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© 2018 Ivar Kohler
Umschlagdesign, Satz, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH
ISBN 978-3-7460-3989-3
Idealerweise werden Canadier-Boote zu zweit gepaddelt. Und aus klassischer, sicherheitstechnischer Sicht ist man auf einem Mehrtages-Wildnistrip am besten zu sechst mit drei Booten unterwegs. So kann bei einem Bootsverlust die havarierte Besatzung auf die beiden übrig gebliebenen Boote verteilt werden. Oder bei einem gravierenden Zwischenfall kann die eine Besatzung bei den allfällig Verletzten zurückbleiben während das dritte Boot Hilfe holt. Soweit die Theorie.
Aber als in uns der Wunsch erwachte, nach vielen Jahren Paddelurlaub auf skandinavischen Seen, mal wieder einen »richtigen« Wildnisfluss zu fahren – so wie Yvonne und ich das ein paarmal vor der Geburt unserer Tochter Silvy gemacht hatten – liess sich in unserem Bekanntenkreis niemand finden, der die entsprechende Begeisterung aufgebracht hätte und die für diese Art von Urlaub erforderlichen Voraussetzungen aufweisen konnte. Ein Mindestmass an Wildniserfahrung, Paddeltechnik und Strömungskenntnis erachteten wir jedoch als unerlässlich.
Also musste eine andere Lösung her, damit wir unser Vorhaben zu dritt umsetzen konnten. Und diese Lösung hiess »Kataraft«:
Mittels zweier Aluminium-Rohre und diversen Riemen verband ich zwei Outside-Schlauchcanadier Seite an Seite. Diese spezielle, raftähnliche Zweirumpf-Konstruktion mit sechs Luftkammern, insgesamt vier Meter lang, und zwei Meter breit, probierten wir auf unseren heimatlichen Flüssen aus. Zuerst auf Flachwasser, dann auf leichtem und schliesslich auf mittelschwerem Wildwasser.
Sogleich durften wir feststellen, dass dieses Gefährt sehr viele Vorteile bot: Zum Beispiel die fast grenzenlose Kippstabilität und eine riesige Gepäckzuladungs-Kapazität. Im Gegensatz zu zwei einzelnen Booten lässt sich Gepäck nämlich nicht nur innerhalb der Boote verstauen, sondern zusätzlich noch auf den beiden mittleren Schläuchen. Und trotz all dem: Dieser Kat, wie wir ihn nennen, ist extrem agil und lässt sich – wegen der bei diesem Bootstyp relativ kurzen, aber breiten Auflagefläche auf dem Wasser – unerwartet einfach navigieren!
Das Wichtigste für uns aber war, dass der Kat fast genauso gut von drei Paddlern zu steuern ist, wie von vieren. Dabei bewährte es sich für uns, wenn Yvonne vorne und Silvy hinten im linken Outside knieten, und ich – etwas nach vorn, gegen die Bootsmitte gerückt – im rechten. Das Drei-Personen-Problem war gelöst! Wir konnten uns an die Planung eines konkreten Trips machen.
Vor Silvys Geburt hatten Yvonne und ich unter anderem den Noatak, den Thelon und den South Nahanni River befahren. Wunderschöne Erlebnisse auf wunderschönen Flüssen. Die Messlatte lag sehr hoch.
Aus den vielen Trip-Berichten, welche ich stets gerne lese, war mir vor allem ein Fluss bekannt, der da mithalten konnte, ohne wohl unsere technischen Fähigkeiten zu überfordern: Der Mountain River in den Mackenzie Mountains. Ein Traumfluss nach allem, was ich über ihn erfahren hatte! Eine Art »Matterhorn« für Paddler.
Von seinem an der Grenze zwischen den Northwest Territories und dem Yukon auf 1400 m Höhe gelegenen Quellgebiet, fliesst der Mountain River über 370 Kilometer bis zur 1200 m tiefer gelegenen Mündung in den Mackenzie River. In der völlig unbewohnten, weitläufigen Wildnis der Mackenzie Range sucht er sich seinen Weg durch faszinierende Hochtäler, weite Schwemmebenen, und sechs teilweise spektakuläre Canyons. Im Juli, nach der Schneeschmelze, führt er im Unterlauf noch rund 1000 m3 Wasser pro Sekunde. Dies entspricht etwa dem dreifachen Hochwasserwert unserer heimischen Reuss.
Auf den 1,3 Millionen Quadratkilometern der kanadischen North West Territories leben gerade mal 41‘000 Einwohner, ein Drittel davon in der Hauptstadt Yellowknife.
Der Zugang zum Oberlauf des Mountain River ist nur per Wasserflugzeug von einer der mehrere hundert Kilometer entfernt liegenden Siedlungen möglich. Das über weite Strecken kontinuierliche Wildwasser und die völlige Abgeschiedenheit machen den zweiwöchigen Kanutrip zu einem anspruchsvollen Abenteuer. Und die phantastische Gebirgslandschaft, sowie die durchgehend hohe Fliessgeschwindigkeit machen ihn zu einem begehrenswerten, wenn auch nicht ganz einfach erreichbaren Ziel für Paddler.
Keine Frage, das ist war ein Trip, der viele Wünsche erfüllen kann.
Doch durften wir uns den Mountain River zumuten?
Um diese Frage zu klären, probierten wir das Konzept mit dem Kat auf einem kleineren Fluss in einem »geschützten Rahmen« aus: Im Sommer 2009 befuhren wir den Ivalojoki in Finnland, den angeblich letzten echten Wildnisfluss Westeuropas. Dort zeigte es sich, dass der Kat auch mit Gepäck und auf einem Mehrtages-Trip wunderbar funktionierte. Für den Ivalojoki war das Boot sicherheitsmässig sogar ein Overkill.
Als wir im selben Sommer gleich anschliessend noch den oberen Teil des benachbarten Ounasjoki befuhren, offenbarte sich auch der einzige Nachteil unseres Gefährts: die Windanfälligkeit. Durch den hochgezogenen Bug der Outside Canadier und die breite Auflagefläche auf dem Wasser wird der Kat enorm langsam und bockig auf stehendem oder trägem Gewässer – besonders bei Gegenwind.
Weil wir aber ohnehin nur schnell fliessende Flüsse im Fokus hatten, konnte uns dies egal sein. Somit durften wir den Testlauf als gelungen abhaken.
Um die Weihnachtszeit 2009 begann ich mit der Planung für den Mountain River Trip. Zunächst las ich die Handvoll Befahrungsberichte, welche sich im Internet finden liess. Dann galt es, sich für einen der beiden möglichen Zugänge zum Oberlauf des Mountain River zu entscheiden: Entweder Mayo im Yukon Territory, rund 300 Kilometer vom Mountain River Oberlauf entfernt. Oder Norman Wells in den Northwest Territories, welches etwa um einen Drittel näher liegt.
Norman Wells ist per Linienflug erreichbar, Mayo nur per Privat-Charter oder über eine 400 km lange Schotterstrasse von Whitehorse. Deshalb, und vor allem auch, weil sich die kürzere Distanz massiv auf den Flugpreis auswirkt, fiel unser Entscheid zu Gunsten von Norman Wells.
Dann studierten wir Flugpläne und Tarife von Zürich nach Norman Wells. Erstaunlicherweise kostete uns der 1800 km lange Inlandflug von Calgary bis Norman Wells mehr, als der 9000 km lange Überseeflug von der Schweiz nach Westcanada. Zum Glück gingen dabei die beiden Schlauchcanadier als Sportgepäck durch und wurden deshalb zu einem Spezial-Tarif berechnet. Nichtsdestotrotz galt es, das persönliche Gepäck zu Gunsten der Paddel- und Campausrüstung auf das Nötigste zu beschränken.
Blieb noch die Organisation des Transports mit dem Wasserflugzeug von Norman Wells zum Dusty Lake, einer Landemöglichkeit am Oberlauf des Mountain River – und zwei Wochen später das Zurückholen vom Mackenzie River nach Norman Wells. Mit Caroline Wright von North Wright Air – der kleinen, dort ansässigen Fluggesellschaft – konnten per E-Mail alle notwendigen Arrangements schnell und unkompliziert vereinbart werden.
Nun durften wir die Detailplanung an die Hand nehmen. Alle erforderlichen topographischen Karten lassen sich im Massstab 1:50‘000 aus dem Internet kostenlos herunterladen. Leider die meisten nur in schwarz/weiss. Deshalb markierte ich auf den Ausdrucken den Flusslauf mit blauem Filzstift. Die einzelnen Blätter klebte ich sodann als fortlaufendes Band aneinander. Zusätzlich fertigte ich noch wasserdicht laminierte Kopien auf Einzelblättern an, welche uns bei einem allfälligen Verlust als Reserve dienen sollten.
In den folgenden Wochen stellten wir Materiallisten zusammen, nach Kategorien getrennt: fürs Paddeln, das Camp, die Küche, Kleider, Fotografie, persönliche Sachen – und natürlich die Lebensmittel. Die wollten wir praktisch alle vor Ort in Norman Wells besorgen. Deshalb schickten wir zwei Wochen vor der Abreise eine komplette Bestellung an einen der beiden dortigen Läden.
Den Rest, einige gefriergetrocknete Sachen, welche für uns direkt nach Norman Wells geschickt werden sollten, bestellte Yvonne bei Barry Farm, einem spezialisierten amerikanischen Produzenten,
Ein lokaler Outfitter aus Norman Wells bot an, uns für den Trip zwei Bären-Pfeffersprays und zwei wasserdichte Tonnen auszuleihen, in welchen wir die Lebensmittel transportieren und aufbewahren würden.
Als Notfall-Backup wollten wir ein Satelliten-Telefon mitnehmen. Auf unseren früheren Wildnistrips zu zweit, hatten Yvonne und ich jeweils nie so was dabei. Aber jetzt, mit dem Verantwortungsbewusstsein besorgter Eltern, schien es uns richtig, nicht auf diese zusätzliche Risiko-Minimierung zu verzichten.
Bei einem Anbieter aus Deutschland konnten wir ein Set für die Dauer des Trips mieten. Er wollte uns das Ding drei Tage vor der Abreise zustellen lassen.
In den Monaten vor dem Trip stieg die Vorfreude und das Fieber kontinuierlich an. Und auch die Angst, dass da noch irgendetwas etwas dazwischen kommen könnte. Zum Beispiel, als auf Island der Vulkan Eyafjalla ausbrach und den Flugverkehr in Westeuropa zeitweise zum Erliegen brachte. Das hätte ins Auge gehen können!
Wir trainierten fleissig das Handling des Kats im Wildwasser und probierten alle Gerätschaften und das Material durch und durch.
Die Flusskarten kannte ich schon fast auswendig. Die Befahrungsberichte auch.
Am Vortag der Abreise war stapelte sich das Gepäck im Haus, aber das Satellitentelefon war immer noch nicht eingetroffen. Ich rief den Vermieter an. Er entschuldigte sich für sein Versäumnis und versprach, das Gerät direkt nach Norman Wells zu schicken, sodass wir es dort bei Caroline Wright übernehmen könnten.
Weil wir nach der Ankunft in Calgary einen dreitägigen Zwischenhalt bei unseren Verwandten eingeplant hatten, hätte das zeitlich gerade noch reinpassen können, wir waren diesbezüglich jedoch ein bisschen skeptisch …
Start zum grossen Abenteuer. Endlich ist es soweit! Nach den hektischen Tagen vor der Abreise hat die Spannung nun ihren Höhepunkt erreicht. Was in unseren eigenen Händen liegt, ist organisiert. Jetzt können wir nur noch hoffen, dass alles andere klappt!
Zusammen mit den beiden riesigen, je 30 kg schweren Bootssäcken, einer fast ebenso grossen Tasche fürs Campmaterial und unseren drei persönlichen Reisetaschen, sowie den beiden separat verpackten Aluminium-Rohren für den Kataraft, fährt uns Yvonnes Vater zum Flughafen.
Dort warten die ersten kleinen Hindernisse: Von unserer Vereinbarung mit der Fluggesellschaft, dass die Boote als Sportgepäck durchgehen würden, will die Dame am Check-in nichts mehr wissen. Erst nach einigem Hin und Her, sowie einem weiteren Formular mit Stempel und Unterschrift von einem anderen Schalter, ist auch das geklärt.
Dann teilt man uns mit, dass die beiden Aluminium-Rohre nicht in die Kabine genommen werden dürfen. Sie gelten als Zusatzgepäck und müssen entsprechend bezahlt werden. Obwohl keine anderthalb Kilo schwer, kostet das gleich viel, wie eine komplett gefüllte Reisetasche! Zähneknirschend zücke ich die Kreditkarte. Dann verschwindet der Gepäckhaufen auf dem Rollband hinter der Schalterbeamtin. Auf Wiedersehen in Canada, hoffentlich!
Im Flugzeug müssen wir auf dem Rollfeld eine Stunde warten, bis uns die Starterlaubnis erteilt wird. Als ob wir nicht ohnehin schon lange genug in dieser Röhre ausharren müssten!
Den 9-stündigen Flug nach Toronto erdulden wir schicksalsergeben, und wohlwissend, dass unmittelbar danach weitere 4 Flugstunden bis Calgary folgen werden. Blöderweise müssen wir in Toronto das gesamte Gepäck für den Anschlussflug nach Calgary neu einchecken. Eigentlich wäre das höchstens eine kleine Unannehmlichkeit gewesen. Aber noch läuft nicht alles wie es soll: Die Kat-Stangen erscheinen nicht auf dem Gepäckband!
Leicht gestresst hetzen wir herum und versuchen, die fehlenden Stücke in der Bagage Area zwischen Bergen von Koffern und Sperrgepäck noch zu finden. Es nützt nichts. Sie bleiben verschollen.
Und wir verpassen den Anschlussflug.
Da ist sie wieder: Die Angst, dass uns im letzten Moment etwas dazwischen kommen könnte!
Man bucht uns um auf einen späteren Flug. Auch der startet mit Verspätung. Und natürlich ohne unsere Kat-Stangen.
»Die werden wir ihnen nachsenden, sobald wir sie gefunden haben!« hat die Dame am Counter noch gesagt. Mit einem unguten Gefühl fügen wir uns ins Schicksal.
Um zehn Uhr abends landen wir endlich in Calgary. Hans und Martha, unsere hier lebenden Verwandten, warten in der Ankunftshalle und heissen uns herzlich willkommen. Die erste Etappe zu unserem Traumfluss ist geschafft.
Nach einer Stunde Autofahrt und einem Begrüssungstrunk sinken wir in Hans und Marthas Haus todmüde ins Bett. Hier ist Mitternacht schon vorbei. Vor 26 Stunden sind wir zu Hause weggefahren.
Trotz des gestrigen, anstrengenden Reisetages sind wir sehr früh wach. Jetlag! Zum Glück sind unsere Gastgeber keine Langschläfer! Hans fährt uns in die Stadt, in den Mountain Equipment Coop. Dieser riesige zweistöckige Laden ist hier die erste Adresse für Outdoor-Sportsachen. Ein Paradies! Wir ergänzen unsere Ausrüstung mit Paddeljacken, einem Benzin-Kocher und anderen nützlichen Kleinigkeiten für den kommenden Trip.
Dann fahren wir zum Gelände der Calgary Stampede. Hier geht gerade das einwöchige, traditionelle Cowboy-Spektakel über die Bühne, mit Rodeo, Wagenrennen, Pferdeausstellung, Mounties und Jahrmarkt-Ambiente. Western-Hüte, Lederstiefel und Colt-Gürtel gehören zum Standard-Outfit.
Gerade für die Pferde-begeisterte Silvy gibt das eine enorme Flut von Eindrücken, welche wohl auch in ausgeschlafenen Zustand nicht einfach zu verkraften gewesen wäre.
Kein Wunder, dass wir auch heute – kaum zurück bei Martha – ziemlich früh und erschöpft schlafen gehen!
Silvy ist krank! Seit letzter Nacht geht es ihr gar nicht gut. Magen-Darm-Probleme!
Falls sie sich nicht erholt bis morgen, müssen wir den Trip auf dem Mountain River absagen.
Die Nerven liegen blank.
Den ganzen Tag über versucht Yvonne das bleiche Häufchen Elend mit Tee wieder auf die Beine zu bringen.
In der Zwischenzeit bemühe ich mich, mit Hans‘ Unterstützung ein Satelliten-Telefon aufzutreiben. Nur weil ich so ein Gefühl habe, dass das aus Deutschland versprochene Gerät es nicht rechtzeitig nach Norman Wells schaffen wird. Wir suchen im Internet, telefonieren herum, besuchen zwei Geschäfte – alles erfolglos. Nirgendwo stehen Miet-Geräte zur Verfügung.
Schliesslich offerieren uns Hans und Martha ihren eigenen SPOT-Tracker. Ein Gerät mit welchem sich via Satellit tägliche Positions-Meldungen an eine Auswahl von E-Mail-Adressen absetzen – oder eben in einem Notfall eine Rettungsaktion auslösen lassen.
Leider funktioniert dieses System nur per Einweg-Kommunikation. Der Träger des Trackers ist also von aussen nicht erreichbar wie mit einem Satellitentelefon. Da wir aber ein solches nicht auftreiben können, sind wir natürlich froh und dankbar für die Alternative.
Vor der Haustür werden wir von einem Taxifahrer überrascht: Er bringt die Kat-Stangen vom Flughafen! Sie seien beim Umlagern in Toronto verloren gegangen und jetzt mit einem späteren Flug nachgeschickt worden. Ein Problem weniger.
Silvy geht es besser.
Durchatmen!
Den letzten Tag mit Hans und Martha verbringen wir mit einem Ausflug in den Kananaskis Country Park. Hier, in der schönen Szenerie der Rocky Mountains, lässt es sich so richtig entspannen.
Der Jetlag ist weitgehend überwunden, Silvy macht einen munteren Eindruck und wir sind mitsamt dem Material am vorgesehenen Startpunkt für die Weiterreise in den Norden. Nun kommt alles gut!
Oder doch nicht? Auf der Heimfahrt braut sich ein riesiges, heftiges Gewitter zusammen. Aus dem rabenschwarzen Himmel prasseln wolkenbruchartig Regen und Hagel hernieder. An einigen Stellen fliessen Bäche über den Highway. Bald schon kommt die Meldung aus dem Radio, dass die schweren Unwetter in der Region sich auf den Flugbetrieb am Calgary Airport auswirken. Wird unser Weiterflug nach Edmonton und Norman Wells von morgen früh betroffen sein?
Um 3:15 Uhr klingelt der Wecker. Unser Bonus vom Rest-Jetlag ist minim. Wir hätten noch lange schlafen können. Hans und Martha fahren uns zum Airport. Was doch unsere lieben Gastgeber nicht alles auf sich nehmen!
Der Flugbetrieb läuft nach dem gestrigen Unwetter wieder normal. Aber beim Einchecken werden uns nochmals 150 Dollar abgeknöpft für die Kat-Stangen. Auch hier gelten sie als zusätzliches Gepäckstück. Wir schlucken auch diese Kröte fast widerstandslos.
Nach dem Abschied von Hans und Martha besteigen wir die Propellermaschine nach Edmonton. Um sechs Uhr hebt sie ab, hinaus in den trüben Morgen.
Eine Stunde später, in Edmonton, regnet es in Strömen bei eiskalten Temperaturen. Ein kurzes Frühstück im Flughafencafé, dann geht es weiter – jetzt wieder in einem Jet – nach Yellowknife und nach einem kurzen Stopp nach Norman Wells. Kurz nach Mittag überfliegen wir beim Landeanflug den riesigen Mackenzie und setzen auf der Piste auf.
Die seit 1919 bestehende 800-Seelen-Siedlung am Mackenzie, knapp südlich des Polarkreises gelegen, ist der naheste Ausgangspunkt für den Mountain River. Die meisten Einwohner leben von der Öl- und Gasförderung im derzeit nördlichsten produktiven Ölfeld Kanadas. Die Ölvorkommen liegen hauptsächlich unter dem Flussbett des Mackenzie River. Die Förderanlagen stehen deshalb auf künstlichen Inseln im Fluss, der an dieser Stelle etwa 4 km breit ist.
Caroline Wright, Mitbesitzerin von North Wright Air erwartet uns in der kleinen Ankunftshalle. Mit ihrem Pick-up fährt sie uns sodann in das Büro ihrer Charterfluggesellschaft, unweit des Flughafengebäudes. An den Wänden hängen Natur- und Flugzeugbilder und eine riesige Aviatik-Karte. Im Erdgeschoss tummelt sich eine Handvoll Jäger, welche irgendwohin in die Wildnis ausgeflogen werden wollen. Ihre Schusswaffen und High-Tech-Pfeilbogen liegen verstreut am Boden herum – teilweise offen, teilweise in edlen, massgeschneiderten Leichtmetall-Behältern versorgt.
Gemeinsam gehen wir mit Carolyn durch die finanziellen und administrativen Belange für den Transport zum und vom Mountain River. Auf einem Formular für die Royal Mounted Canadian Police werden die Eckdaten unseres Trips festgehalten, detailliert bis hin zur Zeltfarbe. Falls wir in 16 Tagen an dem mit North Wright Air vereinbarten Treffpunkt nicht auftauchen sollten, würde die Polizei anhand der Angaben auf diesem Formular nach uns suchen.
Das Satellitentelefon aus Deutschland ist nicht angekommen – wie befürchtet. Dafür das Paket mit den gefriergetrockneten Lebensmitteln aus den Staaten. Immerhin.
Cody, ein junger Pilot von North Wright Air, fährt uns zum Laden im Ortszentrum. Er erzählt, dass das Leben hier draussen schon ein bisschen öde sei. Auf der anderen Seite würde er nirgendwo sonst eine Stelle bekommen, wo er derart intensiv zum »richtigen« Fliegen komme, »…the proper job, without autopilot and stuff.«
Wir begegnen einer Strassenbau-Maschine, die grossflächig Öl auf den Schotter sprüht. Cody erklärt, dass die Strassen hier in Norman Wells im Sommer regelmässig geölt werden müssten, um die Staubbildung zu minimieren.
Fremde Länder – fremde Sitten!
Ehrlich gesagt: Wir wären schon etwas überrascht gewesen, wenn unsere vor zwei Wochen bestellten Lebensmittel im Laden tatsächlich bereit gelegen wären. Sind sie natürlich nicht.
Wir sollten später nochmals kommen, meint der Ladenbesitzer, dann sei alles erledigt. Wir kaufen schon mal einen Kanister Camping-Benzin. Das gibt uns Gelegenheit, in der Zwischenzeit den in Calgary neu erworbenen Kocher auszuprobieren.
Cody fährt uns zur Floatbase am Ufer eines kleinen Sees, etwa 5 Kilometer vom Flugplatz entfernt. Vor Wochen hat Carolyn gemailt, dass wir unentgeltlich auf der Floatbase übernachten dürften. Ich habe mir das so vorgestellt, dass irgendwo in einem halboffenen Hangar am Boden, zwischen Werkzeugschränken, Ersatzteilkisten und Ölfässern etwas Platz freigeräumt würde, damit wir dort Matten und Schlafsäcke ausbreiten und lagern könnten.
Viel grösser hätte der Kontrast zu dem, was wir jetzt offeriert bekommen, nicht sein können: Das geräumige, zweistöckige Blockhaus liegt am Ufer des kleinen Sees, welcher als Start- und Landefläche für die Wasserflugzeuge von North Wright Air genutzt wird. Der Raum im Erdgeschoss, mit Sofa, Polstersesseln und Salontisch, vermittelt das Ambiente einer gemütlichen, rustikalen Stube. Im Obergeschoss stehen vier bequeme Betten, alle mit Moskitonetzen gesichert. Dazwischen bietet sich jede Menge Platz, um die Sachen auszubreiten. Aus den grossen Fenstern geniesst man einen wunderschönen Panoramablick auf den See und die dahinter liegenden Hügel. Am Landesteg, 50 Meter vor der Haustür, schaukeln eine Pilatus Porter und eine Otter in den leichten Wellen.
Dieses Blockhaus mit dieser Lage würde wohl überall als erstklassige Feriendestination durchgehen – wenn man mal darüber hinwegsieht, dass die »sanitären Einrichtungen« ausser Haus im Wald stehen und von eher rustikaler Natur sind …
Der Kocher funktioniert nicht mit dem soeben gekauften Benzin. Ein Streichholz nach dem anderen erlischt in der vermeintlich gefährlich leicht entflammbaren Flüssigkeit. Offenbar eine unpassende Mischung.
Zwei Stunden später sind wir zurück im Laden. Der Besitzer erstattet den Kaufpreis für das feuerfeste Benzin zurück. Dann bringt er eine Karre voll Waren aus dem Lagerraum. Angeblich die Lebensmittel gemäss unserer Liste.
Schon ein zweiter Blick offenbart, dass die Menge niemals mit jener auf unserer Bestellliste übereinstimmen kann. Und einige Produkte entsprechen in keiner Weise der Bestellung.
Penibel gehen wir drei Punkt für Punkt durch und ergänzen die noch fehlenden Posten mit Sachen aus den Regalen, so gut es eben geht. Dazu gehört unsere gesamte Nahrung für die nächsten 15 Tage, Kleinigkeiten wie Streichhölzer, Feuerstarter, Aluminiumfolie, Plastikbeutel, Arbeits-Handschuhe, eine kleine Axt und mehr. Da darf nichts fehlen! Falls wir jetzt etwas vergessen, würde es uns auf dem ganzen Trip fehlen. Ohne jede Chance auf Nachbeschaffung.
Das Prozedere dauert gute zwei Stunden. Und es kostet jede Menge Nerven!
Doch damit noch nicht genug: Als ich den ganzen Haufen schliesslich bezahlen will – rund 800.- CAN$ – wird die Kreditkarte vom System nicht akzeptiert! Dies, obwohl das Logo unserer Kreditkarten-Firma neben der Kasse klebt! Wir probieren es mit Yvonnes Karte. Genau dasselbe! Jetzt stehen wir ganz schön blöd da, neben unserem unbezahlten Stapel mit Lebensmitteln!
Die Ladenöffnungszeit ist eigentlich schon längst überschritten. Der Besitzer offeriert uns sein Telefon, damit wir die Kreditkarten-Gesellschaft in der Schweiz anrufen können.
Tatsächlich – nach dem zweiten Anruf geht plötzlich alles wie geschmiert: die Karten werden akzeptiert, die Rechnung bezahlt. Endlich!
Für den letzten Abend in der Zivilisation empfiehlt Cody von den beiden zur Verfügung stehenden Optionen das Mackenzie Valley Hotel als »beste Adresse«. Ein schmuckloser containerartiger Bau mit grossem Kiesparkplatz – wie praktisch alle Gebäude hier.
Drinnen sieht es schon ein bisschen gemütlicher aus und das chinesische Nachtessen, das wir serviert bekommen, ist wirklich lecker.
Danach beziehen wir im Blockhaus am See erschöpft unser geräumiges Nachtlager. Noch liegt eine letzte Flug-Etappe vor uns bis zum Startpunkt am Oberlauf des Mountain River.
Unmittelbar nach dem Frühstück beginnen wir in unserem Blockhaus die gestern erstandenen Lebensmittel zu sortieren, umzupacken und in die gemieteten Tonnen abzufüllen.
»Das hat niemals Platz!«, erkenne ich schon bald einmal.
Obwohl wir das Verpackungsmaterial so weit wie möglich entfernen, ist der Haufen der noch zu verstauenden Sachen viel grösser, als der verbleibende Raum in den Fässern. Können wir auf so viel verzichten?
Könnten wir wohl notfalls schon, wollen wir aber nicht.
Yvonne sieht eine Lösung: »Einige Sachen können wir in wasserdichte Beutel abfüllen. Ist nicht so stabil und schon gar nicht bear-proof, aber besser als gar nichts!«
Im Lagerraum der Blockhütte steht ein dreiviertelvoller Kanister mit Benzin herum. Ich probiere, den Kocher damit zum Funktionieren zu bringen. Im Gegensatz zum Versuch von gestern mit dem Brennstoff aus dem Laden, geht es damit einwandfrei!
Caroline versichert mir am Telefon: »Ihr könnt den Kanister gerne haben. Das Benzin ist von ehemaligen Kunden zurückgelassen worden.«
Weil wir vorhaben, vorwiegend auf dem Camp-Feuer zu kochen, dient uns der Benzinkocher ohnehin nur als Reserve. Somit sind wir mit diesem angebrauchten Kanister bestens bedient.
Kurz nach zehn Uhr kommt Dave, unser blutjunger Pilot.
»Plane’s ready. Let’s go!«
Er zeigt zur am Steg vertäuten Pilatus Porter. Der Moment, auf den wir so lange gewartet haben! Jetzt wird uns nichts mehr von unserem Abenteuer abhalten, alle Hindernisse scheinen überwunden!
Wir schleppen das Gepäck auf den Holzsteg. Dave versorgt alles im Heck des Flugzeugs und bindet die Taschen mit Riemen fest. Die beiden Bärenspray-Dosen wirft er in die Luke des linken Schwimmers. Eine Sicherheitsmassnahme: Falls eines der Dinger während dem Flug undicht würde, ginge das gefährliche Zeug wenigstens nicht in der Kabine los.
»Have you got your paddles, you guys?« wundert sich Dave, bevor er uns einsteigen lässt. Klar, haben wir! Unsere Paddel sind teilbar und von aussen unsichtbar in den Bootssäcken verstaut.
Yvonne und Silvy nehmen auf den Sitzen hinten in der Kabine Platz, ich vorne, neben dem Piloten.
Routinemässig leiert dieser die Sicherheits-Instruktionen runter, erklärt, wo das Notfallequipment im Flugzeug verpackt ist und wie wir uns bei einer Notlandung zu verhalten hätten.
Weil wir keine Fragen haben, startet er den Motor und tuckert die Maschine ans Nordende des Sees. Dann dreht er sie in den Wind und gibt Schub. Es ist elf Uhr.
Mit ohrenbetäubendem Lärm schiessen wir übers Wasser, grosse Gischtfontänen hinter den Schwimmern herziehend. Schon nach erstaunlich kurzer Zeit hebt die Pilatus Porter ab. Schnell gewinnen wir an Höhe. Nach einer Schleife über den braungrauen Fluten des Mackenzie steuert Dave die im Westen liegenden Berge an. Unser Traum wird Wirklichkeit.
Nach 20 Minuten bleibt das Mackenzie-Tiefland hinter uns zurück, wir erreichen die Mackenzie-Berge. Über den ersten Hügeln stellen sich Wolken in den Weg. Dave umkurvt sie. Aber je tiefer wir in das Gebirge eindringen, desto düsterer wird das Wetter. Wir durchfliegen einige Regenschauer. Dave muss tiefer gehen. Weil im Motorenlärm eine direkte Kommunikation nicht möglich ist, teilt er über die Bordsprechanlage mit, dass wir unser Ziel, den Dusty Lake, nicht auf dem kürzesten, direkten Kurs anfliegen können, sondern dem Tal folgen müssen.
Das freut mich, denn dies eröffnet die Möglichkeit, den Mountain River schon mal ein bisschen aus der Luft kennenzulernen. Trotzdem hoffe ich natürlich inständig, dass es nicht regnen wird, wenn wir am Dusty Lake landen. Ein nasser Start zu unserem Trip wäre äusserst unangenehm.
Nach einer halben Flugstunde erkennen wir den Mountain River unter uns. Breit und trüb windet er sich durch das Flusstal. Ich versuche Stellen zu identifizieren, welche ich von meinen unzähligen virtuellen »Überflügen« mit Google Earth kennen sollte. Vorerst vergeblich.
Dave verspeist ein Sandwich. Dann einen Apfel. Plötzlich öffnet er die Kabinentüre an seiner Seite. Will er rausspringen? Nein, zum Glück nicht! Er wirft nur den Apfelrest raus!
Die Berge sind hier sehr schroff und felsig. Hin und wieder lässt ein Wolkenfenster Hoffnung aufkommen auf eine regional begrenzte Wetterbesserung. Plötzlich erkenne ich weit unter uns eine markante Felsformation vor dem Eingang zum zweiten Canyon. »Hey, der Battleship Rock!« versuche ich die hinter mir auf der gleichen Seite sitzende Silvy aufmerksam zu machen. Doch sie kann mich durch den Lärm des Motors nicht verstehen.
Von da an habe ich die Geografie einigermassen im Griff. Ich erkenne den Cache Creek, den Shale Lake und später die Talmulde des Willowhandle Lakes, wohin die allermeisten Befahrer des Mountain Rivers eingeflogen werden. Die Farbe des Flusses wechselt augenfällig. Im Unterlauf grau, im Mittellauf braun, und hier oben extrem gelb, so, wie ich das noch nie bei einem Fluss gesehen habe.
Etwas weiter talaufwärts scheint das Wetter heller zu sein. Genau dort, wo wir hinfliegen! Winkt uns das Glück?
Tatsächlich: nach einer guten Flugstunde – wir sind mittlerweile schon oberhalb der Waldgrenze, kurz vor der geplanten Landung – dringen einige schwache Sonnenstrahlen durch die Wolken. Unser Wunsch wird erfüllt!
Dann erkennen wir den winzigen Dusty Lake, ein paar hundert Meter neben dem Fluss gelegen. Wir wissen, dass nur ein STOL-Flugzeug (Short Taking Off and Landing) hier aufsetzen kann. Warren, der Chef von North Wright Airlines, hat uns vor dem Abflug noch gesagt, dass die Landung eine knappe Sache werde, welche nur zwei Piloten seiner 24-köpfigen Crew im Griff hätten. Er selber und Dave.
»Mein Gott, auf dieser kleinen Pfütze will der landen?«, wundere ich mich. »Geht das wirklich?«
Wir sind sehr gespannt, um nicht zu sagen: leicht beunruhigt. Mit einer steilen Linkskurve umfliegt Dave den See in geringer Höhe. Offensichtlich sieht er keine Probleme. Er kurbelt die Trimmung zurück und setzt konzentriert zur Landung an. Nur noch ganz wenige Meter Luft sind unter den Schwimmern, als wir über das Ufer hinweg auf die Wasserfläche hinausschiessen.
»Jetzt muss er aber sofort aufsetzen!«, denke ich, »sonst krachen wir ins gegenüberliegende Ufer!« Und als wir für weitere lange Momente in der Luft verbleiben, und dem Ende des Sees rasend schnell entgegenfliegen: »Das wird niemals reichen!«
Endlich berühren die Schwimmer das Wasser und ziehen eine rauschende Gischtspur über die Oberfläche. Die Pilatus Porter wird leicht abgebremst, rast aber für unser Gefühl immer noch viel zu schnell auf das Ufer zu. Dann schaltet Dave die Schubumkehr ein und zieht am Höhensteuer. Die Maschine stellt sich steil auf, hebt die Spitze zum Himmel und wird sofort stark abgebremst. Fünfzig Meter vor dem Ufer kommen wir zum Stillstand. Phhuh!
Jetzt haben wir es definitiv geschafft.
Der Pilot versucht die Porter rückwärts so nahe wie möglich ans Ufer zu manövrieren, aber das Wasser ist hier sehr seicht. Zehn Meter vor dem Trockenen ist Schluss. Es geht nicht ohne nasse Füsse. Wir laden das Gepäck aus dem Flugzeugheck auf den Schwimmer. Danach ziehen wir die Schuhe aus, krempeln die Hosenbeine hoch und tragen alle Gepäckstücke an Land.
»Have you got everything you gonna need, you guys?«, fragt Dave.
Was wollen wir da schon sagen? Wenn wir das bloss wüssten! Natürlich haben wir alles mehrfach durchgecheckt. Es wäre eine ganz üble Entdeckung, wenn es sich herausstellt – nachdem das Flugzeug unwiderruflich weg ist – dass da irgendeine essenzielle Kleinigkeit zu Hause geblieben, oder nicht ausgeladen worden ist. Die Ventile für den Kat zum Beispiel. Oder der Wasserfilter. Streichhölzer.
Die Antwort wird sich erst zeigen, wenn wir die Sachen brauchen.
So nicken wir halt zuversichtlich.
»Okay then. Bye!«
Dies sollten die letzten Worte von jemandem Fremden sein, die wir für die nächsten 15 Tage zu hören bekommen. Dave steigt ins Cockpit. Er zündet den Motor, richtet die Maschine für den Start aus, beschleunigt und hebt ab. Ohne mit den Flügeln zu winken, fliegt er davon, talauswärts, dorthin, wo wir hergekommen sind.
Man würde sich eigentlich eher einen weniger wortkargen Typen als letzten Kontakt wünschen, wenn man sich für zwei Wochen in die Wildnis verabschiedet. Aber hier draussen spielen die aviatischen Qualitäten ja eine viel wichtigere Rolle, als die kommunikativen …
Sowie das Motorengeräusch verklungen ist, beginnt für uns das wirkliche Abenteuer. Von nun an sind wir auf uns selbst gestellt. Jetzt liegt alles in unseren eigenen Händen. Über hunderte Kilometer in jeder Richtung gibt es keine Siedlung, keine Strasse, keine Menschen, keine Telefonverbindung. Diese Welt gehört uns allein!
Der Dusty Lake liegt in einem weiten Hochtal auf 1230 m Höhe, wenig oberhalb der Baumgrenze. Vereinzelte kleine Fichten stehen in Muldenlagen. Weite Flächen sind mit Weidengebüsch bewachsen. Kaum hundert Meter höher wächst an den Berghängen nur noch Gras und wenig darüber gar nichts mehr. Die felsigen Gipfel, welche das Hochtal begrenzen, erreichen Höhen bis 2700 m.
Vorerst gilt es, das ganze Gepäck einen halben Kilometer zum Fluss hinunter zu tragen. Doch wo geht das am besten? Das knapp mannshohe Weidengebüsch, ein paar dünne Tannen und das kupierte Gelände verhindern einen Überblick über die kürzeste Tragestrecke.
»Lasst uns erst mal einen Erkundungsgang machen, statt schwer beladen herumzuirren!« schlägt Yvonne vor.
»Okay, das macht Sinn. Aber etwas leichtes Gepäck können wir trotzdem schon mitnehmen, dann haben wir nachher weniger zu tragen!«
Die Richtung ist klar, aber das unebene Gelände und die Vegetation zwingen einem diverse Umwege auf. Bisweilen glaubt man einem Pfad zu folgen, doch der erweist sich jedes Mal wieder als eine ins Leere laufende Trampelspur irgendwelcher Tiere. Caribous wahrscheinlich.
Nach einer Viertelstunde Bushwhacking verlassen wir das Gebüsch und treten auf einen freiliegenden, kleinen Geländerücken hinaus, etwa noch hundert Meter vor dem Fluss. Von hier aus scheint der Zugang klar. Sicherheitshalber steige ich trotzdem bis zum Wasser hinunter. Ich finde eine flache Kiesbank, wo wir nachher unsere Boote aufstellen und beladen können. Dabei werden wir allerdings eine enge Felsnase umgehen und ein steiles, direkt am Fluss liegendes Geröllfeld queren müssen.
Nach einer Snackpause treten wir den Rückweg an zum See, um weiteres Material zu holen.
Kurz vor dem Gepäckdepot ruft Silvy plötzlich: »Mein Bärenspray ist weg!«
Super! Dies bedeutet zwar nicht gerade den Total-Kollaps unseres Sicherheitskonzepts, doch wird durch diesen Verlust unser Bärenabwehr-Arsenal mit einem Schlag halbiert. »Der muss dir irgendwo im Gebüsch aus dem Holster gefallen sein!«
Silvy blickt ziemlich nervös drein. Es ist ihr allererster Aufenthalt in der richtigen Wildnis.
Wenn wir die Spraydose wieder finden könnten, wäre das gut. Aber in diesem unübersichtlichen Gebüsch hier oben haben wir wohl keine Chance! Da würde höchstens ein Riesen-Zufall helfen.
»Wir werden uns auf den verbleibenden Touren zwischen See und Fluss so gut es geht, an die vorher begangene Route halten, vielleicht finden wir die verlorene Dose doch noch!« beruhige ich die Tochter. »Und wenn nicht, ist das auch nicht so tragisch. Eine Dose reicht!«
Diesmal beladen wir uns mit so viel Material, wie wir tragen können, sodass der Rest nachher in einer einzigen Tour zu bewältigen bleibt. Das Gewicht der Säcke und der Tonnen drückt ganz schön auf die Schultern und zieht schmerzhaft an den Armen. Ich trage eine Kartonschachtel ohne gute Griffmöglichkeiten. Ziemlich unbeholfen stolpern wir durch die Landschaft. Nach 20 beschwerlichen Minuten können wir die Ladung auf dem freiliegenden Geländerücken deponieren.
Noch einmal machen wir uns auf den Rückweg, krampfhaft bemüht, dieselbe Route zu nehmen wie zuvor. Vergeblich. Der Bärenspray bleibt verschollen. Dafür begegnen wir einer Steinhuhnmutter mit ihren Jungen.
Die letzte Tour vom Depot bis zum Geländerücken wird noch beschwerlicher als die vorhergehenden. Unsere Gepäckstücke sind zum Teil etwas unhandlich. Und schwer. Es erfordert mehrere Pausen, bis auch das geschafft ist.
Nun muss noch alles Material über das steile Geröllfeld auf die Kiesbank gebracht werden. Wir richten einen Pendeldienst ein. Rund zweieinhalb Stunden nach der Landung auf dem Dusty Lake haben wir die gesamte Ausrüstung, welche wir für die nächsten zwei Wochen brauchen werden, am Fluss – wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche.
Ich freue mich, bin voller Ungeduld. »Jetzt bauen wir den Kat auf!«
»Zuerst essen! Wir haben Hunger. Dränge nicht so!« kommt das Veto von den Frauen.
»Wir kennen die Pegelschwankungen des Mountain River noch nicht. So nahe an der Wasseroberfläche ist es immer ratsam, das Boot bereit zu haben, für den Fall, dass der Fluss plötzlich steigt«, mahne ich.
Das bringt mir bei der Familie zwar keine Pluspunkte ein, aber immerhin den Freipass, um mit dem Aufbau sofort beginnen zu können.
Sobald die inzwischen verpflegten Damen mit Hand anlegen, geht der Aufbau zügig voran. Jeder der 10 unterschiedlich langen Riemen hat seine klar bestimmte Position an der Konstruktion. Nach knapp vierzig Minuten steht das Boot fahrtüchtig da, bereit für die grosse Fahrt.
Das Beladen hingegen erfordert – wie immer am Anfang einer Tour – noch viel Probieren, Optimieren und Umpacken. Wo passt diese Tonne hin, wo welche Tasche? Was muss leicht zugänglich befestigt werden, was brauchen wir erst am Schluss der Etappe? Jedes Gepäckstück wird mit zwei oder drei Karabinern irgendwo an den Ösen und Riemen des Kats gesichert.
Kurz nach fünf Uhr ist es soweit: Der Kat schaukelt vollbepackt auf dem Mountain River, durch die Sicherungsleine am Ufer festgemacht. Wir stecken in der neu zugekauften Paddelkleidung, bereit zur Abfahrt für die erste Etappe.
Genau jetzt setzt sich auch die Sonne richtig durch und bringt das surreale Gelb des Flusses voll zur Geltung!
Gespannt steigen wir ein und stossen ab, steuern unser Gefährt in die Hauptströmung hinaus. Sofort nimmt der Kat Fahrt auf, wird schnell zur nächsten Kurve getragen. Hier oben im Quellgebiet ist der Mountain River noch ein kleiner Fluss, schmal, mit geringem Strömungsdruck – trotz schon beachtlicher Geschwindigkeit. Das trübe Wasser erfordert volle Konzentration. Überall lauern knapp überspülte Steine, an welchen wir nicht hängenbleiben wollen. Von Beginn weg gilt es, präzise zu manövrieren, die vielen Windungen und Kurven im engen Flussbett lassen nur wenig Spielraum. Jetzt endlich können wir geniessen, worauf wir uns so lange gefreut haben:
Ein zügig fliessender, abwechslungsreicher Fluss, welcher uns und unseren Hausrat durch diese wunderschöne, zivilisationsverschonte Gebirgslandschaft trägt. Fast 400 Kilometer mit vielen Unbekannten vor uns – und die Zeit, dieses Abenteuer richtig auszuleben!
Ich bin erleichtert: Der Kat funktioniert wie erhofft, offenbar ist beim Transport nichts kaputt oder vergessen gegangen und anscheinend haben wir auch alles Wichtige dabei.