Originalausgabe
© 2010 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin
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1. Auflage November 2010

INHALT

Einleitung

Mit Ohrenstäbchen um den Hundeschadel kämpfen: Ein bisschen wie Wochenendkommunismus

Das Phänomen Jugger

Am Anfang war ein postapokalyptischer Film

Interview mit David Webb Peoples, Regisseur und Drehbuchautor

Entwicklungsgeschichte des Jugger-Sports

Jugger – eine Jugendkultur?

Jugger und Live Action Role Playing (LARP): grundverschiedene Dinge

Struktur der deutschen Jugger

Ein ganz gewöhnliches Jugger-Team: Falco jugger [Laggerfalke]

Die Regeln: Wie man den Schädel pompft

Pompfen

Schiedsrichter

Unklare Situationen

Taktik

Übungen für Taktik und Übersicht

Die Spielerinnen und Spieler kommen zu Wort

Urgestein

Die Jugend

Frauen und Jugger

Jugger in Pädagogik und Jugendarbeit

Lernt man hier nicht Prügeln und Reinschlagen?

Pädagogische Kernaspekte

Jugger international

Anhang

Foto: K. Wickenhäuser

Fünf Spieler. Vier Pompfen. Ein Schädel. Aber was sind Pompfen? Und wieso ein Schädel? Wer macht so was? Und warum wird darüber überhaupt ein Buch geschrieben?

Vielleicht ist es am besten, wenn ich zunächst ein paar Worte zu meiner eigenen Tätigkeit im Jugger verliere, um etwas von meiner Begeisterung weiterzugeben, die mich letzten Endes dazu bewogen hat, dieses Buch zu schreiben.

Zum Jugger kam ich wie viele: Ein Freund erzählte, einige Verrückte würden ein abgedrehtes Spiel im Park spielen, sie hätten Stangen und Schilde und eine Kette mit einem Ball am Ende und kämpften in Fünferteams um den Besitz eines Hundeschädels. Das klang ziemlich verrückt. So fand ich mich bald darauf auf einer Wiese mitten in einer öffentlichen Berliner Grünanlage bei einer Handvoll junger Erwachsener wieder, und ehe ich es mir versah, drückte mir ein freundlicher Spieler in Camouflagehosen eine mannshohe, dick gepolsterte Stange in die Hand und lud mich dazu ein, mitzumachen. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, wo es wohl passende Protektoren zu kaufen gäbe, einen Rugbyhelm und Armschoner, einen Footballbrustpanzer, Schutzhandschuhe und all das, was ein moderner Sportler an Rüstung braucht. Jetzt zeigte es sich, dass ich nicht weiterzusuchen brauchte – ja, dass Hartschalenschoner und Helme sogar verboten waren. Jugger stellte sich als außerordentlich harmlos heraus, als ein Sport, in dem die Flinkheit zählt, der dennoch körperlich ist, wo aber gerade die beeindruckenden Schläge am harmlosesten sind. Als ein Sport, der einzigartiger ist als alles, was ich bislang an Sport kennen gelernt hatte: Judo, Florettfechten, einer Runde Gnuball, ein wenig Aikido mit Stockkata, Kendo und weitere. Jugger beschränkte sich auch nicht auf das Spiel: In der c-base, der abgestürzten Raumstation unter Berlin Mitte, wo einem auf Schritt und Tritt Monitore, Konsolen, Computerteile, Schleusen und funkelnde LEDs begleiten, war ich alsbald fleißig dabei, den Bau von Pompfen zu erlernen – denn so nennen sich die aus Glasfaserkunststoffstäben, Rohrisolierung, Pattex und Gaffa gebauten Spielgeräte. Der doch recht physische Aspekt des Zweikampfes mit den gepolsterten, aber schweren Pompfen, die Schicksalsgemeinschaft des Teams, das nur durch den Zusammenhalt aller gewinnen kann, das Bauen der Spielgeräte in einer freilich oft pattexgesättigten Raumschiffswrack-Atmosphäre, die perfekt zum Berlin der Nachwendezeit passte, all dies zusammen wurde zu einer magischen Mischung, die nachhaltig süchtig machte, geradezu zur Entdeckung einer neuen Welt inmitten des brodelnden Berlin.

Heute, viele Jahre später, bin ich ungebrochen vernarrt in den Sport und leite Pompfenbau- und Juggerspielworkshops an Universitäten und für Kreisjugendringe. Seit 2007 wird das Jugger-Regelwerk, das auf einer Urform aus Hamburg beruht, nach einer gründlichen Überarbeitung und Neugestaltung von mir gehütet, und bei der ersten großen Abstimmung aller aktiver Teams darüber wurde diese Rolle ohne Gegenstimme bestätigt.

Dass mir dieses Vertrauen hier ebenso wie beim Liga-Gremium ausgesprochen wurde, erfüllt mich gerade angesichts einer Jugger-Gemeinschaft voller Individualisten und Charakterköpfe mit ehrlicher und unprätentiöser Freude – ein Vertrauen freilich, das eine große Verantwortung mit sich führt und das jederzeit entzogen werden kann, wenn ihm nicht Rechnung getragen wird. Ein wenig hat es den Charme einer idealen Demokratie: Keine künstliche, sondern allein die natürliche, erarbeitete und sich ständig zu bewährende Autorität ist ausschlaggebend.

Aber all diese theoretischen Dinge stehen weit hinter der Sache selbst zurück. Letzten Endes zählt nur die wöchentliche Jagd nach dem Hundeschädel im Staub der Stadtparks und auf den holperigen Wiesen des ehemaligen Tempelhofer Flughafen-Rollfeldes.

Ähnlich begeistert sind immer mehr Spielerinnen und Spieler: Anstelle einer Handvoll finden sich zwanzig und mehr Leute beim Training ein, aus einem Berliner Team sind sechs geworden, und zu dem größten Jugger-Turnier der Welt im September 2008 in Berlin kamen kamen nicht mehr acht, sondern über dreißig Teams aus ganz Deutschland, aus Australien und Irland. Die Zeiten sind spannend und die Entwicklung so rasant, dass man gelegentlich meint, den Fahrtwind pfeifen zu hören. Betrachtet man heute die Bilder der ersten Jugger-Spiele, haben sie bereits etwas Archaisches an sich, als lägen sie nicht zwanzig, sondern hundert Jahre zurück. Und doch hat sich vieles vom alten Geist bis heute erhalten. Die Szene beginnt sich immer mehr in Richtung Sport zu entwickeln; Kostüme und Applikationen vergangener Zeiten weichen Trikots, Vereine gründen sich und erringen die Anerkennung als offizielle Sportart in den Landessportbünden. Sogar kleine Regionalturniere werden von zehn und mehr Mannschaften besucht. Im Mai 2010 erlebte in Lüneburg ein halbwöchiges Jugger-Festival mit Workshops sowie abendlichen Rock- und Elektrokonzerten seine Premiere. Die Experimentierfreude ist noch lange nicht verebbt.

So tauchen dann auch wieder neue Teams auf Turnieren auf, in zerrissenen Camouflagehosen, mit selbstgeschneiderten Jacken, auf denen in leuchtend gelber Neonfarbe Atomsymbole aufgemalt sind; es ist jeder Schädel ganz individuell gestaltet, keine Pompfe gleicht einer anderen, denn im Laden sind sie noch nicht zu haben. Und auch die Spieler drücken das aus, weswegen gejuggert wird: um Freude zu haben. Natürlich bestehen Konkurrenzen zwischen Mannschaften, wollen sie gewinnen und besser sein als andere, und es kracht gelegentlich auch mal. Wie in jeder guten Familie. Aber die Stimmung ist insgesamt fröhlich und entspannt, Teams tun sich durch kleine Tänzchen und Lieder hervor oder durch besonders ausgefallene Kleidung und Bemalung, man sitzt nach den Spielen zusammen und feiert. Das ist wohl das sympathischste ausgerechnet an dieser scheinbar so brutalen Sportart.

Die Zukunft des Jugger ist offen. Vermutlich steht ihm eine Kommerzialisierung bevor, aber ob sie sich im Sinne einer sportlichen Professionalisierung mit all den hässlichen Nebenerscheinungen wie im Fußball vollziehen oder ob sie eher weiterhin mit der postapokalyptischen Ästhetik spielen wird, bleibt ungewiss.

Die Ausstattung der Teams reicht von professionell anmutenden Sporttrikots bis zu selbstgemachten Gewandungen. Fotos: Lasse Kudlek, Achazi

Umso mehr freut es mich, mit diesem Buch die Spieler selbst zu Wort kommen zu lassen, mit ihren Erwartungen, aber auch mit ihren Befürchtungen für die Zukunft des Jugger. Es handelt sich dabei keineswegs um „Freaks“, vielmehr um Jugendliche und Erwachsene, die häufig aktive Sportler oder gar Sporttrainer in klassischen Sportarten sind, die im Berufsleben stehen, oder auch um Akademiker, die sich im Rahmen ihrer universitären Arbeit reflektiert und kritisch an Jugger herangewagt haben. Da ich selber aus der Praxis komme, wird in den Kommentarteilen hier und da auch meine persönliche Meinung durchschimmern. Ein Glossar am Ende des Buches erläutert die wichtigsten Begriffe.

Seinen Nutzen, Lehrern und Gruppenleitern die Angst vor einer eigenen Jugger-AG zu nehmen, hat dieses Buch sogar schon vor seiner Drucklegung bewiesen: Dank der Weitergabe von Auszügen eines Interviews bekam eine vielversprechende Jugger-AG den Segen der Lehrerversammlung an einer norddeutschen Schule.

Für die Bilder gilt mein besonderer Dank den ausgezeichneten Fotografen Susanne Serwe und Yves Sonnenburg, die das Feuer des Spiels in ihre Kameras zu bannen verstanden. Sven Saßning gebührt hier ebenfalls großer Dank, da er viel von seiner knappen Zeit für die ausgezeichneten Fotos der einzelnen Spielerpositionen opferte.

Wie der geneigte Leser feststellen wird, finden im Jugger Charaktere zueinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Möge dieses Buch den Appetit darauf anregen, sich selbst an Jugger zu wagen! Wir sehen uns auf dem Feld.

Deutsche Meisterschaft 2010. Foto: Susanne Serwe

Eine Anmerkung zum so genannten Gendern der Sprache:

Auf jede Form des ver„-Innen“s wird in diesem Buch entgegen den Vorgaben des Verlages ausdrücklich verzichtet. Nach meiner Überzeugung gibt es derzeit keine funktionstüchtige Methode, den bisherigen Sprachgebrauch in eine dezidiert „geschlechtsneutrale“ Form umzuwandeln. Das „Binnen-I“ beispielsweise bringt ein geschriebenes Wort gesprochen nur in die weibliche Form und behindert vor allem schriftästhetisch die Lesbarkeit. Ganz zu schweigen von der Problematik des Artikels, die zum steten Plural zwingen würde, sofern keine illiteraten Querstrichclownesken den Text verunstalten sollen. Ein Wechsel zwischen beiden Geschlechtern, wie es in englischen Texten durchaus funktionstüchtig geschieht, wäre hier wiederum ein zu großes Wagnis; es mag jedoch eine interessante Idee darstellen, auf die ein zweiter Blick vielleicht lohnt – an geeignetem Ort.

Vielmehr vertrete ich den Standpunkt, dass auch die herkömmliche Form wie „Spieler“ oder „man“ durchaus auch Spielerinnen umfasst und eben derzeit noch inklusiv ist. Was Jugger betrifft, so sei hier die junge Spielerin Jenny aus dem Team Captura zitiert: „Es wird nicht zwischen Frau und Mann getrennt, es ist wirklich eine Einheit, da ist kein Unterschied. Eine ganz große Gemeinschaft.“

Das ist doch ein Wort. Redet nicht – lebt es.

Ruben Philipp Wickenhäuser, langjähriger Kapitän der Jugger-Mannschaft Laggerfalke [Falco jugger], im Mai 2010

Keine Geschlechterschranken: Captura und Wadenbeißer nach dem Spiel. Foto: Yves Sonnenburg

MIT OHRENSTÄBCHEN UM DEN HUNDESCHÄDEL KÄMPFEN: EIN BISSCHEN WIE WOCHENENDKOMMUNISMUS

Foto:Yves Sonnenburg

Es ist warm. Auf einer großen Wiese im Hamburger Stadtpark, eingerahmt von Bäumen, genießen ein paar vereinzelte Frühaufsteher den Samstagvormittag. Unter einem Sonnensegel haben es sich einige unscheinbare Gestalten gemütlich gemacht.

Doch plötzlich taucht eine Gruppe Schwarzgekleideter aus dem angrenzenden Wäldchen auf. Ein kräftiger junger Mann führt sie mit einem riesigen Banner in den Händen an. Die anderen tragen armdicke Schläger über den Schultern und eine Kette mit melonengroßer Kugel am Ende.

„Wir sind die Keiler – keiner ist geiler!“, schallt es über die Wiese.

Die Rastenden unter dem Sonnensegel erheben sich träge. Einige Sonnenbadende räumen ihre Sachen zusammen und beäugen argwöhnisch das Geschehen. Hat man Ähnliches nicht schon in Berichten über Treffen von verfeindeten Hooligangruppen gesehen, die sich zur Schlägerei fernab der Polizei verabreden?

Die befürchtete Keilerei findet nicht statt. Im Gegenteil: Die Neuankömmlinge werden von den anderen freudig begrüßt. Kurz darauf treffen weitere Gruppen ein, diesmal in Rot, in Braun, in Blau oder Schwarzgrün gekleidet. Einige beginnen, geschäftig mit Seilen und Mehltüten in den Händen über die Wiese zu trotten und Felder auf dem Boden zu markieren.

Und dann gibt es doch noch eine Keilerei. Oder so etwas Ähnliches. „3, 2, 1, Jugger!“, schallt es über die Wiese – und damit ist es mit der Ruhe vorbei. Zu wuchtigen Trommelschlägen stürmen von den beiden Stirnseiten jedes Feldes Männer und Frauen zu fünft aufeinander los. In ihren jeweils gleichen Farben erwecken sie den Eindruck von Sportmannschaften. Es liegt auch eine Art Ball in der Mitte des Feldes. Aber sie schwingen ihre Prügel und hier und da sogar eine Kette. Und der Spielball sieht aus wie ein Hundeschädel. Unter den Augen der ungläubig dreinblickenden Parkbesucher beginnen sie damit, sich mit den Keulen zu beharken. Es hat ganz den Anschein, als wolle hier jemand Rugby und Kloppe mit Stangen miteinander verbinden. Gewaltig klatscht die Kugel einer Kette gegen den Oberarm eines Spielers, der eine Art riesiges Ohrenstäbchen in den Händen hält. Er schaut erschrocken, lässt das Riesenohrenstäbchen fallen und kniet sich hin, während die Kette schon gegen den nächsten Gegner saust. Inzwischen lugt ein schmaler Junge nach einer Lücke in der Phalanx der Gegner, spurtet plötzlich vor, schnappt sich den Schädel, springt über den Stabhieb eines Gegners und taucht unter einem zischenden Schwung der Kette durch. Kurz und heftig ringt er mit einem anderen Spieler, bis er sich zu einem vulkanartigen Ding durchgearbeitet hat, aber dann wird es knapp, als von hinten einer mit Stab herbeistürmt, zum Schlag ausholt – da steckt der Ball. „Punkt!“, ruft ein Schiedsrichter, und die beiden Mannschaften gehen wieder auseinander und nehmen Aufstellung auf ihrer Seite.

Schnell - hart - bunt. Foto: Susanne Serwe

Ein sportlicher Mann Mitte zwanzig kommt schwitzend von einer Runde zurück und lüftet sein neonbesprühtes, mit einem Atom-Symbol geschmücktes Trikot, das ihn als Mitglied eines Teams mit dem klingenden Namen „Strahlenpest“ ausweist. In Hamburg ist es noch nicht angetreten, aber so hat er einfach in einem anderen Team ausgeholfen. Und, ist es nicht verdammt gefährlich? „Im Vergleich zu Rugby und American Football kommen die Spieler – außer dem Läufer – ja nie richtig in Berührung mit den Gegnern. Das Touchieren mit den Pompfen ist ganz harmlos, viel harmloser als bei Völkerball“, erklärt Magnus van Lück, dem man es ansieht, dass er elf Jahre lang Fußball und Tennis gespielt hat. Und wirklich: Schmerzverzerrte Gesichter sind keine zu finden, die Spielerinnen und Spieler knien nur immer wieder für einige Zeit ab, wenn sie getroffen worden sind. Die Pompfen, so heißen die gepolsterten Spielgeräte, erinnern wiederum an Live Action Role Playing, wo Teilnehmer in die Rolle von Elfen, Zauberern oder Ogern schlüpfen. Doch auch dieser Eindruck täuscht: „Es gibt in beiden Fällen Polsterwaffen, aber im LARP gibt es halt Lebenspunkte und so, während man im Jugger so gut spielt, wie man es wirklich kann“, erklärt Kaja, eine athletische Spielerin des Hamburger Heimteams, und legt ihren Stab beiseite. Mit seiner imitierten Holzmaserung sieht er aus wie ein knorriger Stecken mit großen Metallknäufen. Die natürlich ebenfalls aus Polstermaterial gefertigt sind.

Nur ein Spieler in jedem Team führt keine Pompfe. Er ist gewissermaßen hilflos. Und zugleich ist dieser Läufer oder „Qwik“ der wichtigste Spieler auf dem Feld, denn er allein darf den Ball aufheben und einen Punkt machen, indem er ihn ins gegnerische Mal steckt.

Foto: Yves Sonnenburg

Das Spiel ist durchaus ehrgeizig. Fotos: Yves Sonnenburg

Das Ereignis stellt sich als fünfzehnte Meisterschaft im neuen Sport Jugger in Hamburg heraus. Dies ist das älteste und traditionsreichste Turnier. Tatsächlich gibt es einen Gewinner und eine Rangliste, die in ehrgeizigen Spielen gefunden wird. Gekommen sind dazu Mannschaften aus Hannover, Lüneburg, Jena, Berlin und zahlreichen weiteren Städten. Die ganze Saison über finden solche Turniere in Deutschland statt. Doch bevor das nächste ansteht, wird am Samstagabend erst einmal gefeiert, denn das ist fester Bestandteil der Jugger-Turniere. Spieler unterhalten sich mit alten Bekannten, die sie von früheren Turnieren her kennen, tauschen sich über eigene Spielvarianten aus oder quatschen über Gott und die Welt. Zufällig spielt an diesem Abend BossHoss auf einer Open-Air-Bühne nur eine Hecke vom Gelände entfernt. Und als sie fertig sind, da fahren die Hamburger Jugger eine eigene kleine Live-Band auf, es wird gegrillt und der Abend genossen. Drichel, mit 21 Jahren bereits Vorsitzender des großen Lüneburger Juggervereins und Kettenfänger der „Crash Kids“, erklärt mit leuchtenden Augen: „Das Gewusel, die Anarchie, die auf den Feldern stattfindet, schafft es irgendwie, Turniere zu veranstalten; die Schiris werden von den vorangehenden Teams gestellt, man hilft sich untereinander; es ist ein bisschen wie Wochenendkommunismus.“

Irgendwann geht es dann in die Zelte, denn morgen werden die Platzierungsspiele und das Finale stattfinden. Einzig ein vergessener Spielball hütet die verlassenen Biertische. Ein Spielball? Er sieht tatsächlich aus wie ein Hundeschädel. Oder doch zumindest wie ein Schädel mit Schnauze und vielen Zähnen. Aus dunklen Augenhöhlen schaut er übers schlafende Zeltdorf und scheint in sich hineinzugrinsen. Vielleicht freut er sich in seiner Hundeschädelspielballseele auf die morgigen Spiele, wer weiß. Jedenfalls fühlt er sich recht weich an, so wie ein lackierter Softball, und sein Erbauer hat auch die Knochenspalten und Lücken zwischen den Zähnen nicht vergessen. In beigebraunen Schattierungen glänzt seine sorgfältig bemalte Latexoberfläche im Mondlicht. Wieso ist das eigentlich eine Hundeschädelattrappe? Könnte man nicht einfach ein Rugby-Ei nehmen? Nein, sollte man nicht, stellt Siggi klar, der Jugger damals, Mitte der neunziger Jahre, federführend in Hamburg zu einem Sport vorangetrieben hat: „Den Schädel möchte ich ungern rausnehmen, weil es den Bezug zu den Ursprüngen herstellt.“

Der Hundeschädel stammt aus einem Endzeit-Film, ebenso wie Jugger selbst

„1992 saßen ein paar Rollenspieler gelangweilt vor der Glotze und schauten den Film Jugger – Kampf der Besten“, weiß Hendrik, der ebenfalls in Hamburg spielt, über die Ursprünge zu berichten. Dieser Endzeit-Film dreht sich um eine Mannschaft, die von Dorf zu Dorf zieht und in einem äußerst brutalen Spiel gegen die örtlichen Mannschaften antritt. „Ein Proto-Regelwerk wurde ersonnen und das erste Spielset gebastelt, riesige Pompfen, die fatal an übergroße Ohrenreiniger-Wattestäbchen erinnerten.“ Damit war Jugger als reales Spiel geboren. Denn der Drehbuchautor und Regisseur, der auch die Drehbücher für Unforgiven, Blade Runner und Twelve Monkeys verfasst hat, hatte Jugger speziell für diesen Film erfunden – vorher gab es nichts Vergleichbares. Aber wieso denn nun ein Hundeschädel als Ball? Weil Hunde die letzten Begleiter der Menschheit nach dem Atomschlag sein werden? Ein Anruf beim Regisseur bringt die Antwort. „Nun, ich habe noch nie Hunde gemocht und hatte es mir angewöhnt, in jedem Drehbuch einen Hund zu töten“, erklärt David Webb Peoples lapidar. Abgesehen davon passt es natürlich prächtig in die fatalistische Ästhetik eines postapokalyptischen Films, der allerdings von heutigen Spielern zwar als Mutter des Jugger geachtet wird, aber ansonsten nicht gerade gut wegkommt: „Ein Endzeit-C-Movie“, urteilt Siggi. Ja, es sei wirklich „fast schon ein C-Movie“, bestätigt der rund zwanzig Jahre jüngere Daniel Ebbert, der zweite Vorsitzende des Münsteraner Juggervereins.

Gepompft wird auch in Schulsporthallen

Keulen, die aussehen wie riesige Ohrenreiniger, ein Hundeschädel als Ball, ein Endzeit-Film als Vorlage, das klingt nach einem Spaß für Freaks, aber gewiss nicht nach einem Sport für die Schule. Aber auch hier weiß Jugger zu überraschen: Tatsächlich wird es auch vermehrt in Schul-AGs angeboten und trifft dort auf Begeisterung sowohl der Schüler – als auch, was schon verwunderlicher ist, der Lehrer. Der Leiter des Bereichs Sport in der Schulpädagogik der Universität Halle, Andreas Günther, hat Jugger in mehreren Projekten eingesetzt und hält es für sehr gut geeignet, ganz im Gegensatz zum ersten Eindruck, den ein zufälliger Betrachter davon bekommen mag: „Die interne Kommunikation ist stärker anzusiedeln als in anderen Sportspielen im Sportunterricht. Alle Spieler müssen integriert werden, um erfolgreich zu sein, im Gegensatz zu Fußball, wo man einfach als dritter Torpfosten herumsteht.“ Und der Ju-Jutsu-Trainer Andreas Güttner ergänzt: „Meistens war es der Fairness des Einzelnen überlassen, das hat sich schon von selbst geregelt. Die Jugendlichen haben selber darauf geachtet, dass die Regeln eingehalten werden.“

Aber lernt man hier nicht doch das Zuhauen? Dem widerspricht Hahn: „Es ist stilisiert und versportet, keine Kampfkunst.“ Denn Jugger imitiert nicht das Töten oder Beseitigen von Gegnern und stellt auch keinen stilisierten Kampf nach, sondern ist genuin ein Spiel, das auch keine Kampftechniken vermittelt. Die im Film geschilderte fiktive Brutalität gibt es nicht im realen Jugger, wohl aber gab es sie beispielsweise in dem realen indianischen Spiel Lacrosse, wo sich Spieler mit ihren Ballfangstäben gezielt schlugen und es der Überlieferung nach durchaus häufig auch zu Knochenbrüchen gekommen ist. Lacrosse erfreut sich inzwischen wieder in ebenfalls entschärfter Form wachsender Beliebtheit, ohne dass ihm jemand eine gewaltsteigernde Wirkung zuschreiben würde.

Training der Falcones44 in der Hasenheide, einer Schul-AG in Berlin-Neukölln. Foto: uhu

Junger Spieler, lange Kette ... Foto: Susanne Serwe

Diese Erkenntnis setzt sich langsam durch, obwohl Pädagogen meist zunächst einmal zurückschrecken und es für modernen Unsinn halten. Doch die Überzeugungsarbeit zahlt sich aus. So erfreut sich Jugger an Schulen steigender Beliebtheit. An einer Schule in Nortorf wurde das Projekt zunächst sehr kritisch beäugt, stellte sich dann aber als eines der beliebtesten Sportangebote heraus.

Gelegentlich entstehen aus solchen Projekten eigene Teams, die dann auf den Turnieren anzutreffen sind. Auch sonst finden sich selbstorganisierte Mannschaften von Sechzehnjährigen und Jüngeren, wie die Black Guards of the Night oder die Gras Grünen Jugger Schafe, die sich 2010 gegründet haben. So kann es passieren, dass man auf dem Feld einem Steppke gegenübersteht, der einem gerade mal bis zur Brust reicht – der aber die über drei Meter lange Kette schwingt. So wie der knapp 12-jährige Brian vom Team !Lluks. „Mir wurde gesagt, meine Arme wären für die Kette zu kurz“, erzählt er grinsend, als er danach gefragt wird. „Ich habe dann gebettelt, bis ich nach drei Trainings endlich Kette spielen durfte, und war sehr gut dabei.“ Wer den Fehler macht, ihn zu unterschätzen, sieht sich im Nu getroffen auf dem Boden knien.

36 Mannschaften, Tendenz steigend: Klein ist die „Szene“ nicht mehr

Die Deutsche Meisterschaft bildet den Abschluss der Saison. Vor wenigen Jahren noch wurde sie in einem Volkspark ausgetragen, inzwischen platzt sie mit 36 Teams aus allen Nähten. Daher flattern 2009 die rotweißen Banner der Jugger-Liga auf dem Gelände des Ludwig-Jahn-Sportparks. Tribünen säumen das Hauptfeld. Auf fünf Feldern wird gleichzeitig gespielt, um alle Spiele an einem Wochenende zu schaffen.

Das Wetter ist gnädig: Es ist bewölkt und nicht zu heiß, bleibt nur zu hoffen, dass es nicht regnet. Wir begegnen Drichel wieder, der mit der Pappkrone einer Fastfoodkette auf dem Kopf, schwarz gelocktem Haar und der einen Meter vierzig messenden Langpompfe in der Hand ein wenig den Eindruck eines russischen Prinzen erweckt. Sein Team musste sich gerade einem der stärksten Teams stellen, Rigor Mortis aus Berlin. Und verlor erwartungsgemäß mit 15:04 Schädeln. Was ihn aber nicht daran hindert, trotzdem guter Dinge zu sein: „Auf Turnieren belegen wir immer so das Mittelfeld. Aber das macht uns nichts aus, denn wir legen es drauf an, mit Spaß an der Sache zu spielen.“

Anerkennung unter Gegnern. Foto: Yves Sonnenburg

Bei den Platzierungsspielen am Sonntag regnet es. Die Spieler hält dies nicht ab – was ein echter Jugger ist, der kümmert sich nicht um derlei Nebensächlichkeiten. Doch niemand ist böse darum, dass es beim Finale wieder gutes Wetter gibt: Die Schiedsrichter haben so schon alle Hände voll zu tun, das extrem schnelle Spielgeschehen im Auge zu behalten, und die Tribünen füllen sich rasch. Rigor Mortis gelingt mit einem haushohen Vorsprung von 19:10 Punkten der Sieg gegen den Titelverteidiger, die Grünanlagen Guerilla.

Zuschauer fiebern mit den Spielern mit. Foto: Susanne Serwe

Grünanlagen Guerilla (Schwarz auf Grün) im Finale gegen Rigor Mortis (Schwarz auf Rot) Foto: Susanne Serwe

Bei der Siegerehrung werden die Pokale verliehen. In Hamburg war dies ein Banner mit Hundeschädelattrappe, in Berlin ist es eine fast mannshohe, zusammengeschmiedete Eisenkette mit stilisiertem Griff aus riesigen Karabinerhaken. Rigor Mortis wird sich wieder als Deutscher Meister auf einer Plakette eintragen können. Lesters Augen leuchten nach schier nicht enden wollendem Schulterklopfen der ganzen Juggergemeinschaft so sehr wie die von Drichel. Der Fünfunddreißigjährige gehört zu den Urvätern des Jugger und hat vor vielen Jahren Rigor Mortis mit aus der Taufe gehoben. „Richtig professionelle Mannschaften, wo die Spieler Honorare bekommen, das wäre was“, träumt der frischgebackene Deutsche Meister. „Und am allergeilsten wäre natürlich ein fettes Juggerturnier in einem Jugger-Stadion, mit jubelnden Massen auf den Rängen, Fernsehübertragung, Sponsoren ... da will ich hin.“ Dass es hier aber gegensätzliche Sichtweisen gibt, macht Hahn klar, ebenfalls ein Jugger der ersten Stunde, aber aus Heidelberg: „Bauchschmerzen hätte ich mit exzessivem Sponsoring, Eintrittsgeldern, Marketing im großen Stil. Ich bin ganz froh, dass es ohne geht im Jugger.“ Houlihan, Spieler des Dubliner Teams Setanta, lehnt sich in wallendem Kilt auf den Stab und stimmt ihm zu. „Jugger sollte eine Sache für Amateure bleiben – wenn Geld ins Spiel kommt, würde es alles ruinieren.“

Fotos: Yves Sonnenburg

Für heute ist aber erst einmal Feiern angesagt. Schließlich ist dies der Abschluss der Saison. Ab dem morgigen Tag werden viele junge und alte Jugger dem Frühling entgegenfiebern, wenn es wieder heißt: „3, 2, 1, Jugger!“

Die Liga-Schale und der Pokal für den Deutschen Meister im Jugger. Foto: Susanne Serwe

DAS PHÄNOMEN JUGGER

Foto:Susanne Serwe

AM ANFANG WAR EIN POSTAPOKALYPTISCHER FILM

Jugger dürfte der erste bekanntere Sport sein, der ausschließlich auf einen Film zurückgeht und keinerlei historische Wurzeln hat. Der Drehbuchautor David Webb Peoples hat bekannte Filme gemacht, wie Blade Runner, Twelve Monkeys oder Unforgiven. Durchweg Filme, die von einer düsteren Zivilisationskritik konnotiert sind. Inspiriert von der Erzählung „Rollerball“, fühlte er sich zu einem ähnlichen Stoff angeregt, jedoch ohne die politische Dimension der lenkenden Großkonzerne – es sollte vielmehr ein reiner „Sportfilm“ werden. Aber kein Film über einen bekannten Sport, sondern um etwas, was Menschen nach dem Atomschlag vielleicht spielen würden: Schonungslos und brutal sollte er sein und sich um einen Hundeschädel drehen. Es sollte das einzige Mal sein, dass David Webb Peoples auch Regie in einer größeren Produktion führte. 1989 kam der Film in die Kinos.

Der „Qwik“, die Läuferin, überblickt das Spielfeld. Der Schrank im Hintergrund wird vom gegnerischen Team als Rucksack auf ihrer Wanderschaft mitgeführt. Alle Filmbilder: Kings Road Entertainment, 1989 (im Folgenden: KRE)

Im Stile der Mad-Max