Impressum

Wolfgang Schreyer

Nebel

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-817-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1991 im Verlag Das Neue Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2013 EDITION digital®
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Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.
- Aber wo geht sie hin?
Ja, wo geht sie wohl hin?
Irgendwo geht sie doch hin!
Der Polizist geht aus dem Haus.
- Aber wo geht er hin?
usw.

Bertolt Brecht

Der Skandal beginnt, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.

Karl Kraus

1. Kapitel

Eine Woche nach Pfingsten, am Montag, dem 22. Mai 1989, wurde Hauptmann Christian Wendt zu seinem Vorgesetzten bestellt, dem Leiter des Dezernats II (Untersuchungen) der Kriminalpolizei des Bezirkes Rostock. Oberstleutnant Fink eröffnete ihm, er müsse gleich mal für Major Grote einspringen, das Haupt der Pressestelle, und einen Romanautor namens Richard Nebel empfangen. Der sei mit Grote um elf verabredet, und leider habe Grotes Sekretärin übersehen, dass heute dessen Lehrgang begann, die Schulung in puncto Öffentlichkeitsarbeit. Verschieben lasse sich der Termin nicht mehr. Man habe versucht, Nebel noch zu stoppen, doch der hebe nicht ab, sei also schon unterwegs. Und wegschicken könne man ihn schlecht, er komme aus Cumin im Landkreis N., drei Stunden Fahrt für den Mann.

»Worum geht es ihm denn?«, fragte Wendt lustlos. Bei ihm häufte sich die Arbeit, Finks Tisch hingegen war wie üblich spiegelblank, bis auf das Telefon und den Halter für seinen Tagesplan so aufreizend leer, als würde dort ab und zu ein Flugzeug landen ... Leute mit leerem Schreibtisch waren Wendt verdächtig. Entweder stopften sie alles in die Schubladen, um souverän zu wirken, oder auch die waren leer, und wozu brauchten sie dann einen Schreibtisch?

»Na, warum schon«, sagte Fink. »Um ein bisschen Fachkram. Damit sie die gröbsten Fehler vermeiden, mit etwas Wissen glänzen und dazu noch erzählen können, wir billigten ihr Zeug. Es legitimiert sie vor ihrem Verlag und den Lesern, glaube ich. Sie kennen doch die Brüder.«

»Ich hab' vor Jahren mal einen Drehstab beraten.«

»Ganz abgesehen davon, was so ein Künstler von uns will, wir haben auch ein Ziel dabei. Und zwar ein ernsthafteres als jemand, der darauf aus ist, seinem Affen Zucker zu geben.«

»Nämlich?«, fragte Wendt, obgleich er wusste, was kam.

Ein Lächeln glitt über Finks rundes, straffes Gesicht. Dann sah er wieder gequält drein, als hätte ihm der Chefarzt des Polizeikrankenhauses gerade einen schlimmen Befund mitgeteilt - chronische Fettsucht zum Beispiel. »Der Mann sucht Nervenkitzel, damit verdient er sein Geld. Wir aber informieren ihn über die Wirksamkeit unserer Arbeit, damit das, was er daraus macht, den Eindruck vermittelt: Verbrechen lohnt sich nicht, die Polizei kommt stets dahinter! Genosse Wendt, heutzutage sollten wir jede Chance nutzen, darauf Einfluss zu nehmen, wie man uns in der Öffentlichkeit darstellt. Das ist unser Ziel bei jedem derartigen Gespräch. Ich bin sicher, Sie sind dafür bestens motiviert.«

Wendt sagte nichts. Es gab Aussprüche, die ließen keine Antwort zu. Der Oberstleutnant plusterte sich wieder einmal auf. Er nannte Motivation, was sonst Überzeugung hieß. Verkündete Bekanntes und folgte seiner Gewohnheit, dies durch Klopfzeichen zu unterstreichen, als seien es Worte von hohem Erkenntniswert. Er hatte kurze, kräftige Finger, an den Kuppen stempelartig verdickt. Ihr Pochen gab seinen Mitteilungen stets etwas Endgültiges, die Weihen psychologischer Führungskunst. Mit einiger Menschenkenntnis hätte ihm aber klar sein müssen, dass solches Getue seinem Vortrag die Wirkung nahm. Neben dem Mangel an Denkvermögen und Originalität. Nicht nur Finks Schreibtisch, auch sein Kopf war aufgeräumt - die Prinzipien hübsch darin verteilt, ansonsten eher leer.

»Also, ich verlasse mich auf Sie.«

Das klang abschließend, der Hauptmann stand auf. Öffentlichkeitsarbeit gehörte nicht zu den Aufgaben eines Leiters der Morduntersuchungskommission, doch war Widerspruch zwecklos.

»Wie steht es mit den Schmierereien?«, fragte Fink. »Kommen die Ermittlungen voran?«

Wendt blieb stehen. Auch etwas, was man ihm aufgehalst hatte. Drei Wochen nach den Kommunalwahlen tauchten vereinzelt Parolen auf, nachts an irgendwelche Wände gesprüht (das Kurhaus von Cumin fiel ihm ein). Sprüche wie Gorbi, hilf, die Perestroika forderten oder auf ungelenke Art das Wahlergebnis in Zweifel zogen. Und obwohl sich schon die Genossen der Staatssicherheit darum kümmerten, drängte Fink darauf, denen zuzuarbeiten und einen sichtbaren Beitrag zu leisten durch eigenes Nachforschen, Spurensicherung seitens der Kreisämter, den Einsatz von Fährtenhunden. Festnahmen mit all dem Papierkram, der sich bei ihm staute, als gäbe es nichts anderes zu tun. - »Nichts Neues«, meldete er. »Sämtliche Inschriften sind entfernt und zwei der Schmierer gefasst worden.«

»Das reicht mir nicht. Kein befriedigendes Resultat! Das schreckt keinen ab. Bei dieser Dunkelziffer darf es uns nicht wundern, wenn die Sache eskaliert, ich sage Ihnen, wir müssen die Aufklärung intensivieren.«

»Die K-Leiter in den Kreisämtern tun ihr Bestes.«

Wendt nahm wieder Platz und ging, wie gewünscht, ins Detail. Knapp ein Dutzend Fälle, die hatte er parat. Und während er dies vortrug, war ihm, als höre er Jenny, seine Ehefrau, wieder sagen: Ihr denkt, da steckt wer weiß was dahinter, dabei geschieht es spontan, ohne zentrale Weisung, meiner Ansicht nach ... Mir ist allerdings klar, warum das nicht in euren Kopf geht. Ihr seid Geschöpfe einer straffen Organisation, der Polizeibürokratie. Da denkt ihr euch den Gegner halt als Mitglied eines ähnlichen Vereins, das macht es irgendwie erträglicher, ja? Es gibt euch die Hoffnung, den Kampf zu gewinnen, wenn ihr das kriminelle Haupt aufspürt, das nach eurer Vorstellung die Befehle erteilt und das Geschehen in der oppositionellen Szene lenkt.

»Sind Sie fertig?«

Wendt merkte auf. Der Ton verriet ihm, er hatte etwas davon einfließen lassen - die Spur eines Zweifels an der Organisiertheit, an der hierarchischen Ordnung beim Feind. »Nein, Genosse Oberstleutnant. Aber ich mache gern Pause, wenn Sie etwas sagen wollen.«

»Nur ein persönliches Wort zum Schluss.« Fink senkte die Stimme. »Zufällig sah ich neulich Ihre Gattin draußen auf Sie warten.« (Unheimlich - als könne er Gedanken lesen.) »Mit einer Plakette am Revers. Sie wissen schon, diesem Gorbatschow-Kopf, und zwar extragroß. Erscheint Ihnen das als passend bei der Frau eines Offiziers in verantwortlicher Position?«

»Ich hab's ihr nicht ausreden können. Es ist unser bester Freund, hat sie mir gesagt.«

Fink nickte düster, als habe sich ihm ein Verdacht bestätigt. Der Verdacht, man habe die eigene Frau nicht im Griff und sei machtlos gegen solch eine Provokation. Aus seiner Sicht erübrigte sich da jeder Kommentar. »Danke«, sagte er, »das war alles.«

Bis zur Tür spürte Wendt den Blick in seinem Rücken, die Missbilligung. Finks Fischaugen, wässrig grau - nun, die hatte er nie gemocht. Und der Kopf über dem stumpfbraunen Anzug mit Schlips und weißem Hemd - blass, in gesundes festes Fett verpackt; weiß Gott kein angenehmes Gesicht. Ein schwieriger Vorgesetzter, der ihn wenig schätzte. Die Leistung wohl noch, kaum die Person. Eigentlich schon immer und besonders seit der Heirat mit Jenny im April.

Tatsächlich. Fink hatte seine Wahl missfallen. Er ließ ihn merken, was er von der Ehe eines Offiziers der K mit einer Vorbestraften hielt. Jennys Verurteilung wegen der zwei Einbrüche, von ihm selbst aufgedeckt, lag fünfeinhalb Jahre zurück. Für den Oberstleutnant offenbar so etwas wie eine Bombe mit Zeitzünder, der noch tickt. Als könnte sie jederzeit rückfällig werden und den Ruf der Behörde beschmutzen.

Und in diesem Moment, hier im Korridor auf dem Weg in sein Dienstzimmer, dämmerte Wendt, die zwanzig Monate Haft, restlos von ihr verbüßt, führten offenbar gegen jede Vernunft zu einem Karriereknick bei ihm. Seit 15 Jahren war er Hauptmann der K und würde es auch bleiben. Obwohl niemand das zugab, Jennys Delikt wirkte sich auf seine Laufbahn aus. Unter Fink und seinesgleichen stieg er in der Behörde nicht mehr auf ... Zwar lag er mit seinen Ergebnissen als Leiter der Morduntersuchungskommission ziemlich vorn, im Urteil vieler Genossen. Um aber befördert zu werden, so wurde ihm angedeutet, hätte er sich in einem Lehrgang qualifizieren müssen. Wie der stramme Major Grote, den er jetzt vertreten durfte.

Mit anderen Worten, man ließ ihn nicht hochkommen. Das folgte allein schon aus den Regeln der formalen Logik. Da er nämlich, Spitzenmann seines Fachs, den Lehrgang selbst hätte abhalten müssen, schien für ihn das Ende der Fahnenstange erreicht. Kein Mensch konnte Vorträge halten und zugleich lernend daran teilnehmen. Alles sprach gegen sein Fortkommen - die formale Logik, das dialektische Wechselspiel von Ursache und Wirkung sowie auch »das Räderwerk der Bürokratie«, wie es in Jennys Sprache hieß.

Aber er würde es überstehen. Nicht aus jedem Hauptmann wurde ein Major. Je höher man stieg im Apparat, desto intensiver der Papierkrieg, der einen von den wirklichen Dingen fernhielt. Von der operativen Arbeit, die ihm Befriedigung bot, sooft sich ein Erfolg einstellte. Er liebte seinen Beruf, seine Frau und diese Stadt; würde also auch nicht, wie damals nach der Scheidung von Helga, um Versetzung bitten. Kein Mensch war allzeit auf Rosen gebettet.

2. Kapitel

Wenn es stimmt, dass Richard Nebel bereits über 60 ist, dachte Wendt, dann wirkt er für sein Alter noch recht frisch. Mit dem Vollbart, grau durchsetzt, mochte er zwar einer von denen sein, die da etwas verbargen, unschöne Zähne etwa oder die Neigung, spöttisch zu grinsen. Aber er war drahtig, er trug Jeans und eine blaue Jacke, die Jugend vortäuschte und gleichsam hier komme ich pfiff. (Ringsum erging man sich ja von Amts wegen in mutlosen Grautönen oder stieg gar, wie der K-Leiter, in seriöses Kakaobraun mit Nadelstreifen.) Nebel roch nach Kiefernholz, er hatte ungeputzte Schuhe und den Teint eines Menschen, der viel Zeit im Freien verbringt. Hinter seiner runden Nickelbrille, auch sie eine Abweichung vom Erscheinungsbild seiner Generation, glänzten graugrüne Augen. Die Lider hingen schräg, was ihm etwas Verschmitztes gab.

Der Mann wirkte ganz locker und spontan. Unfeierlich sprach er drauflos, ohne erkennbare Taktik. Von ihm ging wenig Würde oder Ehrgeiz aus. Nebel tat, als kenne er kein Tabu, als gelte für ihn allein das Lustprinzip, beruflich wie privat. Alles machte ihm Spaß, er war kein aggressiver Mensch, und seine Eitelkeit war schwach entwickelt oder gut versteckt. Es störte ihn offenbar kaum, dass Wendt von seinem Werk außer einem Mafiaroman fast gar nichts kannte. Er schien mehr darauf stolz zu sein, dass er noch so fit war, so vital. Er gestikulierte lebhaft, als habe ihn beim Schreiben des Romans die Mentalität der Sizilianer angesteckt. Sprach er von Problemen beim Recherchieren, bei der Materialbeschaffung - andere Schwierigkeiten gab es für ihn nicht -, verdrehte er zum Beispiel die Hände wie beim Öffnen einer Thermosflasche. Fakten, an die er schwer herankam, schienen für ihn Leckerbissen, die wahren Freuden des Lebens zu sein.

Wendt studierte ihn mit Sympathie, nicht ohne Sinn für die Komik der Szene. Der Autor versuchte, klarzumachen, wie wichtig Unterstützung für ihn sei, wenn er nun von Palermo nach Rostock ging mit den Kindern seiner Fantasie. Das unterstrich er durch Gebärden, dabei glitt sein Ärmel zurück, es blinkte am Handgelenk ein Goldkettchen, nicht recht passend zur Erscheinung (zu seinem Look oder Outfit, hätte Jenny gesagt). Es amüsierte Wendt, am Rande doch das aufleuchten zu sehen, was Nebel sorgsam heraushielt aus seinem Auftritt. Das Dandyhafte des Künstlers lugte da hervor! Dieser alleinstehende Mann vom Jahrgang 1927 wollte durchaus noch gefallen, wem wohl, wenn nicht Frauen? Vielleicht war's auch bloß ein Strohhalm, nach dem er griff. Das Kettchen zeugte von Widerstand: gegen sein Altern, die Müdigkeit, das Vergessenwerden; letzten Endes gegen den Tod. Jeder brauchte eine Illusion.

»Ich kann Ihnen natürlich zu Akteneinsicht verhelfen«, sagte Wendt, belustigt durch die Gier des Mannes, nach Schwerkriminalität zu fischen und zugleich den Aufbau des Polizeiapparats zu begreifen, dessen Wirkungsweise in solchen Fällen.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»So viele Morde wie auf Sizilien passieren hier nicht, das werden Sie uns verzeihen«, fuhr der Hauptmann fort. »Aber was wir geklärt haben von den Tötungsverbrechen der letzten zehn Jahre, nämlich fast alle, das kann Ihnen der Bezirksstaatsanwalt zugänglich machen. Er sitzt gleich nebenan, praktisch im selben Haus. Sie müssten nur bereit sein, die Namen und Details so zu verändern, dass man später keinen der Beteiligten erkennt, und über all das zu schweigen. Dies wäre Bedingung. Ich nehme doch an, das ist nicht zu viel verlangt?«

»Nein, keineswegs«, erwiderte Nebel. »Aber vielen Dank ... Nach dem, was Sie da sagen, liegen Affekthandlungen vorn: Tötung im Streit, aus Eifersucht, in betrunkenem Zustand, durch Rowdytum, nicht wahr? Oft als Gewalt innerhalb der Familie. Vorbedachter Mord scheint selten zu sein. Und auch der passiert stets vor einem rein persönlichen Hintergrund.«

»So ist es. Uns reicht das durchaus. Ihnen nicht?«

»Nein. Der Täter hat immer ein Motiv, das ausschließlich in seiner Person liegt. Es sind ganz isolierte Delikte, wie es mir erscheint. Sie gehen nie auf Straftaten anderer zurück.«

»Jede Straftat ist ein individueller Vorgang«, bemerkte Wendt, wie er selber fand, eher vage und töricht. Er hörte seinen Chef sagen: Der Mann sucht Nervenkitzel, damit verdient er sein Geld, wir aber zeigen ihm die Qualität unserer Arbeit ... Diesmal hatte Fink vermutlich recht.

»Nicht Ihrer Meinung. Sehen Sie, ich bin jemand, der politisch denkt. Mord und Totschlag an sich reizen mich nicht. Solange ein Bezug aufs große Ganze fehlt, die gesellschaftliche Dimension.«

»Es tut mir leid, mit organisiertem Verbrechen kann ich Ihnen noch nicht dienen. Vielleicht im nächsten Jahrtausend, Herr Nebel.« Wendt sagte dies teils als Scherz, den er gern herausließ; teils aber auch, weil sein Instinkt ihm riet, den Mann nicht zu unterschätzen, ihm also nicht das Märchen aufzutischen, man sei hier gegen die schlimmsten Spielarten des Verbrechens grundsätzlich gefeit, da schwappe allenfalls etwas vom Klassenfeind herein, zumal über die elektronischen Medien. Er hatte das einst so gelernt, es viele Jahre lang auch geglaubt, die fromme Legende, Banditentum sei dem Sozialismus wesensfremd. Im Kern hielt Major Grote daran fest, die These galt noch offiziell, nach außen hin wurde sie beharrlich vertreten - obwohl seit einiger Zeit widerlegt durch das, was die sowjetische Presse fortlaufend enthüllte von der Bandenkriminalität in Gegenden, die weder ein fremdes Fernsehbild noch ausländische Gangster kannten. - »Uns schützt da die Mauer«, fügte er entschuldigend hinzu. »In deren Schatten gedeiht ja wenig, die Kriminalität kommt nicht so recht voran. Schlechte Nachrichten für Sie, ich verstehe ... Bisher haben wir kein Weltniveau.«

»Manche Bruderländer sind da weiter.«

»Sie meinen das Bandenwesen, die Drogenkriminalität bei den sowjetischen Freunden? Na ja, das ist ein Riesenreich, ein Vielvölkerstaat, ganz unvergleichbar. Je größer das Land, desto größer die Probleme - auf jedem Feld.« Dabei beließ es Wendt, er führte den Gedanken nicht fort. Nach seiner Meinung gab es auch für die Größe und Bevölkerungszahl der Staaten ein Optimum, und von jenem Bestwert hatte die Sowjetunion sich weit entfernt; doch das war nicht das Thema des Gesprächs.

»Und das kleine Bulgarien mit seinem Rauschgifttransfer? Die Tschechoslowakei mit ihrem Export von Waffen?«

»Pardon, da geht Ihnen wohl etwas durcheinander. Was hat denn staatlicher Waffenhandel, falls es den dort geben sollte, mit Kriminalität zu tun?«

»Das ist eine gute Frage, wirklich! Ich würde sagen, die Nähe zum Verbrechen. Sie gucken skeptisch, Herr Wendt? Nein, ich rede doch nicht von moralischen Kategorien. Nur von der Tatsache, dass im Waffengeschäft, egal ob privat oder staatlich, die Lebenserwartung der Beteiligten deutlich unter dem statistischen Durchschnitt liegt. Wer mit Sprengstoff hantiert, der fliegt leicht selber in die Luft. Nach meiner Beobachtung geschieht das auffallend häufig.«

»Ist mir neu. Weshalb sollte das so sein, auch im staatlichen Handelssektor?«

»Keiner weiß es«, sagte Nebel, und es war, als krieche ihm ein Lächeln aus dem Bart. »Es muss sich um eine Berufskrankheit handeln. Sie hat wohl ganz entfernt auch was mit Gerechtigkeit zu tun. Wie es schon bei Shakespeare heißt: >Der Spaß ist, wenn mit seinem eigenen Pulver der Feuerwerker auffliegt.< Hamlet, dritter Aufzug, vierte Szene. Bemerken Sie die Schadenfreude?«

»Um die zu erkennen, muss man kein Experte sein. Ich habe den Eindruck, Sie träumen von einem Utopia, einer waffenfreien Welt.«

»Es gibt da bestimmte Vorstellungen, wenn auch erst in Ansätzen. Wissen Sie, mir schwebt ein Sozialismus vor, der völlig gewaltfrei ist, nach außen wie nach innen, und in dem der Wunsch, Güter zu erwerben, nicht mehr die treibende Kraft darstellt. Wir sollten unseren Wert weniger darin suchen, was wir besitzen und uns geschaffen haben, wie es so schön heißt. Wer und wie wir sind und was wir können, das gibt doch Selbstbestätigung genug! Und es wäre gut, uns auf die Lebensgrundlagen zu besinnen, also die nötige Energie lieber dem Wind und der Sonne zu entnehmen, anstatt fortzufahren, die Umwelt zu zerstören, durch das Abbaggern von Braunkohle, ihr Verfeuern und das Verbrennen von Benzin.«

»Sind Sie nicht im Auto hergekommen?«

»Nein, mit der Bahn. Ich hab kein Auto, bloß ein Segelboot und ein Fahrrad. Mir scheint, auf lange Sicht wird unser Haupttransportmittel das Fahrrad sein. Wie in China, wo sich jetzt so viel bewegt.«

»Das Fahrrad?«

»Das Fahrrad. Zwei Räder und ein Sattel. Das Fahrrad.«

Wendt fasste den Mann scharf ins Auge. Machte der sich lustig über ihn? Offenkundig nicht. Er hatte in diesem Haus noch nie einen Grünen gesehen. Auch keinen Pazifisten. Jenny, die Kontakt zu Kirchenkreisen hielt, hätte mit ihm harmoniert. »Sind Sie religiös?«, fragte er.

»Was verstehen Sie darunter?«

»Na, an Gott glauben. An irgendeinen.«

»Vielleicht sollte ich das«, sagte Nebel. »Aber um nicht Ihre Zeit zu stehlen, zurück zum Zweck meines Besuchs. Sie sind also überzeugt, in Ihrem Bereich bleibt es bei isolierten Straftaten nach dem Motto: Jeder stiehlt für sich allein. Ein derart saftiger Romanstoff wie momentan auf Kuba ist hier nicht in Sicht?«

»Keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Von dem Drogenkrimi, der seit vier Wochen in Havanna läuft. Dort hat Fidel Castro am 24. April eine Sonderkommission gebildet, die gegen Teile der Armeeführung ermittelt, wegen Rauschgift- und Waffenhandels in großem Stil. Das Ausmaß von Verkommenheit eines Dutzends hoher Militärs schreit zum Himmel. Auch das Innenministerium soll verstrickt sein, der Geheimdienst. Bis zu zehn Luxuskarossen für die Chefs, goldene Telefone. Villen und Hochseejachten. Diamanten, Elfenbein, Edelhölzer, Flugbenzin. Weiber und natürlich Kokain, geschmuggelt für tausend Dollar das Kilo. Alles in einer Zeit, da ganze Staaten wie Kolumbien und Panama dabei sind, den Drogenkönigen in die Hand zu fallen, und Havanna so stolz auf seine weiße Weste war.«

»Woher haben Sie das? Im Neuen Deutschland stand davon kein Wort.«

»Ja. Ich weiß. Das mutet man uns ungern zu. Ich hab da meine Quellen, das gehört zum Job. Und ich werde das Gefühl nicht los, es könnte bei uns mal was Ähnliches geschehen, wenn auch nicht in solch bizarrer Form. Meine Sorge ist, würde das hier passieren, es käme nie ans Licht. Da bliebe hübsch der Deckel drauf.«

»Wie kommen Sie denn zu der Befürchtung?«

»Nach vierzig Jahren kenne ich mein Land. Als bei uns in Cumin ein Bürgermeister tausend Mark unterschlug, stand selbst das nicht in der Zeitung. Man erzählt sich, Herr Wendt, Sie haben den Kerl überführt. Wie war Ihnen zumute, als es zu keiner öffentlichen Verhandlung kam? Jede Kassiererin, jeden Arbeiter hätte man gnadenlos verdonnert, wenn die so hingelangt hätten, der Heini war tabu, ein Funktionär immerhin, wenn auch am unteren Rand der Skala unserer Würdenträger. Bequem, es unter den Teppich zu kehren, aber festigt das wirklich die Ordnung, stärkt es das Rechtsgefühl? Der Bürger stumpft ab, die Strolche grinsen und bedienen sich weiter aus dem großen Topf.«

Wendt schwieg. Im Stillen gab er Nebel recht, zugleich fiel der ihm lästig. Natürlich wurde beschönigt, immer schon, das Bild retuschiert, manch ein Sachverhalt verschleiert. Der Zwang, möglichst positiv zu sein, und der Mangel an Transparenz störten selbst die Polizeiarbeit. Nach dem letzten Tötungsdelikt, einem Doppelmord, hatte es eines Schrittes des Ersten Bezirkssekretärs in Berlin bedurft, damit die Lokalpresse überhaupt darüber schreiben durfte. Aber das war banal - etwas, was jeder wusste und keiner ändern konnte. Seit Jahrzehnten lebte man damit, hatte sich daran gewöhnt, wozu rieb der Mann es einem unter die Nase? »Was kann ich noch für Sie tun?«, fragte er.

»Na, mich ins Bild setzen über Ihre Methoden, die Mittel bei der Mordaufklärung, die polizeilichen Befehlswege, Unterstellungsverhältnisse und Strukturen. Wie das funktioniert, wenn Sie Ihr größtes Rad drehen.«

»Ihr Wissensdurst ist ja beachtlich.«

»Bei mir entwickeln sich Einfälle nur aus den Fakten. Es klingt paradox, Herr Wendt, aber der Sicherheitsapparat in Bogota, wo ich nie gewesen bin, ist mir besser bekannt als der in Rostock. Die Stärke, Gliederung und Ausrüstung jeder westlichen Polizei erfährt man aus offenen Quellen - Presse, Lexika, Monografien. Und hier? Versuchen Sie mal als Buchautor, den Aufbau der K zu erfragen.«

»Da kann ich Ihnen leider wenig sagen. Das Organisationsschema ist vertraulich, nicht zur Veröffentlichung frei.«

»Nur für den Dienstgebrauch. Genau das hab ich mir gedacht. Es hat sich nichts geändert ... Sehen Sie, in den Fünfzigerjahren gehörte der Kripochef von Magdeburg zu meinem Bekanntenkreis. Er ist inzwischen tot, es schadet ihm nichts mehr, wenn ich das erwähne. Damals nahm er mich mit zum Pistolenschießen, ja auch auf die Jagd ...«

»Sie sind Jäger?«

»Nein. Er auch nicht. Wir haben regelrecht gewildert dort im Harz. Zum Beispiel ein Reh geblendet und es abgeknallt, heute schäme ich mich dafür.«

»Fahren Sie ruhig fort, diese Dinge sind verjährt.«

»Wir sind halt Freunde gewesen, zu meinem ersten Krimi schrieb er das Nachwort, mit Erlaubnis seiner Hauptverwaltung in der Glinkastraße, Berlin. Die Akten abgeschlossener Fälle kriegte ich frei Haus von ihm: Leichenfund im Grenzgebiet, Förstermord. Totschlag eines Liebespaares im Wald ... Aber kein Sterbenswort über, sagen wir mal, den Ablauf des 17. Juni in unserer Heimatstadt. Wo ja auch Blut geflossen ist!

So was war einfach tabu. Nun wissen Sie, weshalb es mich westwärts zog, rein stofflich. Hier wären mir aus Unkenntnis bloß Fehler passiert.«

»Wir helfen Ihnen gern, die zu vermeiden. Reichen Sie uns Ihr Manuskript ein, wir schlagen Ihnen dann vor, wie es vielleicht verbessert werden kann.«

Der Autor zog die Schultern hoch, es schüttelte ihn kaum merklich. »Gutachten? Die sind ein Frosthauch, der jede Kreativität erstarren lässt. So wird das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt. Mir geht's nicht um Korrekturen hinterher, sondern um Startschub, Herr Hauptmann.«

»Sie sind schwer zu befriedigen. An was für einen Stoff denken Sie überhaupt?«

Nebel atmete hörbar, er zögerte, sich zu offenbaren. Ein komplizierter Mensch. 17. Juni, dachte Wendt. Da war er gerade zwölf gewesen, es gab kein Bild in seinem Gedächtnis von diesem peinlichen Tag. Ihm saß da ein Fossil gegenüber, ein Greis mit jugendlichem Touch, ein Mann mit zu viel Erinnerungen, die ihn bedrängten, sich ständig in seine Überlegungen mischten und verhinderten, dass er frisch ans Werk ging, unbefangen. Sein Handicap war, zu allem und jedem fiel ihm etwas ein, was er früher einmal gehört, geschrieben, erlebt oder getan hatte. Dies lenkte ihn ab, ließ ihn weitschweifig werden und belastete das Gespräch.

»Was mir vorschwebt, ist ein Knüller«, sagte Nebel endlich. Er sprach ein bisschen heiser, wie geschlagen, als weiche er innerem Druck - dem Strom seiner Fantasie, die ihn vermutlich überschwemmte. »Sitzen Sie gut? Sonst haut es Sie womöglich noch vom Stuhl. Ich stelle mir nämlich vor, irgendwo bei Wismar, ländlich abgeschieden, vielleicht auf der Insel Poel, befindet sich ein getarntes Warenlager. Hinter einer harmlosen Fassade, ein paar Schuppen zur Altstofferfassung, Kartons voller Medikamente, wertintensiv in Ihrer Sprache, abgezweigt bei unserer Pharmaindustrie.«

»Und das wird nun verschoben? Todsicher über See.«

»Gewiss.« Nebel nickte freundlich. »Sie denken mit. So läuft das all die Jahre, bis ein Unfall geschieht.«

»Die Zollverwaltung merkt nichts. Das Hafenamt ist blind. Die Volkspolizei ist instinktlos, der Gemeinderat dem Trunk verfallen. Die Grenzbrigade Küste schläft. Die Volksmarine dreht Däumchen. Die Staatssicherheit ist umnachtet ...«

»Nein, die drückt ein Auge zu.«

»Wie bitte?«

»Nun ja«, sagte Nebel etwas kleinlaut, »ich hab's halt so erfunden. Man wird doch wohl noch spinnen dürfen? Fiktion kann, auf der Basis von Fakten, treffender sein als Reportage. Ich will fiktiv eine Realität hinblättern, etwas beschreiben, was dem Leser unter die Haut geht.«

»Da sind keine Fakten. Es ist nicht real, glaube ich.«

»So, Sie glauben.« Nebel nahm die Brille ab, er behauchte und putzte sie, wie um ein Lächeln zu kaschieren, das sein Bart nicht ganz verbarg. »Der Glaube versetzt Berge oder erweist sich als Aberglaube.«

»Was deuten Sie mir damit an?«

»Nichts, Herr Wendt. Es gibt da übrigens noch ein Missverständnis. Sie denken offenbar - und nach meiner Erfahrung glaubt das beinah jeder Kriminalist -, organisiertes Verbrechen sei unbedingt an ganz schwere und abstoßende Delikte geknüpft. Es habe immer mit Gewalt und letztlich eben Mord zu tun. Das war zu keiner Zeit und nirgends so. Selbst nicht in Chicago oder auf Sizilien.«

»Ich höre Ihnen zu. Bitte klären Sie mich auf.«

»Die Regel drüben ist eine Vielzahl kleinerer Delikte. Dinge wie Glücksspiel. Einbruch in leer stehende Wohnungen. Autodiebstahl. Schutzgelderpressung oder Prostitution. AI Capone hing jahrelang vor Bordellen herum und zischte den Passanten zu: Girls, girls, beautiful girls. Ein kleiner Zuhälter, bis es ihm gelang, seine Geschäftsbasis zu verbreitern und im Alkoholhandel Fuß zu fassen. Dann freilich hat er morden lassen. Die heroische Zeit der Bandenkriege ... Heute wird das große Geld eher unblutig gemacht, auf dem weiten Feld der Wirtschaftskriminalität.«

»Und die findet bei Ihnen in Wismar statt. Ein kühner Plan! Ehrlich gesagt, mir sträuben sich die Haare. Was macht denn unsere Medikamente für den internationalen Arzneimittelschwarzmarkt dermaßen interessant?«

»Das muss man tatsächlich bedenken. Sie treffen wieder den Punkt. Herr Wendt. Es wäre schön, mit Ihrer Hilfe das Buch zu schreiben. Aber zur Sache. Es könnten Amphetaminkombinationen oder auch Grundstoffe zur Drogenherstellung sein.«

»Synthetisches Rauschgift?«

»Ja. Meine Partnerin hat mich da beraten, sie kommt aus dem Gesundheitswesen. Speed heißt das Zeug in den USA, es wird auch Angeldust genannt, Engelsstaub. Ist dasselbe wie PCP, davon kostet im New Yorker Großhandel das Kilo 40.000 Dollar. Ziemlich preiswert also. Noch billiger scheint LSD zu sein. Die CIA hat vor ein paar Jahren zehn Kilo LSD-25 für knapp eine Viertelmillion gekauft. Es lohnt sich trotzdem, zu dealen, die Profitraten sind fantastisch. Diese zehn Kilo übrigens reichen hin, hundert Millionen Menschen auf einen Trip zu schicken.«

»Herr Nebel, wenn das in Wismar spielt, glaubt es Ihnen kein Schwein.«

»Schlimmer noch, derzeit würde es mir erst gar nicht gedruckt. Aber da bin ich optimistisch. Wissen Sie, die Kulturpolitik lockert sich allmählich. Ist das Manuskript dann fertig, naht das Ende der Zensur. Von der die Verfassung ja sagt, dass sie ohnehin nicht stattfindet. Mit der Mehrheit meiner Berufskollegen hoffe ich auf diesen Tag.«

Wendt vermied es, sich zu dieser Mitteilung zu äußern. Auch ohne Finks Hinweise kannte er den offiziellen Standpunkt, den die Pressestelle der BDVP zu verbreiten hatte. Langsam ging ihm auf, wofür Major Grote sein Geld bekam und weiterer Schulung bedurfte. Obschon Grotes Gesprächspartner gewöhnlich Journalisten waren, Leute mit Sinn für das Machbare, die sich kaum so weit verstiegen wie dieser seltsame Kauz. »Wenn Ihr Manuskript vorliegt, stehen Sie vielleicht mit etwas da, was weder eine zeitlose Utopie ist noch ein realistischer Roman. Ich fürchte, Sie setzen sich zwischen zwei Stühle. Was bleibt von Ihrer Arbeit dann eigentlich noch übrig?«

»Eine lehrreiche Geschichte, hoffentlich.«

»Nur leider nicht sehr plausibel.«

»Dann helfen Sie mir doch, glaubhaft zu sein, durch Ihren Rat - bis in die Einzelheiten Ihrer Arbeitsweise.«

»Aber solche Details sind doch bloß die Oberfläche! Was nützt Ihnen das Äußerliche des Ablaufs, wenn die ganze Richtung nicht stimmt, in der sich Ihr Entwurf bewegt? Das ist gerade so, als lackierten Sie ein Boot, und das Holz darunter ist morsch ... Ich glaube kaum, dass es uns leichtfallen wird, Ihr Projekt zu unterstützen. Wir haben da nämlich einen Ruf zu verlieren.«

»Ich auch«, sagte Nebel. »Meine Leser wollen Geschichten, hart und handfest, nicht unbedingt verfasst zum Lob der Polizei. Gebe ich ihnen die, dann schätzen sie mich. Und ich will, dass sie mich schätzen. Der Mensch lebt nicht von Brot allein, er braucht auch Reputation.«

Wendt spürte in sich einen Groll aufsteigen, dessen Druck ihn verblüffte. Es war, als trete ihm Galle in den Magen. Er hatte nur noch den Wunsch, diesen Mann halbwegs höflich loszuwerden. -

»Schön, ich sage Ihnen, was geschieht, falls wir Wind kriegen von Ihrem erdachten Drogenlager. Ich gehe mit dem Sachverhalt zum K-Leiter, und der meldet das vorläufige Ermittlungsresultat dem Chef der BDVP, Generalmajor Siegfried Hadler. Dieser unterrichtet seinerseits Ernst Timm, den Ersten Sekretär der Bezirksleitung der Partei sowie Generalleutnant Rudolf Mittag, den Chef der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. Es folgt eine Besprechung bei Timm im Parteihaus An der Reiferbahn oder bei Mittag in der August-Bebel-Straße 15. Beides nur ein paar Minuten, ein paar Hundert Schritte von hier.«

Nebel schrieb das auf. Die ganze Zeit über hatte er sich Notizen gemacht, und zwar so, dass es kaum auffiel. »Rostocks eisernes Dreieck«, murmelte er.

»Dann wird Berlin informiert«, sagte Wendt beherrscht, trotz des Eindrucks, dass der Mann ihn mit dieser Bemerkung ärgern wollte. »Unsere Hauptverwaltung, der Innenminister, die Sicherheitsabteilung im ZK, die Stasizentrale in der Normannenstraße. Oben an der Spitze wird über das weitere Vorgehen entschieden. Aber was hilft es Ihnen, das zu wissen? Es rettet nicht Ihre Story.«

»Herr Hauptmann, ich bedanke mich.« Nebel lachte freundlich, er stand auf, recht behände für sein Alter. »Sie haben mir bereits geholfen, sehr sogar, vielen Dank! Wenn mein Text vorliegt, melde ich mich wieder; Sie bekommen ihn als Erster.«

Wohl kaum, dachte Wendt beim Händedruck, der fest wirkte, fair wie ein Marinegruß. Das ist dann Grotes Bier ... Bei all seinem Verständnis für Exzentriker, Nebels rascher Aufbruch freute ihn. Dessen Haltung gab ihm das Gefühl, der Mann nehme ihm nichts krumm, er bleibe in Fühlung zur K, obschon die seinen Einfall, einen Pharmaschmuggel zu inszenieren, als absurd verwarf. Verliebt in seine Schnapsidee, mochte es ihm schwer sein, zu sehen, was Sache war, und das Endgültige des Urteils zu begreifen. Oder er tat nur so - war bloß ein guter Verlierer. Unter seinesgleichen, den reizbaren, egozentrischen Kulturschaffenden, wäre das ja auch schon was gewesen.

Doch der Autor rief nicht wieder an; auch nicht bei Major Grote, als der den Lehrgang beendet hatte. Entweder kam Nebel mit der Sache nicht weiter, weil er einsah, dass dies ein Fehlstart war, ein Projekt, das jeder Grundlage entbehrte. Oder er wich einer Beratung aus, die mit den Füßen am Boden blieb und ihn daran hinderte, sich literarisch zu entfalten und emporzuschwingen ins Reich seiner kriminellen Träume ... Es sollten fünf Monate vergehen - ein ganzer Sommer, der letzte der 80er Jahre -, bis Christian Wendt noch einmal von Richard Nebel hörte.