Eine Minute der Menschheit, der erste Band in Stanisław Lems Bibliothek des 21. Jahrhunderts, ist eine Momentaufnahme der Menschheit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert; der zweite, Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, behandelt die neuen fürchterlichen Waffensysteme, Militärtechnologie und Strategie der Zukunft. Das Katastrophenprinzip, der dritte, liefert den allgemeinen philosophischen Hintergrund, die Standortbestimmung des Menschen in der Welt. Das Leben, zumal das intelligente Leben, ist ein ständiger Balanceakt zwischen Katastrophen, die im Weltall eher die Norm sind. Die Spiralwirbel der Galaxien drehen sich wie ein Fleischwolf – ein Fleischwolf, der mal Leben gebiert, mal wieder Leben zermalmt. Dieser Vergänglichkeit allen Lebens ist sich die Menschheit der Zukunft immer schmerzlich bewußt.
Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
Das Katastrophenprinzip
Die kreative Zerstörung im Weltall
Aus Lems Bibliothek des 21. Jahrhunderts
Phantastische Bibliothek
Band 125
Suhrkamp
Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner
Titel des Originals:
The World as Holocaust
Aus dem Polnischen von Friedrich Griese
Umschlagfoto: Anna Kaczmarz / Reporter / Eastway
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Stanisław Lem 1983
© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 1983
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74325-6
www.suhrkamp.de
Die Menschheit als Rarität
Die kreative Zerstörung
im Weltall
The World as Holocaust
Einleitung
Bücher mit solchen oder ähnlichen Titeln erscheinen erstmals gegen Ende des 20. Jahrhunderts, doch das Weltbild, das sie vermitteln, verbreitet sich erst im folgenden Jahrhundert, als die Entdeckungen, die in weit voneinander entfernten Wissenschaftszweigen aufkeimen, sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Aus diesem Ganzen ergibt sich, um es vorweg zu sagen, eine antikopernikanische Wende in der Astronomie, durch die unsere Vorstellungen über den Platz, den wir im Universum einnehmen, umgestoßen werden.
Während die vorkopernikanische Astronomie die Erde in den Mittelpunkt der Welt gerückt hatte, stieß Kopernikus sie aus dieser bevorzugten Position, denn er entdeckte, daß die Erde einer von vielen Planeten ist, welche die Sonne umkreisen. Säkulare Fortschritte der Astronomie bekräftigten die kopernikanische Regel, nach der nicht nur die Erde kein zentraler Körper des Sonnensystems ist, sondern vielmehr dieses ganze System sich am Rande unserer Galaxie, der Milchstraße, befindet; es stellte sich heraus, daß wir innerhalb des Kosmos »irgendwo«, im Vorort eines x-beliebigen Sterns, wohnen.
Während die Astronomie die Evolution der Sterne erforschte, erkundete die Biologie die Evolution des Lebens auf der Erde, bis die Entwicklungswege dieser Forschungen sich schließlich trafen oder vielmehr gleich den Zuflüssen eines Stroms vereinigten, denn die Astronomie machte sich die Frage nach der Verbreitung des Lebens im Kosmos zu eigen, während die theoretische Biologie sie darin unterstützte, und so entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts das erste Programm der Suche nach außerirdischen Zivilisationen unter der Bezeichnung CETI (Communication with Extraterrestrial Intelligence). Jahrzehntelang betrieb man diese Suche mit immer besseren und immer mächtigeren Apparaturen, doch wurden weder fremde Zivilisationen entdeckt, noch fand man auch nur die geringste Spur von Radiosignalen von ihnen. Damit war das Rätsel des Silentium Universi aufgeworfen. In den siebziger Jahren gelangte das »Schweigen des Kosmos« in die breitere Öffentlichkeit und erregte einiges Aufsehen. Die Unentdeckbarkeit »anderer vernunftbegabter Wesen« wurde für die Wissenschaft zu einem unfaßbaren Problem. Die Biologen hatten bereits die physikalisch-chemischen Bedingungen festgelegt, unter denen aus unbelebter Materie Leben entstehen kann – und das waren durchaus keine ungewöhnlichen Bedingungen. Die Astronomen zeigten, daß es in der Umgebung der Sterne zahlreiche Planeten gibt. Beobachtungen bewiesen, daß ein erheblicher Teil der Sterne unserer Galaxie Planeten besaß. Damit drängte sich der Schluß auf, daß im Verlaufe typischer kosmischer Wandlungen relativ häufig Leben entsteht, daß seine Evolution eine natürliche Erscheinung im Kosmos sein muß und daß die Krönung des Entwicklungsbaumes der Gattungen durch die Entstehung vernunftbegabter Wesen ebenfalls im Rahmen des Üblichen liegt. Diesem Bild eines bewohnten Kosmos widersprachen indessen die immer wieder vergeblichen Versuche, außerirdische Signale zu empfangen, obwohl eine wachsende Zahl von Observatorien jahrzehntelang nach ihnen suchte.
Nach den Erkenntnissen der Astronomen, Biochemiker und Biologen war der Kosmos voll von Sternen, die der Sonne ähneln, und voll von Planeten, die der Erde gleichen, so daß sich dem Gesetz einer so großen Zahl gemäß das Leben auf unzähligen Globen hätte entwickeln müssen, aber das Abhorchen nach Radiosignalen zeigte überall eine leblose Öde.
Die Wissenschaftler, die im Programm CETI und anschließend im Programm SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence) zusammenarbeiteten, entwarfen verschiedene Ad-hoc-Hypothesen, um das kosmische Vorkommen von Leben mit dessen kosmischem Schweigen in Einklang zu bringen. Zunächst behaupteten sie, der durchschnittliche Abstand zwischen den Zivilisationen belaufe sich auf fünfzig bis hundert Lichtjahre. Nach weiteren Überlegungen mußten sie diesen Abstand auf sechshundert und schließlich auf tausend Lichtjahre hinaufsetzen. Gleichzeitig entstanden Hypothesen über die Selbstzerstörung der Vernunft; so stellte von Hörner zwischen der »psychozoischen Dichte« und der Leblosigkeit des Kosmos einen Zusammenhang her durch die Behauptung, daß jede Zivilisation vom Selbstmord bedroht sei, wie er ähnlich der Menschheit in einem Atomkrieg drohe, so daß die organische Evolution sich zwar über Milliarden Jahre hinziehen könne, die letzte, technologische Phase aber kaum einige Jahrtausende dauere. Andere Hypothesen wiesen auf die Gefahren hin, die das 20. Jahrhundert sogar in der friedlichen Expansion der Technologie entdeckte, die mit ihren Nebenwirkungen die Biosphäre als Brutstätte des Lebens vernichtet. Die bekannten Worte Wittgensteins paraphrasierend, hat einmal jemand gesagt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man dichten.« Wohl als erster hat Olaf Stapledon in dem fantastischen Roman »Last and First Men« unser Schicksal in den Satz gefaßt: »Die Sterne schaffen den Menschen und die Sterne töten ihn.« In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als er diese Worte schrieb, waren sie allerdings eher »Dichtung« als »Wahrheit«, waren sie eine Metapher und nicht eine Hypothese, die imstande wäre, sich um Aufnahme in das Reich der Wissenschaft zu bewerben.