sie hörte, wie er lachte, dann fühlte sie seine Hände, wie sie begannen, ihren Rücken und ihre Seite zu betasten. Zum Glück hat er warme Hände, dachte sie und ließ sich fallen, sodass sie seine Berührungen nicht mehr als unangenehm empfand. Sie wusste, was er von ihr erwartete, und da sie ihm, damit er nicht ärgerlich wurde, etwas hätte vorspielen müssen, kam sie ihm entgegen und ließ ihrerseits sexuelle Empfindungen zu.

»Ich dachte schon, du wolltest Zicken machen«, sagte er, »ich wusste doch, dass du es magst.«

Obwohl er kein sehr rücksichtsvoller Liebhaber war, der auch vor Grobheiten nicht zurückschreckte, war er im Umgang mit Frauen erfahren und machte deshalb seine Sache nicht ungeschickt.

»Na, siehst du!«, sagte er, während ihr Stöhnen verebbte. »ich wusste doch, dass wir ganz gut zueinander passen.«

Er wirkte zufrieden. Nachdem er sich von ihr gelöst und in seinem Kissen zurückgelehnt hatte, schien er mit sich vollkommen im Reinen. Sie selbst aber merkte, dass sie ihn noch mehr hasste und verabscheute als vor dem geschlechtlichen Akt.

»Morgen wirst du hier ausziehen«, sagte er. »Ich besorge dir eine neue Unterkunft.«

»Gut«, erwiderte sie, »aber jetzt geh nach Hause und lass mich für eine Weile allein.«

Er seufzte. »Ich überlege, ob ich nicht bis zum Morgen bei dir bleibe. Es wird nicht lange dauern, dann bin ich wieder bereit.«

»Besser nicht.«

Er blickte zur Seite. »Wie meinst du das?«

»Musst du nicht nach Hause?«, fragte sie. »Deine Frau wartet auf dich! Sie wird sich Sorgen machen, wenn du nicht heimkommst.«

»Mach dir bloß keinen Kopf wegen meiner Frau!«, gab er zurück. »Weder heute noch irgendwann. Die weiß, dass es nächtliche Termine gibt.« Er kam ein Stück näher und ergriff ihren Arm. »Warum willst du mich loswerden?«

»Wundert dich das? Nach allem, was heute Nacht geschehen ist? Ich brauche etwas Zeit, um wieder zu mir selbst zu finden.«

»Unsinn«, grunzte er. »Was ist schon geschehen? Eine Abrechnung wie die heute gehört in unseren Kreisen zum Geschäft. Es ist völlig normal, einen Verräter zu liquidieren! Da, wo du herkommst, macht man es nicht anders. Du bist doch in Limehouse aufgewachsen, nicht wahr?« Sie nickte. »Na also«, fuhr er fort, »der Mann, der heute Nacht gestorben ist, hat es nicht anders verdient. Er hat das Schicksal erlitten, das jedem Verräter gebührt. Du selbst hast ja nichts damit zu tun!« Er hielt inne. »Das hoffe ich jedenfalls für dich!« Er fasste sie ans Kinn. »Sieh mich an! Ich liege hier sehr bequem und entspannt, und kein schlechtes Gewissen verfolgt mich. Nimm dir an mir ein Beispiel! Ja, ich glaube, ich bleibe die ganze Nacht bei dir.«

»Tu es nicht«, sagte sie und blickte ihm fest in die Augen. »Du kannst morgen wiederkommen. Ich muss noch meine Sachen zusammenpacken.«

Er setzte sich ganz hoch und ergriff ihren Arm so fest, dass es schmerzte. »Dass du eines gleich begreifst«, sagte er scharf. »Die Termine mache ich! Du hast dich nach mir zu richten und nicht umgekehrt. Hast du das begriffen?« Als sie nichts sagte, schlug er ihr mit der anderen Hand ins Gesicht. »He? Bist du taub? Antworte!«

Sie nickte. »Ja, ich hab’s verstanden.«

Er betrachtete sie misstrauisch. »Planst du etwas?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich musste nur an deine Frau denken. Sie hat es nicht verdient, von dir vernachlässigt zu werden. Ich kenne sie zwar nicht, aber ich bin nun einmal selbst eine Frau, und wie ich hörte, ist sie sehr schön.«

Er ließ sie los und sank in sein Kissen zurück.

»Sie ist schön, ja, aber sie ist älter als du«, sagte er, »und im Gegensatz zu dir hat sie nur noch geringes Interesse an Sex.« Er machte eine unwillige Handbewegung. »Aber das geht dich nichts an! Du weißt, in welcher Welt du lebst! Du hast zwei Möglichkeiten! Entweder du bist auf meiner Seite – oder du bist es nicht. Bist du auf meiner Seite, gehörst du zu uns – und genießt alle Vorteile, die damit verbunden sind. Bist du es nicht, stellst du für uns eine gefährliche Zeugin dar! Und du weißt, was mit gefährlichen Zeugen passiert.« Er sah sie konzentriert an, und sie erwiderte schweigend seinen Blick. »Erinnerst du dich an das Mädchen, das man letzten Sommer aus der Themse fischte?«, fragte er nach einer Weile. Sie sagte noch immer nichts. »Nun«, sagte er, ohne weiter in sie zu dringen; »sie war sehr hübsch, und sie war nackt, und weißt du, was sie noch war?« Sie blieb still. »Weißt du es?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Sie war an den Hand- und Fußgelenken gefesselt. Weißt du, was das bedeutet?«

»Hältst du mich für blöd?«

»Sag, was es bedeutet!«

»Dass sie gelebt hat, als man sie ins Wasser warf.«

Sie sah ihn nicht an, merkte aber, dass er zufrieden lächelte.

»Weißt du auch, weshalb sie dieses Schicksal erleiden musste?«

Gladys hatte bis jetzt nichts von der Sache gehört, aber sie konnte nicht ausschließen, dass die Geschichte stimmte.

»Wahrscheinlich hat sie ihren Beschützer mit dem Messer attackiert«, sagte sie.

Er antwortete nicht sofort, als hätte ihre Bemerkung ihn überrascht.

»Nein, sie hat nur gedacht, sie könne nach eigenem Gutdünken die Seiten wechseln und selbst darüber entscheiden, mit wem sie ins Bett steigt und mit wem nicht. Eine Frau hat sich unterzuordnen, aber einige von euch scheinen das nicht mehr zu wissen. Oft sind es gerade die Schönen, die eine verräterische Gesinnung antreibt. Wir mussten an ihr ein Exempel statuieren, damit andere gewarnt wurden. Von Zeit zu Zeit muss man so etwas tun.«

Wir, dachte sie, war er etwa dabei gewesen?

»Sie hat gebettelt und gefleht, das hübsche nackte Ding«, fuhr er fort, »jedenfalls, als wir sie gefesselt haben; denn da begriff sie erst, was mit ihr geschehen sollte.«

»Ihr musstet sie auch noch quälen«, sagte sie, »ja, ihr seid schon harte Kerle.«

Wahrscheinlich würde er sie erneut schlagen, dachte sie, aber aus irgendeinem Grunde hielt er sich zurück.

»Der Fluss ist unsere Lebensader und nährt auch unser Geschäft«, sagte er schließlich, »und manchmal braucht die Themse ein Opfer. Welche Opfer hat die Themse am liebsten? Die Themse ist ein Mann, wie man sagt; Vater Themse, wie man ihn liebevoll nennt. Am liebsten hat Vater Themse schöne junge Frauen, die man ihm nackt übergibt. So haben wir ihn unseren Geschäften gewogen gestimmt.«

Seine Grausamkeit widerte sie an. Phil war alles andere als ein Heiliger gewesen, aber ein gewisses Format hatte er besessen. Zu einem solchen Frevel hätte er sich zur Bemäntelung der eigenen Feigheit niemals verstiegen.

»Es erging dem Mädchen wie Phil«, fügte Jago hinzu. »Jemand gab ihr am Ende den Gnadenschuss, damit sie nicht länger litt.« Er blickte sie an. »Wir haben uns verstanden, Gladys, nicht wahr? Du weißt, wer vom heutigen Tage an dein Beschützer ist?«

»Ja!«, antwortete sie knapp, so unmissverständlich und laut, wie er es gerne hörte.

»Es freut mich für dich, dass du die Regeln akzeptierst«, sagte Jago. »So, und nun brauche ich eine Mütze Schlaf.«

Mit diesen Worten drehte er sich zur Seite, und es dauerte keine fünf Minuten, bis Gladys ein leises Schnarchen neben sich vernahm.

Er hat Mut, so neben ihr zu entschlummern, dachte sie. Wie alle Leute mit Macht war er sich seiner selbst zu sicher. Er merkte nicht, dass er Gefahr lief, denselben Fehler zu begehen wie Phil. Doch würde sie es wirklich wagen, das Stilett zu benutzen? Sie rüttelte ihn an der Schulter.

»Was willst du noch?«

»Soll ich dich irgendwann wecken?«

»Nein, ich wache von allein auf, wenn es Zeit zum Aufstehen für mich ist. Und jetzt lass mich in Ruhe!« Mit diesen Worten drehte er sich zur Seite.

Sollte sie sich in ihr Schicksal fügen, so wie viele andere Frauen in ihrem Umfeld es taten? Was stand ihr bevor, wenn sie Jagos Geliebte wurde? Für die nächsten Jahre würde sie auf Gedeih und Verderb seinem Willen ausgeliefert sein – bis zu dem Tag, an dem ein jüngeres Mädchen ihre Stelle einnehmen würde. Ihre Rolle wäre keine andere als an der Seite von Phil Ryland – allerdings mit dem kleinen, aber bedeutsamen Unterschied, dass Frank Jago nicht Phil Ryland war. Was an Phils Seite ein erträgliches Schicksal gewesen wäre, an der Seite von Frank Jago bedeutete es eine jahrelange Tortur. Die Antwort auf die Frage, die sie sich selbst gestellt hatte, lautete: Nein! Das Schicksal, das Frank Jago ihr zugedacht hatte, war keine Alternative, die sie ernsthaft in Betracht ziehen konnte. Sie wollte nicht die Geliebte dieses grausamen Verbrechers sein, sondern genau das tun, wovor Jago sie unter Hinweis auf das Schicksal des ermordeten Mädchens gewarnt hatte: Sie wollte sich den Mann, mit dem sie ihr Bett teilte, selbst aussuchen, und sie brauchte und wollte keinen neuen Beschützer.

Um aber ihren Willen durchzusetzen, musste sie verschwinden, und zwar an einen Ort, der so weit weg war, dass man ihr nicht dorthin folgen konnte. Das bedeutete, sie musste nicht nur London verlassen, sondern auch England, und zwar so schnell wie möglich. Ihre Gedanken wanderten zu den beiden Fahrkarten für die Titanic-Passage, die sich zusammen mit ihrem Geld in ihrem Handgepäck befanden. Das übrige Gepäck war bereits aufgegeben worden und gelangte ohne ihr Zutun an Bord der Titanic, die morgen nach Amerika fuhr, nach New York, in diese riesige Stadt, die in ihrer Vorstellung das beste aller Verstecke war. Das Schiff würde in ungefähr zwölf Stunden von England ablegen, überlegte sie; und bis dahin musste sie auf dem Kai von Southampton sein.

Phil und sie hatten geplant, um 9.45 Uhr den Zug zu nehmen, der speziell für die Erste-Klasse-Passagiere bereitstand und der gegen 11.30 Uhr direkt am Kai der White-Star-Line eintreffen sollte. Doch sie wusste, dass es einen weiteren Titanic-Express gab, der Waterloo-Station bereits um 7.30 Uhr verließ. Um auf das Schiff zu kommen, musste sie nur ihren Mantel überwerfen, ihre Handtasche nehmen und die Wohnung verlassen, und zwar bis spätestens 6.30 Uhr.

War es sinnvoll, auf die Titanic zu gehen? Wusste wirklich niemand von Phils geplanter Reise nach New York? Bei dem Abendessen mit Phils Mördern war die Jungfernfahrt der Titanic kein Thema gewesen; Phil hatte ihr vorher eingeschärft, die Reise nicht zu erwähnen. Keiner von seinen Leuten durfte wissen, dass er und sie an der Jungfernfahrt teilnehmen würden, und sie hatte sich gewundert, weshalb er ein solches Geheimnis daraus machte. Aber da sie gewohnt war, sich nicht einzumischen, hatte sie nicht weiter nach den Gründen für seine Geheimniskrämerei gefragt.

Phil hatte vor seinen Männern also etwas zu verbergen gehabt. Nicht von ungefähr hatte Jago ihn als Verräter bezeichnet und ihn ermordet. Sie wusste, dass der Aufenthalt in New York nicht nur ein Urlaub sein sollte, sondern auch geschäftliche Gründe hatte. War die New York-Reise Teil der eigenwilligen Pläne gewesen, deretwegen Phil hatte sterben müssen?

Sie sah zu dem leise schnarchenden Mann und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis man seine Leiche entdeckte, falls er heute Nacht in diesem Bett starb. Morgen war Mittwoch! Das Hausmädchen, das die Wohnung sauber hielt, würde erst am Donnerstag in die Wohnung kommen. Bis dahin würde die Leiche von Jago, wenn sie Glück hatte, unentdeckt bleiben. Morgen war er mit seinen Leuten in seiner Stammkneipe in der Borough High Street zum Mittagessen verabredet. Davor würde niemand nach Jago suchen, und um diese Zeit hätte die Titanic Southampton bereits verlassen.

Sein Leben liegt in seiner Hand, sagte sie sich. Wenn er früh genug aufstand und nach Hause ging, brauchte sie nichts unternehmen und konnte sich rechtzeitig auf den Weg machen. Sollte er jedoch mit ihr frühstücken wollen, musste sie handeln. Ihr Entschluss stand fest. Dieser Mann neben ihr würde sie kein zweites Mal anfassen. Falls er nicht aufstand und ging, würde sie das Stilett benutzen und ihn schlachten. Sie fuhr zusammen, als sie plötzlich Franks Stimme hörte.

»Was ist? Woran denkst du?«

»Nichts ist. Ich dachte, du schläfst tief und fest.«

»Ich hätte gern etwas zu trinken«, sagte er. »Einen guten Whisky.«

»Nebenan findest du eine gut gefüllte Bar«, erwiderte Gladys.

Er rappelte sich auf.

»Nun gut! Ich sehe selbst nach. Möchtest du auch etwas?«

»Bring mir einen Sherry mit.«

Als Frank zurückkehrte, hielt er ein mit einem doppelstöckigen Whisky gut gefülltes Glas in der einen und ein kleines Sherrygläschen in der anderen Hand. Letzteres reichte er Gladys, dann setzte er sich neben sie auf das Bett.

»Auf unsere Zukunft!«, prostete er ihr zu. Er nahm einen kräftigen Schluck und ließ ihn auf der Zunge zergehen. »Was für ein edler Tropfen.« Er blickte Gladys an und musterte eingehend ihren wohlgestalteten nackten Körper. »Eine schöne Frau und ein edler Tropfen. Was kann sich ein Mann noch mehr wünschen. Ich denke, ich werde die Nacht bei dir verbringen, mein Schatz. Ich fürchte, ich komme nicht mehr von dir los.«

Er kippte den Whisky hinunter und stieg dann mit dem Glas in der Hand wieder aus dem Bett.

»So müde, wie ich dachte, bin ich noch gar nicht, stelle ich fest. Ich muss mich noch ein wenig entspannen, zuerst beim Whisky und dann mit dir.«

Sie durfte ihn nicht unterschätzen, sagte sie sich. In den Kreisen, denen er angehörte, war man immer auf der Hut, sogar wenn man schlief. Verdammt, dachte sie und nippte an ihrem Sherry, sie wurde den Kerl einfach nicht los, und nun wollte er sogar ein weiteres Mal mit ihr schlafen. Sie dachte an das Stilett und fragte sich, ob sie wirklich die Kraft aufbringen würde, ihn damit zu töten? Sollte der erste Stich nicht tödlich sein, wäre es um sie geschehen, das wusste sie sehr wohl. Ging ihr Angriff schief, würde sie Phil folgen müssen, ohne den Gnadenschuss, den er bekommen hatte.

Frank schenkte sich Whisky ein, dann stellte er das Glas ab und verließ das Schlafzimmer, um ins Bad zu gehen.

Nachdenklich betrachtete Gladys das Whiskyglas auf dem Tisch, dessen goldgelbe Flüssigkeit im Licht der Lampen so verführerisch wie tückisch schimmerte, und plötzlich kam ihr eine Idee. Sie erhob sich aus dem Bett und schlüpfte wieder in ihr Kleid.

»Ja, Frank, lass uns noch etwas trinken«, rief sie so laut, dass er es durch die nur angelehnte Badezimmertür hören konnte. »Mir geht es nicht anders als dir. Ich kann auch noch nicht schlafen.«

Sie hörte, wie er drüben etwas brummte, das sie nicht verstehen konnte, aber sie hatte das Gefühl, dass es eine Zustimmung war. Der Rest von Misstrauen, den er noch gegen sie hegte, begann zu schwinden. Gut, dachte sie, und leise machte sie sich daran, ihren Plan in die Tat umzusetzen.