Rosmarie Barwinski
Resilienz in der Psychotherapie
Entwicklungsblockaden bei Trauma, Neurosen und frühen Störungen auflösen
Mit einem Geleitwort von Hans Holderegger
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von © Artiga Photo/Masterfile/Corbis
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94938-4
E-Book: ISBN 978-3-608-10037-2
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20321-9
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Geleitwort
Danksagung
Einleitung
Resilienz als Eigenaktivität
Dialektik und Resilienz
Teil I
Bedingungen von Resilienz
Kapitel 1
Was ist Resilienz?
Definitionen und die Bedeutung von Resilienz für die Bewältigung von Krisen
Eigenschaften und Haltungen, die Resilienz fördern
Risikofaktoren- und Schutzfaktorenkonzept
Schutzfaktoren auf Seiten der Umwelt
Personale Ressourcen als Resilienzfaktoren
Selbstwahrnehmung
Selbstkonzept
Selbstwahrnehmung im engeren Sinne
Selbstreflexivität
Selbstwirksamkeit
Selbststeuerung/-regulation
Soziale Kompetenz
Adaptive Bewältigungskompetenz
Problemlösen
Kritik am Schutzfaktorenkonzept
Vernachlässigung der Entwicklungsbedingungen der Resilienzfaktoren
Vernachlässigung des sozialen Kontextes
Vom Schutz- zum Risikofaktor
Woher kommt die Widerstandskraft?
Exkurs in die Bindungstheorie
Neurobiologische Befunde
Kapitel 2
Die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Resilienz
Das Konzept des »fluiden Selbst«
»Wir-Gefühl« als Schutzfaktor
Verstehen, handeln können und wollen – Aaron Antonovskys »Sense of Coherence«
Die Gestaltung des sozialen Umfelds entsprechend dem »Sense of Coherence«
Kritik am Konzept des »Sense of Coherence«
Zusammenfassung
Kapitel 3
Eigenaktivität als salutogenetische Strategie
Die kognitive Entwicklung nach Jean Piaget
Assimilation und Akkommodation
Die Stufentheorie von Piaget
Wie können in der Psychotherapie Konzepte von Piaget nutzbar gemacht werden?
Assimilation und Akkommodation in der therapeutischen Beziehung
Die Bedeutung der Handlung für das Verständnis des therapeutischen Dialogs
Kognitive (und emotionale) Reifestufe beim Patienten: Psychische Erkrankung als Störung von Abstraktionsprozessen
Störungen der reflektierenden Abstraktion als Entwicklungsblockade
Störungen der reflektierenden Abstraktion bei der Verarbeitung von Traumata
Entwicklungsstufe und Behandlungstechnik
Differenzierung der Gegenübertragung anhand der Piaget’schen Stufentheorie
Exkurs: Entwicklung der Fähigkeit zur Empathie
Gegenübertragung und Dezentrierung
Gegenübertragung und Resilienz
Modifikationen des psychoanalytischen Einsichts- und Deutungsbegriffs
Reflektierende Abstraktion als Erkenntnisinstrument
Aufgaben für die Therapeutin
Veränderungsprozesse bei der Patientin
Beziehung als gemeinsame Begegnung
Zusammenfassung
Teil II
Resilienzförderung in der Psychotherapie
Kapitel 4
Auflösung von Blockaden
Die Bedeutung der Antinomie für die kognitive Entwicklung
Der Begriff der Antinomie
»Die Produktivität der Antinomie«
Antinomie als Bewusstseinsstruktur
Die Entstehung des primären Selbstbezugs
Selbstgefühl und (Abstraktions-)Niveau
Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität
Umsetzung in der Praxis: Differenzierung von Abstraktionsebenen
Vermischung verschiedener Ebenen
Selbstbeziehung und deren Negation
Selbstgefühl, Antinomie und kognitive Stufen
Zusammenfassung
Ätiologieorientiertes Verständnis psychischer Störungen
Blockaden bei der Traumaverarbeitung und erste technische Implikationen
Antinomie I: Vermischung der Ebene der Handlung mit der Ebene der Vorstellung
Zeitliche und räumliche Orientierung
Abstand zu den mit dem Trauma verknüpften Gefühlen
Antinomie II: Vermischung der Ebene der Repräsentation der Handlung mit der Ebene der Objektrepräsentanz
Verstehen der subjektiven Bedeutung der traumatischen Erfahrung
Fähigkeit zur »Objektanalyse oder -spaltung«
Blockaden bei der Behandlung »früher Störungen« und erste technische Implikationen
Vermischung zwischen der Ebene der Realität und der Ebene der Vorstellung
Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung
Selbstwahrnehmung und Mentalisierung
Vergleich der Antinomien bei der Traumaverarbeitung mit Antinomien bei Entwicklungsdefiziten
Vergleich der ersten Abstraktionsstufe bei der Traumaverarbeitung mit der ersten Abstraktionsstufe bei Entwicklungsdefiziten in der Realitätswahrnehmung
Blockaden bei der Behandlung neurotischer Störungen und erste technische Implikationen
Deutung der Übertragung
Klärung von Über-Ich-Regeln
Vergleich der Antinomien bei Trauma-Folgeerkrankungen, Neurosen und frühen Störungen
Ursachen, die der Entstehung von Antinomien zugrunde liegen
Negation der Selbstbeziehung und Abstraktionsstufe der Antinomie
Kapitel 5
Wie der Umgang mit Konflikten Resilienz fördert
Das Dialektische Veränderungsmodell von Gottfried Fischer
Antinomie und Dialektik
Veränderung durch zwischenmenschliche Erfahrung
Ein Fallbeispiel
Phasen des Veränderungsprozesses
Dialektik und Selbstbewusstsein
Das Konflikthafte Beziehungsschema
Umsetzung in die Praxis: Das 5-Punkte-Programm
Das 5-Punkte-Programm als Planungsinstrument in der Therapie
Suche nach einer für die Entwicklung förderlichen therapeutischen Haltung
Pol A:
Pol Z:
Das 5-Punkte-Programm zur Entwicklung von Bewältigungsstrategien im sozialen Kontext
Wie Traumaopfer ihre Erfahrungen zu bewältigen versuchen: Das Traumakompensatorische Schema
Kapitel 6
Allgemeine praktische Maßnahmen: Wie pathogenetische zu salutogenetischen Mechanismen
werden
Zusammenfassung bisheriger Ergebnisse
Stellenwert des sozialen Umfeldes für die Stärkung von Resilienz
Resilienz als Produkt der Eigenaktivität
Aufhebung von Blockaden durch Ebenendifferenzierung
Dialektische Lösung von Widersprüchen
Das Traumakompensatorische Schema
Stufenmodell resilienzfördernder Bewältigungsstrategien
Problem: Unintegrierte Traumata und Entwicklungsdefizite der frühen präoperationalen Phase
Problem: Kognitiv integrierte Traumata und Entwicklungsdefizite der präoperationalen Phase
Problem: Neurotische Konflikte
Entwicklungsschritte und Bewältigungsstrategien
Entwicklung und Aufrechterhaltung von Resilienz: Hinweise und Übungen für die Behandlung
Differenzierung der Abstraktionsebenen
Bestimmung des Funktionsniveaus des Patienten
Übungsanleitung: Antinomien entdecken und lösen
I Antinomie zwischen Handlung und Vorstellung
II Antinomie zwischen der Repräsentation der Handlung und der Objekt- bzw. Selbstrepräsentanz
III Antinomie zwischen Selbsterleben in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt und verinnerlichten Normen der Selbstrepräsentanz
Umgang mit Widersprüchen: Das 5-Punkte-Programm
Veranschaulichung des 5-Punkte-Programms am Beispiel von Frau S.
Übungsanleitung: 5-Punkte-Programm
Stärkung eigener Bewältigungsstrategien – das Traumakompensatorische Schema
Übungsanleitung: Stärkung und Differenzierung des Traumakompensatorischen Schemas
Teil III
Interventionsfelder
Kapitel 7
Zur Behandlung von Trauma-Folgeerkrankungen
Das Trauma-Integrationsmodell
Erster Zyklus
Zweiter Zyklus
Differenzierung des Trauma-Integrationsmodells anhand des Stufenmodells zur Ableitung resilienzfördernder Bewältigungsstrategien
Blockaden im Prozess der Traumabearbeitung und dialektische Konfliktlösung
Fallvignette 1: Antinomie zwischen Handlung und Vorstellung
Behandlungsvorschläge und Übungen
Differenzierung der Ebenen und Behandlungsaufgaben
Übungsanleitung: Außenorientierung – Die 5-4-3-2-1-Übung
Fallvignette 2: Antinomie zwischen der Repräsentation der Handlung und der Objektrepräsentanz
Behandlungsvorschläge und Übungen
Differenzierung der Ebenen und Behandlungsaufgaben
Fallvignette 3: Antinomie zwischen Selbsterleben in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt und verinnerlichten Normen der Selbstrepräsentanz
Behandlungsvorschläge und Übungen
Differenzierung der Ebenen und Behandlungsaufgaben
Zusammenfassung von technischen Hinweisen, um Resilienz in der Behandlung von Trauma-Folgestörungen zu fördern
Kapitel 8
Zur Behandlung früher und neurotischer Störungen
Entwicklung als Konstruktionsprozess
Entwicklungsblockaden und dialektische Konfliktlösung
Fallvignette 1: Antinomie zwischen Handlung und Vorstellung
Behandlungsvorschläge und Übungen
Differenzierung der Ebenen und Behandlungsaufgaben
Fallvignette 2: Vermischung der Ebene der Repräsentation der Handlung mit der Ebene der Selbstrepräsentanz
Behandlungsvorschläge und Übungen
Differenzierung der Ebenen und Behandlungsaufgaben
Zusammenfassung von Behandlungsvorschlägen, die Resilienz über das Nachreifen von Entwicklungsschritten stärken
Planung der Behandlung
Konfliktdynamik und Entwicklungsblockaden
Entwicklungsblockaden und dialektische Konfliktlösung
Fallvignette 1: Antinomie zwischen Selbsterleben in der Beziehung zwischen Selbst und Objekt und verinnerlichten Normen der Selbstrepräsentanz
Behandlungsvorschläge und Übungen
Differenzierung der Ebenen und Behandlungsaufgaben
Zusammenfassung
Stufenmodell und ätiologiespezifische Behandlungshinweise
(Beziehungs-)Trauma
Frühe Störungen
Neurotische Störungen
Literatur
Die Autorin
Rosmarie Barwinski hat sich in ihren bisherigen Arbeiten vor allem mit dem Prozess der therapeutischen Traumaverarbeitung auseinander gesetzt. Die Differenzierung des therapeutischen Geschehens in verschiedene Behandlungszyklen mit den entsprechenden Implikationen für die therapeutische Technik, die Bedeutung unterschiedlicher Erinnerungsformen im Prozess der Traumaarbeit und die zentrale Funktion der Gegenübertragung als Arbeitsinstrument im Sinne eines Hinweises auf das aktuelle Strukturniveau des therapeutischen Prozesses sind neben den vielen konkreten Anleitungen zur klinischen Arbeit einige der Schwerpunkte in ihren bisherigen Publikationen.
Rosmarie Barwinski hat sich aber nicht nur als Autorin einen Namen gemacht, sie gründete 2006 das Schweizerische Institut für Psychotraumatologie (SIPT) in Winterthur/Schweiz, wo sie eine inzwischen sehr erfolgreiche Weiterbildung in Psychotraumatologie anbietet, Kurse, für die sie eine Reihe fachlich ausgewiesener Dozenten und Dozentinnen gewinnen konnte.
Das vorliegende Buch schließt an ihre bisherigen Arbeiten an, enthält aber eine neue Perspektive in Bezug auf das theoretische Erfassen von Veränderungsprozessen in der Psychotherapie. Sie widmet sich vor allem der Frage, wie Resilienz entwickelt und gestärkt werden kann. Anstatt einseitig von angeborenen Fähigkeiten oder von einem Menschenbild auszugehen, in dem ein Individuum ausschließlich als Produkt seiner Umwelt betrachtet wird, plädiert sie für einen Ansatz, in dem der Eigenaktivität des Einzelnen eine größere Bedeutung zukommt. Sie bezieht sich auf Jean Piaget (1896 – 1980) und dessen Beschreibung psychischer Vorgänge wie der Assimilation, Akkommodation, Dezentrierung und der Prozesse, die die Transformation von einer zur nächsten Entwicklungsstufe möglich machen. Diese Stufenübergänge werden durch »produktive Strukturen« (Kesselring, 2010) ausgelöst, die Entwicklung erzwingen, aber auch blockieren können. Ausgehend von ihren theoretischen Überlegungen und Beispielen aus der Praxis entwickelt sie ein Stufenmodell, das die Förderung und Hemmung von Entwicklungsprozessen auf unterschiedlichen psychischen Funktionsebenen erklärt und beschreibt.
Um zu erfassen, wie pathogenetische Mechanismen in salutogenetische Bewältigungsstrategien umgewandelt werden können, geht sie von einem dialektischen Verständnis von Veränderung aus und entwickelt Methoden, wie diese Prozesse in der Psychotherapie gefördert werden können. Ihre neuen Ideen finden ihre konkreten Anwendungen in einer Fülle von praktischen Beispielen mit den entsprechenden Verknüpfungen von Theorie und Praxis.
Mit Hilfe des vorgeschlagenen Stufenmodells und der beschriebenen Transformationslogik stellt sie ein Konzept vor, das schulenübergreifend beschreibt, wie konstruktive Veränderung in der Psychotherapie und damit Resilienz gefördert werden kann. Ihr Ansatz kann als Schritt in Richtung der Entwicklung eines neuen Paradigmas für Psychotherapie(wissenschaft) verstanden werden, der weiter verfolgt werden sollte. Ein klarer didaktischer Aufbau des Textes, eine differenzierte, gut verständliche Sprache und die Vernetzung neuer Ideen mit der bestehenden Literatur zeichnen dieses Werk aus, das einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Psychotherapie- und Traumaforschung leistet.
Zürich, Dezember 2015
Dr. phil. Hans Holderegger
Dieses Buch entstand nach langjähriger intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema psychische Traumatisierung aus dem Bedürfnis heraus, den Blick weniger auf die Prozesse zu richten, die krank machen, als vielmehr die Ressourcen zu betonen, die Menschen auch schreckliche Schicksalsschläge unbeschadet überstehen lassen. In meiner 30-jährigen psychotherapeutischen Arbeit begegnete ich immer wieder Menschen, die ausweglos erscheinende Situationen mit einem Mut und einer Zuversicht bewältigten, die mich tief beeindruckten. Ich wollte nicht nur die kognitiven und emotionalen Prozesse besser verstehen, die zu einer Erkrankung führen, sondern auch die Mechanismen, die Entwicklungsschübe erzeugen.
Die Idee zu diesem Buch entstand in Gesprächen mit Prof. Dr. Gottfried Fischer, der sich in zahlreichen Veröffentlichungen intensiv mit der Transformationslogik auseinander setzt, die positiven Veränderungsprozessen in der Psychotherapie zugrunde liegt. Leider verstarb er vor zwei Jahren. Ich verdanke ihm wichtige Impulse, die die theoretische Ausrichtung der vorliegenden Arbeit wesentlich prägten. Wie er gehe ich davon aus, dass die Selbstheilungskräfte eines Menschen ausreichen, um Krisen konstruktiv zu bewältigen. Werden diese Kräfte blockiert, geht es dementsprechend darum, wie diese Entwicklungsblockaden aufgelöst und Transformationsschritte möglich werden, die zu Reifung führen.
Auch PD Dr. Thomas Kesselring und Prof. Dr. Dieter Wandschneider, die einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung der Psychotherapie als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin leisten, verdanke ich wertvolle Hinweise, die einen großen Einfluss auf die Konzeption der vorliegenden Veröffentlichung hatten. Ihre Überlegungen zur Bedeutung von Antinomien und deren Lösung machen meiner Meinung nach verständlich, warum Menschen gestärkt Krisen bewältigen, ja, Resilienz letztlich als Resultat einer gelungenen Konfliktbewältigung verstanden werden kann. Statt auf einzelne Resilienzfaktoren zu achten, plädiere ich für eine andere, neue Ausrichtung in der Resilienzforschung, wo die Suche nach den psychischen Mechanismen im Vordergrund steht, die zu Resilienz führen.
Danken möchte ich an dieser Stelle auch Prof. Dr. Ulrich Moser, durch den ich auf Piaget aufmerksam wurde, und Dr. phil. Hans Holderegger, der sich unter anderem mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen in der Psychotherapie mit traumatisierten Patienten in zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigte. In gemeinsamen Gesprächen stand immer wieder die Verknüpfung von Theorie und Praxis im Vordergrund, was den Praxisbezug der vorliegenden Arbeit verbesserte.
Ganz besonders gilt mein Dank Prof. Rudolf Barmettler für die geduldige Durchsicht des Manuskripts und seine kompetenten Hinweise, die wesentlich zur Strukturierung des Textes beitrugen, sowie Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta und Oliver Eller für die konstruktive Zusammenarbeit und die Unterstützung bei der Realisierung dieses Projekts.
Zürich, im Dezember 2015
PD Dr. phil. Rosmarie Barwinski
Einleitung
Der Begriff Resilienz stammt vom englischen Wort »resilience«, das mit Spannkraft, Widerstandsfähigkeit oder Elastizität übersetzt werden kann und die Fähigkeit einer Person beschreibt, widrige Lebensumstände erfolgreich zu bewältigen und sich ihnen gegebenenfalls anzupassen. »Im Grunde sollte man statt von psychischer Robustheit von psychischer Elastizität sprechen«, sagt der Gesundheitspsychologe Ralf Schwarzer. Einen weiteren Aspekt des Resilienzbegriffs – die Fähigkeit, auch belastende Situationen für persönliche Entwicklung nutzen zu können – betont Rosmarie Welter-Enderlin, wenn sie Resilienz wie folgt definiert: »Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen« (2006, S. 13).
Herr H. hat mit 8 Jahren seinen Vater verloren; als er 12 Jahre alt war, starb seine Mutter auf der Flucht aus dem früheren Jugoslawien in die Schweiz. Er überlebte knapp einen Wohnungsbrand, konnte aber trotz dieser Belastungen seine Ausbildung beenden, gründete eine Familie und leitet heute einen mittelgroßen Betrieb. Im Gegensatz zu Herrn H. ist Herr W. nach einem Bagatellunfall auf der Baustelle – ein Stein verletzte seinen Arm – arbeitsunfähig. Auch nach Jahren gelingt es ihm nicht mehr, eine neue Stelle anzunehmen, weil er sich den Belastungen des Berufsalltags nicht mehr gewachsen fühlt.
Warum scheint Herr H. auch schwerste Schicksalsschläge ohne psychische Folgeschäden zu bewältigen, während Herr W. durch ein weitaus weniger gravierendes Ereignis wie aus der Bahn geworfen zu sein scheint?
Welche Eigenschaften und Ressourcen helfen Menschen, gesund zu bleiben? Gibt es bestimmte Bewältigungsstrategien, die Gesundheit fördern? Wie kann man diese entwickeln bzw. mobilisieren? Diesen und ähnlichen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Das Buch wendet sich primär an PsychotherapeutInnen, aber insbesondere die Übungen im Schlussteil können auch an PatientInnen weitergegeben werden. Praxisnahe Beispiele sollen dazu anregen, einen ressourcenorientierten Ansatz in der Arbeit mit vulnerablen Menschen zu erproben.
Resiliente Menschen zeichnen sich durch eine positive Selbst- und Fremdeinschätzung trotz Risikobelastung, die Abwesenheit psychischer Störungen trotz möglicherweise extremer Belastungen sowie die Fähigkeit zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben oder belastenden, evtl. traumatischen Erfahrungen aus (vgl. Wustmann, 2004).
Resilienz stellt das Gegenstück zur Vulnerabilität dar, das heißt der Verwundbarkeit eines Menschen gegenüber ungünstigen Lebensumständen. Im Gegensatz zu einem resilienten gelingt es einem vulnerablen Menschen nicht, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen, da ihm Bewältigungskompetenzen und soziale Unterstützung fehlen, um Belastungssituationen zu meistern.
Resilienz ist jedoch kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Sie variiert je nach Zeit und Situation (Rutter, 2000). Wir können zu einem Zeitpunkt resilient sein und zu einem anderen vulnerabel, wenn wir schwere Schicksalsschläge erleiden mussten wie zum Beispiel den Tod eines nahe stehenden Menschen. Da Resilienz kein Persönlichkeitsmerkmal ist, kann sie in jeder Altersstufe erlernt werden. Sie kann in Interaktionen mit der sozialen Umwelt erworben werden, aber auch wieder verloren gehen (Rutter, 2000).
Resilienz ist meiner Meinung nach aber mehr. Anstatt von angeborenen Fähigkeiten oder einem Menschenbild auszugehen, in dem ein Mensch ausschließlich als Produkt seiner Umwelt betrachtet wird, plädiere ich für einen Ansatz, in dem der Eigenaktivität des Einzelnen Rechnung getragen wird. Dieser Ansatz wurde bisher in der Resilienzforschung nicht verfolgt. Eine solche Theorie liegt aus entwicklungspsychologischer Sicht von Jean Piaget vor. Nach Piaget sind nicht die Sinne die Quelle menschlicher Erkenntnis und auch nicht die Sprache, sondern die Aktivität (action). Die kognitive und emotionale Ausstattung einer Person ist demzufolge niemals bloß ein Produkt von Anlage und Umwelt. Die Eigenaktivität bildet einen dritten Kausalfaktor. Der in Bern lehrende Philosoph Thomas Kesselring führt dazu aus:
»Aus den sich zunehmend aufeinander einspielenden sensomotorischen Koordinationen gehen im Grunde alle späteren intellektuellen Fähigkeiten im engeren Sinn hervor, und zwar durch einen reflexiven und konstruktiven Prozess: Indem das erkennende Subjekt seine Handlungen und Handlungskoordinationen reflektiert (d. h. indem es sie bewusst oder unbewusst exploriert), baut es – sozusagen im Rückwärtsgang, wie ein Krebs – höherstufige kognitive ›Strukturen‹ auf« (Kesselring, 2010, S. 86).
Aktivität im Sinne von Piaget meint nicht nur etwas zu machen, sondern in den späteren Entwicklungsstadien vor allem geistige Aktivität. Als »Operator« der Veränderung betrachtet Piaget die reflektierende Abstraktion – die Fähigkeit, die eigenen konkreten Handlungen oder mentalen Überlegungen zu reflektieren und aufgrund dieser Reflexion zu neuen Einsichten zu gelangen. Eigenaktivität meint somit nicht nur Bewältigung, sondern Konstruktion von neuen, gesundheitsfördernden Haltungen. Nach Jean Piaget ist Entwicklung ein Prozess, in dem das Individuum sich seinen Umweltbedingungen anpasst und aufgrund dieser Anpassung innere Veränderungen vollzieht, die wiederum einen Einfluss auf die Gestaltung seiner äußeren Lebensbedingungen haben. Diese inneren Veränderungen sind es, die meiner Meinung nach einen Menschen vulnerabel oder resilient machen.
Um zu verstehen, wie genau die Konstruktion von neuen, gesundheitsfördernden Haltungen möglich wird, gehe ich der Frage nach, wie Konzepte von Piaget in der Psychotherapie nutzbar gemacht werden können. Ich zeige auf, dass psychische Störungen als Folge von zum Stillstand gekommenen Entwicklungsprozessen oder deren Blockierung in einzelnen Bereichen verstanden werden können. Der Reifungsstufe entsprechend, auf der die Entwicklung stagnierte oder partiell behindert wurde, werden das Erleben und die Weltsicht des Patienten bestimmt: Wenn ein Patient beispielsweise in der präoperationalen Phase seiner Entwicklung stagnierte, wird die Fähigkeit, formal operatorisch zu denken, eingeschränkt sein, Empathie ist kaum möglich und sein Verhalten wird kaum durch die Reaktionen und Rückmeldungen von Freunden, Partnern oder Berufskollegen beeinflusst. Die Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise sind weitreichend. Es können nicht nur bestimmte Störungsbilder Entwicklungsstufen zugeordnet werden, sondern auch die Behandlungstechnik wird durch das Entwicklungsniveau des gestörten Persönlichkeitsbereichs des Patienten bestimmt. Um die Blockierung der Entwicklung aufzulösen, wird die reflektierende Abstraktion genannt.
Aber wie funktioniert genau die Eigenaktivität, die reflektierende Abstraktion, die als zentral für die Entwicklung sowie für die Aufrechterhaltung von Resilienz erachtet werden kann? Wie wird die Konstruktion von neuen, gesundheitsfördernden Haltungen konkret möglich?
Um diese Frage zu beantworten, greife ich auf Theorien zurück, die ausgehend von Jean Piagets Entwicklungsmodell positive Veränderung in der menschlichen Entwicklung und der Psychotherapie zu erfassen versuchten: das Dialektik-Modell des Berner Philosophen Thomas Kesselring (1984) sowie das Dialektische Veränderungsmodell von Gottfried Fischer (1989). In beiden Modellen wird davon ausgegangen, dass auf Widersprüchen beruhende psychische Krisen Entwicklungspotenzial besitzen. Auf der Grundlage der genannten Theorien wird die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Resilienz neu definiert als eine bestimmte Form der Lösung von Widersprüchen, mit der Entwicklungs- und Reifungsprozesse einhergehen.
Thomas Kesselring beschäftigt sich mit der Frage, welche Ausgangslage es in der kognitiven Entwicklung braucht, damit der Übergang zur nächsthöheren Entwicklungsstufe möglich wird. Für das Verständnis von Resilienz sind die Übergänge von einer kognitiv-emotionalen Entwicklungsstufe zur nächsten sowie die psychologischen Prozesse, die hierbei wirksam sind, bedeutsam, da es auch beim Aufbau von Resilienz um Entwicklungsschritte geht. Mit Hilfe seiner Überlegungen wird nachvollziehbar und detailliert beschrieben, wie über reflektierende Abstraktion »höhere Erkenntnisstufen« möglich werden.
Zentral in seiner Theorie ist der Begriff der Antinomie. Eine Antinomie ist ein Widerspruch, der sich zwar aus logischen Regeln ergibt, jedoch zu Aussagen führt, die einander widersprechen. Eine Antinomie ist nach Kesselring lösbar, wenn die in ihr enthaltenen unterschiedlichen Ebenen getrennt werden können. Ich möchte ein Beispiel anführen:
Bei sexuellem Missbrauch durch einen nahe stehenden Menschen erleben Betroffene einen Widerspruch zwischen dem Bild, das sie von dieser zentralen Bezugsperson verinnerlicht haben, und der konkreten traumatisierenden Handlung dieses Vertrauensträgers. Es kommt zu einer Ebenenvermischung, indem die Erinnerung an Übergriffe in Widerspruch zu dem verinnerlichten Bild des guten Vaters, der guten Mutter u. a. gerät. Diese Vermischung zwischen der Ebene der konkreten Handlung und der übergeordneten Ebene psychischer Repräsentanzen führt zu einer oszillierenden Bewegung: Die Bezugsperson wird als Täter erkannt, wenn sich das Opfer an den Missbrauch erinnert, aber im nächsten Moment verehrt, wenn die Repräsentanz der Bezugsperson als »liebender Beschützer« wirksam wird. Wird das Delikt gleichgesetzt mit dem verinnerlichten Bild des Täters, muss die Angst vor innerem Beziehungsverlust die Bewältigungsmöglichkeiten dieses Menschen übersteigen. Dem Bild der »guten Vertrauensperson« steht dessen Negation, die Repräsentation der Tat, gegenüber. Eine Lösung aus dieser antinomischen Konstellation wird nur möglich, wenn zwischen den beiden Ebenen differenziert werden kann: dass die Tat als Missbrauch erkannt wird, aber gleichzeitig dem Wunsch nach einer beschützenden, verlässlichen Vertrauensperson Rechnung getragen wird.
Anders als Thomas Kesselring betont Gottfried Fischer in seinem Allgemeinen Dialektischen Veränderungsmodell weniger die Bedeutung der Entmischung verschiedener Abstraktionsebenen als den Stellenwert, der der Auflösung von Widersprüchen zukommt. Zentral ist in seinem Veränderungsmodell der »unbewusste Begriff« – die Annahme, dass in jedem Begriff bereits das Gegenteil enthalten ist. Zum Beispiel ist Nähe nicht vorstellbar ohne eine Vorstellung von Distanz oder die Bedeutung von Verantwortung wird nicht nachvollziehbar, wenn wir uns nicht unverantwortliches Handeln vergegenwärtigen können. Wenn der Bezug zu einem Pol unseres Erlebens verloren geht, zum Beispiel nur Nähe zu anderen Menschen gesucht wird und Distanz als unerträglich erlebt wird, spricht er von einem krankmachenden Prozess. Um gesund zu werden, müssen dementsprechend aufgespaltene Polaritäten wieder verbunden werden. Auf Nähe bezogen bedeutet dies: Gesunde Nähe ist nur möglich, wenn ich gehen kann und mich auch wohl fühle, wenn ich allein bin.
Diese dialektische Sichtweise kann auch auf den Begriff der Resilienz angewendet werden. Das Gegenteil von Resilienz ist Vulnerabilität. Resilienz ist nur möglich, wenn Verletzlichkeit vorhanden ist. Um stark sein zu können, muss man sich Schwächen zugestehen. Sonst wird die scheinbare Stärke zu einer hohlen Fassade. Wie kann man sich diese Arbeit an Widersprüchen in zwischenmenschlichen Beziehungen konkret vorstellen? Im dialektischen Veränderungsmodell werden drei Phasen beschrieben, wie menschliche Veränderung möglich wird:
Die erste Phase zeichnet sich dadurch aus, dass alte, schädigende Muster erkannt und in Frage gestellt werden. Dies wird erst möglich, wenn positive Erfahrungen gemacht werden. Wenn man beispielsweise gewohnt ist, nie wertgeschätzt zu werden, wird die Erfahrung, unterstützt und gelobt zu werden, zuerst einmal Irritation auslösen. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie mit dieser Irritation umgegangen wird. Entweder entwerte ich die Gruppe oder Person, von der ich Wertschätzung erfahre. Beispielsweise zitiert Woody Allen in seinem Film »Der Stadtneurotiker« Groucho Marx mit den Worten, er würde nie einem Club beitreten, der ihn als Mitglied akzeptieren würde. In diesem Fall kommt es zu keinem Veränderungsprozess. Ich halte weiterhin nicht viel von mir, und wenn jemand sich nicht meinem Selbstbild entsprechend verhält, stimmt etwas mit ihm nicht.
Oder ich stelle mein negatives Selbstbild in Frage. Damit wäre ein zweiter Schritt Richtung Veränderung, ein Einsichtsprozess, möglich geworden. Die dritte Phase wird aufgrund dieser veränderten Einstellung zu mir selbst deutlich. Ein anderes Selbstbild hat zum Beispiel zur Folge, dass ich auch mein Verhalten gegenüber anderen ändere und eine andere Sicht auf die eigene Geschichte möglich wird.
Ich möchte die genannten Veränderungsschritte mit einem Beispiel verdeutlichen.
Eine junge Frau, Susanne, begann eine Lehre als Büroangestellte. Sie wurde von ihrer Vorgesetzten sehr geschätzt und gefördert. Zu den MitarbeiterInnen hatte sie ein gutes Verhältnis. In den ersten Wochen ihrer Lehre war sie sehr zurückhaltend. Sie äußerte sich kaum und wartete, bis man sie ansprach. Relativ bald wagte sie sich mehr einzubringen und dies wurde von ihren KollegInnen sehr geschätzt. Susanne berichtete, dass sie an ihrem Arbeitsplatz zum ersten Mal erlebte, dass man sich für ihre Meinung interessiert und sie respektvoll behandelt.
Susanne hatte eine schwierige Kindheit. Die Mutter hatte Drogenprobleme. Der Vater war nicht bekannt. Sie wuchs in einer Pflegefamilie auf, hatte aber regelmäßigen Kontakt zur Familie ihrer Mutter. Dort erlebte sie an den Besuchswochenenden Gewalt und im Alter von 12 Jahren sexuelle Übergriffe von ihrem Cousin. In ihrer Pflegefamilie fühlte sie sich nicht mehr gewollt, nachdem ihre Pflegemutter unerwartet ein eigenes Kind bekommen hatte. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb sie dort nicht über ihre Missbrauchserfahrungen sprechen konnte. Zu erleben, dass andere Menschen sich für sie interessierten, löste bei ihr eine – man könnte sagen – positive Krise aus. Aufgrund dieses zu ihren bisherigen Erfahrungen in Kontrast stehenden Erlebnisses wurde bei der jungen Frau ein Einsichtsprozess möglich. Sie merkte, dass sie ja eigentlich ein wertvoller Mensch ist, aber ihre Mutter und später ihre Pflegeeltern sie wegen eigener Probleme nicht wertschätzen konnten. Aufgrund der positiven Rückmeldungen an ihrer Arbeitsstelle begann sich das Selbstbild von Susanne zu verändern. Von dieser neuen Perspektive her konnte sie schädigende Beziehungsmuster in Frage stellen und verändern. Es wurde ihr möglich auch außerhalb der Arbeit Respekt für sich einzufordern. Sie konnte das Verhalten anderer hinterfragen und musste sich nicht mehr für das Fehlverhalten von Bekannten oder Freunden verantwortlich fühlen.
Diese junge Frau meisterte ihr Leben, obwohl sie keine günstigen Ausgangsbedingungen in ihrer Familie erlebt hatte. Sie war vernachlässigt, entwertet und missbraucht worden. Fachpersonen würden ihr eine hohe Resilienz zusprechen.
Den beschriebenen psychischen Veränderungsprozess vollzog Susanne sicher nicht bewusst. Wenn wir die beschriebenen Schritte kennen, können wir sie jedoch gezielt anwenden, um unseren Patienten dabei zu helfen, Krisen konstruktiv zu meistern. Wie betont: Resilienz wird gemäß der hier vertretenen Vorstellung nicht als eine angeborene Fähigkeit und auch nicht ausschließlich als Resultat schädigender oder förderlicher Umwelteinflüsse betrachtet. Resilienz ist lernbar. Sie darf jedoch nicht mit Bewältigung (Coping) verwechselt werden. Bewältigung bezieht sich auf das Verhalten der Betroffenen in und nach belastenden oder sogar traumatisierenden Situationen. Resilienz stellt sich erst später ein, in der Folgezeit, wenn zum Beispiel Traumaopfer sich mit ihren Erfahrungen auseinander setzen müssen, um sie zu verarbeiten.
Grundsätzlich geht es in meinem Ansatz darum, wie pathogenetische in salutogenetische Mechanismen umgewandelt werden können (vgl. Barwinski, 2011). Veränderungskonzeption ist ein dialektischer Prozess, wobei der Fähigkeit zur reflektierenden Abstraktion eine Schlüsselrolle zukommt.
Nach einem Überblick zum Thema (Kap. 1) und der Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Resilienz (Kap. 2) beschäftige ich mich im dritten Kapitel mit der Eigenaktivität als salutogenetischer Strategie. In den beiden darauf folgenden Kapiteln steht die Frage im Vordergrund, welche psychischen Konstellationen Entwicklung fördern oder verhindern:
Im vierten Kapitel versuche ich den Antinomie-Begriff, wie er von Thomas Kesselring verwendet wird, auf den therapeutischen Prozess zu übertragen. Ich zeige auf, wie Entwicklungsblockaden über die Auflösung von Antinomien überwunden werden können, und entwickle ein Stufenmodell, das für die Therapieplanung und Ableitung von Methoden und konkreten Interventionen genutzt werden kann. Psychotherapie wird hier als Konstruktionsprozess verstanden, der gezielt unterstützt werden kann, um Blockaden aufzulösen und Entwicklungsschritte zu ermöglichen.
Im fünften Kapitel vertiefe und erweitere ich die vorangehenden Überlegungen, indem ich die Bedeutung von Widersprüchen bei der Auflösung von Antinomien aufzeige. Eine dialektische Lösung von Widersprüchen wird als zentrale Bewältigungsstrategie erarbeitet, die mit persönlicher Entwicklung einhergeht und damit Resilienz ermöglicht. Ich stelle zwei Methoden vor, wie salutogenetische Mechanismen entwickelt und gefördert werden können: das Traumakompensatorische Schema und das konflikthafte Beziehungsschema, mit dessen Hilfe Widersprüche mittels eines systematischen Vorgehens gelöst werden können.
In den weiteren Kapiteln steht der Theorie-Praxis-Transfer im Vordergrund. Ich fasse im sechsten Kapitel allgemeine praktische Maßnahmen zusammen, die die Stärkung und Entwicklung von Resilienz fördern, und stelle Methoden vor, wie pathogenetische zu salutogenetischen Mechanismen umgewandelt werden können. Dabei gehe ich von der Hypothese aus, dass krankmachende Strategien gewürdigt werden müssen und von diesen Lösungsversuchen ausgegangen werden sollte, um Menschen weniger vulnerabel für zukünftige Belastungen werden zu lassen.
Im siebten und achten Kapitel werden die erarbeiteten allgemeinen praktischen Maßnahmen auf verschiedene Interventionsfelder angewandt. Es werden technische Hinweise und Übungen vorgestellt, wie Resilienz ätiologiespezifisch gefördert werden kann: in der Behandlung von Trauma-Folgeerkrankungen, bei sogenannten »frühen Störungen« und bei neurotischen Konflikten. Am Abschluss steht die Zusammenfassung meiner theoretischen Überlegungen und der wichtigsten Hinweise und Methoden für die Praxis.
Teil I
Kapitel 1
Definitionen und Bedeutung von Resilienz für die Bewältigung von Krisen – Risikofaktoren- und Schutzfaktorenkonzept – Personale Ressourcen als Resilienzfaktoren – Selbstwahrnehmung – Selbststeuerung – Selbstwirksamkeit – Soziale Kompetenz – Adaptive Bewältigungskompetenzen – Problemlösen – Kritik am Schutzfaktorenkonzept – Vernachlässigung der Entwicklungsbedingungen der Resilienzfaktoren – Vernachlässigung des sozialen Kontextes – Vom Schutz- zum Risikofaktor – Woher kommt die Widerstandskraft? – Exkurs in die Bindungstheorie – Neurobiologische Befunde
Resilienz wird sehr heterogen definiert. Einerseits wird unter Resilienz das Vorhandensein mehr oder weniger konstanter Persönlichkeitsfaktoren verstanden, andererseits wird betont, dass sie je nach Zeit und Situation variiert. Resilienz wird von den meisten Autoren jedoch nicht ausschließlich als Resultat von Umwelteinflüssen betrachtet, sondern als Produkt von Interaktionen zwischen einzelnen Menschen und ihrem sozialen Umfeld. Resilienz ist meiner Meinung nach aber mehr – sie ist Resultat der Eigenaktivität des Einzelnen. Eigenaktivität meint nicht nur Bewältigung, sondern Entwicklung von neuen, gesundheitsfördernden Haltungen und Einsichten. Nach einem erschütternden Ereignis berichten Betroffene manchmal, dass sie nicht mehr die gleiche Person seien wie zuvor. Das Ereignis hat einen innerseelischen Prozess in Gang gesetzt, der die betroffene Person veränderte. Diese psychische Metamorphose beinhaltet nicht nur Verhaltensweisen, die sich in späteren Stresssituationen als hilfreich erweisen (Scheithauer & Petermann, 1999), sondern wirkliche persönliche Entwicklung. Resilienz ist in diesem Sinne Resultat einer konstruktiven Form der Konfliktlösung, die immer mit persönlicher Entwicklung einhergeht. Vermutlich meint Welter-Enderlin diese stärkenden innerseelischen Reifungsschritte, wenn sie betont, dass belastende Situationen für persönliche Entwicklung nutzbar gemacht werden können.
Wie psychische Veränderungen möglich werden, die Resilienz fördern, wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen. Doch zuvor wende ich mich der Frage zu, welche Fähigkeiten und Ressourcen in der Resilienzforschung als Schutz- bzw. Risikofaktoren für psychische Gesundheit belegt sind. Auch wenn ich nicht die Meinung vertrete, dass Resilienz über bestimmte Persönlichkeitsfaktoren oder als Resultat von Umwelteinflüssen definiert werden kann, möchte ich zunächst die Forschungsergebnisse zu dieser Frage zusammenfassen und auf dem Hintergrund eigener Überlegungen reflektieren.
Im Mittelpunkt des Resilienzkonzepts steht die Frage danach, was Menschen stark macht. Es orientiert sich ursprünglich am Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1923 – 1994). Das Wort setzt sich aus salus (= wohl, heil, Gesundheit) und genesis (= Entstehung, Herstellung) zusammen. Im Gegensatz zu sanare (jemanden heil machen) ist hier das selbstgenerierende Heilen gemeint. Gesundheit und Krankheit werden nicht als dichotomische Einheiten aufgefasst, sondern bilden nach Antonovsky ein Kontinuum. Der Medizinsoziologe beschäftigte sich, anders als in der Medizin lange üblich, nicht mit der Frage danach, was Menschen krank macht, sondern stellte die Erforschung von Faktoren, die die Gesundheit fördern und erhalten, in den Mittelpunkt seines Interesses. Dem salutogenetischen Ansatz liegt die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen zugrunde. Demzufolge ist es sinnvoll, nicht nur zu erforschen, was einen kranken Menschen wieder gesund macht, sondern auch herauszufinden, was er benötigt, um gesund zu bleiben. Die Resilienzforschung sucht gezielt nach jenen Fähigkeiten, Potenzialen und Ressourcen, die vor einer negativen Entwicklung schützen und konstruktive Entwicklungsschritte fördern. Durch das Erfassen der komplexen Wechselwirkungen zwischen Risiko- und Schutzfaktoren sollen Aussagen über Bedingungen getroffen werden, die zur Entwicklung einer Störung führen oder umgekehrt eine positive Entwicklung begünstigen. Die zwei wichtigsten Konzepte der Resilienzforschung sind dementsprechend das Risikofaktoren- und das Schutzfaktorenkonzept.
Das Risikofaktorenkonzept sucht nach Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer psychischen Störung erhöhen (Bender & Lösel, 1998). Hier wird zwischen Vulnerabilitätsfaktoren und Risikofaktoren bzw. Stressoren unterschieden. Vulnerabilitätsfaktoren erfassen biologische und psychische Merkmale eines Kindes, von denen potentiell eine Gefährdung der gesunden Entwicklung ausgeht (vgl. Holtmann & Schmidt, 2004). Bei Vulnerabilitätsfaktoren wird zudem zwischen primären und sekundären Faktoren unterschieden. Unter primären Faktoren versteht man solche, die das Kind von Geburt an aufweist, wie zum Beispiel genetische Dispositionen oder Geburtskomplikationen. Sekundäre Faktoren werden dagegen in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld des Kindes, meist der Familie, erworben. Der wichtigste sekundäre Vulnerabilitätsfaktor ist eine unsichere Bindungsorganisation. Wegen seiner grundlegenden Bedeutung für die Entwicklung von Resilienz werde ich auf diesen Faktor an späterer Stelle noch ausführlich eingehen.
Risikofaktoren bzw. Stressoren sind Merkmale der psychosozialen Umwelt eines Menschen, »die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von psychischen Störungen erhöhen« (Bender & Lösel, 1998), wie zum Beispiel Armut, Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund, Verlust eines nahe stehenden Menschen, Mobbing/soziale Ablehnung, Arbeitslosigkeit und vieles mehr (vgl. Wustmann, 2004).
Anzumerken bleibt, wie in der Mannheimer Risikokinderstudie (vgl. Laucht et al., 1999) gezeigt, dass Vulnerabilitätsfaktoren sich vergleichsweise wenig gravierend auf die Entwicklung auswirken, während psychosoziale Risikofaktoren häufiger zu ungünstigen Entwicklungsverläufen führten und besonders die kognitive und sozio-emotionale Entwicklung des Kindes beeinträchtigten. Je älter das Kind wird, desto weniger spielen biologische Risiken eine Rolle (Scheithauer & Petermann, 1999). Ob ein Risikofaktor letztlich entwicklungshemmend wirkt oder krank macht, hängt jedoch von vielen weiteren Aspekten ab. Beispielsweise spielt das Lebensalter eines Menschen eine Rolle. Im Laufe der Entwicklung gibt es immer wieder sensible Phasen, in denen Kinder, aber auch Erwachsene anfälliger für risikoerhöhende Faktoren sind. Phasen erhöhter Vulnerabilität sind zum Beispiel in der Kindheit Übergänge, wie der Eintritt in den Kindergarten und später in die Schule, aber auch die Zeit der Pubertät. Verschiedene Befunde weisen darauf hin, dass in der Kindheit und Jugend erlebte Traumata (Kindheit ab ca. 4. Lebensjahr bis zur Adoleszenz, d. h. bis zum 18. Lebensjahr) mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen als im jungen und späten Erwachsenenalter erlebte traumatisierende Ereignisse (Maercker et al., 1999).
Aber auch das höhere Lebensalter gilt als eine sensible Phase. Aus einer Reihe neuerer Untersuchungen von Man-made-Traumata geht hervor, dass zumindest bei diesen Traumaarten im Alter deren Pathogenität im Vergleich zum mittleren Erwachsenenalter ansteigt, ältere Menschen also vulnerabler für aktuelle Traumata sind (Goenjian et al., 1994; Maercker, 2002). Fragt man nach Gründen, warum das Alter als vulnerable Lebensphase gilt, so kann einmal ein psychobiologisch bedingter Abbau von Kontroll- und Abwehrmechanismen neben einer allgemein höheren Krankheitsbelastung in diesem Lebensabschnitt als Begründung angeführt werden. Traumatisierte ältere Menschen berichten oft, dass sie Intrusionssymptome lange Zeit durch eine Reihe von Bewältigungsstrategien unterdrücken konnten. Hierzu ein Beispiel:
Hankin, 1997