Theologie für die Gemeinde

Im Auftrag der Ehrenamtsakademie

der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens herausgegeben

von Heiko Franke und Wolfgang Ratzmann

Wilfried Härle

Warum Gott?

Für Menschen, die mehr wissen wollen

Zweite, überarbeitete Auflage

Wilfried Härle, Dr. theol., Jahrgang 1941, ist Professor em. für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Heidelberg. Von 2002 bis 2005 war er Mitglied der Enquetekommission des Deutschen Bundestages »Ethik und Recht der modernen Medizin« und bis 2010 Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD. Heute lebt Härle als Seelsorger, theologischer Autor und Vortragsreisender in Ostfildern.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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2., überarbeitete Auflage 2014

© 2013 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

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Cover und Coverfoto: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Layout und Satz: Steffi Glauche, Leipzig

ISBN 978-3-374-03409-3

www.eva-leipzig.de

»Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit«

(S. Kierkegaard, Vier erbauliche Reden von 1844, in: GW 13./14.Abtlg., Gütersloh 1981, S. 5)

Vorwort

Als ich in den Ruhestand ging, erhielt ich kurz hintereinander von mehreren Personen die Aufforderung, nun solle ich – nach meiner »Dogmatik« – so etwas wie einen Laiendogmatik schreiben, also eine allgemein verständliche, aber nicht oberflächliche Einführung in den christlichen Glauben. Ein solches Buch werde heute dringend benötigt und werde auf großes Interesse stoßen. Diese Anregung fiel bei mir auf fruchtbaren Boden, sie traf »zufällig« kurze Zeit später mit dem Plan der EVA zusammen, eine mehrbändige »Theologie für die Gemeinde« herauszugeben, deren ersten Band über Gott die Herausgeber und die Verlagsleitung mir antrugen. Das ist zwar weniger als eine komplette Laiendogmatik, aber immerhin ein grundlegendes Stück daraus bzw. dafür.

Ich nahm dieses Angebot gerne an und machte mich an die Arbeit. Dabei halfen mir die Ergebnisse von Umfragen unter kirchlich engagierten Christenmenschen, die schriftlich geäußert hatten, was sie sich von einem solchen Buch wünschten. Die Arbeit ging mir gut von der Hand, und so stand schon nach wenigen Monaten ein Rohentwurf, der verschiedenen Personen ohne wissenschaftliche theologische Ausbildung zur Probelektüre gegeben wurde. Gleichzeitig bat auch ich einige mir nahestehende Personen (theologischer und nicht-theologischer Herkunft) um einen solchen Lektüretest. Die Rückmeldungen zeigten, dass der Rohling zwar für theologische Fachleute gut zu verstehen und interessant zu lesen war, theologischen Laien aber doch erhebliche Verstehensprobleme bereitete.

Ich hatte die Übersetzungsaufgabe offenbar unterschätzt und musste mich noch einmal ans Werk machen. Dabei bemühte ich mich, vor allem die Elemente zu vereinfachen oder wegzulassen, die als »schwierig« empfunden worden waren. Das waren einerseits Zitate von großen Theologen und Philosophen, andererseits Darstellungen und Erläuterungen zu theologischen Auseinandersetzungen aus der Geschichte des Christentums. Ich erhielt wiederholt die Aufforderung: »Schreiben Sie doch nicht, was andere dazu gesagt haben, sondern schreiben Sie, was Sie selbst denken.« Das kommt dem sehr entgegen, wie ich meine bisherigen Lehrbücher verstanden und geschrieben habe, aber ich musste mich offenbar noch von vielen Auseinandersetzungen mit traditionellen Diskussionen (über Gottesbeweise, altkirchliche Dogmen, theologische Unterscheidungen etc.) lösen, die zwar zu meinem »inneren Haushalt« gehören, aber im Leben der allermeisten Menschen heute nicht einmal dem Namen nach bekannt sind und auch keine Rolle spielen. Mich davon zu lösen, fiel mir schwer, weil es mir etwas undankbar denen gegenüber vorkam, die sich über Jahrhunderte hin ernsthaft und scharfsinnig mit grundlegenden Glaubensfragen beschäftigt und respektable Ergebnisse erzielt hatten. Ich vermerke das hier als eine Art Dankes-Ersatz, weil ich mich schließlich davon überzeugen ließ, dass der »Umweg« über die Riesen, auf deren Schultern wir sitzen, für viele Menschen keine Hinführung zur Sache ist, sondern wie eine überflüssige Komplizierung wirkt.

Zugleich habe ich erneut gemerkt, wie heilsam der Zwang ist, so einfach und direkt wie möglich zur Sache zu reden. Ich danke deshalb den vielen Menschen, die in den zurückliegenden Monaten einen Teil ihrer Lebenszeit verwendet (manches Mal sogar geopfert) haben, um mir beim Verfassen dieses Buches durch ihre Rückmeldungen, Fragen und Anregungen zu helfen, ein verständlicheres und doch nicht inhaltsärmeres Buch zu schreiben, als mir das ohne ihre Hilfe möglich gewesen wäre. In mehreren Fällen war es so, dass Familienangehörige der genannten Personen ebenfalls Teile des Manuskripts gelesen und kommentiert haben. Auch davon habe ich profitiert. Sie seien darum in den Dank mit einbezogen.

Namentlich möchte ich ganz herzlich meiner Frau danken, der ich jeweils als der ersten Zuhörerin die neu entstehenden Texte vorlesen durfte und aus deren spontanen und nachdenklichen Reaktionen ich eine Vielzahl an Verbesserungsvorschlägen erhalten habe. Ihr ist darum dieses Buch auch gewidmet.

Sodann möchte ich (in alphabetischer Reihenfolge) herzlich danken Dr. Melanie Beiner, Dr. Rüdiger Gebhardt, Dr. Harald Goertz, Gertraud Kramer, Christoph Pfundstein, Carlos und Selma Steenbuck, die sich alle mit großer Aufmerksamkeit und Hingabe (teilweise mehrfach) in die neu entstehenden Texte vertieft und mir außerordentlich wertvolle Hinweise zu ihrer Bearbeitung gegeben haben. Durch sie hat das Buch erheblich gewonnen. Rüdiger Gebhardt und Gertraud Kramer waren mir darüber hinaus beim Korrekturlesen behilflich und haben mich so durch ihre diesbezüglichen Fähigkeiten spürbar entlastet.

Danken möchte ich auch den Herausgebern der Reihe »Theologie für die Gemeinde«, die geduldig, beharrlich, aber auch entgegenkommend dazu beigetragen haben, dass mir die von ihnen anvisierte Leserschaft nicht aus dem Blick geriet. Dazu hat auch – und nicht zuletzt – Frau Dr. Weidhas als Verlagsleiterin beigetragen, die in dem sensiblen Kraftfeld zwischen Herausgebern, Autor und Verlag immer wieder für die nötige Balance sorgte und so zum Finden von Lösungen beitrug, die von allen Beteiligten akzeptiert werden konnten.

Über den Aufbau des Buches gebe ich in Kap. 2.4 Auskunft. Die acht Kapitel haben alle denselben Aufbau: Sie werden eröffnet durch eine kleine (von mir erlebte) Szene oder einen kurzen Text, durch die die praktische Bedeutung des jeweils behandelten Themas veranschaulicht werden soll. Es folgt dann als ausführlichster Teil die inhaltliche Entfaltung und Darstellung des jeweiligen Themas. Sie wird abgeschlossen durch eine kurze Zusammenfassung des Kapitels, die nur wenige Zeilen umfasst. Der sich daran anschließende Anhang enthält ergänzende Texte zum Thema aus der Bibel, aus der Dogmen- und Theologiegeschichte sowie aus der Philosophie und Literatur.* Die Worte »siehe unten« verweisen im Buch auf diese Anhänge.

Eine Vorform dieses Buches erschien in wesentlich kürzerer Fassung unter dem Titel »Gottesverständnis« in dem von Petra Freudenberger-Lötz und Ulrich Riegel herausgegebenen Jahrbuch für Kindertheologie (Sonderband), Stuttgart 2011, S. 21–61. Ich danke rückblickend für diese Möglichkeit einer Vorübung.

Eine Frühform des Buchmanuskripts trug den Arbeitstitel: »Sich auf Gott einlassen«. Sie hatte vor allem Menschen im Blick, die der christlichen Botschaft fremd, skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen. Ich habe mich aber schließlich davon überzeugen lassen, dass dies nicht die Adressaten für eine Buchreihe sind, die »Theologie für die Gemeinde« enthalten und fördern soll. Nach wie vor bin ich freilich davon überzeugt, dass es eine lohnende und wichtige Aufgabe darstellt, sich auch an die inzwischen große Zahl der »Fernstehenden« zu wenden, bei denen das Interesse am christlichen Glauben und an der Frage nach Gott nicht schon vorausgesetzt werden kann. Wenn das auch im einen oder anderen Fall durch dieses Buch gelingen sollte, wäre mir das eine große Freude.

Unser Land, dem der Glaube an Gott als Orientierungsmöglichkeit und Kraftquelle immer mehr abhanden kommt, braucht beides dringend: das Vertrauen auf Gott und das Verstehen des Glaubens, und eines kommt ohne das andere nicht aus.

Ostfildern, den 23. September 2012

Wilfried Härle

Vorwort zur überarbeiteten 2. Auflage

Auf neu erschienene Bücher erhält man normalerweise dreierlei Echo. Das erste sind die Verkaufsziffern, und da bedeutet es für ein Fachbuch wie dieses ein gutes Zeichen, wenn nach eineinhalb Jahren eine Neuauflage erforderlich wird. Das zweite Echo sind die Buchbesprechungen in Zeitungen und Zeitschriften, und die waren in diesem Fall bisher ausnahmslos positiv. Das dritte Echo sind schriftliche oder mündliche Stellungnahmen von Leserinnen oder Lesern, die das Buch durchgearbeitet haben und daraufhin dem Autor Verbesserungsvoschläge machen. So hat Pastorin Iris Habersack von der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Hämelerwald in Lehrte sich die Mühe gemacht und mir die Freude bereitet, auf fünf E-Mail-Seiten Lobendes und Kritisches zu diesem Buch detailliert zusammenzustellen und mir konkrete Verbesserungsvorschläge zu machen. Maßstab war dabei die größtmögliche Verständlichkeit. Da dies ein Maßstab ist, den ich selbst regelmäßig anlege, habe ich diese Anregungen sehr gerne und dankbar angenommen. Auch künftig freue ich mich über solche Hinweise.

Darüber hinaus fällt einem Autor bei der wiederholten Lektüre selbst das eine oder andere auf, was man anschaulicher, klarer, unmissverständlicher sagen könnte, und das habe ich dann auch in diese zweite Auflage – so weit wie möglich – eingearbeitet. Der Vorbehalt, der in den Worten »so weit wie möglich« zum Ausdruck kommt, bezieht sich vor allem auf das Wort »wissen« im Untertitel dieses Buches. Bei der erneuten Durcharbeitung ist mir insgesamt, besonders aber anhand von Kapitel 2, bewusst geworden, dass es nicht so sehr um das vermehrte Wissen als vielmehr um das bessere Verstehen des Glaubens an Gott geht. Aber in den Titel eines Buches wollte ich nicht eingreifen, um keine Verwirrung zu stiften. Deshalb belasse ich es bei der ursprünglichen Wortwahl, merke aber ausdrücklich an, dass ich den Untertitel in diesem Sinne verstehe und verstanden wissen möchte.

Im Vorwort zur 1. Auflage habe ich erwähnt, dass ich eigentlich ein Buch über den Gottesglauben schreiben wollte, das sich an Menschen richtet, »die der christlichen Botschaft fremd, skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen«, dass ich mich aber schließlich davon überzeugen ließ, »dass dies nicht die Adressaten für eine Buchreihe sind, die ›Theologie für die Gemeinde‹ enthalten und fördern soll«. Mehrere Menschen haben mich nach ihrer Lektüre auf diese Sätze hin angesprochen mit der Bitte, meine ursprüngliche Absicht doch nicht aufzugeben. Neben der Theologie für die Gemeinde sei auch mein ursprüngliches Vorhaben weiterhin wichtig und durch das vorliegende Buch nicht überflüssig geworden. Das will ich mir gesagt sein lassen.

Ostfildern, den 2. Juni 2014

Wilfried Härle

* Bei allen Texten in diesem Band, die mit * gekennzeichnet sind, wurde die Sprache zum Zwecke besserer Verständlichkeit leicht modernisiert. Einfügungen in Texten in runden ( ) und spitzen < > Klammern stammen von den Verfassern der Texte, Einfügungen in eckigen Klammern [ ] stammen vom Autor dieses Buches.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Vorwort

Vorwort zur überarbeiteten 2. Auflage

1      Wie kommen Menschen dazu, nach Gott zu fragen und von Gott zu reden?

1.1   Über die Anfänge des Suchens nach Gott in der Menschheitsgeschichte

1.2   Wie kommen Menschen in ihrer Lebensgeschichte mit dem Thema »Gott« in Berührung?

1.3   Welche Gründe gibt es für die Frage nach Gott und das Reden von Gott?

1.4   Wie können Menschen Gott erkennen?

1.5   Die Bedeutung des Glaubens für die Erkenntnis Gottes

1.6   Welche Sprache ist dem Reden von Gott angemessen?

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

2      Was meinen wir, wenn wir das Wort »Gott« gebrauchen?

2.1   Lässt sich das Wort »Gott« überhaupt inhaltlich bestimmen?

2.2   Ist »Gott« ein Begriff oder ein Name?

2.3   Bedeutungen des Begriffs »Gott«

2.4   Vom Gottesbegriff zum christlichen Gottesverständnis

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

3      In Jesus Christus Gott begegnen

3.1   Jesu Botschaft von der nahekommenden Gottesherrschaft

3.2   Der bis zum Kreuzestod Erniedrigte und zu Gott Erhöhte

3.3   Jesus Christus als der Sohn Gottes

3.4   Andere Zugänge zum Glauben an Gott

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

4      Durch den Heiligen Geist Gott erkennen

4.1   Die Bedeutung der Lehre vom Heiligen Geist

4.2   Die Bedeutung des Redens vom »Geist«

4.3   Warum ist vom Heiligen Geist die Rede?

4.4   Der Heilige Geist als Gabe und als Geber

4.5   Was bewirkt der Heilige Geist?

4.6   Die Gaben des Heiligen Geistes

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

5      An Gott als den allmächtigen und gütigen Vater glauben

5.1   Was bedeutet die Rede von »Gott dem Vater«?

5.2   Gott der Vater als der Schöpfer

5.3   Die Eigenschaften Gottes des Vaters

5.4   Ist das Leiden nicht »der Fels des Atheismus«?

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

6      Den dreieinigen Gott denken und bekennen

6.1   Die Bedeutung und Problematik der Trinitätslehre

6.2   Ein biblischer und dogmengeschichtlicher Zugang zur Trinitätslehre

6.3   Die Lehre von der ökonomischen und immanenten Trinität Gottes

6.4   Ist die Trinitätslehre zu vermitteln?

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

7      Gottes Wirken erleben

7.1   Von Gottes Wirken reden

7.2   Gottes erlösendes und erhaltendes Wirken

7.3   Gott wirkt nicht wie die Heinzelmännchen

7.4   Wunder und Naturgesetze

7.5   Vom Sinn des Betens

Anhang: Die Lasten des Lebens besser tragen können

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

8      Was fehlt(e) unserem Leben ohne den Glauben an Gott?

8.1   Die Mehrdeutigkeit der Frage

8.2   Die Bedeutung des Glaubens an Gott für das Leben

8.3   Die Bedeutung des Gottesverlustes

8.4   Noch einmal: Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott

Zusammenfassung

Ergänzende Texte

Abkürzungsverzeichnis

Hinweise auf neue Literatur

Register

A Bibelstellen

B Personen

C Begriffe

Editorial zur Reihe

1  Wie kommen Menschen dazu, nach Gott zu fragen und von Gott zu reden?

Ein fünf Jahre altes Mädchen, das mit seinem Vater regelmäßig sonntags in die Kirche ging, fragte eines Tages seine Mutter: »Mama, warum gehst du eigentlich nicht mit in die Kirche?« Die Mutter antwortete: »Weil ich nicht an Gott glaube«. Darauf fragt das Kind ganz entgeistert: »Du weißt nicht, dass es Gott gibt?«

Die Mutter hatte das früher auch einmal »gewusst«. Sie war sogar Kindergottesdienstmitarbeiterin gewesen. Aber der Glaube an Gott war ihr abhanden gekommen. Für das Kind war er dagegen eine Selbstverständlichkeit.

Wie wird diese Geschichte weitergehen? Wird das Kind eines Tages auch ehrlicherweise sagen müssen: »Ich glaube nicht (mehr) an Gott«? Wird die Mutter eines Tages ehrlicherweise sagen können: »Ich glaube (wieder) an Gott«? Wie kommen Menschen zum Glauben an Gott? Oder sollte man lieber fragen: Wie kommt der Glaube an Gott zu Menschen?

Die Frage, wie Menschen dazu kommen, nach Gott zu fragen, von Gott zu reden und an Gott zu glauben, ist für dieses ganze Buch grundlegend wichtig, weil sie darauf hinweist, dass der Glaube an Gott sich nicht von selbst versteht. Gott unterscheidet sich von anderen »Gegenständen« unseres Erkennens dadurch, dass er für unsere sinnliche Wahrnehmung und für unser Denken nicht direkt zugänglich ist. Wir können Gott nicht zeigen oder beweisen – uns nicht und anderen nicht. Deswegen ist das Dasein Gottes auch umstritten. Wer nicht über das hinaus Aussagen machen möchte, was für unser Erkennen verfügbar ist, wird dazu neigen, entweder (mit dem Atheismus) die Wirklichkeit Gottes zu bestreiten oder (mit dem Agnostizismus) zu behaupten, dass wir von Gott nichts wissen können. Wer jedoch nach Gott sucht, an Gott glaubt und darüber auch mit Nichtglaubenden ins Gespräch kommen möchte, tut gut daran, sich selbst, aber auch anderen darüber Rechenschaft zu geben, wie man zum Glauben an Gott und zur Erkenntnis Gottes gekommen ist. Warum Gott? Das hat immer mit dem eigenen Denken, Leben und Erleben zu tun.

Will man verstehen, wie Menschen dazu kommen, nach Gott zu fragen und von Gott zu reden, so kann man seine Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Aspekte richten:

– auf die Anfänge des Suchens nach Gott in der Menschheitsgeschichte (1.1),

– auf die Anlässe, durch die Menschen in ihrer Lebensgeschichte mit dem Thema »Gott« in Berührung kommen (1.2),

– auf die Gründe dafür, dass Menschen nach Gott fragen und von Gott reden (1.3),

– auf die verschiedenen Weisen, wie Menschen zur Erkenntnis Gottes gelangen (1.4).

Alle diese Fragen sind sinnvoll und wichtig. Sie sollen deshalb im Folgenden behandelt werden. Und daraus werden sich schließlich auch noch zwei weitere Fragen ergeben:

– welche Bedeutung bei alledem der Glaube hat (1.5) und

– welche Sprache dem Reden von Gott angemessen ist (1.6).

1.1  Über die Anfänge des Suchens nach Gott in der Menschheitsgeschichte

Die Frage nach den Anfängen des Gottesglaubens in der Menschheitsgeschichte lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten, weil sie sich auf etwas bezieht, was sich weitgehend der Erforschung entzieht. Wir haben dafür keine geeigneten (zum Beispiel schriftlichen) Quellen, sondern sind auf Spuren und Vermutungen angewiesen. Um so nahe wie möglich an die frühesten Wurzeln des Glaubens an Gott zu gelangen, kann man sich nicht auf Phänomene beschränken, in deren Zusammenhang ein Wort für Gott vorkommt, sondern muss auch andere religiöse Phänomene, insbesondere Rituale, Symbole und andere Zeichen, in die Beobachtungen einbeziehen.

In der menschlichen Entwicklungsgeschichte gab es zahlreiche Einschnitte. Sie bezogen sich zum Beispiel auf die Lebensräume und Werkzeuge, auf Ernährungs- und Jagdgewohnheiten, auf die Beherrschung und Nutzung des Feuers sowie auf die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache und Kultur. Einen besonders auffälligen und charakteristischen Einschnitt bildet das Aufkommen von Gebräuchen und Riten, die dafür sprechen, dass Menschen anfingen, über die Grenzen des irdischen Lebens hinauszudenken. Das war allem Anschein nach erstmals beim Neandertaler der Fall:

»Die Neandertaler bestatteten ihre Toten und gaben ihnen Grabbeigaben mit. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Menschheitsentwicklung nahm man sich der Verstorbenen an … Möglicherweise deuten die Bestattungen auch den Beginn religiösen Verhaltens an, und es ist nicht völlig auszuschließen, dass die Neandertaler an ein Leben nach dem Tode glaubten« (F. Schrenk, Die Frühzeit des Menschen, München 20034, S. 113f.).

Damit entstand für die weitere Menschheitsentwicklung ein Vermächtnis von lang anhaltender Bedeutung, das auch nach dem Aussterben der Neandertaler weitergetragen wurde. So sind für den Menschen der zurückliegenden ca. 50 000 Jahre rituelle Praktiken mit religiöser Bedeutung ein charakteristisches Merkmal geworden. Dadurch unterscheidet sich dieser sogenannte »moderne Mensch« von früheren menschlichen Entwicklungsstufen und von anderen Entwicklungslinien in der Evolution des Lebendigen, da religiöse Rituale – soweit wir wissen – im Tierreich nirgends vorkommen. Religion zeigt sich in der Evolution als etwas charakteristisch Menschliches.

Auch wenn im Blick auf solche frühen Bestattungsrituale nicht eindeutig gesagt werden kann, was über den Tod hinaus erwartet oder erhofft wurde, ist es doch von Bedeutung, dass der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte den Zugang zur Religion anscheinend dadurch fand, dass er über das Lebensende hinaus dachte und fragte. Diese Sorge um das Schicksal der Toten verdient Beachtung. Die Körper der Verstorbenen verwesten doch sichtbar, lösten sich also allmählich in ihre organischen Bestandteile auf. Warum gab man ihnen bei ihrer Bestattung trotzdem Nahrungsmittel, Schminke und Amulette mit? Glaubte man an ein Weiterleben nach dem Tod? Die in solchen Grabbeigaben zum Ausdruck kommende Vorsorge für die Existenz nach dem Tod blieb von da an ein fester Bestandteil menschlicher Kultur und Religion. Sie weckt und nährt die Vermutung, dass der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung und darum eine Bedeutung hat, die über seinen Tod hinausreicht. Damit ist zumindest der Boden bereitet, auf dem sich Vorstellungen von Geistern und Gottheiten entwickeln konnten, die als Richter, Begleiter, Retter oder Bundesgenossen im Jenseits gedacht werden konnten. Die menschliche Sehnsucht nach einer über dieses irdische Leben hinausreichenden Erfüllung fand offenbar einen ihrer ersten Haftpunkte in einer Hoffnung, die über den Tod hinausreicht. Das religiöse Fragen und Suchen verdankt sich also von Anfang an einem menschlichen Wissensdurst und dem Gefühl einer besonderen menschlichen Bestimmung. Neben dem technischen Wissensdrang, der die Welt immer besser zu erfassen, zu erklären und zu beherrschen versucht, gibt es im Menschen ein Fragen, Suchen und Verstehen-Wollen, das sich auf sein eigenes Dasein als Ganzes bezieht. Der Mensch gibt sich nicht mit dem zufrieden, was vor Augen liegt, sondern will verstehen, wohin das menschliche Leben ausgerichtet ist und worauf es letztlich hinausläuft.

1.2  Wie kommen Menschen in ihrer Lebensgeschichte mit dem Thema »Gott« in Berührung?

Über viele Jahrhunderte hinweg kamen Kinder ganz selbstverständlich mit dem Thema »Gott« in Berührung: durch das familiäre und kirchliche Leben, durch Lieder, Geschichten, Tisch- und Abendgebete sowie durch den Besuch von Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempeln etc. und Gottesdiensten. Das ist auch heutzutage noch weithin (und außerhalb von Europa sogar in zunehmendem Maße) der Fall, aber es ist nicht mehr überall selbstverständlich. Und Eltern, für die der Glaube an Gott selbst keine Rolle spielt, können ihren Kindern in dieser Hinsicht auch kaum etwas vermitteln. Damit entschwindet das Thema »Gott« aus dem Leben vieler Menschen und verliert für die Gesellschaft an Bedeutung.

Die Frage nach Gott kann im Leben eines Kindes freilich auch gewissermaßen von selbst auftauchen, etwa in Form der Frage, wo die verstorbenen Großeltern jetzt seien. Und damit meldet sich dann auch schon früh im Leben eines Kindes ein Denken über den Tod hinaus an. Aber im Zentrum des kindlichen Fragens steht doch eher das Wissenwollen, »wer das gemacht hat«: die Wolken, den Sand, das Meer, den Himmel, die Farben, die Luft, die Welt bzw., »woher das alles kommt«. Und im Zusammenhang mit der Beantwortung solcher Fragen, die kein Ende nehmen wollen, lernen Kinder dann auch oft das Wort »Gott« kennen, wenn es ihnen nicht schon aus familiärer oder kirchlicher Praxis bekannt ist. Dabei kann das Reden von Gott ein aufrichtiges Bekenntnis zum Schöpfer der Welt sein, vielleicht ist es aber gelegentlich auch nur Ausdruck der Verlegenheit mangels einer anderen, besseren Antwort.

Es scheint so, als führte die Frage nach dem »Woher?« und die immer neue Anwendung des Prinzips von Ursache und Wirkung beim Nachdenken über die Welt fast von selbst zum Gottesgedanken. Dabei wird Gott dann verstanden als die erste Ursache für alles, was es als Welt und in der Welt gibt, oder als »Baumeister«, der die Welt so weise und gut geordnet hat, wie sie aus reinem Zufall wohl nie hätte entstehen und werden können.

Dieser Gedanke entspricht dem Empfinden und Denken vieler Menschen im Blick auf die Frage nach Gott. Er zeigt, wie das Fragen und Suchen nach Gott aus der aufmerksamen Betrachtung der Welt entstehen und zum Glauben an Gott führen kann, ohne dass dies ein zwingender Beweis für Gott als Schöpfer der Welt wäre. Zwischen der naturwissenschaftlichen Erforschung der Welt und dem Glauben an Gott als Schöpfer kann jedoch eine Wechselwirkung bestehen, die sich dann zeigt, wenn der Glaube an einen Schöpfergott durch das Studium der Natur unterstützt wird und wenn dieser Glaube zugleich das genaue Studium der Natur anregt. Am Beginn der Neuzeit war der Schöpfungsglaube ein starkes Motiv für die immer genauere Erforschung der Natur und hat die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften entscheidend gefördert.

Auch in der individuellen Entwicklungsgeschichte des Menschen und in der Kulturgeschichte der Menschheit drängt also das Bestreben nach einem besseren, umfassenderen Verstehen der Welt und des Lebens, zum religiösen Nachdenken, Fragen und Suchen hin. Dabei empfinden in unserer Zeit freilich viele Menschen die naturwissenschaftlichen Hinweise auf »den Urknall« oder auf »die Evolution« als hinreichende und befriedigende Antworten, die sie nicht zum Weiterfragen veranlassen und die darum das diesbezügliche religiöse Interesse nicht wecken, sondern eher zum Verschwinden bringen.

Aber das Fragen nach Gott hat nicht nur eine Bedeutung für das menschliche Verstehen (des Lebens und der Welt), sondern auch eine, die sich auf die normative Orientierung für das menschliche Handeln bzw. Verhalten bezieht. Gott wird dabei häufig verstanden als der Gesetzgeber, der durch Werte und Normen, Gebote und Verbote der Welt eine verbindliche Ordnung gibt. Wenn diese Normen jedoch nicht im Zusammenhang mit den Grundfragen nach dem Woher und Wohin menschlichen Lebens gesehen, sondern davon isoliert werden, können sie wie willkürliche Gehorsamsforderungen seitens einer absolut überlegenen Macht wirken, die auf Befolgung und Übertretung mit Belohnung und Bestrafung reagiert. Aber religiöse Ge- und Verbote wollen als Hilfestellungen und Wegweiser für das Gelingen des Lebens verstanden werden. Sie sind – biblisch gesprochen – »zum Leben gegeben« (Röm 7,10). Damit spielen sie nicht nur eine wichtige Rolle, um vor dem Urteil Gottes bestehen zu können, sondern dienen zugleich dem möglichst gedeihlichen Zusammenleben der Menschen. Solche Normen beziehen sich vor allem auf die Achtung der Würde jedes Menschen, auf das soziale Leben, auf den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, auf die Respektierung und auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums sowie auf die Einhaltung der Rechts- und Friedensordnung. Sie können sich aber auch auf den Umgang mit der außermenschlichen Natur beziehen. Dabei umfassen sie oft auch Vorschriften über Aussaat und Ernte, über Tierhaltung und den Verzehr von Pflanzen und Tieren. Schließlich beziehen sich solche Normen auch auf das religiöse Leben, sei es im Sinne allgemeiner Vorschriften für die Gottesbeziehung oder im Sinne spezieller Vorschriften für die Gestaltung kultischer Feiern.

1.3  Welche Gründe gibt es für die Frage nach Gott und das Reden von Gott?

Gründe für die Frage nach Gott und für das Reden von Gott tauchten bereits in den beiden vorangegangenen Abschnitten auf. Sie lassen sich zusammenfassen in der Formulierung: Menschen versuchen, ihr Leben und ihre Welt im Ganzen zu verstehen, zu ordnen und zu gestalten, und sie werden dabei veranlasst, in jede Richtung über das hinaus zu fragen, was ihrem Wahrnehmen und Denken unmittelbar zugänglich und insofern verfügbar ist. Das lässt sich verstehen als Ausdruck einer für das Menschsein charakteristischen Sehnsucht nach Ganzheit und Erfüllung, ohne die dem Menschen Entscheidendes fehlen oder verloren gehen würde.

Diese Sehnsucht stößt im Tod an eine unüberwindbar erscheinende Grenze. Sie verschwindet dadurch jedoch nicht, sondern verwandelt sich in eine tastende Hoffnung über den Tod hinaus. Andere Gründe für die Frage nach Gott und das Reden von Gott ergeben sich daraus, dass Menschen Erfahrungen machen, durch die sie – im Positiven oder im Negativen – tief bewegt oder sogar erschüttert werden und die förmlich nach einer Möglichkeit der Deutung und Verarbeitung schreien. Solche Erfahrungen können zum Anlass werden, die Gottesbeziehung bewusster zu gestalten und zu vertiefen oder – sie grundlegend zu verändern, wenn nicht sogar zu verabschieden. So ist für viele Menschen die Geburt eines eigenen Kindes oder der Tod eines nahen Menschen ein Grund dafür, grundsätzlich über ihre Weltsicht nachzudenken. Ebenso sind unerwartete Erfahrungen großen Glücks und Gelingens, aber auch unvorstellbare Einbrüche schweren Unglücks oder Scheiterns Gründe dafür, nach einer umfassenden Deutung der Wirklichkeit zu fragen, in der solche Erfahrungen und Erschütterungen ihren Ort finden können. Das Gemeinsame all dieser Gründe kann man wohl darin sehen, dass in solchen Krisen bisherige, vertraute und eingeübte Verstehens- und Deutungsmuster durch neue Erfahrungen in Frage gestellt werden. Das kann dann nach einem veränderten Verständnis der Wirklichkeit verlangen, durch das die neuen, irritierenden Erfahrungen verarbeitet werden können.

Dass es solche Erfahrungen im menschlichen Leben immer wieder gibt oder jedenfalls geben kann, würden vermutlich auch die Menschen nicht bestreiten, die keinen Zugang zur Frage nach Gott oder zum Glauben an Gott haben. Aber von ihnen könnten gegen die bisherigen Überlegungen zwei Einwände erhoben werden. Sie könnten erstens fragen, wieso denn zur angemessenen Deutung der Lebenswirklichkeit oder zur Neuorientierung des Wirklichkeitsverständnisses eine Fragestellung nötig sei, die sich über das hinaus richtet, was unserer Wahrnehmung und unserem Denken direkt zugänglich und verfügbar ist. Und sie könnten zweitens hinzufügen, was denn ein solches Fragen an zusätzlicher Erkenntnis erbringen könne, wenn auf diesem Weg allenfalls ein »Glaube« gewonnen werden könne, der sich – im Unterschied zum Wissen – durch Unsicherheit auszeichnet. Ist es demgegenüber nicht ehrlicher und nüchterner, auf alle »jenseitigen Spekulationen« zu verzichten und sich mit der innerweltlichen, aber durch Wissen gestützten und insofern »sicheren« Erkenntnis zufriedenzugeben? Das sind ernst zu nehmende Fragen, die übrigens auch den meisten Menschen, die an Gott glauben, nicht fremd sein dürften.

Warum sollte also die Frage über das hinaus, was uns unmittelbar zugänglich ist, für die Gewinnung eines umfassenden Lebens- und Wirklichkeitsverständnisses hilfreich oder gar notwendig sein? Die Antwort darauf ist schon im Wort »umfassend« enthalten. Denn für alles, was wir umfassend, also im Ganzen und als Ganzes erkennen oder verstehen wollen, gilt, dass wir – zumindest in Gedanken – darüber hinausgehen müssen, um es überhaupt ganz wahrnehmen und erfassen zu können. Das gilt schon in dem ganz schlichten Sinn, dass die Grenzen von etwas, das wir erkennen wollen, sich nur bestimmen lassen, wenn man (zumindest in Gedanken) darüber hinausgeht, um dessen Anfang und Ende, das, was zu ihm gehört und was nicht zu ihm gehört, das, was es ist und was es nicht ist, erfassen zu können. Darum gilt auch vom Menschen: Wer den Menschen umfassend, also im Ganzen wahrnehmen und erkennen will, muss mehr als den Menschen in den Blick nehmen, muss über den Menschen hinaus denken, muss nach einem weiteren Horizont zumindest suchen. Und in dem Maße, in dem sich das Erkenntnisinteresse nicht nur auf das Verständnis des Menschen, sondern auf das Verständnis der Welt im Ganzen richtet, reichen innerweltliche Zusammenhänge, wie zum Beispiel »die Gesellschaft« oder »die Geschichte« oder »die Evolution« oder »die Natur«, für das Verstehen nicht aus. Denn alle diese innerweltlichen Zusammenhänge sind ja selbst Teile der Weltwirklichkeit, die wir zu verstehen versuchen.

Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, inwiefern eine »Erkenntnis«, die den Charakter einer (bloßen) Glaubensgewissheit hat, einen Gewinn bringen könne, der über das für uns verfügbare Wissen hinausführt. Ja, man könnte die Frage sogar zu dem Einwand verschärfen, dass das bescheidene Eingeständnis des Nichtwissens über den Ursprung, die Verfassung und den Sinn der Wirklichkeit im Ganzen sogar den Vorzug verdiene gegenüber einer religiösen Deutung, weil es nicht in der Gefahr stehe, das eigene Nichtwissen durch angebliches Wissen zu verleugnen und zu überspielen.

Nun geht diese zweite Frage von einem Gegensatz aus, auf den man immer wieder stößt, der sich aber nicht nur aus theologischer Sicht, sondern auch durch die philosophische Theorie des Wissens und der Wissenschaft als unzutreffend und irreführend erweisen lässt: den Gegensatz zwischen Wissen und Glauben. Dass es sich dabei um einen bloß scheinbaren Gegensatz handelt, wird allerdings erst dann sichtbar, wenn man gründlich und kritisch nach dem fragt, was wir wissen (können) und wodurch wir es wissen (können). Wolfgang Stegmüller ist dieser Frage nach dem, was wir nachweisbar wissen können, in seinem Werk »Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft« (19692) nachgegangen. Das Ergebnis, zu dem er im Durchgang durch die empirischen, also die auf Erfahrung gestützten Wissenschaften sowie durch Mathematik und Logik gekommen ist, hat er (unter Anspielung auf Kant) in folgender Aussage zusammengefasst:

»Man muss nicht das Wissen beseitigen, um dem Glauben Platz zu machen. Vielmehr muss man bereits etwas glauben, um überhaupt von Wissen und Wissenschaft reden zu können« (a.a.O. S.33).

Wie kommt ein Wissenschaftstheoretiker von Format zu einer solchen überraschenden Aussage? Die Begründung hierfür ist relativ einfach: Jeder Beweis, den wir für irgendeine These oder Theorie führen (wollen), basiert zumindest auf logischen Regeln bzw. Gesetzen, zumeist aber auch auf empirischen Aussagen, die durch sinnliche Wahrnehmung gewonnen werden. Nun wissen wir aber aus eigener Erfahrung, dass wir uns sowohl hinsichtlich logischer Gesetze, die wir für gültig halten, als auch in den sinnlichen Wahrnehmungen, die wir für zuverlässig halten, irren können. Zwar können wir solche Irrtümer gelegentlich durch erneutes Nachdenken oder durch genauere Beobachtung entdecken und überwinden, aber es gibt keine Möglichkeit, solche Irrtümer ganz auszuschließen.

Dabei gibt es zweifellos unterschiedliche Formen und Grade von Plausibilität, die auch erklären, warum manche Aussagen ungeteilte Zustimmung finden, während andere nur von wenigen Menschen akzeptiert werden. Aber es ist trügerisch, wenn man aus breiter oder allgemeiner Zustimmung folgert, dass wir es dabei mit unfehlbarem Wissen zu tun haben. Viele große wissenschaftliche Entdeckungen – zum Beispiel über die Form der Erde und über die Beschaffenheit des Weltalls – haben sich bekanntlich erst allmählich gegen die allgemeine Überzeugung durchsetzen müssen. Auch bei den Einsichten, die uns absolut gewiss sind, haben wir keinen Beweis dafür, dass sie tatsächlich frei von Irrtum sind. Zwar ist es vernünftig und empfehlenswert, sich in der Regel auf das zu verlassen, was uns gewiss geworden ist. Aber das ist immer auch ein Akt des Glaubens, das heißt: ein Akt des Sich-Verlassens auf etwas, worüber wir nicht durch Beweise, also mit Sicherheit verfügen.

Daraus ist nicht abzuleiten, dass wir Menschen uns in der Regel irren, auch nicht, dass wir nichts wissen könnten, sondern »nur«, dass wir das, was wir wissen oder zu wissen meinen, nicht letztgültig beweisen können, selbst wenn wir uns dessen ganz gewiss sind. Und das gilt für alle menschlichen Erkenntnisse, gleichgültig, ob sie sich auf logische Regeln, auf naturwissenschaftliche Theorien, auf empirische Beschreibungen, auf metaphysische Annahmen oder auf religiöse Aussagen beziehen. Konsequenterweise gilt diese Unbeweisbarkeit sogar für diese These von der Unbeweisbarkeit selbst: Auch sie lässt sich nicht beweisen, aber man kann ihrer aufgrund überzeugender Argumente gewiss sein und sollte sie dann auch akzeptieren.

Problematisch ist nicht der kritische Hinweis darauf, dass Glaubensaussagen irrig sein können und insofern unsicher sind. Problematisch ist aber die Annahme, das gelte nur für Glaubensaussagen und nicht auch für wissenschaftliche Aussagen, die sich auf Wahrnehmung und Vernunft stützen. Glaube ist kein Gegensatz zu Wissen, sondern Glaube ist eine Voraussetzung für alles Wissen. Der berühmte Schriftsteller und Zeichner Wilhelm Busch hat als eine Art Lebensmotto den Satz formuliert: »Nur was wir glauben, wissen wir gewiss« (siehe Hans Balzer, Nur was wir glauben, wissen wir gewiss, Berlin 19587, bes. S. 66). Damit macht er auf seine Weise bewusst, dass es kein Wissen ohne Glauben gibt.

1.4  Wie können Menschen Gott erkennen?

Auf die Frage, wie Menschen Gott erkennen können, enthalten die vorangehenden Abschnitte bereits mehrere Antworten. Bedenkt man sie aber etwas genauer, so zeigt sich, dass sie alle in gewisser Hinsicht noch unzureichend sind. Sie zeigen, durch welche Ereignisse, Erfahrungen oder Überlegungen Menschen veranlasst werden (können), nach Gott zu fragen, aber sie zeigen noch nicht, auf welche Weise Menschen Antworten erhalten, durch die sie Gotteserkenntnis gewinnen können. Darum soll es nun gehen.

Dabei müssen wir uns kurz (sozusagen im Vorgriff auf das folgende Kapitel) darüber verständigen, dass wir mit dem Wort »Gott« nicht einen Teil der Welt, auch nicht die Welt im Ganzen, sondern die Wirklichkeit, welche der Welt im Ganzen und in allen ihren Teilen überlegen ist, welche die Welt also grundsätzlich übersteigt und überragt, aber zugleich zur Welt in Beziehung steht. Und ohne diese Beziehung würde die Welt gar nicht existieren. Zwischen Gott und der Welt besteht ein grundlegender Unterschied. Das heißt: Gott und die Welt lassen sich nicht unter einen gemeinsamen Oberbegriff (zum Beispiel als »Seiendes«) erfassen und dann in zwei Arten unterscheiden, sondern »Gott« und »Welt« gehören unterschiedlichen Grundbegriffen (Kategorien) an. Und wenn wir es mit Gott zu tun bekommen, wird unser Dasein mit dem Heiligen konfrontiert, durch das auch die Grenzen, Brüche und Fragwürdigkeiten unserer Existenz ans Licht kommen.

Aber wie können endliche, begrenzte Menschen überhaupt den Gott erkennen, der nicht ein Teil der Welt, sondern ihr grundsätzlich überlegen ist? Erkenntnis setzt doch immer eine Begegnung oder Berührung und damit eine Form der Gemeinsamkeit zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten voraus. Wie soll man sich diese Gemeinsamkeit vorstellen, durch die Gott für Menschen erkennbar wird und ist?

Auf diese wichtige Frage geben die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen unterschiedliche Antworten. Die christliche Antwort soll letztlich durch dieses Buch im Ganzen gegeben werden, aber in knapper Form muss sie doch schon hier vorab angedeutet werden, weil davon alles Weitere mitbestimmt wird.

Menschen können Gott nur dadurch erkennen, dass Gott sich ihnen durch Zeichen zu erkennen gibt. Als solche Zeichen nennt die Bibel die Werke der Schöpfung, den Reichtum der Natur, geschichtliche Ereignisse, die Worte von Propheten und – vor allem – die Person Jesu Christi. Damit ist nicht gesagt, dass alle Menschen diese Werke, Reichtümer, Ereignisse, Worte oder diese Person als Zeichen erkennen, die auf Gott verweisen. Oft sehen Menschen nur das, was vor Augen ist, und eine Bedeutung, die auf Gott hinweist, bleibt ihnen verborgen. Damit dies alles für Menschen zu Zeichen werden kann, die auf Gott verweisen, muss in ihnen etwas geschehen: Es muss ihnen einleuchten, dass sie es in alledem mit Zeichen zu tun bekommen, die auf Gott verweisen. Entscheidend sind dafür eine Gewissheit, die man psychologisch oft auch als »Aha-Erlebnis« bezeichnet, sowie das vertrauensvolle Sich-Einlassen auf das, was einem eingeleuchtet hat. Und dieses Sich-Einlassen nennt man Glauben.

Das zuletzt Gesagte lässt sich in zwei theologischen Fachausdrücken zusammenfassen: Gotteserkenntnis ist Offenbarungserkenntnis, und Gotteserkenntnis ist Glaubenserkenntnis. Aber sind denn Offenbarung und Glaube tragfähige Grundlagen für menschliche Erkenntnis? Im vorigen Unterabschnitt zeigte sich, dass für alles menschliche Erkennen und Wissen gilt: Sie sind nur möglich aufgrund von Gewissheit, die sich einstellen muss, und aufgrund von Glauben, der sich auf das verlässt, was einem Menschen einleuchtet. Damit haben sie nicht den Charakter der Objektivität, Sicherheit und Beweisbarkeit, aber sie können trotzdem für Menschen »absolut gewiss« sein, so dass diese im äußersten Fall sogar bereit sind, dafür ihr Leben zu riskieren oder zu opfern. Mehr oder etwas anderes als eine solche Gewissheit und solches Vertrauen hat und braucht – unter irdischen Bedingungen – auch die Gotteserkenntnis nicht. Und deshalb wird sie immer wieder vom Zweifel, von Verunsicherung und von Anfechtung begleitet sein.

1.5  Die Bedeutung des Glaubens für die Erkenntnis Gottes

Es war Anselm von Canterbury, der seine gesamte theologische Arbeit unter die zweifache Formel stellte: »Ich glaube, um einzusehen« und: »Der Glaube, der nach Einsicht sucht« (Proslogion, Vorwort und Kap. 1). Der Sinn dieser beiden Formeln wird durch die sie begleitende und erläuternde Abgrenzung noch deutlicher: »Denn ich suche nicht einzusehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um einzusehen«. Damit kehrt Anselm nicht nur die übliche Reihenfolge von Einsicht und Glaube um, sondern vertritt auch die Überzeugung, dass der Glaube der einzig mögliche Weg zur Einsicht und zur Erkenntnis ist. Nur indem wir uns vertrauensvoll auf etwas einlassen, können wir erkennen, ob es vertrauenswürdig und wahr ist.

Das kann freilich nur von einem anspruchsvollen Glaubensbegriff gelten, wie er etwa im Judentum und im Christentum beheimatet ist. Hier heißt »Glaube« dasselbe wie »Vertrauen, von dem das menschliche Leben bestimmt wird« (siehe dazu W. Härle, Dogmatik, Berlin/Boston 20124, S. 55–71). Das unterscheidet sich grundsätzlich von der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes »glauben« im Sinne von »meinen«, »vermuten« oder »für wahrscheinlich halten«, jedenfalls aber »nicht wissen«. Während bloße Meinungen und Vermutungen durch Ungewissheit charakterisiert sind, ist der Glaube im biblischen Sinn des Wortes »eine feste Zuversicht auf das, was man hofft« (Hebr 11,1). In diesem Sinne kann das Wort »glauben« auch in der Beziehung zwischen Menschen verwendet werden, wenn man zum Beispiel der Unschuldsbeteuerung eines angeklagten Menschen vertraut (»Ich glaube dir!«), oder wenn Eltern in ihre Kinder Vertrauen setzen (»Wir glauben an euch«).

Wie kann und soll man sich aber den Zusammenhang zwischen diesem vertrauensvollen »Glauben« (im starken Sinn des Wortes) und der Einsicht bzw. Erkenntnis vorstellen?

»Wer nicht glaubt, macht keine Erfahrung, und wer keine Erfahrung macht, gewinnt keine Einsicht« (Anselm von Canterbury Epistula de incarnatione, in: Anselmi opera omnia, Bd. II, Hg. F. S. Schmitt, Stuttgart 19842, S. 9, eigene Übersetzung).

Der Weg vom Glauben zur Einsicht führt demzufolge über die Erfahrung. Dieser Weg beginnt mit dem (wagenden) Vertrauen auf etwas, das uns begegnet und zum Vertrauen einlädt, indem es vertrauenerweckend wirkt. Folgen wir dieser Einladung, so können wir Erfahrungen machen, die uns von der Zuverlässigkeit und Tragfähigkeit dessen, worauf wir vertrauen, überzeugen und uns so gewiss machen. Die Erfahrungen können uns freilich auch vom Gegenteil überzeugen und uns zeigen, dass wir getäuscht wurden oder uns getäuscht haben. Dass es so ist, leuchtet für die Beziehung zwischen Menschen sofort ein. Aber an welche Art von Erfahrung(en) ist zu denken, wenn es um Gott geht? Häufig begegnet man der Meinung, Menschen, die an Gott glauben, würden erwarten, dass sie eher von Übel verschont werden und mehr Erfolg im Leben hätten als andere, nicht an Gott glaubende Menschen. Andernfalls würde sich ja der Glaube »nicht lohnen«. Aber diese Vorstellung wird schon im Alten Testament anhand der Gestalt des leidenden Hiob gründlich in Frage gestellt und ebenso im Neuen Testament anhand der Gestalt Jesu, dessen Weg in den Kreuzestod führt und der seine Jünger zur Nachfolge im Leiden beruft. Welche Erfahrungen sind es dann? Die für den christlichen Glauben charakteristischen Erfahrungen, die zur Gotteserkenntnis führen können, sind vor allem folgende vier:

– Es ist erstens die Erfahrung und die daraus folgende Einsicht, was für unser menschliches Leben grundlegend wichtig (und was bloß beiläufig wichtig oder ganz unwichtig oder sogar schädlich und gefährlich) ist.

– Es ist zweitens die Erfahrung, dass wir uns das, was für unser menschliches Leben grundlegend wichtig ist, nicht selbst beschaffen können, sondern dass es uns zuteilwerden muss, ohne dass wir einen Anspruch darauf haben.

– Es ist drittens die Erfahrung, dass uns das, was für unser menschliches Leben grundlegend wichtig ist, oftmals in einer Weise und zu einem Zeitpunkt zuteilwird, wie und wann wir es nicht gedacht, gewünscht oder erwartet hätten.

– Es ist viertens die Erfahrung, dass all das, was uns zuteilwird, uns für die Aufgaben, die das menschliche Leben stellt, nicht abstumpfen lässt oder gleichgültig macht, sondern vielmehr zu einem Handeln aus Dankbarkeit motivieren kann.

Macht man sich bewusst, dass alle diese Erfahrungen Menschen zuteilwerden, dann wird verständlich, warum Menschen, die zum Glauben an Gott finden, dies oft so erleben, dass sie von Gott gesucht und gefunden wurden, dass damit aber das Suchen und Fragen nach Gott nicht ans Ende gekommen ist, sondern zu einer Bewegung wird, die ihr Leben weiterhin begleitet und ausfüllt.

1.6  Welche Sprache ist dem Reden von Gott angemessen?

Die hinter uns liegenden Abschnitte haben gezeigt, dass die Frage nach Gott und das Reden von Gott sich auf eine weltüberlegene Wirklichkeit richtet, die sich in unserer Welt durch Zeichen zu erkennen gibt und von deren Erkenntnis her wir unser Leben und unsere Welt umfassend verstehen und verantwortungsvoll gestalten können. Gott ist in alledem kein Erkenntnis-»Gegenstand« wie die Personen oder Dinge, die es in der Welt gibt. Aber wie können und sollen wir dann von ihm reden? Welche Sprache ist der Wirklichkeit Gottes angemessen? Die Sprache, die wir Menschen haben, ist durch und durch menschlich, weltlich, irdisch, und insofern ist sie nicht geeignet und passend für das Reden von Gott. Eine göttliche, himmlische Sprache steht uns aber nicht zur Verfügung. Und wer an dieser Stelle auf die Glossolalie, das heißt: auf die Zungenrede in Ekstase verweisen würde, die auch im Neuen Testament eine Rolle spielt (Apg 10,46 und 19,6 sowie 1 Kor 14, siehe dazu auch unten Kap. 4.6), müsste sich von Paulus sagen lassen, dass Zungenrede erst dann zu einem Erkenntnisgewinn und zum Aufbau der Gemeinde führt, wenn sie »mit deutlichen Worten« und »mit dem Verstand« ausgelegt (1 Kor 14,9–19) und so dem Verstehen zugänglich gemacht wird. Das Problem des angemessenen Redens von Gott wird durch Zungenrede jedenfalls nicht gelöst, sondern nur an eine andere Stelle verschoben.

Sollte man folglich akzeptieren, dass man von Gott gar nicht reden, sondern nur schweigen kann? Für Menschen, die zu der Überzeugung gekommen sind, dass »Gott« bloß ein menschlicher Gedanke und lediglich ein Wort unserer Sprache ist, wäre das vermutlich ebenso gut zu akzeptieren wie der Verzicht darauf, künftig von Feen, Einhörnern oder Marsmenschen zu sprechen. Es bliebe ja dadurch nichts Wirkliches unbenannt, sondern allenfalls ein Stück von »Fantasien«.

Für Menschen, die einen Zugang zum Glauben an Gott gefunden haben oder für die auch »nur« die Frage nach Gott und das Suchen nach Gott ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens geworden ist, ist ein solches Verstummen jedoch nicht möglich. Die neutestamentliche Antwort auf die Zumutung, von Gott oder von der Offenbarung Gottes zu schweigen, findet sich aus dem Mund von Petrus und Johannes in Apg 4,20:

»Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben«.

Überzeugend wird diese Antwort freilich erst dann, wenn man weiß, dass das, was von ihnen gehört und gesehen wurde, jedes menschliche Leben und darum auch ihr eigenes Leben betrifft. Darüber kann man doch nicht schweigen!

Aber gibt es dann für das Problem der angemessenen Sprache von Gott überhaupt eine Lösung? Unter zwei unterschiedlichen Metaphern-SymbolEine GemeinsamkeitUnterschied