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Veszelits, Thomas

Die Neckermanns

Licht und Schatten einer deutschen Unternehmerfamilie

 

 

 

Impressum

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Copyright © 2005. Campus Verlag GmbH

E-Book ISBN: 978-3-593-40082-2

|5|Für Dieter

|11|Prolog

»Adel ohne Adelstitel«

Zum ersten Mal habe ich den Namen Neckermann im Alter von 15 Jahren gehört. Damals lebten wir noch hinter dem Eisernen Vorhang. Ich kann mich gut an das Gesicht meiner Mutter erinnern, als sie eines Tages mit einem dicken, bunten Heft in der Hand nach Hause kam. Es war die Neckermann Illustrierte. Mit diesem Titel klang es nach mehr als es eigentlich war, nämlich ein Warenkatalog. Meine Mutter strahlte so glücklich, als hätte sie das Paradies gesehen.

Wir lebten damals in Marienbad, das auf tschechisch Mariánské Lázne heißt. Anfang der 60er Jahre, nach der Kuba-Krise, als die Kalten Krieger sich eine kurze Verschnaufpause gönnten, tröpfelten an Wochenenden die ersten Besucher aus Westdeutschland in diesen malerischen Erholungsort mitten im satten Grün des Böhmischen Waldes. Sie parkten ihre VW Käfer, Opel Rekord und Borgward Isabella vor der Promenade, wo das Kurorchester Walzer von Strauß und Léhar spielte.

Vor dem Palace Hotel hielten die Neoplan-Busse. Wir Kinder waren fasziniert von den verglasten Dächern und den blitzblank strahlenden Zierleisten aus Chrom. Die Menschen, die diesen gläsernen Bussen entstiegen, trugen knitterfreie Trevira-Anzüge und weiße Nyltest-Hemden. Die festen Krägen ragten am Hals steif wie ein Tellerrand. Ganz Marienbad bestaunte diese fremdartige Wesen, als wären sie vom Mars gelandet. Und wie hießen sie? »Die Neckermänner!«

Tatsächlich kamen sie beinahe von einem anderen Planeten, der Wunderwelt des Kapitalismus und des Konsums. Beim Eintritt in die hermetisch bewachte Welt des Sozialismus wurden sie von unseren |12|wachsamen Grenzsoldaten gründlich gefilzt. Die scharfe Suchaktion galt Illustrierten wie Quick, Bunte oder Neue Revue. Was man fand, wurde sofort rigoros beschlagnahmt. Die westdeutschen Reiseveranstalter hatten ihre Fahrgäste ausdrücklich gewarnt, auf keinen Fall den Spiegel oder Stern als Reiselektüre mitzunehmen. Was nahm man also stattdessen auf eine fünfstündige Fahrt mit? Die neueste Ausgabe der Neckermann-Illustrierten. So kamen diese »Fenster zum Westen«, wie wir solche Sammelobjekte nannten, in unseren Staat der Arbeiter und Bauern.

Meine Mutter bewachte ihren Schatz mit Argusaugen. Ich durfte nicht unbeaufsichtigt im Neckermann-Katalog herumblättern. Sie hatte Bedenken, ich könnte heimlich etwas herausreißen und die Bilder in der Schule herumzeigen. Natürlich wäre mir das als wohlerzogener Sohn nie in den Sinn gekommen. Dennoch musste es irgendwie durchgesickert sein, dass wir im Besitz von »imperialistischem Propagandamaterial« waren. Unvermittelt schneite die staatliche Geheimpolizei bei uns herein. Mein Vater wurde verhaftet und erst spät am Abend freigelassen. Danach wurde er mehrmals zu Verhören zitiert. In mir begann damals die Abneigung gegen dieses totale Überwachungssystem zu keimen.

Heute würde ich sagen, die Befürchtungen der Kommunisten waren nicht unbegründet. Der Neckermann-Katalog lieferte den Beweis, dass der von Marx postulierte »Fetischcharakter der Ware« nicht bloß ein Merkmal bürgerlicher Gesellschaften war, sondern auch in den sozialistischen Köpfen Wunschträume weckte. Auch bei mir meldete sich die Sehnsucht nach dem »Neckermannland« mit seinem scheinbar unbegrenzten Warenangebot.

Das Jahr 1968 stand im Zeichen des »Prager Frühlings« und ich, inzwischen Student am Prager Konservatorium, nutzte die Chance. Ich beantragte einen Pass, besorgte mir in der deutschen Botschaft ein Visum und setzte mich in den nächsten Zug gen Westen. Mit 20 Mark in der Tasche, die ich auf dem Prager Wenzelsplatz zu einem Schwindel erregenden Schwarzmarktkurs gewechselt hatte, kam ich in München an. Als erstes musste ich mich um einen Job kümmern. Voller Hoffnung schlug ich den Weg zu Neckermann ein. Ob er für mich Arbeit haben würde?

|13|Die Münchner Filiale des Neckermann-Kaufhauses lag in der Neuhauserstraße. Auf dem Weg dorthin blieb ich am Personaleingang von Karstadt hängen. »Plakatmaler gesucht«, stand dort auf einer Tafel. Welcher Prager konnte so was nicht! Schließlich haben wir uns alle schon mal als Pflaster-Picassos an der Karlsbrücke versucht. Nachdem die Sowjetpanzer den »Prager Frühling« überrollt hatten, waren die Sympathien für uns Tschechen in Deutschland groß, und ich bekam den Job sofort. Am Monatsende kamen genau 460 Mark in die Lohntüte. Damit ging ich zu Neckermann: Mal sehen, was dort billiger ist als bei Karstadt.

Bin ich in Deutschland, bin ich ein Neckermann

Später, als ich Journalist für die Münchner Abendzeitung war, hatte ich Gelegenheit, Josef Neckermann persönlich kennen zu lernen. Ich hatte ihn schon öfter bei Sportfesten, Vernissagen und sogar bei einer Party des Playboy in München gesehen. Auf dem »Ball des Sports« in der Rheingoldhalle in Mainz 1981 sprach ich ihn spontan an. Als Vorsitzender der Deutschen Sporthilfe war Neckermann der Organisator der Veranstaltung. Die gesamte bundesdeutsche Prominenz aus Industrie und Unterhaltung war da, man hätte das »Who’s who der Millionäre« erstellen können. Neckermann kannte jeden persönlich. Wenn er rief, kamen sie alle.

Man musste auch nicht lange fragen, wo ist Herr Neckermann? Aus dem Trubel ragte sein asketischer Kopf wie ein Leuchtturm hervor. Er flirtete gern, verstrahlte Charme in Überdosis und schwang das Bein als Dauertänzer. Von Walzer bis Rumba, er beherrschte alles. Sein Hüftschwung erinnerte beinahe an Elvis Presley.

Es war gar nicht einfach, eine ruhige Minute mit ihm zu erwischen. Der Mann war eine Legende. Auf der Höhe seines Lebens war er Herr über das drittgrößte Versandhaus, das zweitgrößte Reiseunternehmen und die größte Fertighausfirma der Bundesrepublik gewesen. Er hatte Anlagefonds und Versicherungen vertrieben und Bungalows für Feriendörfer am Mittelmeer verkauft. Als Dressurreiter war er mehrmals Welt- und Europameister geworden und schien ein |14|Abonnement auf olympische Medaillen gehabt zu haben. Wie immer umschwirrten ihn auf dem Ball Bekannte, Funktionäre, Journalisten, Gesichter vom Film und Fernsehen und schließlich die Sportler selbst. Unentwegt grüßte ihn jemand, zupfte an seinem Ärmel, klopfte ihm auf die Schulter.

Um ein Gespräch zu provozieren, hechtete ich hinter dem »Bettler der Nation« her, wie er sich scherzhaft selbst bezeichnete, und fragte: »Hallo, Herr Neckermann, kennen Sie ›Schwoaßfuß‹ ...? Das ist eine Rockgruppe aus Schwaben.«

Josef Neckermann blieb im Strom des Publikums stehen und sah mich für einen Moment mit seinem stechenden Blick an. »Warum fragen Sie?«

»Weil es von dieser Gruppe namens ›Schweißfüße‹ einen Song gibt, wo es heißt: ›Bin ich in Döjtschland, bin ich a Neckermann; bin ich a Neckermann, bin ich a Oarsch im Kopf von Mannesmann.‹«

Was dieser Text genau bedeuten sollte, wusste damals niemand so richtig. Er hatte mit der Gastarbeiterthematik zu tun. Die Deutschen hießen im Süden Europas nur noch »Neckermänner«, und wer aus dem Mezzogiorno oder aus Ostanatolien nach Deutschland kam, wurde als Verdiener der D-Mark selbst zu einem Neckermann. Mannesmann stand als Synonym für die Konzerne und reimte sich auf Neckermann. Auf diese Weise versuchten die Feuilletonisten (darunter auch ich), die kryptischen Zeilen zu interpretieren. Natürlich hatte ich nicht die Zeit, Josef Neckermann dies alles so zu erklären. Ich wollte einfach wissen, wie er reagieren würde.

»Und wie gefällt Ihnen dieser Text?«, bohrte ich nach.

Der einstige Versandhauskönig lächelte verschmitzt: »Haben Sie sich mit meiner Nichte Marlene abgesprochen? Sie hat mir neulich diese Platte geschenkt.«

Über die Musik kamen wir ins Gespräch. »Freddy Quinn finde ich besser!«, gestand mir Josef Neckermann und auch, dass er ein Fan von Hans Albers, Rudi Schuricke und Peter Kraus sei. Aber der Größte für ihn war Franz Lambert, der, wie bei jedem »Ball des Sports«, mit seiner Hammondorgel im Foyer der Rheingoldhalle aufspielte.

Josef Neckermann lud mich ein, Lambert zu lauschen. »Kommen Sie, so was haben Sie noch nie gehört!« So geriet ich in Neckermanns |15|Schlepptau, aber es war nicht leicht, ihm zu folgen. Er eilte nicht voran, er rannte, als ginge es darum, die letzte Bahn zu erwischen. Im Gewühl verlor ich ihn bald aus den Augen. Als ich ihn wiederfand, lotste er bereits den Bundespräsidenten Carl Carstens mit seiner Frau Veronica zu Lamberts donnernder Orgel. Neckermanns ungestümer Drang beeindruckte mich. Spät nach Mitternacht strahlte er immer noch unverwüstliche Energie aus. Später stand ich neben ihm vor dem Bierzelt im Foyer. Um den Sporthilfechef versammelten sich die Bosse der Bosse der deutschen Wirtschaft auf eine Bockwurst für 5 Mark. Neckermann aß sie diätbewusst – ohne Semmel, aber mit scharfem Senf. Der Reinerlös dieser Gala betrug, wie am nächsten Tag überall in der Presse stand, satte 2,2 Millionen Mark. Davon rund 1 Million aus Privatspenden.

Die Würzburger und die Frankfurter Neckermanns

Im Jahr 1995 intensivierte sich mein Kontakt zu Marlene Neckermann, der Nichte des Kaufhauskönigs. Sie ist die Tochter von Josefs jüngerem Bruder Walter, der den familiären Kohlenhandel in Neckermanns Geburtsstadt Würzburg weitergeführt hatte, nachdem Josef zu größeren Zielen aufgebrochen war. Marlene hatte auf der Münchner Kunstakademie studiert und galt als das »schwarze Schaf« des Familienclans. Als vielbeachtete Erotik-Malerin verkehrte sie in der Clique des umtriebigen Fürsten Thurn & Taxis. Mit 50 rettete die begeisterte Reiterin den 125 Jahre alte Traditionshandel für Kohlen und Brennstoffe und gründete ein Start-Up-Unternehmen auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Heute liefert sie unter anderem Biodiesel aus Raps für die Heizungsanlage des neuen Bundestages in Berlin.

Ich traf sie damals, um einen Bericht über ihr Unternehmen zu schreiben, und der Kontakt hat sich bis heute erhalten.

Die erste Begegnung ging auf das Jahr 1982 zurück, als mein Freund Dieter Heisig, ein begnadeter PR-Fachmann in der internationalen Filmbranche, mich seiner »neuen Flamme« Marlene vorstellte und gleich vorschlug, eine Geschichte über sie als Erotik-Malerin |16|zu schreiben. Marlene überraschte mich mit ihrer schüchternen, zurückhaltenden Art.

Irgendwann lag es nahe, ein Buch über diese vielschichtige Familie zu schreiben. Als ich mit den Recherchen begann, half mir Marlene, Kontakt zu den »Frankfurter Neckermanns« aufzunehmen. Diese Bezeichnung geht auf den Umzug von Josef Neckermann zurück. Nach dem Krieg fand er in seiner Heimatstadt Würzburg für einen Neubeginn keine günstigen Bedingungen mehr – auch deshalb, weil er dort als unrühmlicher »Arisierer« eines jüdischen Kaufhauses in Verruf geraten war. »Profiteur der Nazis« nannte ihn die Würzburger Tageszeitung Main Post noch kürzlich.

Josef Neckermanns jüngster Sohn, Johannes, 1942 in Berlin geboren, erklärte sich nach einigen E-Mails zu einem Interview bereit. Er schlug vor, sich zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth mit mir zu treffen. Die Wahl des Ortes überraschte mich angesichts der vielfältigen Verstrickungen der Neckermanns in die NS-Vergangenheit.

Zu unserem Treffen erschien Johannes Neckermann, der heute am Schuyler Lake im US-Bundesstaat New York lebt, im feinkarierten, braun-beigen Sakko. Doch das typisch amerikanische Muster täuschte: Das strapazierfähige Kaschmirjackett stammte aus dem Neckermann-Katalog. Johannes hält an der Tradition fest und lässt sich die neueste Ausgabe stets in die USA schicken – »und hin und wieder bestelle ich auch etwas. Es gibt in diesem Katalog immer Dinge, die es woanders nicht gibt«, meinte er.

Es war ein angenehmes Gespräch, aus der ursprünglich vereinbarten knappen Stunde wurde ein langer Nachmittag mit dem eingefleischten Wagnerianer. Anschließend dinierten wir am traditionellen Neckermann-Stammtisch im Gasthof »Goldner Löwe« in Auerbach in der Oberpfalz. Im Laufe des Nachmittags kamen wir auch auf die NS-Zeit zu sprechen. Johannes Neckermann meinte: »Alles was es zu dieser Zeit zu sagen gab, hat mein Vater in seinen Memoiren niedergeschrieben. Alles, was darin steht, ist auch die Meinung der Familie.« Wann immer ich mich während meiner späteren Recherchen mit Fragen zu diesem Thema an ihn wandte, verwies Johannes Neckermann immer auf die Memoiren seines Vaters. Er kannte das |17|Buch Seite für Seite beinahe auswendig und schien keinerlei Zweifel an deren Richtigkeit zu haben.

Ich merkte bald, dass die Frankfurter Linie wie eine verschworene Gemeinschaft agiert. Ohne den Segen von Johannes Neckermann, der nun als Oberhaupt über die Tradition des Hauses wacht, öffnete sich kein Weg zu den weiteren Familienmitgliedern oder früheren Angestellten. »Wir Neckermanns funktionieren wie eine Festung – wir sind ein Adel ohne Adelstitel«, räumte Johannes ein. In seiner »Ritterlichkeit« war er schließlich bereit, mich bei meinen Recherchen zu unterstützen – ohne mein Manuskript vor dem Abdruck vorgelegt zu bekommen.

Durch ihn traf ich auch Klara Rupp, die 30 Jahre lang Haushälterin der Familie war. Ein Besuch bei ihr in Gemünden am Main verschlug mir förmlich die Sprache. Die Wohnung der 84-jährigen agilen Fränkin gleicht einem Neckermann-Museum. In den drei geräumigen Zimmern befindet sich das komplette Mobiliar »des Chefs« und »der Chefin« – so wie es zwischen 1951 und 1955 bei einem Kunsttischler in Frankfurt nach Maß angefertigt wurde.

Dunkles Wurzelholz, Ahorn, Kirsch und Mahagoni, in robuster Ausführung. Ich saß an einem runden, auslegbaren Esstisch, um mich herum großbürgerliche Schränke und Kommoden. Besonders fiel mir eine Vitrine mit Kristallglas ins Auge, die nach dem Vorbild eines Stücks von Katerina der Großen ausgeführt war: »Die Chefin«, also Annemarie Neckermann, »hatte das Original bei ihrer Familienreise in Petersburg gesehen und danach bei dem Tischler in Auftrag gegeben«, erzählte »Klärchen«, wie sie von den Neckermanns genannt wurde.

Frau Rupps Offenheit war herzerfrischend. Auch mit 84 immer noch das Mädchen vom Lande, streng katholisch, das sich in ihrem Herzen nie verbiegen ließ. Ohne Umschweife antwortete sie, als ich fragte: »Und wie war Josef Neckermann zu Hause?« – »Den Chef habe ich bewundert und gefürchtet. Die Chefin war nie launisch, sie war jeden Tag gleich. So konnte ich es auch ohne Schwierigkeiten 30 Jahre bei den Neckermanns aushalten.«

Die Bewirtung war wie damals bei Neckermanns: Semmeln mit Schinkenwurst. Was nicht bedeutete, dass Josef Neckermann keinen |18|Hummer liebte. Von einem Foto an der Wand schauten mir zwei Hunde in den Teller: Axel und Sony, aufgenommen im Garten der Neckermanns. »Die Neckermanns waren sehr großzügig,« erzählte mir Frau Rupp, während ich mich umsah. »Bei meinem Abschied erhielt ich zur Firmenrente zusätzlich rund 30 000 Mark auf einmal ausgezahlt, für jedes Jahr 1 000 Mark. Damit habe ich ein sorgloses Alter. Das Glück meines Lebens war, dass ich zu den Neckermanns kam.«

Über Johannes kam schließlich auch ein Treffen mit seiner Schwester Eva-Maria, genannt Evi, zustande. Eva-Maria Pracht, die 1982 in Seoul im Dressurreiten die Bronzemedaille holte, lebt seit 1986 in Kanada. Sie war Papis Liebling und suchte mit goldenem Händchen seine Pferde aus. Im Oktober 2004 kam sie an den Tegernsee, um ihren Bruder Peter zu besuchen, der nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt war.

Unser Gespräch fand in einer ruhigen Ecke im Hotel Parkresidenz statt, wo Eva-Maria Neckermann bereitwillig erzählte. Besonders genüsslich berichtete sie vom Aberglauben in der Familie. Josef Neckermann habe bei jedem Turnier eine Miniaturbibel in einer winzigen Silberbox in der Tasche gehabt, und seine Frau Annemarie habe ihm vor jedem Turnier auf die Stiefel gespuckt. Einmal warnte die Tochter ihren Vater, als er geschniegelt ausritt: »In brandneuen Hosen reitet man bei einem Turnier nicht.« Josef Neckermann hörte nicht auf seine Tochter und fiel prompt vom Pferd. Als Evi ihn deswegen hänselte: »Siehst du, ich habe es doch gesagt, in neuen Hosen reitet man nicht«, blickte sie der Vater auf eine Weise an, die man nie vergisst: »Er war kurz davor, mir eine zu scheuern.« Eva-Maria erzählte mir eine Anekdote nach der anderen aus der Geschichte der Familie und der Nachmittag verging im Fluge.

Die Legende lebt

Seit ich mich intensiv mit der Familie Neckermann beschäftige, begegne ich dem Namen noch häufiger als früher. Vor einigen Monaten war ich in Hongkong, um einen Bericht für ein Reisemagazin zu |19|schreiben. Auf dem Pier der Star Ferry wartete ich auf eine Dschunke, als ein fröhliches Grüppchen aus einem Bus ausschwirrte. Sie folgten ihrem chinesischen Führer, der mit einem Fähnlein wedelte: »Neckermann« stand darauf. Das Sächseln wies unverkennbar auf die Herkunft der Weltenbummler hin.

»Sind Sie von Neckermann?«, fragte ich eine etwas opulente Leipzigerin. Ihr Gesicht erstrahlte, als hätte sie ein Kompliment bekommen: »Jaaa! Sie auch!?«

In sektenähnlicher Begeisterung erkundigte sie sich gleich: »Sehen wir uns morgen beim Ausflug?« Als wäre es selbstverständlich, dass ein Deutscher in Hongkong ein Neckermann-Tourist sein muss. So zwitscherte es aus der Gruppe auch fröhlich: »Na, dann bis morgen! Mit Neckermann.«

Auf dem Rückflug nach Frankfurt saß ich neben einem Jungmanager. Aus seinem ledernen Gucci-Aktenkoffer holte er eine Zeitschrift: PM Forum – für alle Freunde des Pferdes. Aus dem Augenwinkel las ich: »Dr. Josef Neckermann ... durch sein Wirken ... fruchtbare Verbindung zwischen der Sporthilfe und dem Pferdesport ... nicht wegzudenkende Meilensteine ... Wir sind zu Dank verpflichtet.«

Wieder zurück in Deutschland, war ich zu einer Hochzeit eingeladen. Unter den Gästen waren auch einige alte Freunde aus der ehemaligen DDR. Wir erinnerten uns an die alten Zeiten – und schwärmten von den alten Neckermann-Katalogen. »Wenn es uns gelang, einen heimlich zu ergattern, kam es uns wie ein Fenster zum Westen vor«, meinten die Ost-Freunde. Meine selige Mutter tauchte vor meinem geistigen Auge auf und ihr Glück, als sie von diesen gepflegten, freundlichen Westdeutschen einen Neckermann-Katalog geschenkt bekommen hatte. Welch rührendes Geschenk! Sofort verstummte damals jedes Gerede über Alt-Nazis, Neofaschismus und Revanchismus. Sobald man im Neckermann-Katalog zu blättern anfing, war die Welt für eine Weile in Ordnung. Die Wünsche und Illusionen vom Konsumglück vereinten West und Ost. Diesen Glanz hat der Name auch nach den vielen Aufs und vor allem Abs der Familie und des Unternehmens nicht verloren. Neckermann bleibt ein deutscher Mythos.