Elisabeth Bürstenbinder

Der höhere Standpunkt

Drei Novellen

 

 

 

Elisabeth Bürstenbinder: Der höhere Standpunkt. Drei Novellen

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Edgar Degas, Portrait einer jungen Frau, 1859

 

ISBN 978-3-7437-1856-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-1797-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-1798-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Erstdruck in: »Hexengold«, Stuttgart, Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1890 unter dem Pseudonym »E. Werner«.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Der höhere Standpunkt

»Ja, Gnädige, es ist schon richtig so, die Sach' mit dem Schleier. Wenn's auch lange her ist, schon viele hundert Jahr, so geht's noch heutzutag, man soll's nur versuchen. Wenn ein Bub was Liebes hat, dann muss er ihm den Schleier stehlen – ein Fürtuch tut's auch, wenn's ein Mädel aus den Bergen ist – dann vergisst's ihn nimmer. Er liegt ihm im Sinn Tag und Nacht und es kommt nimmer los von ihm – aber gestohl'n muss es halt sein.«

Es war ein alter Bauer in Lodenjacke und Kniestrümpfen, der soeben eine der Bergsagen erzählt hatte, an denen die Alpen so reich sind, und nun mit feierlichem Ernste den alten Volksglauben vertrat, der sich daran knüpfte. Seine Zuhörer, eine junge Dame und ein halb erwachsener Knabe, lauschten mit voller Aufmerksamkeit der wundersamen Geschichte, während die beiden Herren, die etwas abseits auf der grünen Matte der Alm lagerten, sich ablehnender verhielten. Der Ältere, ein Mann in vorgerückten Jahren, mit ergrautem Haar und freundlich wohlwollenden Zügen, lächelte nur, während sich in dem Gesichte des Jüngeren der herbste Spott ausprägte.

»Nun hören Sie nur diesen Unsinn, Herr Kollege!« sagte er halblaut. »Und dabei spricht der Mensch im Tone felsenfester Überzeugung! Dieses Volk mit seinem Aberglauben hat doch noch entsetzlich weit bis zum Lichte der Vernunft!«

»Wozu sich denn so ereifern, lieber Normann«, sagte der Ältere ruhig, »Lassen Sie doch dem Volke das bisschen Poesie, das noch in seinen Sagen und Bräuchen wiederklingt, sonst ist sie ja nirgends mehr zu finden.«

»Ist auch gar nicht nötig«, brummte Normann. »Man kann auch ohne das fertig werden im Leben.«

»Je nachdem, mit zwanzig Jahren denkt man anders darüber. Ich habe auch meine poetischen Jugendsünden gehabt, ich habe sogar einigemal Verse verbrochen. Nun, entsetzen Sie sich nur nicht, besagte Verse waren ganz ehrbar an meine damalige Braut und spätere Ehegemahlin gerichtet. In solchem Falle greift auch einmal ein Mann der Wissenschaft in die Saiten der Leier – Sie haben das freilich wohl niemals getan?«

»Ich? Aber, Herr Professor Herwig!«

»Nehmen Sie es nur nicht übel«, lachte Herwig. »Ihnen traut das ja auch niemand zu. – Nun, Dora, hast du endlich genug von der Wundergeschichte?«

Die letzte Frage galt der jungen Dame, die soeben herantrat. Es war ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, eine frische, anmutige Erscheinung, welcher der dunkelblaue Reiseanzug allerliebst stand. Der leichte Filzhut mit dem blauen Schleier, der auf den braunen Flechten saß, beschattete ein rosiges Gesicht mit klaren braunen Augen und zwei Grübchen in den Wangen, aus denen der Schelm lachte, und das ganze Wesen sprühte von jener glücklichen Heiterkeit und jenem Übermut, den nur die Jugend kennt.

»O Papa, ich plaudere so gern mit den Leuten«, erwiderte sie, »und wenn der Sepp nun vollends auf die Bergsagen kommt, hat er in mir die dankbarste Zuhörerin. Aber ist es nicht schön hier auf der Alm? Sieh nur, wie reizend unser Schlehdorf dort unten liegt, wie der See blitzt im Sonnenschein! Und droben auf dem Gipfel muss es noch schöner sein, da sieht man über all die Bergeshäupter weg, weit in das Land hinaus. Ich war noch nie dort oben, heut aber steigen wir jedenfalls hinauf, nicht wahr, Friedel?«

Sie wandte sich zu dem Knaben, der gleichfalls städtisch gekleidet war, dessen dürftiger und schon vielfach abgetragener Anzug aber verriet, dass er nur eine dienende Stellung in der Gesellschaft einnahm. Er mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und war hochaufgeschossen, aber mager und schwächlich. Das reiche, blonde Haar fiel um ein blasses Gesicht, das recht kümmerlich aussah mit seiner krankhaften Farbe und den dunklen Ringen um die Augen. Anziehend waren nur diese großen blauen Augen selbst, die freilich nicht in froher Reise- und Wanderlust strahlten wie die der jungen Dame. Sie hatten im Gegenteil einen recht müden, traurigen Ausdruck und doch leuchteten sie auf, als von der weiten Aussicht droben auf der Höhe die Rede war. Der Knabe war augenscheinlich eines jener armen verkümmerten Stadtkinder, die in engen Straßen und dunklen Höfen aufwachsen, ohne viel Luft und Licht, ohne den Sonnenschein des Lebens. Es mochte wohl das erste Mal sein, dass er hinaus kam in die freie große Bergeswelt.

Er warf einen halb fragenden, halb furchtsamen Blick auf den Professor Normann, der gleichmütig sagte: »Natürlich geht der Junge mit, wer soll denn sonst die Sachen tragen?«

»Ich bleibe jedenfalls hier«, erklärte Herwig. »Der letzte Teil des Wegs scheint mir doch recht beschwerlich zu sein, und wie ich höre, ist es noch eine volle Stunde bis zum Gipfel. Sie nehmen meine Tochter wohl unter Ihren Schutz, lieber Normann, ich werde Sie hier erwarten.«

Die junge Dame schien nicht gerade sehr erbaut von dieser ihr zugewiesenen Begleitung, sie warf das Köpfchen zurück und bemerkte in spöttischem Tone: »Der Herr Professor macht sich ja nichts aus den Bergaussichten.«

»Nein, mein Fräulein, ich bin nun einmal nicht angelegt für die Landschaft und ihre Bewunderung«, lautete die ziemlich unverbindliche Erwiderung.

»Warum reisen Sie dann überhaupt?« – »Um naturwissenschaftliche Studien zu machen – zu keinem anderen Zweck.«

»Sie brauchen das gar nicht so nachdrücklich zu betonen«, lachte Dora. »Ich habe Sie durchaus nicht im Verdacht, dass Sie auf die Schleierjagd gehen wie der junge Jäger, von dem uns Sepp soeben erzählt; Sie haben es doch gehört?«

Der Professor nahm es offenbar übel, dass man sich unterstand, mit ihm zu scherzen; er richtete sich steif in die Höhe.

»Wenn Sie noch Vergnügen an Kindermärchen finden, Fräulein Dora – ich vermag dieses Vergnügen leider nicht zu teilen«, versetzte er und schritt zu einem seitwärts gelegenen Felsblock, wo er eine Moosart von dem Gestein löste und aufmerksam betrachtete.

»Hu, wie ungnädig!« spottete das junge Mädchen halblaut. »Papa, diesmal hast du wirklich einen recht unliebenswürdigen Reisegefährten aufgefischt.«

»Liebenswürdig ist Normann allerdings nicht«, gab Herwig zu. »Er gibt sich sogar redlich Mühe, das Gegenteil zu sein, sobald ein dritter zugegen ist; man muss ihn unter vier Augen haben, um ihn in seinem wahren Wesen kennen zu lernen. Wie ich dir bereits gesagt habe, seine wissenschaftlichen Leistungen sind hochbedeutend und er ist auf dem Wege, eine Berühmtheit in seinem Fache zu werden.«

Doras Gesicht verriet deutlich, dass ihr ein unbedeutender, aber lustiger Reisegefährte weit lieber gewesen wäre, als diese unliebenswürdige künftige Berühmtheit; sie verzog schmollend die Lippen.

»Dass er sich auch gerade in Schlehdorf ansiedeln musste, wo wir wohnen! Und wenn er uns wenigstens nur auf den Bergwanderungen allein ließe, aber immer ist er hinter uns und verdirbt mir die ganze schöne Bergwelt mit seinem griesgrämigen Wesen und seinen herzlosen Spöttereien.«

Der Vater widersprach nicht, denn er war im Grunde derselben Meinung. Trotz aller Hochschätzung sagte ihm das Wesen Normanns ganz und gar nicht zu, auch ihn verletzte dessen Schroffheit und Formlosigkeit oft genug; aber er konnte doch nichts dagegen einwenden, wenn der Kollege, den er zufällig in Schlehdorf getroffen hatte und mit dem er seit Jahren in regem wissenschaftlichen Verkehr stand, sich ihm anschloss.

»Man sieht es ihm an, dass er wenig mit der Welt und den Menschen verkehrt«, sagte er ausweichend. »Er ist eben ein Gelehrter, mein Kind, der nur seine Wissenschaft im Kopfe hat und nicht gewohnt ist, auf andere Rücksicht zu nehmen.«

»Nein, wahrhaftig nicht«, lachte Nora. »Und ich wäre in seinen Augen überhaupt gar nicht daseinsberechtigt, wenn ich nicht das Glück hätte, die Tochter meines Vaters zu sein. Ich glaube, er sperrte mich am liebsten in irgend eine Felskluft, und wenn ich vollends lache, sieht er aus, als möchte er mich gleich auf der Stelle mit Haut und Haar verschlingen.«

Die letzte Behauptung schien in der Tat nicht so ganz unbegründet zu sein, denn der Professor, der jetzt zurückkam, machte ein unendlich grimmiges Gesicht, als dies helle frische Mädchenlachen an sein Ohr schlug. Er mochte im Anfang der Vierzig stehen, sah aber weit älter aus, und die finstere Falte auf der hohen Stirn, der herbe Zug um die Lippen verschönten ihn auch nicht besonders. Was ihm aber ein beinahe abschreckendes Ansehen gab, das waren die dichten schwarzen Haare, die ungebändigt und wenig gepflegt um den Kopf starrten wie eine Mähne. Sonst war er eine stattliche, kraftvolle Erscheinung und schien sich trotz angestrengter Geistesarbeit seine volle körperliche Gesundheit bewahrt zu haben.

»Ich denke, wir brechen jetzt auf«, sagte er kurz. »Sie wollen also zurückbleiben, Kollege?«

»Ja, ich bleibe auf der Alm und plaudere inzwischen mit dem Sepp.«

»Viel Vergnügen zu Ihren Volkspoesiestudien! Ich bitte Sie nur, darin auf meine Mitarbeit von vornherein zu verzichten«, versetzte Normann in seiner rücksichtslosen Art. »Vorwärts, Friedel, nimm die Sachen! Ist es gefällig, Fräulein Dora?«

Dora nahm Abschied von dem Vater, während Friedel sich mit einer ziemlich schweren Umhängetasche, mit dem Schirm des Professors und verschiedenen anderen Sachen belud; dann schritten die drei über die Matte hin und bald entzog sie der Wald dem Auge des Zurückbleibenden.

Der Weg führte nur eine kurze Strecke unter den schattigen, rauschenden Tannen dahin, dann stieg er in vielfachen Windungen steil und schattenlos empor und die Sonne brannte mit immer heißerer Glut. Es war eine ziemlich beschwerliche Bergwanderung; das junge Mädchen freilich überwand sie mühelos, sie stieg leicht und sicher aufwärts, und die braunen Augen strahlten immer heller und freudiger, je weiter und mächtiger sich die Landschaft auftat. Auch ihr Begleiter verriet keine Spur von Ermüdung, aber es wurde ihm doch heiß bei der ungewohnten Bewegung und er blieb auf einmal stehen.

»Da, Friedel, nimm meinen Plaid«, sagte er. Dabei bemerkte er erst, dass Friedel nicht hinter ihm war. »Wo ist denn der Junge geblieben? Ich glaube, er kann schon wieder nicht mit, da unten schleicht er wie eine Schnecke!«

Dora war gleichfalls stehen geblieben und sah sich um.

»Sie hätten ihn auf der Alm lassen sollen«, erwiderte sie. »Er trägt so mühsam an der schweren Tasche und der Weg ist überhaupt zu beschwerlich für ihn!«

»Auf der Alm lassen?« erwiderte Normann. »Wozu habe ich den Jungen denn mitgenommen, doch nicht etwa zu seinem Vergnügen? Die Sachen soll er mir tragen, ich habe keine Lust, mich bei der Hitze damit herumzuschleppen.«

»Er ist aber ein Stadtkind und hält das Bergsteigen nicht aus.«

»So muss er es lernen! Ein Junge von vierzehn Jahren und nicht steigen können! – Da kommt er endlich, aber in was für einem traurigen Tempo! Vorwärts, Friedel!«

Friedel, der in der Tat eine Strecke zurückgeblieben war, kam jetzt heran. Der Schweiß stand in großen Tropfen auf seiner Stirn, aber das Gesicht war trotz Erhitzung und Anstrengung leichenblass, und die schmale, kleine Brust keuchte in kurzen, schweren Atemzügen, Trotzdem streckte er gehorsam die Hände aus und nahm den Plaid, den sein Herr ihm zuwarf, in Empfang.

Dora aber war nicht gesonnen, diese Mehrbelastung des armen Jungen zu dulden.

»Setze dich hin, Friedel, und ruhe dich aus«, ordnete sie in einem sehr nachdrücklichen Tone an. »Du kannst ja nicht weiter. Gib mir den Plaid, ich will dir wenigstens das dicke Tuch abnehmen, wenn es dem Herrn Professor zu schwer ist!«

Sie machte wirklich Miene, ihren Vorsatz auszuführen, jetzt aber schien es dem Herrn Professor doch einzuleuchten, dass das nicht ganz schicklich sei. Er riss mit einem unverständlichen Gebrumm dem erschöpften Knaben den Plaid aus der Hand und warf ihn über die Schulter, aber dabei fiel ein bitterböser Blick auf die junge Dame, die sich einen derartigen Eingriff erlaubte und ihm dabei noch eine verhüllte, aber doch recht fühlbare Zurechtweisung gab.

»Nun, so ruhe dich aus!« grollte er. »Der Weg ist ja nicht zu verfehlen. Kannst nachkommen, wenn es durchaus nicht anders geht.«

Die Erlaubnis wurde im barschesten Tone gegeben. Friedel nahm sie schweigend hin, aber die Art, wie er sich auf einen Stein niederließ, zeigte, dass er in der Tat nicht weiter konnte, während Normann, der offenbar nicht begriff, dass man von dem »bisschen Bergsteigen« ermüdet sein könne, die kraftvollen Glieder reckte und rüstig weiter stieg. Als er bemerkte, dass seine Begleiterin sich von Zeit zu Zeit besorgt umsah, fragte er spöttisch: »Sie haben den Friedel wohl sehr ins Herz geschlossen?«

»Wenigstens habe ich Mitleid mit ihm; es geht dem armen Knaben so hart.«

»Hart? Nun, ich dächte, es ginge ihm so gut, wie es einem Jungen in seiner Lage überhaupt gehen kann.«

»Halten Sie es für ein Glück, eine Waise zu sein und bei fremden Menschen sein Brot essen zu müssen?«

»So? Ist der Friedel elternlos?« sagte der Professor mit einer gewissen Verwunderung.

Nora sah ihn erstaunt an.

»Das wissen Sie nicht! Und Sie kennen ihn doch seit zwei Jahren, wie er mir erzählte.«

»Kennen? Nun ja, ich weiß, dass er im Hinterhause wohnt, dass er jeden Tag kommt, um mir die Stiefel zu putzen, und weil er still und ruhig ist, habe ich ihn mir überhaupt zur persönlichen Bedienung genommen. Meine alte Wirtschafterin schwatzt den ganzen Tag lang, das geht wie ein Mühlwerk vom Morgen bis zum Abend, deshalb darf Sie mir auch nie in das Studierzimmer. Der Friedel weiß, dass er nicht mucksen darf, der tut den Mund nur auf, wenn er gefragt wird, den habe ich mir gezogen!«

»Ja, ich merkte etwas von dieser Trappistenerziehung«, spottete das junge Mädchen. »Ich hatte anfangs Mühe genug, ihn zum Reden zu bringen, wenn er so still und traurig neben mir stand und zusah, wie ich malte oder zeichnete. Er ist ja glücklich, wenn er nur zuschauen darf, und dabei verrät er in seinen schüchternen Bemerkungen oft ein ganz merkwürdiges künstlerisches Verständnis.« – »Künstlerisches Verständnis!« Normann zuckte verächtlich die Achseln. »Das ist doch nichts als der Reiz der Neuheit, welchen die bunten Farben auf den Jungen ausüben, weil er zu Hause und bei mir dergleichen nicht zu sehen bekommt! Leider ist er wie gebannt an Ihre Staffelei; so oft ich ihn brauche, steckt er drüben in Ihrem Garten und seine ganze Lebensgeschichte scheint er Ihnen auch schon erzählt zu haben. Warum denn nicht, wenn es Ihnen Vergnügen macht! Ich aber habe mehr zu tun, als mich mit meinem Stiefelputzer abzugeben.«

Der spöttisch wegwerfende Ton reizte das junge Mädchen vielleicht noch mehr als die Worte selbst. Die sonst so weiche Stimme hatte einen ungewöhnlich herben Klang, als sie erwiderte: »Das wäre auch zu viel verlangt von Ihnen, Herr Professor! Mein Vater aber, der doch auch ein Mann der Wissenschaft ist, hat mir oft gesagt: Man kann in jedem Menschen den Prometheusfunken suchen und finden, den man selbst in der Brust trägt, es gehört nur ein wenig Herz und ein wenig Menschenliebe dazu – darüber verfügt freilich nicht jedermann.«

»Oho, das geht auf mich!« rief Normann entrüstet. »Ich bin in Ihren Augen wohl ein herzloses Ungeheuer?«

Doras Blick streifte einen Augenblick lang sein Gesicht, dann entgegnete sie mit unverhohlenem Spott: »Wenn Sie sich selbst so nennen – ich hätte es zarter ausgedrückt.«

Der Professor war wütend über diese Antwort, Er vermisste wieder einmal gänzlich die Ehrfurcht, die man seinen Jahren und seiner wissenschaftlichen Bedeutung schuldig war. Diese Dora Herwig missfiel ihm überhaupt gründlich. Man sah es, dass sie das einzige Kind eines überzärtlichen Vaters war, verzogen und verwöhnt in jeder Hinsicht. Dieses naseweise zwanzigjährige Ding hatte nicht die mindeste Hochachtung vor dem Herrn Professor, sondern verkehrte mit ihm völlig auf dem Fuße der Gleichheit, widersprach ihm bei jeder Gelegenheit und nahm sich bisweilen sogar heraus, ihn zurechtzuweisen. Und man konnte nicht einmal grob gegen sie sein, wenigstens nicht in genügendem Maße, weil sie die Tochter eines Kollegen war, den man schätzte und auf den man doch einige Rücksicht nehmen musste. Norman hatte sich noch niemals so geärgert wie während dieses Aufenthaltes in Schlehdorf, wo er ganz ungestört seinen Studien zu leben gedacht hatte und wo ihm nun dieser Störenfried mit den braunen Augen und dem hellen Lachen die ganze Stimmung verdarb. Wie oft hatte er sich schon vorgenommen, lieber den Kollegen und die naturwissenschaftlichen Gespräche fahren zu lassen, als sich Tag für Tag so weiter zu ärgern; aber sobald Herwig mit seiner Tochter eine Bergwanderung unternahm, war er immer wieder da und ärgerte sich immer wieder von neuem.

Der arme Friedel litt natürlich am meisten unter dieser üblen Laune seines Herrn und Gebieters, und er musste auch jetzt als Blitzableiter dienen bei dem Gewitter, welches die letzte Äußerung der jungen Dame heraufbeschworen hatte.

Der Knabe hatte nur etwa zehn Minuten lang ausgeruht und sich dann wieder auf den Weg gemacht. Man sah es von oben, wie er hastete, um die Vorausgegangenen zu erreichen. Jetzt schlug er plötzlich einen schmalen, aber sehr steilen Felspfad ein, der eine große Biegung des eigentlichen Weges abschnitt. Das erregte nun aber erst recht den Zorn des Professors.

»Was fallt denn dem Jungen ein, da hinaufzuklettern!« wetterte er. »Das soll er doch den Ziegen und den Hirtenbuben überlassen. Friedel! Er hört nicht! Nun, meinetwegen, wenn du's nicht besser haben willst –«

»Friedel, nicht da hinauf!« rief auch Dora und winkte abwehrend, aber der Knabe missverstand entweder den Zuruf, oder er scheute den noch gefährlicheren Rückweg, denn es war in der Tat eine bloße Felsrinne, in der er schon ziemlich weit an der jähen Wand emporgestiegen war. Genug, er klomm weiter aufwärts.

»Er klettert bei alledem gar nicht so übel«, meinte Normann, der stehen geblieben war. »Und schwindelfrei scheint er auch zu sein. Es ist immerhin ein tollkühnes Stück, den Steig da zu versuchen, ich hätte es ihm kaum zugetraut, dem Duckmäuser.«

»Friedel ist kein Duckmäuser«, sagte Dora ruhig. »Er ist nur verschüchtert, ein armes, kränkliches Kind, das verkommen wird in dem elenden Leben bei den harten Pflegeeltern. Ich ließe das sicher nicht zu, wenn ich ihn nur bei uns in Heidelberg hätte.«

»Da würden Sie der Menschheit einen rechten Dienst erweisen, wenn Sie ihr ein solches Trauerpflänzchen erhielten«, versetzte der Professor, ohne den Vorwurf zu bemerken, der in den letzten Worten lag. »Aber Herr Professor!« Der Ausruf klang voller Entrüstung, doch Normann fuhr gleichmütig fort: »Nun ja, ist es etwa ein Glück für die Menschheit, wenn einem Jammerwesen, das nicht für das Leben taugt, dies Leben noch so und so lange gefristet wird? Sehen Sie sich den Jungen doch nur an! Der ist ein Schwindsuchtskandidat, Der wird nie die Arme ordentlich zur Arbeit rühren können, worauf er doch angewiesen ist. Das schleppt sich elend durch das armselige Dasein, ist sich und anderen eine Last und verkommt schließlich doch. Da ist es doch wahrhaftig besser, dass es je eher je lieber zu Grunde geht! – Ja, mein Fräulein, Sie brauchen mich gar nicht so entrüstet anzusehen, es ist mein voller Ernst, Sie stehen natürlich auf dem Standpunkte der sogenannten Menschenliebe, das ist recht hübsch, recht bequem, aber leider meistenteils recht unvernünftig. Es gibt noch einen höheren Standpunkt, der sich nicht mit schönen Empfindungen und Redensarten abgibt, sondern vernünftige Schlüsse zieht. Er ist freilich nichts für Frauen, die werden sich nie dazu erheben –«

»Nein, das werden sie nie – Gott sei Dank!« fiel Dora ihm in das Wort. Ihr Antlitz war purpurrot und die sonst so lachenden Augen flammten in leidenschaftlicher Erregung. »Gott sei Dank!« wiederholte sie noch heftiger. »Denn eine Frau, die ein armes, verlassenes Menschenkind, dem sie vielleicht noch helfen könnte, ruhig vor ihren Augen verkommen sieht, weil sie vernünftige Schlüsse zieht und auf einem höheren Standpunkte steht als auf dem der ›sogenannten Menschenliebe‹, die verdiente – einen Mann wie Sie, Herr Professor!«

Professor Normann war anfangs ganz starr vor Überraschung bei diesem Ausfall. Er war es bisher nur gewohnt, Grobheiten auszuteilen, und nun musste er auch einmal eine echte, unverfälschte Grobheit in Empfang nehmen und noch dazu aus dem rosigen Munde eines jungen Mädchens. Das nötigte ihm bei alledem eine gewisse Hochachtung ab, so unangenehm es ihn traf. Und dabei sah das Mädchen so bildhübsch aus mit dem heißgeröteten Gesicht und den blitzenden Augen – es war, um aus der Haut zu fahren!

»Das ist also das Schlimmste, was Sie einer Frau wünschen können, – mich zum Mann?« brach er endlich los. »Recht schmeichelhaft für mich, aber seien Sie nur unbesorgt, mein Fräulein, das Unglück passiert keiner Ihres Geschlechtes. Halten Sie mich nur für ein Ungeheuer, ich sage Ihnen noch einmal, ich halte gar nichts von der sogenannten Menschenliebe, ganz und gar nichts. Wie die Welt und das Leben nun einmal beschaffen sind, können wir nur gesunde, kraftvolle Menschen brauchen, keine Schwächlinge, die man mühsam aufpäppelt und die dann doch nichts leisten können. Was nicht lebenskräftig ist, dem ist auch besser, nicht zu leben! Das lehrt uns die Natur, die Wissenschaft, die Vernunft, das sehen wir überhaupt –«

Er hielt inne, denn ein schwacher Angstruf, dem ein lauter Aufschrei Doras folgte, unterbrach die Auseinandersetzung. Friedel hatte bereits den größten Teil des gefährlichen Weges zurückgelegt und setzte eben den Fuß auf einen Stein, als dieser plötzlich unter seinen Tritten wich, – der Knabe strauchelte, fiel und glitt dann unaufhaltsam abwärts. Wohl klammerte er sich im Sturze noch an ein Felsengesträuch, das die schmächtige Gestalt allein vielleicht festgehalten und getragen hätte, aber die schwere Tasche hatte bei dem jähen Falle die rettenden Zweige geknickt und zog ihn unaufhaltsam nieder. Nur einen Augenblick lang hing er dort an der Wand, dann verlor er den Halt und verschwand in der Tiefe.

Dora Herwig war ein mutiges, entschlossenes Mädchen. Wohl stand sie eine Minute lang starr vor Entsetzen bei dem Unglück, das sich so unmittelbar unter ihren Augen zutrug, dann aber hielt sie sich nicht mit nutzlosen Angst- und Schreckensrufen auf, sondern setzte ihren Bergstock ein und begann den Weg, den sie eben zurückgelegt hatte, so rasch wie möglich wieder abwärts zu steigen. Nach ihrem Begleiter sah sie sich dabei gar nicht um, denn von ihm erwartete sie keine Hilfe. Aber da hemmte ein höchst unerwarteter Anblick ihre Schritte.

An ihr vorüber sauste Professor Normann auf demselben steilen Felspfade, den er vorhin als halsbrechend bezeichnet hatte und der dem armen Friedel so verhängnisvoll geworden war. Der Weg war natürlich beim Abstieg noch weit gefährlicher als beim Emporklimmen, besonders wenn man diesen Abstieg in so tollkühner Weise unternahm wie der Professor. Er sprang, kletterte, rutschte, wie es gerade kam, als ginge es auf Tod und Leben, und verschwand gleichfalls vor den Augen des jungen Mädchens in der Tiefe.

Als Dora endlich atemlos unten anlangte und nach dem Gestürzten spähte, sah sie, dass ihre schlimmste Befürchtung sich nicht bestätigte. Friedel war nicht in die eigentliche Tiefe gestürzt, sondern lag auf dem Wege selbst. Nur wenige Schritte seitwärts und der Abgrund hätte ihn zerschmettert aufgenommen, aber auch jetzt war der Anblick bedenklich genug. Der Knabe lag totenbleich und regungslos da, während von seiner Stirn das Blut niederrieselte und der Professor sich mit hastigen, ungeschickten Hilfeleistungen um ihn bemühte.

»Ich glaube, der Junge ist tot«, sagte er in einem eigentümlich dumpfen Tone.

»So ziehen Sie ihn doch vor allen Dingen seitwärts«, rief Dora heftig. »Er liegt ja dicht am Abhang und kann bei der ersten Bewegung von neuem stürzen.«

Normann gehorchte. Er hob den Knaben auf und trug ihn seitwärts, dann stand er stumm da und blickte auf ihn nieder.

Er hatte in dem Kleinen bisher nur den Diener gesehen, der regelmäßig und geräuschlos die gewohnten Dienste verrichtete und ihm bequem war, weil er ihn nicht in der Arbeit störte, und jetzt lag ein blutendes Kind vor ihm, leblos, mit geschlossenen Augen und dem scharf und deutlich ausgeprägten Leidenszug in dem blassen Gesichtchen. Das war ihm ganz neu. Er sah mit einer Art von hilfloser Bestürzung seine junge Begleiterin an, die ihm zurief: »So, nun geben Sie Ihre Feldflasche her! Wir wollen versuchen, ihm Wein einzuflößen, oder ihm wenigstens die Schläfe damit reiben. Legen Sie ihm den Plaid unter den Kopf – so! Vielleicht ist er nur ohnmächtig vom Sturze.«

Sie kniete nieder und suchte mit ihrem Taschentuche das reichlich hervorquellende Blut zu stillen; auch der Professor zog das seinige hervor, aber er hatte wahrscheinlich noch niemals in seinem Leben jemand solchen Beistand geleistet, denn er benahm sich dabei in der ungeschicktesten Weise. Zunächst goss er die Hälfte seiner bis an den Rand gefüllten Feldflasche über den Bewusstlosen aus, und als das nicht helfen wollte, fasste er ihn bei den Schultern und begann ihn derb zu schütteln, wobei er in halb angstvoller, halb zorniger Weise seinen Namen rief. Nora wollte unwillig auffahren, aber diese merkwürdige Behandlung hatte trotz alledem Erfolg. Friedel machte eine matte Bewegung und schlug gleich darauf die Augen auf.

Er versuchte zu lächeln, als er das Fräulein erkannte, und griff mit der Hand nach der blutenden Stirn.

»Bleib ruhig, Friedel«, ermahnte das junge Mädchen. »Rühre dich einstweilen nicht! Schmerzt es sehr?« Damit warf sie ihr eigenes blutgetränktes Taschentuch beiseite und ergriff das des Professors, mit dem sie einen notdürftigen Verband herstellte.

»Ich weiß nicht«, sagte Friedel matt. »Es blutet ja – ich bin wohl gestürzt?«

»Natürlich!« rief Normann, der seine innere Erleichterung sofort wieder mit Barschheit verdeckte. »Kopfüber bist du die Felswand heruntergeschossen und wir haben nachklettern müssen.«

»Ich konnte wirklich nichts dafür«, entschuldigte sich Friedel, »der Stein brach los und die Tasche –«

»Ungeschickt bist du gewesen!« fuhr ihn der Professor an, gab jedoch dabei der seitwärts liegenden Tasche einen nachdrücklichen Fußtritt; plötzlich aber hob er ohne weiteres den Knaben empor und stellte ihn auf die Beine.

»Kannst du stehen? Jetzt hebe einmal den Arm! Nun, gebrochen wenigstens ist nichts und das Loch im Kopfe wird auch heilen. – Da wird er schon wieder ohnmächtig! Solch ein Jammerwesen!«

Er fing den Sinkenden noch rechtzeitig auf und legte ihn nieder. Jetzt aber schritt Dora ein und verbat sich nachdrücklich diese Behandlung.

»Überlassen Sie mir den Friedel«, sagte sie in gereiztem Tone, »Ihre sogenannten Hilfeleistungen sind ja schlimmer als der Sturz vom Felsen. Haben Sie wenigstens die Güte, nach der Alm vorauszugehen und ein paar Leute herzusenden, die den armen Jungen tragen, denn dass er nicht gehen kann, sehen Sie doch hoffentlich ein.«

Normann blickte auf den Knaben nieder, der sich unter Doras Bemühungen schon nach wenigen Minuten wieder erholte, und schüttelte unwirsch den Kopf.

»Damit er noch dazu den Sonnenstich bekommt«, brummte er. »Hier in der Nähe ist ja nirgends ein Schattenplatz zu finden, und ehe jemand von der Alm kommt, vergeht eine Stunde – da trage ich ihn lieber selbst.«

Dora sah ihn in wortlosem Erstaunen an. Es war freilich das beste, wenn der kaum notdürftig verbundene Knabe so bald als möglich nach der Alm geschafft wurde, wo man ihm die nötige Hilfe leisten konnte, dass aber Professor Normann sich selbst dazu erbot, erschien ihr doch sehr sonderbar. Dieser wartete übrigens gar nicht ihre Antwort ab, sondern hob den Knaben von neuem empor; die empfangene Zurechtweisung schien indessen doch gefruchtet zu haben, denn es war eine merkwürdig schonende und vorsichtige Bewegung, mit der er ihn in die Arme nahm, während seine Stimme schon wieder sehr befehlshaberisch klang.

»Jetzt legst du den Kopf an meine Schulter und rührst dich nicht – so! Und nun kannst du zum drittenmal ohnmächtig werden, wenn es dir Vergnügen macht!«

Er trat mit dem Knaben in den Armen den Rückweg an, während Dora folgte. Die schmächtige Gestalt Friedels war keine schwere Last, aber auf dem steilen, schattenlosen Bergwege, auf welchen die Sonne in voller Mittagsglut niederbrannte, machte sie sich doch sehr fühlbar, zumal für den Herrn Professor, der nicht gewohnt war, irgend etwas zu tragen. Jetzt keuchte er und verlor den Atem, jetzt rann ihm der Schweiß in Strömen von der Stirn. Er ging zwar unverdrossen weiter, aber sie wurde ihm doch blutsauer, diese erste Leistung im Dienste der »sogenannten Menschenliebe«. Die Wohnung des Professors Herwig in Schlehdorf war ziemlich einfach, wie man es in dem kleinen Bergorte nicht anders erwarten konnte, und ließ manche der gewohnten Bequemlichkeiten vermissen, aber das Häuschen war freundlich und sauber und hatte die volle Aussicht auf das Gebirge. Ein kleiner Garten trennte es von dem Nebenhause, wo sich Professor Normann angesiedelt hatte, und selbstverständlich verkehrte man bei der nahen Nachbarschaft täglich miteinander.

In dem großen, zu ebener Erde gelegenen Zimmer, das Herwig bewohnte, saßen die beiden Herren in angelegentlichem Gespräche und hatten sich so darin vertieft, dass sie weder den schönen Sonnenuntergang noch den Gesang beachteten, der durch das offene Fenster hereindrang. Draußen in der Laube saß Dora und bemühte sich, dem Friedel einige Lieder beizubringen. Er schien auch ein gelehriger Schüler zu sein, denn er sang mit schwacher, aber vollkommen reiner Stimme die Melodie nach, die er schnell begriff.

»Wie ich Ihnen sage«, schloss Herwig soeben eine längere Auseinandersetzung. »Professor Welten geht im nächsten Frühjahr nach Wien; die Verhandlungen schweben augenblicklich noch, aber er wird jedenfalls annehmen. Ich weiß aus bester Quelle, dass man Sie sehr gern für unsere Universität gewinnen möchte, allein Sie hatten ja bisher eine entschiedene Abneigung gegen jede umfangreichere Lehrtätigkeit und wollten sich nicht binden.«

»Ja – bisher!« sagte Normann mit einer gewissen Verlegenheit, die seinem Kollegen aber vollständig entging, denn dieser fuhr lebhaft fort: »Ich hoffe, Sie nun endlich umgestimmt zu haben. Glauben Sie mir, es ist doch ein erhebendes Wirken vom Lehrstuhl aus, und wir brauchen eine jüngere tüchtige Kraft, wenn Welten uns verlässt. Ich zweifelte nur bisher, ob Sie eine etwaige Berufung annehmen würden, denn – der Gesang da draußen stört Sie wohl? Dora hätte sich auch einen anderen Platz dazu aussuchen können! Wir wollen das Fenster schließen.«

Er machte eine Bewegung nach dem Fenster hin, denn er hatte bemerkt, dass Normann, anstatt auf ihn zu hören, unausgesetzt dorthin blickte. Aber wie ein Stoßvogel schoss der Professor herbei und stellte sich davor.

»Wozu denn? Ich höre gar nicht darauf – es ist doch etwas heiß im Zimmer!«

»Nun, wie Sie wollen«, sagte Herwig. »Was also unser Heidelberg betrifft, so sind Ihnen die akademischen Verhältnisse ja hinreichend bekannt, die gesellschaftlichen Kreise sind sehr angenehm und die schöne Lage der Stadt kommt doch auch in Betracht bei einer etwaigen Übersiedlung.«

»Ich gehe nie in Gesellschaft«, erklärte Normann in seiner gewohnten Schroffheit. »Und aus der Lage mache ich mir gar nichts. Sie wissen ja, ich bin nicht angelegt für Landschaften.«

»Ja, das weiß ich und habe es auch aufgegeben, Sie zu bekehren – aber Dora, was soll denn das? Hören Sie nur, das übermütige Mädchen hat jedenfalls Ihre letzten Worte gehört und macht sich lustig über Sie!«

Dora hatte in der Tat ein angefangenes Lied in der Mitte abgebrochen und urplötzlich ein anderes angestimmt. Sie besaß eine etwas verschleierte, aber liebliche Stimme, und durch die Abendstille ringsum klang es weich und lockend:

 

»Alt Heidelberg, du feine,

Du Stadt an Ehren reich,

Am Neckar und am Rheine,

Kein' andre kommt dir gleich.«

 

Bei der zweiten Strophe fiel Friedel ein, noch etwas schüchtern und unsicher, aber die Melodie wurde ihm schnell geläufig und den dritten Vers sang er tapfer mit.

»Ja, Fräulein Dora scheint förmlich etwas darin zu suchen, mir bei jeder Gelegenheit einen Possen zu spielen«, sagte Normann in grollendem Tone. »Den Friedel hat sie mir überhaupt fortgenommen und tut, als wäre er ihr ausschließliches Eigentum. Ich bekomme den Jungen gar nicht mehr zu Gesicht! Und jetzt lehrt sie ihn gar singen – singen, weil sie weiß, dass ich das nicht leiden kann. Aber gnade ihm Gott, wenn er sich einfallen lässt, bei mir zu singen!« Indessen stand der Herr Professor trotz aller Entrüstung unverrückbar am Fenster, um den ihm bereiteten Ärger recht gründlich zu genießen.