Dante Alighieri: Das neue Leben
Übersetzt von Richard Zoozmann
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Dante Gabriel Rossetti, Beatrice grüßt Dante, 1859
ISBN 978-3-7437-1080-1
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-1044-3 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-1045-0 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Vita nova. Entstanden bis 1293. Erstdruck 1576. Hier nach der Übersetzung von Richard Zoozmann, Freiburg im Breisgau, Herder, 1908.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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In jenem Teile des Buches meiner Erinnerung, vor welchem nur wenig zu lesen ist, findet sich eine Überschrift, die da lautet: Hier beginnt das neue Leben. Und unter dieser Überschrift finde ich Worte, welche ich in diesem Büchlein nachzuzeichnen gedenke, und wenn nicht alle Worte, so doch wenigstens ihren Sinn und Inhalt.
Schon zum neunten Mal war seit meiner Geburt der Himmel des Lichtes beinahe zu demselben Punkte wiedergekehrt, und zwar in seinem eigenen Kreislauf, als mir zum ersten Mal die verklärte Herrin meines Geistes erschien, die von vielen, die nicht wußten, wie sie sie nennen sollten, Beatrice genannt wurde. Sie war damals schon so lange in diesem Leben gewesen, daß während ihrer Zeit der Sternenhimmel sich um den zwölften Teil eines Grades gen Osten bewegt hatte, so daß sie ungefähr im Beginn ihres neunten Lebensjahres mir erschien und ich sie ungefähr zu Ende meines neunten Jahres sah. Sie erschien mir, in ein Gewand von der edelsten Farbe gekleidet, blutrot, bescheiden und ehrbar, gegürtet und geschmückt nach der Weise, die ihrem allerjugendlichsten Alter geziemte. In diesem Augenblick, das kann ich wahrhaftig sagen, begann der Geist des Lebens, der in der geheimsten Kammer des Herzens wohnet, so heftig zu zittern, daß er mir in den leisesten Pulsen furchtbar erschien; und zitternd sagte er die folgenden Worte: Siehe, ein Gott, der stärker als ich ist und der daherkommt und mich beherrschen wird. In diesem Augenblick begann der animalische Geist, der in jener hohen Kammer wohnet, zu welcher alle Geister der Empfindung ihre Wahrnehmungen hinauftragen, sich sehr zu wundern, und indem er insbesondere zu den Geistern des Gesichtes sprach, sagte er diese Worte: Nun ist eure Seligkeit erschienen. In diesem Augenblick begann der natürliche Geist, der in jenem Teile wohnet, in welchem sich unsere Ernährung vollzieht, zu weinen, und weinend sprach er die Worte: Wehe mir Armen! denn nun werd ich häufig behindert sein. Von da an, sage ich, beherrschte die Liebe meine Seele, die ihr so rasch angetraut war, und sie begann eine solche Sicherheit und solche Herrschaft über mich zu gewinnen, durch die Kraft, welche meine Phantasie ihr gab, daß ich vollkommen nach ihrem Gefallen zu tun genötigt ward. Sie befahl mir zu vielen Malen, daß ich trachten sollte, jenes jugendliche Englein zu schauen, und daher ging ich in meiner Knabenzeit gar oftmals aus, um sie zu suchen; und ich sah sie auch und sah an ihr ein so edles und preiswürdiges Betragen, daß von ihr sicherlich jenes Wort des Poeten Homeros gesagt werden konnte: »Sie scheinet nicht die Tochter eines sterblichen Menschen, sondern die eines Gottes zu sein.« Und mag auch ihr Bild, das mich niemals verließ, nur ein Übermut der Liebe gewesen sein, um mich dadurch zu beherrschen, so war es doch von so edler Natur, daß es niemals zuließ, daß die Liebe mich leitete ohne den treuen Rat der Vernunft in allen jenen Dingen, in denen solchen Rat zu vernehmen nützlich sein mochte. Und da das Verweilen bei diesen Leidenschaften und Handlungen einer so frühen Jugend manchen als Fabelei erscheinen muß, so will ich davon ablassen, und indem ich viele Dinge übergehe, die ich aus derselben Quelle schöpfen könnte, aus welcher diese stammen, komme ich zu jenen Worten, die in meinem Gedächtnisse unter höheren Paragraphen verzeichnet stehen.
Als so viele Tage vorübergegangen waren, daß gerade neun Jahre seit der oben beschriebenen Erscheinung jener Lieblichsten verflossen waren, da geschah es am letzten jener Tage, daß jenes wunderbare Mägdlein mir erschien, in das allerweißeste Kleid gehüllt und inmitten zweier edler Frauen von älteren Jahren. Und da sie durch eine Straße ging, wendete sie ihre Augen nach der Stelle, wo ich furchtsam und schüchtern stand, und in ihrer unaussprechlichen Holdseligkeit, die nun bereits in dem Reiche der Ewigkeit ihren Lohn gefunden hat, grüßte sie mich sehr tugendlich, daß ich das Endziel aller Seligkeit zu schauen meinte. Die Stunde, in welcher ihr süßer Gruß mich erreichte, war bestimmt die neunte jenes Tages, und da dieses das erste Mal war, daß ihre Worte sich bewegt hatten, um an mein Ohr zu dringen, fühlte ich solche Wonne, daß ich wie trunken aus der Menge eilte. Und in die Einsamkeit eines Zimmers entflohen, begann ich an jene Liebenswürdige zu denken, und wie ich so an sie dachte, überkam mich ein sanfter Schlummer. In diesem erschien mir ein wundersames Gesicht; denn es war mir, als sähe ich in meinem Zimmer einen feuerfarbenen Nebel, in welchem ich deutlich die Gestalt eines Gebieters von furchtbarem Anblick für jeden, der ihn schaute, sah: und zwar schien er mir selbst von solcher Freude erfüllt, daß es ganz wunderbar war, und in seinen Worten sagte er vieles, was ich nicht verstand, außer gar wenigen Worten; und unter diesen verstand ich deutlich: Ich bin dein Herr! In seinen Armen aber schien mir ein nacktes Weib zu schlafen, das nur ganz leicht in ein blutrotes Tuch gehüllt war; und als ich diese mit vieler Aufmerksamkeit betrachtete, erkannte ich, daß es die Herrin des Grußes war, welche mich am anderen Tage ihres Grußes gewürdigt hatte. Und in der einen seiner Hände schien jener mir ein Ding zu halten, das völlig glühte, und es war mir, als spräche er die Worte: Sieh hier dein Herz! Und als er so einige Zeit verblieben war, schien es mir, daß er jene Schlafende aufweckte; und er gab sich viele Mühe, sie durch die Kraft seines Geistes dazu zu bewegen, daß sie jenes Ding, das in seinen Händen glühte, äße, und sie aß es zuletzt mit Zögern. Danach aber währte es nicht lange, und seine Fröhlichkeit verwandelte sich in das bitterste Weinen; und so weinend nahm er jenes Weib wieder in seine Arme, und mit ihr entschwebte er, wie es mir vorkam, gegen den Himmel. Davon aber empfand ich eine so heftige Angst und Beklemmung, daß der leise Schlaf, in dem ich befangen war, nicht anhalten konnte, sondern plötzlich verging, und ich erwachte. Und alsbald begann ich nachzudenken, und ich fand, daß die Stunde, in welcher mir jenes Gesicht erschienen war, die vierte der Nacht gewesen, so daß sich deutlich ergibt, daß es die erste der neun letzten Stunden der Nacht gewesen war. Und indem ich über die Erscheinung nachsann, die ich gehabt, nahm ich mir vor, es viele wissen zu lassen, die berühmte Liebessänger jener Zeit waren. Und da ich nun damals schon von selbst die Kunst, Worte in Reimen zu sagen, erkannt hatte, so nahm ich mir vor, ein Sonett zu machen, in welchem ich alle Getreuen der Liebe grüßen und mit der Bitte, daß sie mich wissen lassen möchten, was sie über mein Gesicht dächten, ihnen schreiben wollte, was ich in meinem Schlafe gesehen; und da begann ich das Sonett, das beginnt: Jede verliebte Seele.
Jede verliebte Seele, jedes Herz, das rein,
Vor deren Anblick diese Verse kamen,
Grüß ich in ihres Herrn, in Amors Namen,
Und ihre Meinung möcht ich gern vernehmen:
Es mochte um die vierte Stunde sein
Der Zeit, in welcher alle Sterne glühn,
Als unvermutet Amor mir erschien;
Noch, denk ich dran, will mich ein Schauer lähmen!
Fröhlich schien Amor mir, in Händen hielt
Mein Herz er, und in seinen Armen lag
Die Herrin schlafend, in ein Tuch gehüllt.
Dann weckte er sie auf, und sie, mit Beben
Aß still mein glühend Herz. Fern schien der Tag,
Und weinend sah ich ihn von dannen schweben.
Dieses Sonett ist eingeteilt in zwei Teile: im ersten Teile grüße ich und begehre Erwiderung; im zweiten erkläre ich, worauf erwidert werden soll. Der zweite Teil beginnt bei: Es mochte.
Auf dieses Sonett wurde von vielen und in verschiedenem Sinne geantwortet, und unter den Antwortenden war auch derjenige, den ich den ersten meiner Freunde nenne; und er schrieb mir damals ein Sonett, das mit den Worten begann: Mich dünkt, du durftest allen Wert erkunden. Und dies war auch eigentlich der Anfang der Freundschaft zwischen ihm und mir, als er erfuhr, daß ich derjenige war, der ihm dies gesandt hatte. Die wahre Deutung des besagten Traumes wurde damals von keinem erkannt; aber heute ist sie auch den Einfältigsten offenbar.
Seit jenem Gesichte fing mein natürlicher Geist an, sehr in seiner Tätigkeit behindert zu sein, weil meine Seele ganz und gar den Gedanken an jene Holdseligste hingegeben war. Und davon ward ich in kurzer Zeit so hinfällig und schwach, daß vielen Freunden mein Anblick leid tat; und viele, die voll Neides waren, bemühten sich auf alle Weise, von mir zu erfahren, was ich vor den anderen durchaus geheim halten wollte. Und ich, der ich die Bosheit der Fragen, die sie mir stellten, durchschaute, antwortete ihnen auf das Geheiß der Liebe, die mir gemäß dem Rate der Klugheit gebot, daß die Liebe es sei, die mich so weit gebracht hatte. Ich sagte »Aus Liebe«, weil ich in meinem Antlitz so sehr ihre Zeichen trug, daß dies sich nicht verbergen ließ. Und als sie mich weiter fragten: »Um wen hat diese Liebe dich so verzehrt?« da sah ich sie nur lächelnd an und sagte nichts.
Eines Tages geschah es, daß jene Allerlieblichste in einem Raume saß, in welchem Lieder zum Preise der Himmelskönigin zu hören waren; und ich befand mich an einem Orte, von dem aus ich meine Wonne sehen konnte. Und in der Mitte zwischen ihr und mir, in der geraden Linie, saß eine edle Dame von gar holdseligem Angesicht. Die sah mich oftmals an und verwunderte sich über mein Schauen, das bei ihr zu enden schien; und da bemerkten wieder viele ihre Blicke. Und so sehr wurde darauf acht gegeben, daß, als ich jenen Ort verließ, ich hinter mir sagen hörte: »Sieh nur, wie der sich um jene Frau verzehrt.« Und da sie ihren Namen nannten, erkannte ich, daß sie von jener sprachen, die sich inmitten der geraden Linie befunden hatte, die von der holdseligsten Beatrice ausging und in meinen Augen endigte. Da freute ich mich gar sehr, da ich nun gewiß war, daß mein Geheimnis sich nicht an diesem Tage durch mein Schauen den anderen verraten hatte. Und sogleich gedachte ich, jene liebliche Frau zum Verbergen der Wahrheit zu benützen, und in kurzer Zeit stellte ich das so gut an, daß die meisten Personen, die sich um mich kümmerten, mein Geheimnis zu kennen glaubten. Und durch diese Frau verbarg ich es einige Monate und Jahre; und um die anderen noch gläubiger zu machen, verfaßte ich für sie einige Sächlein in Reimen, die hier aufzuschreiben nicht in meiner Absicht liegt, es wäre denn, insoweit sie sich auf jene lieblichste Beatrice beziehen; und darum werde ich sie alle lassen, nur daß ich einiges weniges davon niederschreiben werde, das als ihr Preis erscheinen muß.
Ich sage, daß in jener Zeit, in welcher diese Dame der Schirm so großer Liebe war – wenigstens von meiner Seite –, mich eines Tages die Lust anwandelte, den Namen jener Holdseligen preisend zu erwähnen und mit ihr die Namen vieler anderer Frauen und vor allem auch den Namen dieser edlen Dame; und so wählte ich die Namen von sechzig der schönsten der Stadt, in welcher meine Herrin nach dem Willen des höchsten Gottes das Licht erblickt hatte, und verfaßte eine Epistel in der Form einer Serventese, welche ich hier nicht niederschreiben werde. Und ich hätte ihrer gar nicht Erwähnung getan, wenn ich nicht hätte sagen wollen, daß, als ich sie verfaßte, es wunderbarerweise geschah, daß der Name meiner Herrin sich in keine andere Versstelle fügen wollte als an die neunte Stelle unter den Namen jener Frauen.
O ihr, die ihr den Weg.