Inhaltsverzeichnis
KONTRASTPROGRAMM
Die Angst reist mit
Mein Herz raste. Es hämmerte in meiner Brust. Ist es richtig, was wir hier machen, fragte ich mich? Panik kroch in mir hoch und schien sich in jede Nervenzelle einzunisten. Ich hatte plötzlich Angst um mein Leben.
Innerhalb einer Sekunde war meine große Vorfreude auf die Reise nach Rumänien geplatzt und hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Meine erste Tour auf dem Fahrrad drohte hier an der Grenze zwischen Ungarn und Rumänien abrupt zu enden, weil uns ein britischer Trucker mit Schauergeschichten über rumänische Räuber und Banditen Angst eingejagt hatte.
Auf der anderen Seite des Schlagbaums schien unser Verderben zu liegen, auf dieser Seite wartete ich mit meinen Kumpels Stevie, Markus und Thomas bei den Rädern darauf, von den Beamten kontrolliert und über die Grenze gelassen zu werden. Aber wollte ich überhaupt noch rüber?
Etwa 50 Meter sowie fünf Autos und zwei mit Whiskey beladene Lastwagen trennten uns noch vom Schlagbaum. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis er sich auch für uns öffnete.
Ich dachte über die Worte des Truckers nach. Weil es in der Schlange nicht voranging, hatte er sein Führerhaus verlassen und war gelangweilt auf und ab geschlendert, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Als er uns sah, war er langsam zu uns gekommen.
»Hallo, wollt ihr etwa mit dem Rad da rüber?«, hatte er gefragt und sich unsere Räder genauer angesehen.
»Ja, aber nur als Durchgangsstation«, war meine Antwort. »Unser Ziel ist Istanbul.«
Er sah uns erst erstaunt an und schüttelte dann verständnislos den Kopf. »Ich fasse es nicht. Sagt jetzt nicht, ihr wollt dort auch noch wild campen?!«
»Na klar, haben wir doch auch in Ungarn gemacht. Das hat ganz gut funktioniert«, mischte sich Markus ein.
Der Trucker blickte nachdenklich von einem zum anderen. »Seid ihr lebensmüde?«, fragte er nach einer kurzen Pause. »Das ist verdammt gefährlich!«
»Wieso?«, wollte ich genauer wissen. »Was ist denn so gefährlich?« Kaum ausgesprochen, fühlte ich mich unbehaglich. Bereits beim Anblick der bewaffneten Grenzsoldaten hatte mich dieses Gefühl beschlichen. »Wir jedenfalls sind sehr vorsichtig geworden. Neuerdings fahren wir immer mit zwei Lastwagen und vier Mann rüber. Kollegen von uns sind neulich überfallen worden. Einer wurde sogar erstochen.«, meinte der Trucker.
Das saß! Ich schluckte und spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte. Rumänien hatte für mich zwar immer auch etwas Unheimliches und Nebulöses an sich, weil ich damit die Romanfigur des blutsaugenden Grafen Dracula aus den dunklen Karpaten und den erst kürzlich hingerichteten Diktator Ceausescu verband. Dennoch hatte ich bisher vor allem schöne Landschaften und lächelnde Menschen vor Augen, wenn ich an das Land dachte. Sie wurden nun schlagartig verdrängt von düster dreinschauenden Männern, die uns mit hasserfülltem Gesicht an den Kragen wollten. Erstaunlich, was wenige Worte auslösen können. Da standen wir vier und warteten freudig darauf, endlich durchgelassen zu werden und Rumänien frohen Mutes entdecken zu können – und dann dieser Schock!
Ich fragte mich, ob uns der unrasierte Mittvierziger in Jeans und Holzfällerhemd ein Ammenmärchen auftischte. Vermutlich nicht. Warum sollte er uns Angst machen wollen?
Wir erfuhren, dass er schon öfter in Rumänien unterwegs gewesen war. Als er sich von uns verabschiedete, sagte er noch einmal mit eindringlicher Stimme, er könne uns nur warnen: »Überlegt euch das gut!«
Vor ein paar Wochen hatte ich schon einmal ähnliche Töne gehört. Ich erinnerte mich plötzlich an das Gespräch mit meinem Onkel Klaus aus Schwerin, damals noch DDR. Als ich ihm von meinen Urlaubsplänen erzählte, reagierte auch er erschrocken. »Passt bloß auf euch auf!«, warnte er mich, »es hat dort immer wieder Überfälle auf DDR-Bürger gegeben. Rumänien ist gefährlich.«
Na, na, na, hatte ich bei mir gedacht. Das waren sicher die üblichen Geschichten, die man sich über ungeliebte Nachbarn erzählte. So wie sich bei uns Westdeutschen hartnäckig das Vorurteil hielt, dass Italiener gerne mal klauen, waren für die Menschen in der DDR eben die Rumänen ganz üble Gesellen.
Ich hatte nur gelächelt wegen dieser scheinbar bösen Unterstellungen meines Onkels gegenüber seinen sozialistischen Brüdern und Schwestern. Ich glaubte nicht recht daran und wollte mir mein eigenes Bild machen. Ich nahm die mahnenden Worte also nicht ernst, was sich jetzt offenbar bitter rächte.
Schön blöd war ich gewesen, nicht auf ihn gehört zu haben. Wenn uns etwas zustößt, dachte ich, dann ist klar, was passieren wird. »Ich habe ihn noch gewarnt«, hörte ich meinen Onkel sagen, »aber er wollte ja nicht auf mich hören.« Wieso habe ich einem Menschen nicht geglaubt, der Rumänien kennen muss? Schließlich konnten er und die anderen DDR-Bürger bis zur Öffnung der Mauer nur in den Bruder-Ländern Urlaub machen. Sie sind zwangsläufig absolute Fachleute in Sachen Sowjetunion, Bulgarien, Ungarn und Rumänien.
Mir wurde flauer, je länger ich darüber nachdachte. Jetzt wäre es mir am liebsten gewesen, wenn uns die Rumänen die Einreise verweigert hätten.
Dabei hatte ich es vor lauter Spannung kaum abwarten können, dieses Land endlich zu erkunden. Rumänien liegt zwar geografisch und kilometermäßig von Hamburg, wo ich lebe, nur so weit entfernt wie das Mittelmeer. Aber gefühlt war es eine Reise zu einem fremden Planeten einer weit entfernten Galaxie; eine Reise in eine völlig unbekannte, bisher verschlossene und uneinsehbare Welt.
Wir hatten uns im August 1990 zu dieser sechswöchigen Radtour über 2.500 Kilometer von Ungarn bis ins türkische Istanbul zusammengetan, um kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Osteuropa näher kennen zu lernen. Jetzt erschien mir die Tour wie eine gefährliche Schnapsidee, die allerdings vielversprechend begonnnen hatte.
Drei Tage lang hatten wir uns in Ungarn eingeradelt. Im beschaulichen Kecskemet, einer etwa 100 Kilometer südlich von Budapest gelegenen kleinen Stadt, stiegen wir gut gelaunt aus der Bahn und starteten unsere abenteuerliche Reise.
Vor mir lagen meine ersten Kilometer auf einer Urlaubstour mit meinem schwarzen Trekkingrad. Mithilfe seiner 21 Gänge wollte ich die Berge bewältigen. Mein nigelnagelneues Gefährt rollte auf breiten Reifen, damit ich auch auf sandigen und steinigen Pisten vorankam. An speziellen Gepäckträgern hingen vorne und hinten jeweils zwei Packtaschen, die vollgestopft waren mit den allernötigsten Klamotten: einer langen Hose, zwei T-Shirts, zwei Unterhemden und -hosen, einem SweatShirt und einem dicken Pullover. Sogar Handschuhe und einen Schal hatte ich dabei, denn ich konnte nicht einschätzen, wie kalt es hoch oben im Gebirge sein würde. Außerdem Regenhose, Regenjacke und Regengamaschen, um die Schuhe zu schützen, denn ich hatte nur dieses eine Paar dabei. Mit im Gepäck waren zudem Kocher, Wasserfilter, Zahnbürste, Zahnpasta, Vitamin-C-Tabletten, einige Kilogramm Müsli und Nudeln – und was man sonst noch unbedingt brauchte auf einer Tour, bei der nicht an jeder Ecke ein Supermarkt stand und wir nicht immer problemlos nachkaufen konnten, was wir brauchten. Hinter meinem Sattel lag quer über dem Gepäckträger meine Isomatte, in der ein Zelt eingerollt war.
Insgesamt schleppte ich 20 Kilogramm auf dem Rad herum. Durch das ungewohnte Gewicht rollte ich die ersten Meter ziemlich wackelig. Ich schlingerte und kippte fast um, bevor ich es endlich schaffte, den Lenker in der Balance zu halten. An das Gewicht und die Lastenverteilung mit zwei schweren Taschen neben den Vorderreifen musste ich mich erst einmal gewöhnen.
Es war aber auch ein ganz neues Gefühl von Freiheit: Wir hatten alles dabei, was wir zum Leben brauchten. Ein ganzer Hausstand hing am Fahrrad. Und nicht zuletzt konnten wir mit unserem Gefährt überall hinfahren, wo es so etwas wie einen Weg gab. Wir waren unabhängig.
Von Kecskemet aus radelten wir gen Osten zunächst vor allem durch weites, ödes Land − Puszta eben. »Puszta« bedeutet sinngemäß unbewohntes, ödes Land. Je weiter wir fuhren, desto grüner wurde die Landschaft. Am Straßenrand tauchten Apfelbäume auf und auf Feldern und in Gärten wuchsen Tomaten, Peperoni, Kürbisse, Mais und Sonnenblumen. Große Schafherden grasten auf kargen Weideflächen. Besonders auffällig waren die Ziehbrunnen, deren lange, schmale Holzstämme wie bei einer Schranke hoch- und runterbewegt werden, um Wasser aus der Tiefe zu schöpfen. Die ländliche Idylle wurde nur manchmal durch Lastwagen gestört, die uns beim Überholen in Staubwolken hüllten.
Ich hatte zwar ein Fahrrad mit vielen Gängen, doch in der großen ungarischen Tiefebene waren die völlig überflüssig. Das Terrain war flach und weit überschaubar, Häuser standen hier nur vereinzelt. Ab und an stiegen wir von unseren Rädern, pflückten Äpfel von den Bäumen am Wegesrand und legten uns für eine kurze Pause ins Gras. Für mich fühlte es sich wie ein kleines Paradies an. Neben den leckeren Äpfeln und dem Gemüse wuchs hier auch Wein. Dicke Trauben hingen an den vollen Reben und zum ersten Mal sah ich mit eigenen Augen, wie Frauen und Männer bei der Weinlese fröhlich lärmend mit hochgekrempelten Hosenbeinen und geschürzten Röcken, mit nackten Füßen in einem Riesenbottich Unmengen an Trauben zerstampften, um daraus Weißwein zu machen. Als wären wir in einer anderen, einer vergangenen Welt, in der noch Ruhe und Beschaulichkeit das Leben bestimmt.
Wir überholten Pferdegespanne, die gemächlich vor sich hin trotteten. Und wenn wir Durst hatten oder eine kleine Abkühlung brauchten, hielten wir kurzerhand an einer der altertümlichen Pumpen, die von Zeit zu Zeit an den Bürgersteigen auftauchten. Wir betätigten den Schwengel und pumpten tief aus der Erde eiskaltes, erfrischendes Wasser. Es schmeckte köstlich und bevor wir weiterradelten, füllten wir damit unsere Flaschen.
Wir näherten uns bei schönem Wetter allmählich dem Grenzübergang Nagylac. Normalerweise fühle ich an Grenzen ein wohliges Kribbeln. Sie machen mir deutlich, dass etwas ganz anderes auf mich zukommt. Es beginnt etwas Neues. Mich erwarten eine andere Sprache, anderes Geld, andere Menschen und eine andere Kultur. Spannend!
Doch dann dieser Kontrast: Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag patrouillierten auf und ab; sie wirkten martialisch und einschüchternd.
Ich erklärte mir das waffenstarrende Auftreten damit, dass in diesem August 1990 noch alles neu und fragil war. Der Eiserne Vorhang war erst im vorigen November gefallen und die Rumänen hatten sich kurz darauf ihres jahrzehntelang herrschenden Diktators Ceausescu samt Ehefrau entledigt. Da musste sich ein Land erst einmal wieder stabilisieren.
Noch bis vor Kurzem kamen hauptsächlich DDR-Bürger, Ungarn und Menschen aus anderen sozialistischen Ländern über die Grenze. Jetzt aber war sie für fast alle offen; auch für die ehemaligen Staatsfeinde aus den kapitalistischen Ländern, also auch für meine Freunde und mich. Wir vier konnten uns sicher rühmen, zu den ersten westlichen Touristen zu gehören, die Rumänien besuchen wollten. Erst recht gehörten wir garantiert zu den ersten Fahrradtouristen.
Bei dem Gedanken, gleich die Grenze hinter mir zu lassen, kribbelte es vor lauter Aufregung schon im Bauch. Die Spannung stieg – bis der Trucker mir sämtliche Illusionen nahm. Rumänien konnte mir urplötzlich gestohlen bleiben.
Ich schaute meine drei Mitradler an und hoffte, dass einer von ihnen zugab, die Hosen voll zu haben und etwas sagte wie: »So gefährlich ist es da drüben? Dann lasst uns umdrehen.« Aber keiner äußerte solche Bedenken. Hatten sie Fluchtgedanken wie ich und trauten sich auch nicht, diese auszusprechen? Unter echten Kerlen ist es nicht immer einfach einzugestehen, dass man Angst hat. Oder waren die wirklich so cool? Sie schienen sich ernsthaft Gedanken zu machen, was zu tun sei. Als wenn das nicht sonnenklar war!
Offenbar musste ich sie aufklären über das einzig Wahre in dieser Situation. Ich stehe natürlich nicht so gerne als Angsthase da. Mann oder Maus, heißt es schließlich immer. Und ich antworte gerne mit: »Mann natürlich.« Aber sollte ich uns etwa aus falsch verstandener Eitelkeit ins Verderben radeln lassen? Nein, natürlich nicht. Schließlich wollte ich noch zu Ende studieren und für die Zeit danach hatte ich auch einiges geplant. Journalist wollte ich werden. Als Journalist ist man natürlich neugierig und will immer alles ganz genau wissen. Diese Neugier war sicher ein Grund, weshalb ich mich überhaupt auf diese Radtour eingelassen hatte. Aber in Lebensgefahr wollte ich mich nicht begeben. Also wagte ich vorsichtig, meine Bedenken in Worte zu fassen: »Tja, dann sollten wir wohl besser nicht weiterfahren! Wenn wir die Worte des Truckers jetzt einfach ignorieren, könnte uns die Fahrt hinterm Schlagbaum schlecht bekommen. Viele Wege führen nach Istanbul, wir müssen ja nicht unbedingt durch Rumänien.« Erwartungsvoll schaute ich einem nach dem anderen in die Augen, aber weder Stevie noch Thomas oder Markus sagten: »Thorsten, du hast recht! Danke, dass du aussprichst, was wir alle denken. Rumänien müssen wir uns wohl abschminken.«
Sie grübelten weiter und es schien mir, sie wussten nicht recht, was sie von den Warnungen des Briten halten sollten.
»Kann es für uns wirklich so gefährlich sein?«, unterbrach Markus unser Schweigen. »Wir sind keine Trucker, die wertvolle Ware im Laster mitbringen.«
»Aber wir sind reiche Menschen aus dem Westen – reich jedenfalls im Vergleich zu nahezu jedem Rumänen«, meinte ich und versuchte noch einmal für ein Umfahren des Landes zu werben. »Wir sind Westler, die zumindest ein tolles Rad unterm Hintern haben und ein bisschen Bargeld steckt auch in unseren Portemonnaies. So ein kleiner Überfall auf uns würde sich sicher schon lohnen. Da müssen wir nicht mit einem dicken Laster durch die Gegend fahren.«
Der Trucker hatte bemerkt, wie wir miteinander diskutierten und mischte sich ein. »Wenn ihr unbedingt da durchfahren wollt, dann seid auf keinen Fall im Dunkeln unterwegs«, beschwor er uns. »Zeltet unter keinen Umständen irgendwo am Wegesrand, sonst werdet ihr garantiert überfallen und wenn ihr Pech habt, passiert vielleicht noch viel Schlimmeres!«
»Dann campen wir eben nicht irgendwo im Grünen, sondern fahren besser von Stadt zu Stadt«, sagte Stevie, »schlafen wir eben nur auf organisierten Campingplätzen.«
Thomas und Markus hüllten sich in Schweigen. »Herrje«, schoss es mir durch den Kopf, »sehen die denn nicht, dass wir da nicht lebend durchkommen?« Ich machte einen erneuten Versuch mit einem, wie ich meinte, schlagenden Argument. Ich zückte die Landkarte, breitete sie über den Packtaschen an meinem Hinterrad aus und wies auf die großen Distanzen zwischen den Orten hin.
»Hier«, sagte ich und deutete mit dem Finger auf einen Punkt auf der Karte, »von hier bis Arad schaffen wir es wohl noch problemlos, das ist eine Strecke von 50 Kilometern. Wir haben heute ja noch Zeit. Aber nach Deva sind es weitere 150 Kilometer. Wie sollen wir das bitteschön hinkriegen?«
Noch hatte ich die Hoffnung, dass meine Mitstreiter einsahen, wie aussichtslos das Unterfangen war. Aber selbst mit diesem Einwand hatte ich keinen Erfolg.
»Wir haben in Ungarn doch auch lange Strecken geschafft. Das kriegen wir dann auch in Rumänien hin«, versuchte mich Markus zu überzeugen. Ich musste zugeben, dass er recht hatte, denn was wir in Ungarn hingelegt hatten, erinnerte mich an das Mannschafts-Zeitfahren bei der Tour de France. Zeitweilig sind wir wie auf der Perlenkette aufgereiht durch die Landschaft gerast und hatten uns mit der Führungsarbeit abgewechselt: Jeder von uns fuhr ein paar Kilometer vorne im Wind, damit die anderen ihre Kräfte schonen konnten. Dann ließ sich der vorn Fahrende zurückfallen und schloss sich hinten wieder an. Wir waren nun einmal jung, Anfang 20 und fit.
Mich überzeugte das nicht ganz, Thomas und Stevie schon. Sie fanden, wir sollten auf diese Art und Weise versuchen, zumindest ein paar Tage durch Rumänien zu fahren – wenn wir schon mal da waren.
Krampfhaft überlegte ich, ob es nicht doch noch eine gute Möglichkeit gab, wie wir dieses Horror-Land vermeiden konnten. Aber mir fiel nichts ein.
Die Stimmungslage war eindeutig: Stevie, Markus und Thomas wollten rüber nach Rumänien und ich wollte nicht der Spielverderber sein, der die anderen von ihrer Tour abhielt.
Wenigstens sind wir zu viert unterwegs, beruhigte ich meine angespannten Nerven. Das gab mir ein bisschen mehr Sicherheit und ein etwas besseres Gefühl. Trotzdem glaubte ich, Teil eines Selbstmordkommandos zu sein.
Ich wollte und konnte den Gedanken nicht aufgeben, so schnell wie möglich aus Rumänien herauszukommen. Bei der Vorstellung, die nächsten sieben Tage – so war es geplant – durch ein Land voller potenzieller Killer zu radeln, war mir unbehaglich.
»Also gut«, sagte ich, »was haltet ihr davon, wenn wir die geplante Strecke notfalls abkürzen und gegebenenfalls schon nach vier Tagen Rumänien verlassen, wenn wir merken, dass es wirklich gefährlich ist?«
Darauf ließen sich die anderen ein. Außerdem beschlossen wir als Sicherheitsvorkehrung, uns nicht einfach auf dem nächstbesten Platz irgendwo in der Landschaft niederzulassen, sondern nur auf organisierte Campingplätze zu gehen. Das bedeutete allerdings ein überaus sportliches Fahren, um diese Städte rechtzeitig zu erreichen. Maßnahme Nummer eins des Überlebenskampfes: Wir mussten heute noch vor Sonnenuntergang in etwa fünf Stunden die 50 Kilometer bis zum offiziellen Campingplatz in Arad schaffen.
Nachdem wir kurz darauf die Formalitäten an der Grenze erledigt hatten, was erstaunlich schnell und unkompliziert ging, öffnete sich für uns der Schlagbaum ins Land meiner jetzt sicher schlaflosen Nächte. Aus dem Traum war ein Albtraum geworden. Aber da musste ich durch. Das hatte ich mir selbst eingebrockt.
Angespannt saß ich auf dem Sattel und wünschte mich plötzlich an einen schönen Strand in Frankreich oder Spanien, an den Atlantik oder das Mittelmeer. Sonne tanken, baden und abends wird gut gegessen und getrunken, diese Vorstellung von Urlaub ging mir durch den Kopf. Das würde ich jetzt glatt gegen Rumänien eintauschen. Aber so sehr ich auch davon träumte, es gab kein Zurück mehr.
Viel Neues im Osten
In diesem Moment bereute ich, dass ich einige Monate zuvor nicht einfach »Nein« gesagt hatte, als Stevie und ich bei einem Bierchen in seiner kleinen Wohnung zusammensaßen und er von der Idee einer Radtour in Osteuropa redete.
Warum hatte ich nicht gesagt, dass ein Urlaub in Ländern wie Rumänien und Bulgarien total hirnrissig ist und ich die schönsten Wochen des Jahres sicher nicht in einer Region verbringen werde, in der die Fußballer noch Trikots aus Baumwolle tragen und offenbar irgendein altes Mütterchen damit beauftragt wird, an langen Winterabenden Schriftzüge wie »Dinamo« oder »Universitatea« daraufzusticken. Welch eine Rückständigkeit. Außerdem hörte ich immer nur: Im restlichen Ostblock ist es noch viel schlimmer als in der DDR. Auweia! Die DDR kannte ich von meinen Besuchen bei Verwandten, unter anderem bei Tante und Onkel in Schwerin. Da gab es ein fades, braun gefärbtes Getränk, das das Pendant zu unserer Coca-Cola sein sollte. Welch ein Witz! Allerdings habe ich »drüben« bei Tante Renate den allerbesten Streuselkuchen meines Lebens gegessen. Aber das zählte nicht wirklich als Beweis angeblicher sozialistischer Überlegenheit.
Mir fiel in der DDR immer besonders auf, dass auf den Straßen komische Plastik-Autos fuhren, die laut knatterten. Noch dazu musste man ein solches Auto bestellen und mindestens acht Jahre auf die Auslieferung warten. Solche Zustände konnten von einem anderen Land mitten in Europa noch negativ gesteigert werden? Unglaublich! Wer macht da schon freiwillig Urlaub? Und dann auch noch mit dem Fahrrad!
Jetzt, da ich hier auf meinem Trekkingrad saß und in die Pedale trat, sah in Rumänien alles eigentlich ganz normal aus, aber vielleicht war es nur die Ruhe vor dem Sturm. Wir fuhren auf einer gar nicht mal so schlechten, geteerten Allee mit üppigen Laubbäumen am Straßenrand. Ich hatte befürchtet, wir würden hier ein Geschicklichkeitsfahren um unzählige Schlaglöcher herum machen müssen, aber dem war nicht so.
Wohin das Auge auch blickte, gab es weites Ackerland. Menschen waren erst mal keine zu sehen. Und wo keine Menschen sind, dachte ich bei mir, können auch keine Gauner, Ganoven und Räuber sein. Sehr beruhigend! Ich spürte, wie meine Anspannung vom Fahrtwind hinweggeweht wurde und so konnte ich meinen Gedanken nachhängen, die wieder in die Vergangenheit wanderten.
»Es ist doch spannend im Osten«, hatte Stevie damals gesagt, als er mir von seinem Plan erzählte. Ich hörte ihm gebannt zu, denn immerhin konnte er auf die Erfahrung zweier Radtouren durch Schottland und Norwegen zurückgreifen. Weil es ihm Spaß gemacht hatte, wollte er auch den nächsten Urlaub auf dem Rad verbringen. Ich spürte, wie mich seine Begeisterung ansteckte. »Der Eiserne Vorhang ist weg, endlich kann man da mal rüber«, sprudelte es begeistert aus ihm heraus, »wir gucken uns an, wie es dort aussieht. Markus und Thomas kommen auch mit.«
Ich musste nachdenken. Warum hatte Stevie nicht vorgeschlagen, durch das Altmühltal zu radeln, durch die Provence in Frankreich, die Toskana in Italien oder durch Cornwall in England? Da hätte ich sofort zugesagt und ich hätte jetzt keinen Grund die Reise zu bereuen. Schließlich gibt es in diesen Ländern genügend Möglichkeiten einzukehren, mal eine gemütliche Pause bei Kaffee und Kuchen einzulegen oder ein leckeres kühles Bier zu trinken. Und Campingplätze finden wir dort auch mehr als genug – mit warmen Duschen. Ging das alles auch im Osten?
Stevie hatte sich eine Ostblock-Tour in den Kopf gesetzt und eine grobe Route ausgearbeitet. Erstaunlich, dass ich angesichts der merkwürdigen Reiseziele nicht sagte, er könne mit den anderen beiden gerne losfahren. Aber ohne mich! Stattdessen kam ich ins Grübeln und überlegte, ob ich nicht mitradeln sollte. Vielleicht war es ja ganz spannend, durch Länder wie Rumänien und Bulgarien zu reisen, die sich gerade erst vom Sozialismus befreit hatten.
Dass die Grenzen zu den bis vor wenigen Monaten verschlossenen osteuropäische Ländern nun durchlässiger waren, bedeutete für mich zunächst einmal, dass die Menschen, die dort so lange eingeschlossen waren, nun die westliche Welt entdecken konnten; wenn sie denn das nötige Kleingeld für eine solche Reise hatten. Zumindest aber waren Kontakte möglich. Europa rückte näher zusammen. Westliche Politiker und Wirtschaftsbosse konnten nun unproblematisch gen Osten reisen. Aber ich selbst kam in den Überlegungen nicht vor. Nicht im Traum war mir in den Sinn gekommen, dass auch für mich gelten könnte: Osteuropa, ich komme! Schon gar nicht mit dem Fahrrad. Denn ich fange gern klein an, wenn ich mich auf etwas Neues einlasse. Nur nichts überstürzen. Jeder Schritt auf ungewohntem Terrain will wohlüberlegt sein, damit ich das Gefühl habe, die Situation überblicken zu können. Dieses Motto übertrage ich auf viele Bereiche, auch bei meiner Arbeit bei der »Tagesschau«. Da war es am Anfang sehr gut zu wissen, dass ich nicht sofort die Hauptausgabe um 20 Uhr spreche, sondern mit den dreiminütigen Ausgaben am Morgen anfange – zu einer Uhrzeit, zu der nicht die zehn Millionen Menschen zuschauen, die abends einschalten.
Ich fand eine Radtour in den osteuropäischen Teil Europas, in dem gerade große Umwälzungen stattfanden, ziemlich gewagt. Das war in etwa so, als würde ich meine Karriere beim Fernsehen nicht nur gleich mit der Hauptausgabe der Tagesschau starten, sondern als blutiger Anfänger auch noch eine große Samstagabend-Unterhaltungsshow moderieren.
Strandurlaub? Nein, danke!
Dass ich dem Reisevorschlag von Stevie trotzdem nicht abgeneigt war, lag auch an meiner teilweise dunklen Urlaubsvergangenheit. Mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern fuhr ich früher entweder an die Ostsee nach Pelzerhaken oder an die Adria nach Pula ins damalige Jugoslawien. Es war das immer gleiche Muster: nach dem Frühstück ab zum Strand. Dort wird gebadet, gespielt, gelesen und sich gesonnt, damit man schön gebräunt in die Heimat zurückkehren kann. An den nächsten Tagen wiederholt sich alles so oder so ähnlich. Und das jeweils drei bis vier Wochen lang im Sommer.
Als Kind hatte ich viel Spaß daran, im Meer herumzuplanschen und führte diese Variante noch fort, als ich alt genug war, ohne meine Eltern zu verreisen. Ich kannte ja nichts anderes. Mit dem Interrail-Ticket fuhr ich an die französische Atlantikküste und ans Mittelmeer nach Spanien. Später düste ich mit dem ersten eigenen Auto wieder ans Wasser, bevorzugt nach Frankreich. Urlaub bedeutete schließlich Sonne, Strand und Meer. Schade nur, dass ich mich dabei mittlerweile nach spätestens zwei Wochen wahnsinnig langweilte.
So war es auch einmal im französischen Arcachon am Atlantik. Eine geschlagene Woche früher als geplant hatte ich die Nase gestrichen voll. Ich wollte nach Hause, und der Freund, mit dem ich unterwegs war, hatte zum Glück nichts dagegen. Er hatte wohl keine Lust, mit einem miesepetrigen Typen wie mir seinen kostbaren Urlaub zu verbringen. Was bin ich doch für ein heimatverbundener Mensch, mutmaßte ich damals, einer, der sein Glück bei seinen Wurzeln in vertrauter Umgebung findet.
Als ich Stevie gegenübersaß und mit ihm über Urlaub sprach, hatte ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob eine Radtour nicht doch spannend sein könnte. Es war ein Abenteuer und nicht ohne Risiko. Noch nie war ich sechs Wochen lang weg aus Deutschland, noch nie war ich mit dem Rad zweieinhalbtausend Kilometer am Stück unterwegs, noch nie war ich mit Stevie, geschweige denn mit Markus und Thomas, die ich nicht gut kannte, so lange auf Achse. Noch dazu musste ich mir erst einmal ein tourentaugliches Fahrrad kaufen. Nicht gerade billig, der Spaß! Zumal ich als Student nicht viel Geld hatte.
Doch all diese Unklarheiten brachten mich nicht davon ab, mich mit der Idee, mit diesem Wagnis anzufreunden. Ich wusste überhaupt nicht, ob der Schuss nicht komplett nach hinten losgehen würde, aber ich wollte es ausprobieren. Nach dem Frust der bisherigen Urlaube konnte es nur besser werden.
Es ging mir nicht um eine Selbstfindungsreise, die mich zu meinem Ich führen sollte, es gab keine Sehnsucht nach einer inneren Wandlung. Für mich war es weniger die Suche nach dem Sinn des Lebens oder innere Einkehr, als vielmehr die Suche nach dem Sinn des Reisens. Dass sich daraus schließlich eine andere Sicht auf viele Dinge des Lebens ergab, war mir überhaupt nicht klar. Nach kurzer Bedenkzeit sagte ich damals zu Stevie noch am selben Abend: »Also gut, ich bin dabei.«
Die harte Realität
Ein paar Monate später fuhr ich also durch Rumänien und wünschte mir, dieses »Ja« rückgängig machen zu können. Während ich noch mit meiner Entscheidung haderte, wurde ich langsam aus diesen Gedanken zurückgeholt in die Gegenwart. Was ich zu sehen bekam, ließ den Gedanken an die Gefährlichkeit des Landes vorerst ganz schnell verfliegen, denn jetzt tauchten die ersten Rumänen auf – und die sahen überhaupt nicht bedrohlich aus. Auf den Feldern beobachteten wir Frauen und Männer, die hart arbeiteten. Ich fühlte mich an alte Schwarz-Weiß-Bilder erinnert, auf denen gezeigt wird, wie vor vielleicht einhundert Jahren die Äcker in Deutschland bestellt wurden. Und jetzt geschah das direkt vor meiner Nase. Kein Trecker fuhr über die Felder wie bei uns, keine Maschine surrte und von technischer Hilfe gab es weit und breit keine Spur. Vier Frauen ernteten das Stroh auf den Feldern in reiner Handarbeit. Schwungvoll schleuderten sie mit ihren Heugabeln das Heu hinauf auf den Holzwagen, auf dem zwei Männer halb lagen, halb standen und das Heu entgegennahmen und stapelten. Es war eine vollkommen andere Welt, und ich fühlte mich zurückversetzt in eine Zeit, die doch lange vorbei war. Die DDR war gegen das, was ich sah, das reinste Silicon-Valley. Wo war ich denn hier gelandet? Es kam mir vor wie ein Freilichtmuseum.
Versteckte Kamera
Wir hielten am Wegesrand. Während wir unseren Durst löschten, schauten wir zwischen den Bäumen hindurch auf diese romantisch anmutende Szene. Wie gern hätte ich meine Kamera hervorgeholt, doch ich traute mich nicht. Ich hatte das Gefühl, ich könnte diese rechtschaffenden Menschen in ihrer Würde verletzen, wenn ich sie fotografiere. »Nur weil ich ein Tourist aus dem goldenen Westen war, gab es mir noch lange nicht das Recht, sie wie Ausstellungsstücke anzuglotzen und es faszinierend zu finden, wie sie im Schweiße ihres Angesichts ihr täglich Brot verdienen und sich mit altertümlichen Gerätschaften den Rücken krumm schufteten«, dachte ich.
Ich kam mir schäbig vor, weil für mich dieser Urlaub ein Vergnügen, ein Spaß war und ich meinte die Gedanken der Bauern lesen zu können: »Der ist in ein paar Wochen wieder an seinem reich gedeckten heimatlichen Tisch. Unsere Sorgen kennt er nicht, aber er meint, uns wie Tiere im Zoo fotografieren zu müssen.« Auf diese möglichen Gefühle wollte ich Rücksicht nehmen und ließ den Fotoapparat tief unten in der Packtasche. Ich hatte Mitleid.
Aber wie kam ich eigentlich darauf, dass es den Menschen, die dort hinten ackerten, schlecht ging? Vielleicht war ihre Arbeit, so anstrengend sie auch sein mochte, eine Erfüllung für sie. Vielleicht hatten sie alles, was sie zum Leben brauchten und waren zufrieden, vielleicht sogar glücklich. Nur weil es mir wie Schinderei vorkam, mussten die Landarbeiter nicht genauso fühlen wie ich. Verwirrend!
Auf späteren Touren habe ich diese Verwirrung einfach aufgeklärt: Ich fragte diejenigen, die ich ablichten wollte, ob sie damit einverstanden waren. Sie sollten wissen, dass ich sie ernst nahm. Gerade in fernen Ländern interessieren mich insbesondere die Menschen, sodass ich versuche, mit ihnen ins Gespräch zu kommen – und sei es nur mit Händen und Füßen. So fotografiere ich meistens diejenigen, mit denen ich gerade geredet habe, zu denen ich also wenigstens eine kleine persönliche Beziehung aufgebaut habe. Weil ich sie nicht nur im Vorübergehen und als Kuriositäten ablichte, entstehen ganz andere Bilder. Sie blicken vertrauter in die Kamera, es wird ein persönlicheres Foto.
Das hat auch zur Folge, dass ich immer mit vielen Adressen heimkehre von Einheimischen, die die Fotos als Andenken haben möchten. Nach meinen Reisen mache ich fleißig Abzüge von den Bildern und verschicke sie an meine Urlaubsbekanntschaften.
Leben wie vor hundert Jahren
Wir radelten weiter Richtung Arad vorbei an Bäumen und Feldern. Im sanften Abendrot sahen wir, wie sich die Feldarbeiter auf den Weg in den Feierabend machten. Wir ließen uns Zeit, weil wir wussten, wir würden die Stadt problemlos vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.
Obwohl wir gemächlich und entspannt radelten, waren wir doch viel schneller als das Fahrzeug, dem wir uns nun näherten. Wieder bot sich ein außergewöhnlicher Anblick: Auf einem hölzernen Fuhrwagen, gezogen von zwei braunen Pferden mit schwarzer Mähne, saßen hinten auf der Ladefläche zwei ältere Frauen, die ihre Beine herunterbaumeln ließen. Ihre Oberkörper und ihre Köpfe schaukelten ruckartig hin und her, denn der Fuhrwagen lief etwas unrund. Sie trugen Kopftücher, Kittelschürzen und ihre Beine steckten in schwarzen Gummistiefeln. Offenbar waren sie mit ihren Männern, die vorn auf dem Kutschbock saßen, unterwegs zu einem der Gehöfte, die vereinzelt inmitten der unzähligen Felder links und rechts der Straße verstreut lagen. Die Frauen behielten uns fest im Blick und lächelten uns freundlich zu. Wie es aussah, unterhielten sie sich über uns. Wir grüßten von Weitem mit einem »Buna ziua« und hofften, dies einigermaßen verständlich ausgesprochen zu haben. Es war laut unserem Sprachführer der rumänische Ausdruck für »Guten Tag«. Wir hatten natürlich vor der Reise die wichtigsten Begriffe wie »Hallo« (Salut), »Auf Wiedersehen« (La revedere), »Ja« (Da), »Nein« (Nu), »Danke« (Mulţumesc), »Bitte« (Poftim), »Milch« (Lapte), »Brot« (Pâine) und »Wasser« (Apâ) gelernt. Die Frauen grüßten zurück mit einem noch breiteren Lächeln, hoben ihre Hände und winkten uns zu.
Jetzt drehten sich auch die beiden Bauern zu uns um. Sie sagten irgendetwas, aber ein Gespräch war leider nicht möglich. Zum einen trennte uns die Sprache, zum anderen verursachten die metallbeschlagenen Räder auf dem Asphalt einen Heidenlärm, der jeden Versuch eines Gesprächs zunichtemachte.
Die Frauen auf dem Pferdefuhrwerk waren schon ein besonderer Anblick. So also sah der Berufsverkehr zur Rush-Hour in Rumänien aus.
Als wir das vorsintflutliche Gefährt hinter uns gelassen hatten, kam ich ins Grübeln. Diese freundlichen rumänischen Bauern hatten mich milde gestimmt. Ich musste mir eingestehen, dass die Menschen nicht dem Bild entsprachen, das ich seit der Begegnung mit dem Trucker hatte. Ich spürte, wie ein Teil der großen Anspannung von mir abfiel.
Als wir kurz nach dieser anheimelnden Begegnung auf ein paar Mädchen und Jungen trafen, hielten wir an, um mit ihnen zu plaudern. Sie hatten uns schon aus der Ferne bemerkt, ihren Ball liegen gelassen und uns mit großen Augen angesehen, als kämen wir von einem anderen Stern. Als wir neben ihnen stoppten, fragte ein Knirps freundlich auf Rumänisch, woher wir kommen und wohin wir wollen. Ich war überrascht, denn ich konnte die Wörter verstehen. Sie klangen nach Latein. Mir wurde klar, dass ihre Sprache aus dem Lateinischen hervorgegangen sein musste. Gut, dass ich das kleine Latinum gemacht hatte. Ich antwortete den Kindern, wir seien aus dem Westen, genauer gesagt aus der Bundesrepublik Deutschland. Das konnte ich natürlich nicht in einen perfekten rumänischen Satz kleiden. Stattdessen deutete ich mit dem Zeigefinger auf uns und sagte »Germania«. Woraufhin sie uns mit weit aufgerissenen Augen weitere Fragen stellten, die ich halbwegs entschlüsseln konnte. Unsere Antworten fielen nicht sonderlich eloquent aus, also mussten unsere pantomimischen Fähigkeiten herhalten, um beispielsweise zu erklären, was das komische Teil am Vorderrad sein sollte (es war der Dynamo) oder wie viele Kilometer wir schon gefahren waren. Wir hatten eine Menge Spaß mit den Kindern und fühlten uns wohl bei ihnen. Langsam bekam ich das Gefühl, dass ich mich mit Land und Leuten durchaus versöhnen könnte.
»Zappzerapp« heißt »Klauen«
Gut im Zeitplan erreichten wir noch vor der Dämmerung Arad, doch der Anblick am Eingang zur Stadt ließ uns erschaudern. Schon von Weitem erkannten wir eine lange Menschenschlange. Als wir näherkamen, sahen wir, dass sich die Leute um einen Hydranten scharten, aus dem pausenlos Wasser lief. Sie hielten Eimer darunter oder wuschen sich direkt an dieser Quelle – offenbar die einzige weit und breit. Die vielen Hochhäuser, die hier standen, waren noch im Rohbau. Es fehlten Fenster und Türen, die Balkone hatten keine Brüstung; es zeigte sich der nackte Beton. Die Häuser waren noch nicht verputzt und dennoch wohnten hier schon Menschen ganz ohne Strom und fließendes Wasser.
Während wir Ausschau nach unserem Zeltplatz hielten, mussten wir durch das Zentrum von Arad. Wenn es nicht so heruntergekommen gewesen wäre, hätte man es als schön und altehrwürdig bezeichnen können. Mit viel Geld und noch mehr Arbeit hätte man die verfallenen und zerstörten Gebäude sicher wieder instand setzen können. Hier lagen viele Schönheiten brach, die es sich lohnen würde zu sanieren.
Etwas außerhalb der Innenstadt fanden wir den Campingplatz, unseren sicheren Zufluchtsort für die Nacht. So hofften wir zumindest. Doch als wir uns am Empfang des Zeltplatzes anmeldeten, wurden wir in die offenbar gefährliche Realität zurückgeholt. Der Zeltplatzwärter warnte uns sehr eindringlich vor Dieben. »Zappzerapp«, sagte er und machte dabei eine Handbewegung, die so viel heißen sollte wie: Vorsicht, hier wird geklaut! Die gute Stimmung, die sich am Tage aufgebaut hatte, war getrübt.
Als wir unsere Zelte aufgestellt hatten, fiel uns ein junger Mann auf, der sich für uns und unsere Fahrräder auffällig unauffällig interessierte. Mit eingefrorenen Gesichtszügen drehte er im Laufe des Abends mehrere Spazierrunden um unseren Platz. Immer wieder warf er höchst neugierige Blicke in unsere Richtung.
Mir war unwohl und ich stellte mir die unbehagliche Frage, ob dieser etwa 20-jährige Kerl ein potenzieller »Zappzerappler« war. Wollte er gucken, was wir dabeihaben, um uns später zu beklauen? Wollte er wissen, wann wir ins Bett gehen, um dann zuzuschlagen? Oder war es einfach nur Interesse, weil er noch nie radurlaubende Wessis gesehen hatte?
Der dubiose Kerl erleichterte uns die Entscheidung, als wir zum Ausklang des Tages beratschlagten, was nun zu tun war. Der britische Trucker hatte offenbar recht gehabt. Hier war es zu gefährlich: Wir mussten so schnell wie möglich aus diesem Land heraus. Wir beschlossen, unsere Rumänien-Durchquerung auf das Notwendigste zu reduzieren. Nur ja keine unnötige Zeit in diesem Land der Kriminalität verbringen, war unser einhelliger Gedanke. Aus sieben Tagen Aufenthalt wurden vier. Vier Tage Lebensgefahr oder zumindest Gefahr, überfallen und ausgeraubt zu werden – musste das wirklich sein? Es musste, wenn wir unseren Reiseplan nicht komplett über den Haufen werfen wollten. Wir wollten nun so schnell wie möglich nach Bulgarien.
Als ich in meinen Schlafsack stieg, war an Nachtruhe für mich nicht zu denken. Während die anderen friedlich und leicht schnarchend schlummerten, spitzte ich die Ohren. Zu sehr wähnte ich mein schönes, neues und teures Fahrrad in Gefahr. Jedes noch so kleine Geräusch nahm ich wahr, hielt dann den Atem an, und wenn ich mir nicht sicher war, ob ich eine knackende Zange am Fahrradschloss hörte, schlüpfte ich aus dem Schlafsack, öffnete den Reißverschluss am Zelt und lugte hinaus. Doch es war kein Zappzerappler zu sehen.
So quälte ich mich durch eine unruhige Nacht. Als ich am nächsten Morgen nach viel zu wenig Schlaf wie gerädert aus dem Zelt kroch, stellte ich erleichtert fest, dass nichts abhandengekommen war. Ich atmete tief durch.
Nach dem Frühstück stieg ich völlig übermüdet auf mein Fahrrad. Ich mochte gar nicht an die bevorstehende Aufgabe denken: Bis zur nächsten größeren Stadt Deva, wo unser sicherer Campingplatz lag, waren 150 Kilometer zurückzulegen. Das Motto des Tages lautete also: Kilometerfressen! Das war zu viert relativ gut möglich. Wie wir es schon in Ungarn geübt hatten, rasten wir über den Asphalt. Windschatten-Fahren war angesagt. Regelmäßig wechselten wir uns bei der Führungsarbeit ab. Jeder fuhr mal vorne im Wind und ließ sich zurückfallen, wenn die Kräfte nachließen, und ein anderer musste das hohe Tempo halten.