Als Max Frisch 1973 in der Berliner Sarrazinstraße eine neue Wohnung bezog, begann er wieder ein Tagebuch zu führen: das Berliner Journal. Einige Jahre später betonte er in einem Interview, es handle sich dabei mitnichten um ein »Sudelheft«, sondern um ein »durchgeschriebenes Buch«. Seiner literarischen Form nach entspricht es den weltberühmt gewordenen Tagebüchern der Jahre 1946-1949 und 1966-1971: Neben Betrachtungen aus dem Alltag des Schriftstellers treten erzählende und essayistische Texte sowie präzise gezeichnete Porträts von Kolleginnen und Kollegen wie Günter Grass, Uwe Johnson, Wolf Biermann oder Christa Wolf. Vor allem aber zeugen die Tagebucheinträge von der außergewöhnlichen Wachheit, mit der Frisch als Bewohner West-Berlins die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR beobachtet und erlebt hat.

Das Berliner Journal ist einer der großen Schätze aus Frischs Nachlass, von ihm selbst mit einer Sperrfrist von zwanzig Jahren nach seinem Tod versehen, der »privaten Sachen« wegen, die er darin verzeichnete. Nun wird es erstmals in Auszügen publiziert, nun ist der unverwechselbare Frisch wieder da: illusionslos und voller Zweifel im Ton, mit lustvoll scharfem Blick auf die Welt und das Leben.

Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Zürich, starb dort am 4. April 1991. In fast sechs Jahrzehnten entstanden Romane, Theaterstücke, Tagebücher, Erzählungen, Hörspiele und Essays. Viele davon wurden zu Klassikern der Weltliteratur.

Thomas Strässle lehrt Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und leitet das transdisziplinäre Y Institut an der Hochschule der Künste Bern. Er ist Präsident der Max Frisch-Stiftung.

Margit Unser leitet das Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek, Zürich.

Max Frisch

Aus dem Berliner Journal

Herausgegeben von
Thomas Strässle
unter Mitarbeit von
Margit Unser

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-73409-4

www.suhrkamp.de

Inhalt

Aus dem Berliner Journal

Aus Heft 1 [1973]

Aus Heft 2 [1973/74]

Anhang

Nachwort

Abbildungen

Herausgeberbericht

Anmerkungen

Aus Heft 1 [1973]

6.2.

 

Übernahme der Wohnung (Sarrazin Strasse 8) und Abend bei Grass. Nieren.

 

Wütend, als widerfahre mir ein Unrecht sondergleichen, dann verzweifelt, dass ich die Situation (ich habe begriffen, dass es kein Unrecht ist) nicht ändern kann, steige ich auf die Fensterbank, drohe (Euch werde ich’s zeigen!) in der Gewissheit, dass ich, solange ich schreie, durchaus fliegen kann, und springe auch ab, angstvoll und hochmütig, aber mein Schrei reicht nur kurz, umso schneller mein Sturz, sie behalten recht.

7.2.

 

Anna Grass leiht uns zwei Betten, wir wohnen noch nicht. Lieferfristen. Ein Arbeitstisch, von Uwe Johnson vorbestellt, ist da, dazu die erste Lampe. Die technischen Einrichtungen (Kühlschrank, Spiegel und Licht im Bad, Türschlösser usw.) sind im Anzug. Kein Telefon. M. findet einen schönen Tisch antik, ferner Gläser und etwas Geschirr. Noch kein Warmwasser. Der erste Stuhl. Jeder Schritt, jede Stimme hallt in den leeren weissen Räumen. Was braucht man. Kein Mangel an Geld, im Gegenteil.

9.2.

 

Das Bewusstsein, dass ich noch drei oder vier Jahre habe, brauchbare Jahre; aber es wird kein Alltagsbewusstsein, daher immer wieder Erschrecken. Vorallem beim Erwachen. Darüber ist mit niemand zu sprechen.

 

 

Warten auf Handwerker, ich kann nicht einmal lesen, gehe in der leeren Wohnung auf und ab, Hall der Schritte; Musik aus dem Transistor, dazwischen Sprache der DDR. Ich bin froh.

 

 

Gestern mit Uwe und Elisabeth Johnson in einem italienischen Restaurant hier in Friedenau. Es stimmt nicht, dass im Alter keine neue Freundschaft mehr entstehe.

 

 

Einer der vermeintlichen Gründe, warum ich nicht (oder nie lange) in Zürich wohne: weil dort zuviele mich kennen auf der Strasse, in einer Wirtschaft. Kaum eingetroffen in Berlin (Hotel Steinplatz) spricht ein Leser mich an, Beton-Ingenieur, der eben das frühe Tagebuch gelesen hat, alles übrige schon kannte; am andern Tag in der Bank für Handel und Industrie warte ich auf eine Telex-Antwort, aber zuvor kommt ein Herr, entschuldigt sich, dass man mich nicht sofort erkannt habe; kein Telex nötig. Danach ein junger Schlosser; als ich ihm den Namen anzugeben habe, fragt er: Sind Sie denn der Schriftsteller? Zum Lesen komme er ja nicht, sagt er, vielleicht später einmal. Dasselbe in einem Lampengeschäft, wobei [ich] immer den Namen umgekehrt angebe: Frisch, Max; erst als er das notiert hat, stutzt er: Der Verfasser von Gantenbein? Und in einem Antiquitäten-Laden setzt sich der Mann, ruft seine Frau, um ihr zu sagen: Das ist Max Frisch. Woher er den Namen denn kenne? Hören Sie mal, sagt er, wir lesen Sie. Der Mann kann sich kaum erholen, bedankt sich für meine leibhaftige Gegenwart in seinem überfüllten Laden. Ein Tapezierer fragt: Kommt wieder ein Stück von Ihnen? Als ich nochmals in den Lampen-Laden gehen muss, weil eine der Lampen nicht zu montieren ist, und nach hinten in die Werkstatt trete, um dem Techniker etwas anzugeben, sagt der Verkäufer: Der hat mehr von Ihnen gelesen als ich. Es freut mich zu sehen, wohin die Bücher gehen.

 

 

Ein Maurer, der wie Barlog spricht, will den Küchenschrank versetzen in der Mittagspause, Nebenverdienst, hat vor drei Tagen angefangen, kommt aber nie ganz dazu, muss sich einen Bohrer ausleihen; dann wieder sehe ich ihn unten mit einer Karre, seine Mittagspause ist vorbei. Er gibt ein heimliches Zeichen, dass er komme, sobald es nur geht. Keine grosse Sache, eine halbe Stunde. Aber morgen, sagt er im Vorbeigehen, morgen schaffe er’s bestimmt. Sechs Schrauben mit Dübeln. Der elektrische Bohrer, Eigentum der Firma, wird heute anderswo gebraucht. Sein Zeichen mit der Hand: dass er sein Wort schon halten werde. Inzwischen nennt er mich: Herr Doktor. Heute, plötzlich, dröhnt der elektrische Bohrer in der Küche. Ein weiteres Loch, das dritte, bevor er gerufen wird; der Boss ist im Haus. Oder die Firma braucht die Wasserwaage, ebenfalls Eigentum der Firma. Sind Sie morgen auch hier, Herr Doktor? Später bohrt es wieder, aber im gleichen Augenblick sehe ich ihn unten mit der Karre voller Backsteine; er rennt mit der Karre. Der Malergeselle bohrt für ihn; er kommt nicht dazu. Als ich in die Küche gehe, ist wieder niemand da; es fehlt noch immer das letzte Loch. Er kommt nicht dazu. Er ist immer so gehetzt, Woyzeck als Maurer.

 

 

[…]

10.2.

 

Erste Einkäufe auf dem Wochenmarkt, der in Zukunft unser Markt sein soll, Breslauer Platz, eingeführt durch Günter Grass; Fischkunde.

 

 

75. Geburtstag von Brecht.

 

 

[…]

11.2.

 

Sonntag, Einzug in die Wohnung. Morgen soll es auch warmes Wasser geben.

12.2.

 

Uwe Johnson bringt ein kleines gerahmtes Bild, verpackt, zum Einstand in der neuen Wohnung. Was mag es sein? Am 5.10.1972, als ich den Kaufvertrag unterzeichnet hatte, überreichte er mir eine Mappe, enthaltend: Plan von Friedenau, eine lexikalische Notiz über Sarrazin, dessen Name diese Strasse trägt, eine kurze Historie über Friedenau, ein Formular für Postcheck-Konto, ein Formular für Telefon-Anmeldung. Ob ich die Wohnung, kaum eine Viertelstunde lang besichtigt, denn im Gedächtnis habe, fragte er und nötigte mich, jetzt den Grundriss auf ein Blatt zu zeichnen. Das geschenkte Bild heute: meine Grundrissskizze von damals, gerahmt, Zeichnung mit Filzstift, auf den ersten Blick wie eine inspirierte Handschrift, die ich nicht sofort erkenne; Fehler betreffend Vorraum und WC.

 

13.2.

 

Fernseh-Gerät als einziges Möbel in einem leeren weissen Zimmer.

 

 

Dass ich mich meinte für den Lauf der Welt verantwortlich fühlen zu müssen, geht aus der Korrespondenz hervor (nachgeschickt über die bisherigen Adressen): Einladung zum Deutschen Evangelischen Kirchentag, Einladung vom Ungarischen PEN-Klub und ähnliches, Leserbriefe als sympathisches Echo auf denselben Irrtum.

 

 

Strassen in Berlin und seine Kneipen, sein Wannsee, seine Kiefern, sein nordischer Himmel, die eine und andere U-Bahn-Station; die Patina, die diese Stadt hat, Patina für mich: Proben im Theater mit Caspar Neher, Hanne Hiob, Ernst Schröder, Tilla Durieux und vielen andern (die Kortner-Inszenierung und die Schweikart-Inszenierung habe ich seinerzeit nicht gesehen) und Ehebrüche.

 

 

Nachmittags in die Stadt, um Geräte für die Küche einzukaufen; es ist ungefähr das siebente Mal, dass M. und ich eine Küche einrichten. Zweimal in Rom, Via Margutta; Berzona; zweimal in Zürich, Lochergut und Birkenweg. Ferner braucht man Kleiderbügel.

 

 

Die erste Übung in Ost-Fernsehen. Das hat man bald erlernt, fürchte ich; paradoxerweise erinnert ihre öde Simplifikation an die Nazi-Zeit.

 

 

Unsere Wohnung liegt in der Flugschneise zu Tempelhof, was ich aber gewusst habe; sie kommen von Westen und starten nach Westen. Dazwischen Stille, Friedenau, viele Rentner. Das schrille Dröhnen ist weniger störend als aufregend.

 

 

14.2.

 

Man braucht doch mehr als vermutet, zum Beispiel einen Lamellen-Vorhang wegen Morgensonne auf dem ganzen Arbeitstisch.

 

 

1959 im Kreisspital Männedorf (Hepatitis) schrieb ich Notizen für mich allein. Gedanken im Morgengrauen auswendig gelernt, also möglichst simple Sätze; zur sofortigen Niederschrift fehlte die körperliche Kraft, dann stundenlange Infusion, die Angst dabei, dass ich die paar wenigen Sätze vergessen könnte, und nach der Infusion die völlige Ermattung; erst um Mittag konnte ich notieren nach dem Gedächtnis, dabei der Schrecken, dass die Augen versagten, trotz Brille musste ich das Blatt ganz nahe vor das gelbe Gesicht nehmen, die paar Sätze noch einigermassen im Kopf, aber schwierig zu schreiben: N wurde M, R geriet als P, sodass jede Zeile mehrmals zu schreiben war. Zum Schluss, bevor der Schlaf wieder unabwendbar wurde, die Erleichterung, als habe man etwas gerettet; nach dem Schlaf holte ich den Zettel aus der Schublade, um zu wissen, was ich im Morgengrauen für Erkenntnis gehalten habe, und musste feststellen, dass nicht nur da und dort der Artikel fehlte, sondern oft auch das Verbum. Trotzdem verwahrte ich die Notizen, wie konfus sie auch sein mochten, nach der Genesung. Wozu? Ein paar Jahre später, in Rom, erklärte mir Ingeborg Bachmann, sie habe übrigens die Notizen aus dem Spital gefunden (ich war überzeugt, die Schublade sei abgeschlossen gewesen) und sie habe sie verbrannt. Sie fühlte sich nicht bloss im Recht, sondern verraten. Das war vormittags im Café Canova, Piazza del Popolo. Seither haben wir uns nicht mehr gesprochen.

 

 

Kampf gegen den Alkohol, keine Woche ohne Niederlagen diesbezüglich. Der ärztliche Leberbefund (Januar) ist tadellos; kein Arzt findet heraus, warum mir die Aasgeier auf der Schulter sitzen. Jeder Arzt, ob in Zürich oder in New York, zeigt mein Elektrokardiogramm mit wahrem Entzücken. Betreffend Alkohol: ich besitze nicht einmal mehr den Willen, ehrlich zu sein, nicht einmal mir selbst gegenüber.

 

 

Mit M. um den Schlachtensee gegangen. Wenn sie fröhlich ist, so scheint mir überhaupt nichts unlösbar.

 

 

Deformation durch Schriftstellerei als Beruf, Popanz der Öffentlichkeit; als lebe man, um etwas zu sagen. Wem?

15.2.

 

Jürgen Gruner, Leiter von VOLK UND WELT, schreibt, wie sehr er sich freuen würde über einen Besuch im Verlag. Die erste Begegnung kürzlich in Zürich. Ohne zu wissen von einer Order, dass sie, wenn sie im Westen reisen, Einladungen in Privat-Wohnungen nicht annehmen sollen, führte ich Herrn Gruner in ein bürgerliches Restaurant (REBLAUBE) zum Gespräch. Der Verlag bringt jetzt HOMO FABER, aber STILLER noch immer nicht; beides in der UdSSR längst veröffentlicht. Kellnerin fragt, ob ein Aperitif; Herr Gruner winkt sofort ab, als beginne eine Art von Bestechung, nimmt aber, da ich mir einen Campari bestelle, doch einen Cognac und Mineralwasser. Er möchte, so sagt er schon mit den Akten in der Hand, meine kostbare Zeit nicht allzulang in Anspruch nehmen, und als ich ihm die Speisekarte aufschlage: Machen Sie doch keine Staatsaffäre! Es ist 19.30, Zeit zum Essen, noch Zeit genug zum Gespräch. Ein Mann mittleren Alters, Parteimitglied, literarisch sehr unterrichtet, wenn auch anders als wir; ich kenne manche Namen, die ihm geläufig sind, überhaupt nicht. Wider Erwarten prüfen sie doch, ob das TAGEBUCH 1966-1971 für die DDR möglich wäre; wenn nicht gerade jetzt, so später. Der Haken: meine Notizen aus der UdSSR. Ein unbefangenes Gespräch, sozusagen unbefangen; einmal sagt er selber: Wir sind so erzogen, immer die Pflicht voran! Trotz der Akten, die Herr Gruner sogleich auf den Tisch gelegt hat, habe ich mir gestattet, eine Flasche zu bestellen, Dôle, bitte nicht zu missverstehen als dreiste Demonstration unseres Wohllebens im Westen. Man ist behutsam mit Fragen, die für den Frager billig wären, und überrascht über jede offene Antwort, über Vertrauen, wenn es sich einstellt. Aber es bleibt eine Spur von Ängstlichkeit, zumindest eine stete Vorsicht, als horche eine Instanz, die sehr empfindlich ist; auch die Kümmernis, provinziell zu sein. Bitte kein Nachtisch; eine Dienstreise ist keine Schlemmerreise. Wir haben ziemlich flink gespeist. Auch für mich kein Nachtisch; aber meine Diät ist andrer Art. Was uns beiden gestattet ist: ein Cognac. Es ist erst 22.00, unser Gespräch eigentlich gut, aber Herr Gruner möchte meine Zeit nicht allzulang in Anspruch nehmen, sagt er, obschon ich nochmals versichere, ich habe für den Abend nichts andres vor. Mein Vorschlag: ein Bummel durch Zürich, vielleicht irgendwo noch ein Bier. Aber Herr Gruner bedankt sich noch einmal, dass ich schon so viele Zeit verschenkt habe. Ich will ihn, weiss Gott, zu nichts verführen und bringe ihn zu dem kleinen Hotel beim Bahnhof, ja, auf Wiedersehen in der DDR, ja, von beiden Seiten herzlich. Sein Brief heute: »mit richtig grosser Freude erfahre ich soeben –«

 

 

Ich schraube fünf Garderobenhaken an, damit man endlich die Mäntel aufhängen kann, und es ist eigentlich schon schade. Alle andern Wände sind weiss und leer. Braucht man denn wirklich ein Telefon? Eigentlich froh um die langen Lieferfristen. Noch vorgestern sagten wir: Ich gehe jetzt in die Wohnung. Heute sagen wir: Ich gehe jetzt nachhause. Eigentlich wohnen wir schon. Allerlei Pappschachteln benehmen sich wie Möbel; als stünden sie an ihrem Platz. Bestellt ist, was man für notwendig zu halten gewohnt ist: Büchergestell, eine Couch, ein alter Schrank, später kommt ein bequemer Sessel und irgendwann, wenn wir es finden, ein Sofa und so fort und so weiter, ein kleiner Staubsauger ist schon gekommen.

 

 

Keine Ahnung, wo mein Wagen steht, nirgends zu finden, Landschaft bei Zürich, ich schäme mich zu sagen, dass es ein Jaguar gewesen ist. Ferner: Franz Josef Strauss äusserst liebenswürdig, dann als Schildkröte, und ich habe ihr den kleinen Kopf abgeschlagen, es wird auskommen, Flucht. Unsere Bekannten in Zürich, ihre Miene: Es geschieht ihm recht! Viele Arten einer lächerlichen Verfolgung. Walter Höllerer und jemand, den ich nicht identifizieren kann, der auch nicht länger helfen kann; kein Gericht, jedoch Vorbereitungen zu einer lächerlichen Art von Hinrichtung, wovor wieder nur das Erwachen mich rettet.

 

 

Anfang der Sechzigerjahre, etwas mehr als vor einem Jahrzehnt, fragte Uwe Johnson, damals sehr jung in seiner Lederjacke, bei einem Bier auf einem nächtlichen Platz in Spoleto (Festspiele) unvermittelt unter vier Augen: Herr Frisch, was machen Sie mit Ihrem Ruhm? Nicht duldend, dass ich die Frage für aufsässigen Spott nahm, blieb er aufsässig: Sie sind berühmt, Herr Frisch, ob Sie das wollen oder nicht. Sein Blick liess auch den Irrtum nicht zu, dass es etwa eine Schmeichelei sei. Die Frage war eine blanke Forderung, ich fand nicht einmal heraus, welche Antwort er dabei erwartete; eine offene Forderung. Ich konnte sie nicht beantworten, weiss nicht, ob seine Stimme oder nur seine Miene sagte: Herr Frisch, darüber müssen Sie nachdenken. Seither sind wir uns über Umwege (er verurteilte, so vermute ich, mein Verhalten gegenüber Ingeborg Bachmann als unverantwortlich) näher gekommen, bleiben aber beim Sie, das, in der allgemeinen Duzerei, sich beinahe wie ein Riff ausnimmt; ich finde es schön, nämlich richtig, eine Herzlichkeit, die nie hemdärmlig wird, sogar Zärtlichkeit, aber sie bleibt fordernd. Vorgestern Gespräch über Brecht: wie er heute dastünde als Fünfundsiebzigjähriger, inwiefern er anders wäre als der Klassiker seines Namens, inwiefern auch anders die Rezeption. Fragen. Uwe Johnson ist mühsamer als die meisten, auch wenn er lustig ist, witzig. Er fordert mich. Das ist eine Auszeichnung, so wie er es macht; er fordert nicht wie so viele Kluge, um sich bestätigt zu sehen, wenn der andere den Forderungen nicht genügt; er fordert mich aus Hoffnung.

 

 

Berlin ohne eine einzige Zeitung von Rang.

 

 

Was die geographische Distanz ausmacht. In Zürich schrieb ich noch einen Brief an den freundlichen Professor Karl Schmid (UNBEHAGEN IM KLEINSTAAT) in Bassersdorf; hier und jetzt würde ich zu seinem Buch, das seit zehn Jahren wirkt, nicht anders schreiben, sondern überhaupt nicht.

 

 

Ich lebe jetzt ohne Vorsatz.

 

 

Hier kein Kopfweh; schon das spricht für Berlin, die leichtere Luft; anders als in Berzona und in Küsnacht, wo es zwischen Müdigkeit und Müdigkeit nur wenige Stunden sind, die meinen Tag ausmachen. Sagen wir: die Luft.

 

 

Das Buch, das mir unter den neuen Büchern in letzter Zeit den grössten Eindruck gemacht hat: WUNSCHLOSES UNGLÜCK von Peter Handke. Ein Virtuose, das wusste man sehr früh, aber plötzlich hat er etwas zu melden (so dass ich mich nicht mehr frage, warum ich lese) und auch das sehr früh; Handke ist dreissig.

 

 

 

16.2.

 

Er fordert mich – das stimmte in einem gewissen Sinn auch für Alfred Andersch. Seine Erwartung, dass sich in Berzona eine literarische Nachbarschaft ergebe, wurde bald enttäuscht. Trotz aller Freundlichkeit gegenseitig. Sein Begriff vom Schriftsteller, sein Gestus im Alltag: »qua Schriftsteller«, was zu einer empfindlichen Würde führt, zu einem Ernst, der nicht immer ohne Komik ist; seine Rechtschaffenheit als menschliche Person lag mir näher. Ich schätzte ihn, ich schätze ihn nachwievor. Schon bald, spätestens seit wir im gleichen Dorf wohnten, war ich nicht frei von Angst, ihn zu verletzen, natürlich ohne es zu wollen. Vor einem Jahr ist es denn auch dazu gekommen; nicht wegen eines literarischen Urteils. Als ich EFRAIM im Manuskript gelesen hatte, schrieb ich ihm (um jedes mündliche Ungeschick zu vermeiden) einen langen Lektorats-Bericht, der ihm keineswegs missfiel, aber dem Buch auch nichts nützte. Man redete immer spärlicher über Literatur, dann höflich, d. h. nur wenn dem einen die Produktion des andern gefiel. Seine heftige Geringschätzung etwa von Günter Grass oder Peter Handke konnte ich nicht teilen, auch durch Widerrede nicht abbauen. Dann und wann ging man sich auf die Nerven, was natürlich ist; der simple Fehler: zwei Freunde (so empfanden wir uns, meine ich, zu Recht) sollten nicht Nachbarn in einem Dorf werden. Nachbarschaft täglich nötigt zur Vorsicht, schliesst den Krach aus, der die Freundschaft prüft und weiterbringt; den offenen Krach. In einer grösseren Stadt wären wir wahrscheinlich Freunde geblieben, die sich manchmal für einige Monate nicht treffen; in einem kleinen Dorf, wo man sich nach einer Auseinandersetzung vielleicht übermorgen schon wieder bei der gemeinsamen Garage treffen wird, meidet man, was zur Freundschaft gehören würde, zwecks Erhaltung guter Nachbarschaftlichkeit. Dadurch wird Lüge unumgänglich; schliesslich verargt man es dem andern, dass man selber nicht offen ist; über die eigene Scheissfreundlichkeit gerät man in Zorn, wenn der andere nicht zugegen ist, und es braucht nur noch Alkohol, dass man selber die miesen Witze macht, die man andern, wenn sie solche anbieten, strikt verbietet. Also schlechtes Gewissen. Ob Alfred Andersch dazu Anlass hatte, weiss ich nicht; es geht mich auch nichts an. Unsere Beziehung wurde jedenfalls krampfhaft; nicht durch einen Vorfall, der sie in Frage stellte, aber durch eine zunehmende Aussparung. Er ein Gentleman (ohne Ironie gesagt: qua Schriftsteller) und ich etwas wurschtig oder nervös, dabei banal, jedenfalls völlig unergiebig; auch befangen, da ich Namen, denen seine unversöhnliche Geringschätzung galt, gar nicht mehr erwähnte, also manches nicht berichten konnte. Einmal sagte er von seinem Verleger, was andere immer von ihm sagen: Leider habe er keinen Humor, überhaupt keinen Humor. Dazu meine ausführliche These, warum diese Behauptung immer ein Ausdruck fundamentaler Antipathie sei, weniger Kennzeichnung eines andern als Signal für eine Beziehung, indem die Antipathie des einen, der diese Behauptung ausspricht, eben den Humor des andern gar nicht zulässt. Wie oft ich höre, dass er, Alfred Andersch, ein rechtschaffener Mann sei, aber leider keinen Humor habe, überhaupt keinen Humor, sagte ich nicht. Tatsächlich wusste ich immer weniger und weniger zu sagen; Literaturbetrieb als Verlegenheits-Thema für beide, auch das nicht ohne Minen. Man hätte wissen müssen, dass er die ZEIT nicht liest, grundsätzlich nicht, nachdem dieses Blatt ihn vernachlässigt und verunglimpft hat; nicht so die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG. Schwierig auch der Besuch von Kollegen, die uns beide kannten; in den ersten Jahren legte ich es ihnen nahe, Alfred Andersch zu begrüssen, wenn sie schon in Berzona waren; später dachte ich, jedermann könne besuchen, wen er grad besuchen will, den einen oder den andern. Wer Alfred Andersch besucht, muss er denn auch mich in Kauf nehmen? Das meinte ja keiner von uns; trotzdem ergab sich ein Verlust an Selbstverständlichkeit. Gab es einen Grund dafür, dass Otto F. Walter, sein früherer Verleger, mit dem er sich zerstritten hatte, nicht in unserm Haus nächtigt? Im übrigen achteten wir gegenseitig unsere tägliche Arbeitszeit; kein launischer Überfall zu diesen Stunden, wenn möglich auch kein Anruf. Gisela Andersch kam hin und wieder zum Schwimmen, wie vereinbart; keine Störung, ich versicherte es. Alfred Andersch, so meinte ich, sei kein Spieler; Boccia zum Beispiel. Als ich ihn später, um mich nicht auf mein Vorurteil zu versteifen, wieder einmal zu einer Boccia-Partie aufforderte, sagte er: Ja, aber nicht heute, nein, auch morgen Abend geht es nicht, überhaupt in dieser Woche nicht. Es musste ja nicht sein, es war auch nur eine Laune, kein Vorhaben; mit der Zeit verliert sich allerdings die Laune auch. Dazu die Angst von Marianne, dass wir irgendetwas falsch gemacht haben; kein Zweifel meinerseits, dass ich etwas falsch gemacht habe. Und dann bei der nächsten Begegnung: ein Fred, wohlgesonnen, als hätten wir überhaupt nichts falsch gemacht. Auch stimmt es nicht, dass dieser Mann nicht lachen könne. Ein andermal meldete er sich mit einem Auftrag an; unser gemeinsamer Steuerberater, Dott. Waldo Riva in Lugano, hatte zu sondieren, ob mir ein deutsches Bundesverdienstkreuz genehm sein würde. Eine seltsame Vorstellung für einen Eidgenossen. Auf meine Frage, ob er, Alfred Andersch als deutscher Staatsbürger, so ein Kreuz annehmen würde, schüttelte er energisch den Kopf: Von dieser Regierung keinesfalls! als hätte ich’s wissen müssen; es war die Regierung Brandt-Scheel in ihrer ersten Runde. Man kennt die politische Biographie von Alfred AnderschIm Oktober 1971 schickte ich ihm einen Text für mein TagebuchSein Brief, nach New York»Jeder deiner Sätze ist eine Falschmeldung.«Von der PARTISAN REVIEW eingeladen, eine Anthologie deutschsprachiger Literatur heute zusammenzustellen