Die Lebensmittelkennzeichnung soll den Verbraucher informieren. Wer aber informiert über die Lebensmittelkennzeichnung? Regelten noch vor gut 20 Jahren eine vergleichsweise schlanke Lebensmittelkennzeichnungsverordnung zusammen mit einer Reihe nationaler produktspezifischer Vorschriften die Pflichtkennzeichnung von Lebensmitteln, sieht sich der Rechtsanwender heute einer wahren Flut zu beachtender Vorschriften gegenüber, deren Systematik kaum noch zu überblicken ist. Das gilt insbesondere dann, wenn in die Tiefen und Untiefen produktspezifischer Vorschriften vorgedrungen wird, die mittlerweile ebenfalls von europäischen Vorschriften mitbestimmt sind. So gibt es etwa für viele Lebensmittel verpflichtende Verkehrsbezeichnungen, deren Anforderungen in produktspezifischen Verordnungen beschrieben sind. Teils sind dabei ergänzende Kennzeichnungspflichten festgelegt. Für bestimmte Stoffe, etwa Zusatzstoffe oder gentechnisch veränderte Zutaten, greifen eigene Regelungswerke, die ebenfalls Anforderungen an die Kennzeichnung enthalten. Vorliegendes Buch möchte in die Systematik der Lebensmittelkennzeichnung einführen und einen kompakten Überblick über die allgemeinen und die wichtigsten produktspezifischen Kennzeichnungsvorschriften geben. Wenngleich es den Lesefluss nicht gerade verbessert, werden sämtliche Anforderungen an die Kennzeichnung stets in Verbindung mit der jeweiligen Rechtsnorm beschrieben. Dies soll dem Leser die Möglichkeit geben, sich selbstständig im Gesetzestext zu Recht zu finden und sich ein eigenes Bild von den gesetzlichen Kennzeichnungspflichten zu machen. Beispielsfälle sowie ergänzende Erläuterungen in Form von Fragen und Textkästen zu bestimmten Themen sollen das Verständnis erleichtern.
Es sei an dieser Stelle all denjenigen gedankt, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben – sei es durch fachliche Hinweise oder auch die nötige und wichtige Unterstützung im tagtäglichen Leben. Ein namentlicher Dank gilt Julia Seim, die mir beim Korrekturlesen eine große Hilfe war.
Berlin, Oktober 2010
ABl. |
Amtsblatt |
Abs. |
Absatz |
AEUV |
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
a. F. |
alte Fassung |
AGREVET |
Arbeitsgemeinschaft der leitenden Veterinärbeamten der Länder |
ALS |
Ausschuss lebensmittelchemischer Sachverständiger |
ALTS |
Arbeitskreis lebensmittelhygienischer tierärztlicher Sachverständiger |
Art. |
Artikel |
BfR |
Bundesinstitut für Risikobewertung |
BGBl. |
Bundesgesetzblatt |
BGesundBl. |
Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz (Zeitschrift) |
BLL |
Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde |
BMELV |
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz |
ButterV |
Butterverordnung |
BVL |
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit |
DiätV |
Diätverordnung |
DLR |
Deutsche Lebensmittel-Rundschau (Zeitschrift) |
EFSA |
Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit |
EG |
Europäische Gemeinschaften |
EWG |
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft |
EichG |
Eichgesetz |
EP |
Europäisches Parlament |
EU |
Europäische Union |
EuGH |
Europäischer Gerichtshof |
f |
folgende |
ff. |
fortfolgende |
FPackV |
Fertigpackungsverordnung |
FruchtV |
Fruchtsaftverordnung |
GdCH |
Gesellschaft deutscher Chemiker |
GMBl. |
Gemeinsames Ministerialblatt |
GRUR |
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) |
gv |
gentechnisch verändert |
GVO |
gentechnisch veränderter Organismus |
HCVO |
Health Claims-Verordnung |
i. S. v. |
im Sinne von |
i. Tr. |
in der Trockenmasse |
Kap. |
Kapitel |
KäseV |
Käseverordnung |
KonfV |
Konfitürenverordnung |
LFGB |
Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch |
LG |
Landgericht |
LKV |
Loskennzeichnungsverordnung |
LM-BasisVO |
Lebensmittel-Basisverordnung |
LMKV |
Lebensmittelkennzeichnungsverordnung |
LMuR |
Lebensmittel und Recht (Zeitschrift) |
MargMFV |
Verordnung über Margarine- und Mischfetterzeugnisse |
MilchErzV |
Milcherzeugnisverordnung |
MilchKennzV |
Konsummilch-Kennzeichnungsverordnung |
MilchMargG |
Milch- und Margarinegesetz |
MTVO |
Mineral- und Tafelwasserverordnung |
NemV |
Nahrungsergänzungsmittelverordnung |
NKV |
Nährwertkennzeichnungsverordnung |
Nr. |
Nummer |
OLG |
Oberlandesgericht |
OVG |
Oberverwaltungsgericht |
QUID |
Quantitative Ingredients Declaration |
RL |
Richtlinie |
Rn. |
Randnummer |
s. |
siehe |
S. |
Seite |
VG |
Verwaltungsgericht |
VO |
Verordnung |
ZEuS |
Zeitschrift für Europarechtliche Studien (Zeitschrift) |
ZLR |
Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (Zeitschrift) |
ZVerkV |
Zusatzstoff-Verkehrsverordnung |
ZZulV |
Zusatzstoff-Zulassungsverordnung |
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Das Lebensmittelrecht ist heute weitgehend harmonisiert. Es dient insbesondere dem Schutz der Verbraucherinteressen und verfolgt dabei zwei grundlegende Ziele:
Diese Ziele sollen, soweit möglich, durch eine umfassende Verbraucherinformation verwirklicht werden. Reichen Informationen zum Schutz des Verbrauchers nicht aus, gewährleisten absolute Verbote und Zulassungsverfahren die Lebensmittelsicherheit. Seit Mitte der 1990er Jahre wird zunehmend auf die Information des Verbrauchers gesetzt: Es gilt das normative Leitbild eines aufgeklärten, verständigen, informierten und mündigen Verbrauchers1, der die ihm angebotenen Informationen zu nutzen weiß. Durch diese Entwicklung wird die Verbraucherinformation selbst zum Ziel des Lebensmittelrechts. Neben den Verbraucherinteressen soll das Lebensmittelrecht auch die Interessen von Herstellern, Verarbeitern und Händlern schützen: Seine Bestimmungen sollen faire Wettbewerbsbedingungen schaffen und den binneneuropäischen Verkehr mit Lebensmitteln und Futtermitteln fördern. Bereits bestehende oder geplante internationale Normen sollen bei der Fortentwicklung des gemeinschaftlichen Lebensmittelrechts berücksichtigt werden.
Der Schutz der Verbrauchergesundheit ist zentrales Ziel lebensmittelrechtlicher Vorschriften. Es ist daher verboten, Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, die nicht sicher sind. Dieses Verkehrsverbot normiert Art. 14 Abs. 1 Lebensmittel-Basisverordnung (EG) Nr. 178/2002 (LM-BasisVO)2. Auch § 5 Abs. 1 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB)3 bestimmt ein Verkehrsverbot nicht sicherer Lebensmittel, indem er auf die LM-BasisVO verweist. Diese nationale Vorschrift ist eigentlich überflüssig, da die europäische Verordnung ohnehin unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gilt.
Ein Lebensmittel gilt gemäß Art. 14 Abs. 2 LM-BasisVO als nicht sicher, wenn davon auszugehen ist, dass es gesundheitsschädlich und für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet ist. Es müssen beide Tatbestände vorliegen, das heißt es handelt sich hier nicht um Alternativtatbestände4. Zur Frage, ob ein Lebensmittel gesundheitsschädlich ist, benennt die Vorschrift bestimmte Beurteilungskriterien: So müssen gemäß Art. 14 Abs. 4 LM-BasisVO die wahrscheinlichen sofortigen, kurz- oder langfristigen Auswirkungen auf den Verbraucher und auf nachfolgende Generationen berücksichtigt werden. Kumulative toxische Wirkungen sowie bestimmte gesundheitliche Empfindlichkeiten der jeweils angesprochenen Verbrauchergruppe müssen ebenfalls in die Beurteilung einbezogen werden. Bei der Entscheidung über die Sicherheit eines Lebensmittels sind seine normalen Verwendungsbedingungen und die an den Verbraucher gerichteten Informationen zu berücksichtigen. Als nicht für den Verzehr geeignet gelten gemäß Art. 14 Abs. 5 LM-BasisVO Lebensmittel, wenn sie durch Fremdstoffe oder auf andere Weise kontaminiert sind. Auch Fäulnis, Verderb oder Zersetzung beispielsweise durch unsachgemäße Lagerung führen dazu, dass ein Lebensmittel als nicht verzehrsfähig eingestuft werden kann. Bei der Entscheidung, ob ein Lebensmittel gesundheitsschädlich ist, kommt es letztlich nicht darauf an, dass die Gesundheit des Verbrauchers tatsächlich geschädigt wird5. Wenn auf Basis wissenschaftlicher Daten gesundheitsschädigende Auswirkungen für wahrscheinlich gehalten werden, jedoch noch wissenschaftliche Unsicherheit besteht, können staatliche Maßnahmen zulässig sein, wenn diese für die Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erforderlich sind. In diesem Fall können die Mitgliedstaaten und die Kommission vorläufige und verhältnismäßige Maßnahmen zum Risikomanagement treffen. Dieser Grundsatz wird mit dem Begriff des Vorsorgeprinzips umschrieben. Er ist mit Inkrafttreten der LM-BasisVO durch Art. 7 im Jahr 2002 gesetzlich im Lebensmittelrecht verankert worden6.
Frage Nr. 1: Was ist eine Basisverordnung?
Die Lebensmittel-Basisverordnung (EG) Nr. 178/2002 ist eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates. Im Rat sind die Mitgliedstaaten repräsentiert. In „Ratsverordnungen“ oder auch sogenannten „Basisverordnungen“ sind diejenigen Bereiche eines Themas geregelt, die nicht allein die Durchführung betreffen, sondern von zentraler gemeinschaftspolitischer Bedeutung sind. Dagegen gibt es so genannte „Kommissionsverordnungen“ oder „Durchführungsverordnungen“. Sie regeln Details zur Durchführung eines bestimmten Rechtsaktes, teilweise in Form generellabstrakter Regelungen, oder auch als Einzelfallregelungen. Durchführungsverordnungen werden von der Kommission auf Grundlage der ihr vom Rat zugewiesenen Kompetenzen erlassen. So hat die Kommission beispielsweise auf Grundlage der Öko-Basisverordnung (EG) Nr. 834/2007 die Durchführungsverordnung (EG) Nr. 889/2008 erlassen. Diese regelt detailliert, welche Stoffe, etwa Düngemittel oder Zusatzstoffe, für die Herstellung von Bio-Lebensmitteln verwendet werden dürfen7.
Die Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln darf den Verbraucher nicht täuschen. Unter einer Täuschung beziehungsweise Irreführung (Frage Nr. 2) wird im Lebensmittelrecht jeder Hinweis auf der Packung oder in der Werbung verstanden, der dazu geeignet ist, beim Verbraucher falsche Vorstellungen, insbesondere über die Beschaffenheit, die Qualität, die Menge, die Herkunft oder die gesundheitlichen Wirkungen eines Lebensmittels zu erwecken8. Was im Einzelnen unter einer Täuschung zu verstehen ist, ergibt sich aus § 11 LFGB. Eine Täuschung liegt beispielsweise vor, wenn die Verkehrsbezeichnung eines Lebensmittels von der allgemeinen Verkehrsauffassung abweicht, ohne dass dies für den Verbraucher in angemessener Weise erkennbar ist oder wenn einem Lebensmittel gesundheitsfördernde Wirkungen zugesprochen werden, die wissenschaftlich nicht belegt sind. Der Tatbestand der Irreführung ist jedoch nur erfüllt, wenn die Irreführung auch relevant ist. Das heißt, die beim Verbraucher hervorgerufenen falschen Vorstellungen müssen auch dessen Kaufentschluss beeinflussen. Dabei ist nicht jede, sondern nur die berechtigte Verbrauchererwartung schützenswert9.
Fehlt es an gesetzlich normierten Anforderungen zur Bezeichnung, Aufmachung oder Zusammensetzung eines Lebensmittels, orientiert sich die Feststellung der berechtigten Verbrauchererwartung am sogenannten Verbraucherleitbild (Textkasten Nr. 1). Danach gilt der Verbraucher als verständig, informiert, mündig und aufmerksam. Dieses Leitbild hat sich über Jahrzehnte aus der einschlägigen Rechtsprechung herausgebildet und ist heute wesentliche Grundlage für richterliche aber auch politische Entscheidungen über die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers. Strittig ist mitunter, inwieweit dieses Leitbild in angemessener Weise die realen Verhältnisse widerspiegelt10 und insbesondere der jüngeren europäischen Gesetzgebung in angemessener Weise berücksichtigt wird11. Obwohl der Verbraucherschutz zentrales Ziel lebensmittelrechtlicher Vorschriften ist, muss berücksichtigt werden, dass es stets auch darum geht, einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Wirtschaft und Verbraucherschaft zu erreichen.
Frage Nr. 2: Was ist der Unterschied zwischen einer Irreführung und einer Täuschung?
Eine Irreführung liegt vor, wenn der maßgebliche Durchschnittsverbraucher mit den Informationen auf der Packung Vorstellungen verbindet, die mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht im Einklang stehen. Er irrt über die tatsächliche Produktbeschaffenheit und tätigt irrtumsbedingt einen Fehlkauf. Bei der Täuschung liegen die Verhältnis etwas anders: Hier werden unrichtige Tatsachen vorgespiegelt oder wahre Tatsachen verschleiert oder unterdrückt und auf diese Weise eine Fehlvorstellung beim Verbraucher erzeugt. Nach der europäischen und nationalen Rechtsprechung wurde klargestellt, dass „irreführend“ gleichbedeutend „mit zur Täuschung geeignet“ ist12. In der Praxis werden die Begriffe „Irreführung“ und „Täuschung“ weitgehend synonym verwendet13.
Textkasten Nr. 1: Verbraucherleitbild
Das in der deutschen Rechtsprechung über lange Zeit vorherrschende Leitbild eines unmündigen und eher unkritischen Verbrauchers musste mit Beginn der 1990er Jahre dem des Europäischen Gerichtshofes weichen, der regelmäßig auf einen informierten, verständigen, mündigen und aufmerksamen Verbraucher abstellt14. Noch mit beginnender Entwicklung des Binnenmarktes wurde bei der Bewertung der Kennzeichnung importierter Lebensmittel in Deutschland zunächst am Leitbild des unkritischen und unbefangenen Verbrauchers festgehalten: Dieser treffe seine Kaufentscheidung vor allem anhand der Verkehrsbezeichnung und damit verbundener Angaben, ohne die Ware eingehender zu prüfen15, war die damals gängige Auffassung. Das Zutatenverzeichnis eigne sich demnach nicht als Deklarationsort für etwaige Abweichungen oder ergänzende Angaben. Seit Mitte der 1990er Jahre gilt nunmehr grundsätzlich die Zutatenliste als angemessener Ort, um den Verbraucher über eine abweichende Beschaffenheit zu informieren16. Entsprechend verwies daraufhin beispielsweise der Bayrische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil über die Zulässigkeit von Zusatzstoffen in Wurstprodukten mit nostalgischen Verkehrsbezeichnungen klar auf einen kritischen Verbraucher, der in der Lage sei ein Information auf dem Etikett zur Kenntnis zu nehmen und danach seine Kaufentscheidung zu treffen17. Das Gericht berief sich in seiner Entscheidung dabei ferner auf die bereits 1992 ergangene Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass die seinerzeit geltende Begriffsbestimmung der Irreführung gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 und 2 b LMBG anhand des Gemeinschaftsrechts auszulegen sei18.
Gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 LFGB ist es verboten, im Verkehr mit Lebensmitteln oder in der Werbung für Lebensmittel Aussagen zu verwenden, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen. Es folgt unter § 12 Abs. 1 Nr. 2–7 LFGB eine abschließende Aufzählung abstrakter Tatbestände, die dem Verbot der krankheitsbezogenen Werbung unterliegen19. Letztere sind aber in ihrer Begriffsweite, vor allem in Hinblick auf die Abgrenzung zu gesundheitsbezogenen Angaben weniger problematisch und werden daher im Folgenden nicht konkret behandelt. Zweckbestimmung von § 12 LFGB ist es, den Konsumenten von jeglicher Art der Selbstmedikation durch Lebensmittel abzuhalten20. Die Vorschrift dient insofern dem Gesundheitsschutz, schützt den Verbraucher aber gleichzeitig auch vor einer Täuschung. Es soll dem möglichen Irrtum entgegengewirkt werden, Lebensmittel könnten die Wirkung eines Arzneimittels, das heißt verhütende, lindernde oder gar heilende Effekte entfalten. Dabei ist letztlich nicht die objektive Richtigkeit der Aussagen maßgeblich. Vielmehr geht es darum, ob die Angabe geeignet ist, dem Verbraucher den subjektiven Eindruck zu vermitteln, durch das Lebensmittel sei eine wirksame und ausreichende Selbstbehandlung bestimmter Krankheiten beziehungsweise Krankheitssymptome möglich21. § 12 LFGB verbietet die krankheitsbezogene Werbung auf Lebensmitteln, während eine rein gesundheitsbezogene Werbung grundsätzlich erlaubt ist, sofern die in Rede stehenden Wirkungen tatsächlich belegt sind und den Verbraucher nicht täuschen22. Die gesundheitsbezogene Lebensmittelwerbung wird künftig durch die Health-Claims-Verordnung (HCVO) geregelt. Diese neue Regelung ermöglicht unter bestimmten Umständen die Werbung mit Aussagen über die Risikominimierung von Krankheiten. Das Verbot der krankheitsbezogenen Werbung bleibt aber auch mit der HCVO bestehen. Die Abgrenzung zwischen erlaubter gesundheitsbezogener und verbotener krankheitsbezogener Werbung wird also auch in Zukunft noch eine Rolle spielen.
Von wesentlicher Bedeutung für diese Abgrenzungsfrage ist der Ernährungsbegriff, der nach neuerer Auffassung der Ernährungswissenschaft mehr impliziert als allein die Grundversorgung des Körpers mit Nährstoffen23. Zur Feststellung, ob eine Angabe gegen das Verbot der krankheitsbezogene Werbung verstößt, müssen alle am Produkt angebrachter Werbeaussagen sehr genau betrachtet werden, zumal die Übergänge zur erlaubten gesundheitsbezogenen Bewerbung stets fließend sind24. Nach der Rechtsprechung bezieht sich eine Aussage in der Regel dann auf die Verhütung, Linderung oder Heilung einer Krankheit, wenn sie eine bestimmte Krankheit oder ein bestimmtes Krankheitsbild direkt oder durch die Nennung einschlägiger Symptome wie beispielsweise Husten, Übelkeit oder Kopfschmerzen indirekt anspricht25. Des Weiteren ist es für die Auslegung des § 12 LFGB entscheidend, inwieweit eine Aussage Assoziationen in Hinblick auf Krankheiten hervorrufen kann. Von einem Krankheitsbezug ist insbesondere dann auszugehen, wenn ein Lebensmittel die Wirkung auf bestimmte Körperorgane benennt26. Insofern ist beispielsweise die Aussage „Oxidationsschutz für die Zelle“27 hinsichtlich ihres objektiven Aussagewertes nicht unmittelbar als unzulässige krankheitsbezogene Werbung zu werten, da ihr der Bezug zu einer bestimmten Krankheit fehlt28. Deutlicher wird das Vorliegen eines Krankheitsbezugs etwa durch die ausdrückliche Hervorhebung der schützenden Wirkung vor etwas Schädlichem. Beispielhaft veranschaulicht die gesundheitsbezogene und damit zulässige Aussage „X-Brot für eine gesunde Ernährung“ gegenüber der verbotenen krankheitsbezogenen Aussage „Krankheit ist schlimm – X-Brot für eine gesunde Ernährung“ die Abgrenzung im Sinne der Rechtsnorm29. Weitere Kriterien für die Feststellung eines unzulässigen Krankheitsbezugs verdeutlicht beispielhaft eine Entscheidung des OLG Köln30. Das Gericht hatte hierbei über die Frage der Zulässigkeit der Aussage „denn dieser [Seefisch] enthält die wichtigen Omega-3-Fettsäuren, die u.a. das Herz schützen“ sowie Aussagen über Vitamine in Gemüse und Salat, die „sogar vor Krebs schützen sollen“ sowie „laut Studien kann Rotwein dazu beitragen, […] Herzkrankheiten vorzubeugen“ zu entscheiden. Aufgrund der ausdrücklichen Benennung von Krankheiten sind die Werbeaussagen für Gemüse und Rotwein als unzulässig bewertet worden. Demgegenüber wurde die Werbeaussage „denn dieser [Seefisch] enthält die wichtigen Omega-3-Fettsäuren, die u. a. das Herz schützen“ als rein gesundheitsbezogen und damit zulässig qualifiziert, da keinerlei Hinweis auf ein spezifisches Krankheitsbild gegeben wird.
Die ältesten bekannten Quellen lebensmittelrechtlicher Bestimmungen stammen aus dem 17. Jh. v.Chr.: Der Codex Hammurabi stellte Lebensmittelverfälschungen wie Bierpanschen und Preiswucher unter harte Strafen31. Innerhalb Deutschlands entwickelt sich das Lebensmittelrecht zu Zeiten des Mittelalters: Aufgrund permanenter Nahrungsmittelknappheit regelten die mittelalterlichen Stadtrechte den redlichen Verkehr mit Getreide, Wein, Bier, Brot, Öl und anderen Lebensmitteln. Wer verfälschte oder verdorbene Lebensmittel anbot, musste teils drakonische Strafen über sich ergehen lassen: Hersteller schwerspathaltiger Brote wurden gezwungen ihre Erzeugnisse solange zu verzehren, bis sie daran starben, Fälscher wurden in Körben unter Wasser getaucht, bis sie bewusstlos waren32. Die Gesetze damaliger Zeiten hatten allerdings weniger den Schutz der Konsumenten im Auge. Qualitätsstandards dienten in erster Linie einer Einteilung der Lebensmittel in verschiedene Steuerklassen. Zunächst standen Geldeinnahmen des Staates im Vordergrund, später ging es um das allgemeine Wohl der Bevölkerung und darum, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Verbraucherschutz war lediglich Nebenzweck der damaligen Regelungen.
Ein Wandel kam mit der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts: Die Lebensmittelchemie entwickelte sich als eigenständige Wissenschaft. Damit konnte die praktische Lebensmittelüberwachung erstmals von wissenschaftlich gebildetem Fachpersonal wahrgenommen werden. Für den Vollzug der Lebensmittelüberwachung waren bereits Untersuchungsämter vorgesehen, deren Personal die lebensmittelrechtlichen Kontrollen durchführen sollten. Hierzu bedurfte es einer gesetzlichen Grundlage33. Diese wurde jedoch erst 1879 nach weiteren Jahren deutlichen Missstandes im Lebensmittelverkehr mit dem Reichsgesetz betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen erlassen34. Dieses Nahrungsmittelgesetz regelte präventiv polizeiliche Befugnisse sowie die Durchführung der Kontrolle und übertrug dem damaligen Bundesrat ein weitgehendes Verordnungsrecht zu Schutze der Volksgesundheit. Darüber hinaus behandelte es den Verkehr mit verdorbenen, nachgemachten und verfälschten Lebensmitteln, die geeignet sind, die menschliche Gesundheit zu schädigen oder zu gefährden – ein allgemein ausgesprochenes Verkehrsverbot gesundheitsgefährdender Lebensmittel enthielt es jedoch zunächst nicht35. Dieser Mangel wurde mit dem 1927 in Kraft getretenen Lebensmittelgesetz beseitigt. Der Zusatz bestimmter Stoffe – seinerzeit als Fremdstoffe bezeichnet – wurde schließlich im Jahre 1958 durch das Reformgesetz zur Änderung und Ergänzung des Lebensmittelrechts verboten, sofern diese nicht ausdrücklich zugelassen waren. Wurden zugelassene Fremdstoffe verwendet, musste dies gekennzeichnet werden. Eine grundlegende Neuordnung des deutschen Lebensmittelrechts brachte schließlich das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz vom 15.8.1974 (LMBG). Neben Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen wurden erstmals auch Tabakerzeugnisse und Kosmetika geregelt. Der Begriff des Fremdstoffes wurde durch die Bezeichnung Zusatzstoff ersetzt.
Weitere Reformen des Lebensmittelrechts brachte der europäische Integrationsprozess: Innergemeinschaftliche Handelshemmnisse, etwa durch Warenkontrollen, unterschiedliche Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit und Steuerschranken sollten so weit wie möglich abgebaut werden. Nach dem Europäischen Primärrecht sollte nach dem Binnenmarkt-Konzept ein Raum ohne Binnengrenzen geschaffen werden, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts gewährleistet ist. Dieser Binnenmarkt sollte bis Ende des Jahres 1992 verwirklicht werden36. Noch in den Anfängen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war eine vollständige Harmonisierung lebensmittelrechtlicher Vorschrift avisiert worden. Doch erwies sich dieser Ansatz im Laufe der Zeit als aussichtslos: Detaillierte Pläne des Rates37 über die Verabschiedung einzelner Harmonisierungsrichtlinien scheiterten aufgrund der Komplexität der Materie nahezu vollständig. Gleichzeitig reifte das Bewusstsein, dass es gerade im Bereich des Lebensmittelrechtes, dessen Materie von einer kulinarischen Vielfalt in Europa gekennzeichnet ist, nicht wünschenswert sein kann, diese dem Binnenmarktziel gänzlich zu opfern. Auf diesen Erkenntnissen basiert eine „neue Strategie“, die grundlegend im Weißbuch der Kommission vom 14.6.198538 formuliert und in nachfolgenden Dokumenten präzisiert wurde39. Die Ziele nationaler Gesetzgebung galten nunmehr als im Wesentlichen gleichwertig. Maßgebliche Grundlage dieser Strategie der gegenseitigen Anerkennung war die als „Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung“ (Textkasten Nr. 2) bekannt gewordene Folge von Urteilen des EuGH zu den Art. 28 und 30 EVG (Ex-Art. 30 und 36 EWGV). Kernaussage dieser Judikatur ist der Grundsatz, dass jedes in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft (EG) hergestellte und dort rechtmäßig in Verkehr gebrachte Erzeugnis in der gesamten Gemeinschaft verkehrsfähig ist. Dennoch sind Handelshemmnisse im Binnenmarkt auch heute noch nicht in jeder Beziehung gänzlich ausgeräumt. Divergierende Schutzstandards der Mitgliedstaaten führen regelmäßig zu gemeinschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen, denn es kann beispielsweise aus Gründen des Gesundheitsschutzes der freie Warenverkehr beschränkt werden. In Bereichen, in denen sich trotz der Strategie der gegenseitigen Anerkennung stets Auslegungsschwierigkeiten ergeben, erweist sich daher die Harmonisierung, das heißt die Vereinheitlichung von Rechtsvorschriften als unerlässlich. Auch machen transnationale Krisen wie die BSE-Krise grenzüberschreitende Lösungsansätze erforderlich40.
Textkasten Nr. 2: Cassis-de-Dijon-Urteil
Mit seinem Urteil vom 20.2.197941 formulierte der EuGH die sogenannte „Cassisformel“: Danach ist ein Lebensmittel, das in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und im Verkehr ist, grundsätzlich in jedem EU-Mitgliedstaat verkehrsfähig. Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit durch die Mitgliedstaaten sind nur zulässig, sofern der beschränkende Eingriff einem zwingenden Erfordernis gerecht wird: einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und dem Verbraucherschutz. Der Eingriff darf zudem durch keine andere, mildere Regelung ersetzt werden können. Hat ein Mitgliedstaat die Wahl zwischen mehreren Maßnahmen, die zur Erreichung des verfolgten Zieles gleichermaßen geeignet sind, hat er diejenige zu wählen, die den freien Warenverkehr am wenigsten beeinträchtigt42.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Handelsgruppe REWE-Zentral AG importierte aus Dijon, Frankreich, einen Johannisbeer-Likör nach Deutschland, der mit seinem Alkoholgehalt von 16 bis 22 % vol. dem vom deutschen Branntweinmonopolgesetz geforderten Alkoholgehalt von 25 % vol. für Liköre widersprach. Daher verbot die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein zunächst den weiteren Import und Verkauf der Ware aus Frankreich. In seiner Klage vor dem EuGH machte die REWE-Zentral AG geltend, dass die deutsche Regelung einer mengenmäßigen Einfuhrbeschränkung in der Wirkung gleichstehe und daher mit der Warenverkehrsfreiheit aus Art. 28 des EG-Vertrages unvereinbar sei. Dieser Auffassung folgte schließlich auch der EuGH in seinem Urteil.
Das Jahr 2002 brachte eine umfassende Neustrukturierung des Lebensmittelrechts: Mit der LM-BasisVO wurde ein europaweit verbindlich geltendes Regelungswerk verabschiedet, das die Lebensmittelherstellung über alle Produktionsstufen hinweg regelt – vom Acker bis auf den Teller („from farm to fork“). Von der Erzeugung über die Verarbeitung, den Transport und den Vertrieb bis hin zum Handel, auf all diesen Stufen muss der jeweilige Betrieb für die Sicherheit der Lebensmittel einstehen. Entsprechendes gilt für den Futtermittelsektor. Dass das Futtermittelrecht in das Lebensmittelrecht integriert wurde, hängt nicht zuletzt mit den Erfahrungen aus der jüngeren Vergangenheit zusammen: Die europaweite BSE-Krise, aber auch nationale Ereignisse wie der belgische Dioxin-Skandal von 1999 hatten deutlich gemacht, dass die Qualität der Futtermittel für die der Lebensmittelgewinnung dienenden Tiere entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit der Konsumenten nehmen kann. Weitere neue Strategien, die nach der LM-BasisVO die Lebensmittelsicherheit gewährleisten sollen, sind die gesetzliche Verankerung des Vorsorgeprinzips, eine stärkere Unternehmerverantwortlichkeit sowie die gesetzliche Pflicht zur Rückverfolgbarkeit. So müssen Hersteller von Lebensmitteln und Futtermitteln sämtliche Stoffe, die sie zur Produktion verwenden, über alle Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen zurückverfolgen können. Darüber hinaus wurde mit der LM-BasisVO die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) errichtet. Sie nimmt auf europäischer Ebene zentrale Aufgaben im Bereich der Risikobewertung und der Risikokommunikation wahr. Unabhängige Wissenschaftler stehen der Behörde beratend zur Seite. Die EFSA ist ferner Dreh- und Angelpunkt für die enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten, etwa dem Bundesinstitut für Risikobewertung in Deutschland.
Frage Nr. 3: Was ist ein Weißbuch?
Die Weißbücher der Europäischen Kommission enthalten Vorschläge zu einem gemeinschaftlichen Vorgehen in einem bestimmten Bereich. Sie betreffen oft Gesetzgebungsvorhaben oder auch Pläne zur Errichtung einer neuen Behörde. So enthielt beispielsweise das Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit unter anderem das Vorhaben eine europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde einzurichten. Dieser Plan wurde dann mit der LM-BasisVO in die Praxis umgesetzt. Weißbücher knüpfen oft an sogenannte Grünbücher an, die einen Beratungsprozess auf europäischer Ebene in Gang setzen. Auf nationaler Ebene wird von sogenannten Buntbüchern gesprochen: Buntbücher sind amtliche Veröffentlichungen einer Regierung zur auswärtigen Politik, die unregelmäßig herausgegeben werden. Die Bezeichnung richtet sich nach der Farbe des Umschlags in dem sie traditionell herausgegeben werden: In Deutschland werden beispielsweise Weißbücher herausgegeben, in Großbritannien Blaubücher43.
Das Lebensmittelrecht wird von zwei Prinzipien bestimmt: vom Missbrauchsprinzip und dem Verbotsprinzip. Bei den Verboten ist zwischen absoluten Verboten, etwa dem Inverkehrbringen gesundheitsschädlicher Lebensmittel, und Verboten mit Zulassungsvorbehalten, wie bei der Verwendung von Zusatzsatzstoffe zu unterscheiden.
a) Das Missbrauchsprinzip. Über lange Zeit war das Lebensmittelrecht in weiten Teilen vom Missbrauchsprinzip bestimmt. Nach dem Missbrauchsprinzip ist grundsätzlich alles erlaubt, solange es nicht ausdrücklich verboten ist. Den Rahmen dieser Erlaubnis bilden die lebensmittelrechtlichen Vorschriften. So ist es beispielsweise verboten, gesundheitsschädliche oder nicht zum Verzehr geeignete Lebensmittel in den Verkehr zu bringen. Die Zusammensetzung oder Herstellungsweise eines Lebensmittels liegt hingegen grundsätzlich in der Hand des Herstellers. Es sei denn, es existieren produktspezifische Vorschriften, die dieser Freiheit entgegen stehen. Dann darf zum Beispiel eine bestimmte Verkehrsbezeichnung nur verwendet werden, wenn das Lebensmittel der gesetzlich bestimmten Zusammensetzung entspricht. So regelt etwa die Konfitüren-Verordnung detailliert, welche Mengen Pülpe oder Fruchtmark Konfitüren verschiedener Fruchtsorten mindestens enthalten müssen. Ist die gesetzlich normierte Vorgabe nicht erfüllt, darf der Hersteller sein Erzeugnis nicht als Konfitüre bezeichnen, sondern muss eine alternative Verkehrsbezeichnung wie Fruchtaufstrich wählen.
b) Das Verbotsprinzip. Das Verbotsprinzip enthält den Grundsatz, dass ein bestimmtes Tun oder Unterlassen verboten ist. Was erlaubt ist, muss ausdrücklich durch eine Rechtsnorm bestimmt sein. Es wird unterschieden zwischen absoluten Verboten wie dem Inverkehrbringen gesundheitsschädigender Lebensmittel und den Verboten mit Erlaubnisvorbehalt: Seit über 50 Jahren gilt das Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt für die Lebensmittelzusatzstoffe. Ein Zusatzstoff darf nur verwendet werden, wenn er ein Zulassungsverfahren durchlaufen hat und ausdrücklich für den betreffenden Zweck erlaubt ist. Auch der Einsatz gentechnisch veränderter Organismen, die Bestrahlung von Lebensmitteln oder das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel unterliegen dem Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt. In einigen Fällen bedürfen auch Herstellerbetriebe einer Zulassung oder Registrierung. Andernfalls dürfen sie nicht produzieren (Textkasten Nr. 3). Das Verbotsprinzip gewinnt zunehmend auch im Bereich der Lebensmittelkennzeichnung an Bedeutung: Hersteller, die ihre Lebensmittel mit Hinweisen auf den ökologischen Landbau bewerben wollen, müssen sich einen privatrechtlich organisiertem Kontrollverfahren unterwerfen. Durch die im Jahr 2007 in Kraft getretene europäische Health-Claims-Verordnung (HCVO) wird außerdem die Verwendung nährwert- und gesundheitsbezogener Angaben unter einen Zulassungsvorbehalt gestellt: Nährwertbezogene Angaben dürfen nur noch gemacht werden, wenn sie im Anhang der HCVO enthalten sind und sie die dort genannten Bedingungen erfüllen. Die neue Reglementierung gesundheitsbezogener Angaben sieht vor, eine Gemeinschaftsliste zulässiger Angaben zu verabschieden, die bei Bedarf auf Antrag erweitert werden kann44.
Textkasten Nr. 3: Registrierung und Zulassung lebensmittelverarbeitender Betriebe
Mit der Harmonisierung des Lebensmittelhygienerechts zum 1.1.2004 wurden die Pflichten zur Registrierung beziehungsweise Zulassung lebensmittelverarbeitender Betriebe neu geregelt. Danach unterliegen alle Lebensmittelbetriebe einer Pflicht zur Registrierung. Damit soll erreicht werden, dass die zuständige Lebensmittelüberwachungsbehörde Kenntnis von der Existenz des Betriebes erhält. Bestimmte Betriebe müssen ein Zulassungsverfahren durchlaufen, andernfalls dürfen sie nicht produzieren45. Diese Zulassungspflicht ergibt sich aus Art. 6 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 852/200446. Im nationalen Recht ist die Zulassung in § 9 Tierische Lebensmittel-Hygieneverordnung47geregelt. Es sind grundsätzlich diejenigen Betriebe zulassungspflichtig, die Lebensmittel tierischer Herkunft gewinnen, unter anderem Schlacht-, Zerlegungs- und Fleischverarbeitungsbetriebe, Betriebe, die Hackfleisch oder Fleischzubereitungen herstellen oder behandeln sowie solche, die Milcherzeugnisse verarbeiten oder lagern. Einige Betriebe sind von der Pflicht zur Zulassungspflicht ausgenommen.
Entscheidend ist dabei die Art der Tätigkeit. So sind Betriebe der Primärproduktion, etwa Landwirte, Fischer und Jäger von der Zulassungspflicht ausgenommen. Auch Unternehmen, die Erzeugnisse pflanzlichen Ursprungs mit Verarbeitungserzeugnissen tierischen Ursprungs gemeinsam verarbeiten, beispielsweise Pizzabäcker, Hersteller von Feinkostsalaten oder Organisationen, die unentgeltlich Lebensmittel abgeben wie die Tafeln oder Suppenküchen für Obdachlose benötigen keine Zulassung.
Der Begriff des Rechts im objektiven Sinne steht für die Gesamtheit aller Vorschriften, die das Zusammenleben der Menschen untereinander und ihre Verhältnis zur öffentlichen Hand regelt48. Diese Vorschriften bestehen einerseits aus Rechtsnormen, andererseits aus Gewohnheitsrecht49.
Rechtsnormen entstehen durch einen staatlichen Hoheitsakt: Lebensmittelrechtliche Bestimmungen werden unter anderem in Form von Gesetzen oder Verordnungen auf nationaler Ebene verabschiedet. Im Zuge des europäischen Integrationsprozesses hat die Bundesrepublik Deutschland zahlreiche ihrer hoheitlichen Befugnisse auf die Europäische Gemeinschaft (EG) übertragen, die innerhalb der ihr im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV, seit 1.12.2009: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) zugewiesen Kompetenzen gesetzgeberisch tätig wird. Es wird also unterschieden zwischen nationalen und europäischen Rechtsnormen.
Das Gewohnheitsrecht leitet sich aus allgemeinen und langjährig anerkannten Gebräuchen ab, ohne einen parlamentarischen Weg durchlaufen zu haben. Das Gewohnheitsrecht ist keineswegs Recht minderer Qualität, sondern ist dem gesetzten Recht ebenbürtig50. Es passt sich den aktuellen Entwicklungen an und ist weniger abstrakt. Insbesondere das Lebensmittelrecht, das nicht zuletzt durch den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt einem stetigem Wandel unterliegt, ist in vielen Bereichen von Begriffen geprägt, die auf das Gewohnheitsrecht zurückführen, beispielsweise die Verkehrsauffassung, die Verbrauchererwartung oder der Handelsbrauch.
a) Nationales Recht. Auf nationaler Ebene gibt es zwei Arten von Rechtsnormen: Gesetze und Verordnungen. Beide enthalten für eine unbestimmte Anzahl von Personen allgemein verbindliche Regelungen. Nach dem Grundsatz der Gewaltentrennung steht die Gesetzgebung (Textkasten Nr. 4) ausschließlich dem Parlament zu. Dabei ist zwischen Bundes- und Ländergesetzen zu unterscheiden. Das jeweilige Gesetzgebungsverfahren ist im Grundgesetz beziehungsweise in den Landesverfassungen der Bundesländer geregelt. Die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern ergibt sich aus dem Grundgesetz. Verordnungen – auch Rechtsverordnungen – entfalten genauso wie Gesetze eine Allgemeinverbindlichkeit. Sie werden aber nicht vom Parlament, sondern auf Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung von der vollziehenden Gewalt, etwa der Bundes- oder Landesregierung oder staatlichen Verwaltungsbehörden, erlassen. Dieses Verfahren hat gegenüber der Gesetzgebung den Vorteil, deutlich einfacher und schneller zu sein. Verordnungen können daher leichter angepasst werden51, wenn die äußeren Bedingungen sich ändern.
Das Lebensmittelrecht ist gemäß Art. 74 Nr. 20 Grundgesetz52 Teil der konkurrierenden Gesetzgebung. Das bedeutet, dass die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung haben, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch macht. In weiten Teilen hat der Bund sein Recht zur Gesetzgebung im Lebensmittelbereich jedoch wahrgenommen. So regelt das LFGB als Dachgesetz die Grundprinzipien des Lebensmittelrechts. Es enthält eine Vielzahl von Ermächtigungen für produktübergreifende, aber auch produktspezifische Verordnungen.