Klaus Möckel
Heiße Ware unterm Lilienbanner
Ohne Lizenz des Königs
ISBN 978-3-86394-166-6 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1973 im Verlag Neues Leben Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Gemäldes "Porträt des Chateaubriand" von Anne-Louis Girodet-Trioson
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Eine pfirsichfarbene Sonne am Himmel, Wolken, die dem puderbestaubten Gelock herrschaftlicher Perücken glichen. Das Wetter war freundlich an diesem 11. Mai 1753, die Bäume, die Büsche standen in saftigem Grün, und über den Fluren stiegen die Lerchen empor. Zwei Männer in unterschiedlicher Kleidung, der Ältere in einem Mantel aus bester flämischer Wolle, der Jüngere in einem einfachen Reiseumhang aus grauem Serge, erklommen einen Hügel, von dessen Höhe aus man in der Ferne einen Flusslauf und die Türme einer großen Stadt sehen konnte. Oben angekommen, schauten sie einen Augenblick lang schweigend in das Land, dann hob der jüngere prüfend die Hand in die Luft und sagte: "Der Wind weht von Süden. Er hat mich über sieben Flüsse und siebzehn Berge hierher gebracht. Er ist mein Bruder, er meint es gut mit mir. Er blies, als ich zu Hause aufbrach, er bläst jetzt, da ich angelangt bin in Paris. Der Beutel ist leer, aber das Herz voller Hoffnung. Der Wind verrät mir, dass sich mein Leben ändern wird. Er sagt mir, dass ich Reichtum erlangen und glücklich sein werde."
Der Ältere, untersetzt und mit einem Gesicht wie ein Posaunenengel, lachte über diese Rede, dass ihm seine silberne Gürtelschnalle auf dem Bauch tanzte. "Du bist ein sonderbarer Bursche, Antoine Brac. Hätte ich nicht gestern Abend drei Flaschen des besten Bordeaux mit dir geleert, hätte ich nicht erlebt, wie du den beiden Auvergner Raufbolden die Köpfe gegeneinanderstießest, weil sie sich freundlichst meiner Louisdor annehmen wollten, dann würde ich dich für einen Träumer halten, für einen Naiven, einen Narren, dem die Gesetze unserer Welt völlig fremd sind. Ich kenne die Hauptstadt, und mir tun all die armen Hanswürste leid, die glauben, das Land verlassen zu können, um hier ihr Glück zu machen. Wer nicht von altem Adel ist und ein Empfehlungsschreiben für unseren König, den Kanzler des Reichs oder wenigstens den Herzog von Richelieu bei sich trägt, sollte lieber bei seinen Hühnern und Schweinen bleiben. Er kann betteln gehen, er findet nicht einmal als Lakai eine Stelle. Rotes Gold scheffeln, reich werden, das ist es, was alle wollen und was keiner schafft. Und was hätte der liebe Südwind schon für dich getan, wäre nicht zufällig die Karosse des mitleidigen Jean-Baptiste Labrosse an dir vorbeigerollt, hätte dich dieser uneigennützige und edle Mensch nicht aus dem Staub der Straße zu sich emporgehoben."
Der Dicke klopfte sich bei diesen Worten auf die Brust und lachte erneut. Antoine Brac, hochgewachsen, schlaksig, war keineswegs verärgert. Er legte die Hand aufs Herz, machte eine Verbeugung, die jedem Höfling zur Ehre gereicht hätte, und erwiderte: "Der Wind hat es Ihnen ins Ohr geflüstert, Monsieur Labrosse, der Wind. Hören Sie ihn nicht? Jetzt, da sich unsere Wege trennen, erzählt er Ihnen gerade, dass es nicht gut ist, wenn man außer seinem runden Bäuchlein allzu viel schwere Goldfüchse mit sich herumschleppt. Man sollte sie wandern lassen, am besten in die Taschen derer, die noch eine kleine Last tragen können. Sie haben ein gutes Werk an mir getan, als Sie mich mitnahmen. Lassen Sie es mich doch vergelten. Gestatten Sie mir, Ihnen etwas von Ihrer Bürde abzunehmen."
"Zum Teufel, mein Junge, du gehst ran", sagte Labrosse, dem das Lachen in der Kehle stecken geblieben war. "Weißt du, wie viel Schweiß und Mühe es mich gekostet hat, diese goldenen Louis und silbernen Ecus zusammenzubekommen? Fünfzehn große Foliobände würden nicht reichen, um all die Anstrengungen des braven Bürgers Labrosse aufzuschreiben, der Mut und Verstand genug hatte, sich zu einem sehr unbraven Vertreter seiner Zunft emporzurackern. Glaubst du etwa, mir hätte in meinem Leben nur einer jemals einen kupfernen Sol vermacht?" Er zerschnitt mit einer heftigen Handbewegung die Luft. "Nein, mein Lieber. Weder geborgt noch gar geschenkt." Er klimperte in seiner Tasche herum. "Diese klingenden Dingerchen springen lieber von uns fort als zu uns hin. Und was mich angeht, so will ich dich davor bewahren, ihnen schon an deinem ersten Tag in Paris allzu sehr nachtrauern zu müssen."
Antoine Brac rümpfte die Nase, die ihm etwas zu groß im sonst ebenmäßigen Gesicht stand, hob resigniert die eckigen Schultern und betrachtete angelegentlich den silbern ziselierten Griff seines Wanderstocks. Was für eine lange Rede um ein paar runde Metallstücke, dachte er. "Dann wirst also du, alter Kamerad", sagte er zu dem Stab, "schon bald einem anderen dienen. Ich werde dich gegen Speise, Trank und ein anständiges Lager eintauschen, denn was man auch beginnt, man soll's ohne Knausern tun. Nun gut", wandte er sich plötzlich an den Pausbäckigen, der noch immer ein unzufriedenes Gesicht machte. "Wenn Sie meinen, Monsieur Labrosse, dass Ihre goldenen Louis in Ihrer Tasche sicher genug untergebracht sind, dann will ich nicht weiter drängen. Es soll unserer Freundschaft keinen Abbruch tun, und ich danke Ihnen ehrlichen Herzens für die erwiesene Hilfe. Meinen Dank Ihrem Kutscher, Ihren Bediensteten und den vier Pferdchen, die sich eine zusätzliche Portion Hafer wohl verdient haben. Die letzte Meile werde ich besser zu Fuß zurücklegen, damit es eines Tages von mir heißen kann: Zu den Ungeschickten gehörte er nicht; er kam á pied (zu Fuß) in die Stadt und verließ sie á cheval (zu Pferd)."
Er reichte dem anderen die Hand und wollte sich zum Gehen wenden, aber Labrosse hielt ihn zurück. Sein Gesicht hatte sich aufgeheitert, offenbar war er doch nicht bereit, es bei diesem leicht getrübten Abschied zu belassen. "Einen Augenblick, mein Lieber", sagte er. "Wenn man dem alten Jean-Baptiste auch die Goldfüchse nicht so schnell aus der Tasche luchst, ein guter Rat ist von ihm bisweilen schon zu bekommen. Du hast das Herz auf dem rechten Fleck, Antoine, und es wäre jammerschade, würdest du dich in der Not an irgendeinen schmutzigen Seelenfänger verkaufen. Merk dir die Rue Saint-Jacques und den hinteren Eingang zum Haus mit den drei kupfernen Lettern. Wenn du nicht mehr anders zurechtkommst, klopf dort an. Sag, dass dich Monsieur Labrosse schickt. Du kennst mich jetzt und kannst dir denken, dass an jener Tür keine Almosen verteilt werden. Für einen ehrlichen Kerl aber, der Mut und Verstand hat, gibt es etwas Besseres, eine gut bezahlte Arbeit. Trotzdem, geh erst hin, wenn du dein Glück an elf anderen Stellen versucht hast. Denn eine verdammt gefährliche Sache ist's, mit der man dir dort kommen wird, und ist der Rubikon erst einmal überschritten, gibt es kein Zurück."
Antoine, erstaunt über diese geheimnisvollen Worte, suchte nach einer passenden Entgegnung. Da könnte man direkt neugierig werden, sagte er sich, so gefährlich wird das, was der Dicke anzubieten hat, schon nicht sein. Er kam aber mit seinen Gedanken nicht zu Ende. Ein helles Wiehern ertönte im gleichen Augenblick unten auf dem Weg, als hätten die Pferde gemerkt, dass ihr Herr mit seiner Rede fertig war, und ohne sich weiter zu verabschieden, stieg Labrosse ächzend den Hügel wieder hinab. Wenig später kletterte er in seine Karosse, rief dem Kutscher einen Befehl zu, und der junge Mann oben konnte bald nur noch einer Staubwolke hinterhersehen. Wenigstens die Kupfermünzen fürs Frühstück hätte er dir schenken können, dachte er, denn sein Magen begann leise die Trommel zu rühren. Dann packte er sein Bündel, fasste den Stock fester und folgte kräftigen Tritts dem Wagen, der schnell in der Ferne verschwand.
Häuser, die ihre Dächer fünf oder sechs Stockwerke hoch trugen, Klöster, finster hinter efeuberankten Mauern aufragend, neu errichtete prunkvolle Adelsresidenzen, Paläste, an denen die Baumeister des XV. Ludwig und seiner neuen Mätresse, der Marquise von Pompadour, ihre vielfältigen Künste erprobten. Antoine Brac, seinen Stock fest in der Hand, das Bündel über die Schulter geworfen, hatte die ärmlichen Vorstadtviertel der Kapitale durchwandert und gelangte nun ins Zentrum von Paris, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufzublühen begann, das vom kurzen Frieden nach dem österreichischen Erbfolgekrieg profitierte und trotz ständig drohenden Staatsbankrotts voller Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung war. Hier wurde Handel getrieben, spekuliert, und die Gebäude schossen schnell wie die Pilze aus dem Boden; hier prunkten Militärs mit ihren Galaröcken, froh, dass ihnen kein Säbel die weißen Borten rot färbte; hier marschierten die Priester, ihrer Macht bewusst, würdevoll übers Pflaster; hier trafen sich aber auch die Wissenschaftler und Künstler, die Literaten aus aller Welt, um dem Katholizismus eine entscheidende Schlacht zu schlagen. Die Sorbonne, Notre-Dame, das erzbischöfliche Palais, die neugegründete Ecole-Militaire, die Bastille. Der Polizeipräfekt Berryer herrschte mit Strenge und Verschlagenheit; in den literarischen Salons und Cafés trafen sich Diderot, Voltaire, d'Alembert, Condillac und viele andere Künstler und Philosophen, und an den Straßenecken regierten die Bettler. Paris war voller Leben, Paris war voller Gegensätze. Obwohl Antoine, Sohn eines kleinen Pächters, in der Stadt Bourges die Universität besucht hatte, also nicht einfach irgendwer vom Lande war, überraschte, bedrängte ihn die Vielfalt der Impressionen, erdrückten ihn der in den Straßen herrschende Verkehr und vor allem der Lärm. Das Durcheinander von Passanten und Fuhrwerken, von Berittenen und Männern, die sich in Sänften tragen ließen, störte ihn dabei noch nicht so wie das Geschrei der Händler und Ausrufer, das Getrommle und Gefiedel irgendwelcher Straßenmusikanten, das nicht enden wollende Läuten der großen und kleinen Kirchenglocken, mit denen die Hauptstadt offensichtlich vorzüglich ausgestattet war. Antoine hatte Mühe, sich in dem Gewirr, in dem übergroßen Krawall zurechtzufinden. Er bekam Rippenstöße versetzt und wäre fast vor ein plötzlich aus einer Seitenstraße hervorpreschendes Pferd gerannt. Er ging einer Gruppe prahlerisch daherschreitender Soldaten aus dem Weg, machte sich fast mit Gewalt von einer Frauensperson los, die in einer Tonne am Rande der Straße saß und ihm partout für ein geringes Entgelt ein winziges Loch im Strumpf stopfen wollte. Er wimmelte einen Straßenhändler ab, der ihm Katzenfelle gegen das Reißen und Rattenzähne gegen schlechte Träume anbot, drängte sich an einem Scherenschleifer vorbei, der mit seiner Tretmaschine die halbe Straße blockierte. Er stritt sich mit Obst-, Gemüse-, Eierverkäufern herum, die ihm allesamt ihre Ware verhökern wollten. Von einem Freund seines Vaters, dem ehrenwerten Schulmeister Mascot, hatte er eine Taverne empfohlen bekommen, wo er für wenig Geld ein anständiges Quartier haben könne. Das Gasthaus "Zum mageren Schwein" sollte auf dem linken Seine-Ufer liegen, etwa in Höhe der Tuilerien. Mehr wusste der Alte nicht, der die Hauptstadt vor vielen Jahren besucht hatte und noch jetzt von dieser Reise schwärmte. "Über der Tür ein schmiedeeisernes Schild. Es stellt einen Metzger dar, der ein Ferkel beim Schwanz fasst. Du wirst es schon finden, die Leute geben dort bereitwillig Auskunft." Bereitwillig, dachte Antoine, das ist sehr charmant umschrieben. Die Menschen in dieser Stadt hasten ja eiliger dahin als gräfliche Jagdhunde. Er fragte den einen, hielt den anderen an: Von einem Wirtshaus "Zum mageren Schwein" wusste keiner etwas. Immerhin aber erklärten sie dem jungen Mann, wie er zur Seine gelangen könnte. Es war schließlich nicht ihre Schuld, wenn er sich stets von Neuem links statt rechts hielt oder rechts statt links, kreuz und quer lief und deshalb nur im Schneckentempo seinem Ziel näher kam.
Er hätte sich wohl noch Löcher in die Sohlen seiner Stulpenstiefel gelaufen, wäre nicht ein unerwartetes Ereignis eingetreten. In einer Gasse, einem Gässchen, eng und schmutzig wie ein Gänsehintern, aber nichtsdestoweniger von dem gleichen allgemeinen Gedränge und Geschubse erfüllt, stießen plötzlich mit gewaltigem Getöse zwei Fuhrwerke aneinander. Pferdegewieher, grelles Gequietsche schlecht geölter Radachsen und das Bersten irgendwelcher Holzteile. Der Kutscher des einen Fahrzeugs, ein vierschrötiger Kerl mit einer Säufernase, begann sofort laut zu fluchen. Anstatt vorsichtig die durch den Anprall verhakten Gestänge voneinander zu lösen, riss er die Gäule seiner Mietsdroschke jäh zurück und zog so das andere Gespann mehrere Schritt hinter sich her. Der Fuhrmann des zweiten Gefährts, ein kleiner, drahtiger Bursche, ein Bauer dem Aussehen nach, hob verzweifelt die Arme zum Himmel und brach ebenfalls in Verwünschungen aus. Er kam, wie es aussah, direkt vom Land, hatte Gemüse und Körbe mit Federvieh geladen, das durch das ruckartige Hin und Her ganz aus dem Häuschen geriet. Ein unbeschreibliches Tohuwabohu entstand. Die Gasse war im Nu völlig verstopft, die Kutscher gingen mit Fäusten und mit den Peitschen aufeinander los, und unter den Passanten bildeten sich zwei Parteien, die die Stimmung mit Pfiffen und spöttischen Bemerkungen anheizten.
Auch Antoine, der sich im Augenblick des Zusammenstoßes direkt neben dem Fuhrwerk des Bauern befunden hatte, wurde in das Durcheinander verwickelt. Er hatte nicht die Absicht, sich einzumischen, bemerkte aber zu seinem Erstaunen, dass aus dem Spaß der Zuschauer plötzlich Ernst wurde, dass statt der Scherzrufe Schimpfreden und dann sogar Steine durch die Luft flogen. Die Leute bekommen sich ja in die Haare, dachte er, da willst du zusehen, dass du dich seitlich verdrücken kannst. Aber er hatte seiner Neugier einige Sekunden zu lange nachgegeben und wurde nun, ehe er sich's versah, mit in die Prügelei hineingezogen. Er erhielt einen Stoß gegen die Brust, einen Faustschlag ins Genick, und es war ihm ein schlechter Trost, dass es anderen Passanten ebenso erging. Um weiteren Schlägen vorzubeugen, hieb er einem zerlumpten Burschen, der drohend auf ihn eindrang, die Faust unters Kinn. Es war ein gutgezielter Schlag, von einer Hand geführt, die nicht nur die Gänsefeder, sondern auch die Pflugsterz zu packen verstand, und der Angreifer setzte sich verblüfft vor die Füße zweier Pferde, die wiehernd in die Höhe stiegen. Doch Antoine hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Er sah sich von zweifelhaften Gestalten umringt, die es anscheinend alle auf ihn abgesehen hatten. Was ist los, dachte er, was wollen sie von dir, und setzte sich zur Wehr, so gut es ging. Sein Bündel störte ihn dabei. Er ließ es fahren, gebrauchte aber kräftig seinen Stock. Solange, bis sich plötzlich mehrere Hände gerade an diesem Stück Holz festklammerten, es ihm aus den Fäusten rissen und ihm klar wurde, was die drei, vier Kerle um ihn herum gewollt hatten. "Au voleur!", schrie er, "haltet den Dieb!", denn auch sein Bündel war weg. Er wollte den Spitzbuben hinterher, kämpfte sich recht und schlecht durch die Menge hindurch, die sich noch immer balgte, doch es war bereits zu spät. Er landete in einer Seitenstraße und begriff, dass er der Geprellte war. Er hatte einige Beulen abbekommen, sein Kopf schmerzte, auch die Arme, die er nicht geschont hatte, taten ihm weh. Aber das war nicht das Schlimmste. "Hätte ich Dummkopf lieber die anderen Stöcke auf meinem Rücken tanzen lassen, als meinen kostbaren Stab hinzugeben", sagte er laut und setzte sich erschöpft auf die Stufen eines Hauseingangs.
Seine grauen Augen waren dunkel vor Zorn, er ärgerte sich maßlos und wäre am liebsten bis an sein Lebensende auf den Steinstufen sitzen geblieben. Deshalb achtete er auch nicht auf das, was um ihn geschah, und schreckte heftig zusammen, als ihn plötzlich ein Unbekannter ansprach. Ein Mann um die Vierzig herum, lang und dürr, in abgetragenen, aber einigermaßen sauberen Kleidern. Er humpelte auf zwei Krückstöcken daher, die Kniehose war unterhalb seines rechten Schenkels zugeschnürt wie ein Sack, er hatte nur noch ein Bein.
"Da sitzt er nun, der Grünschnabel, und weiß nicht, wie's weitergehen soll", sagte der Mann mit knarrender Stimme. "Dabei hast du Glück gehabt, viel Glück. Hier spazieren sonst recht fröhlich die Messer durch die Luft, und dein Rücken wäre gewiss weniger hübsch, säße dir der Knauf eines Dolches zwischen den Schulterblättern."
Antoine Brac fühlte sich durch diese Worte kaum getröstet. "Ich habe mir immer gedacht, dass man in Paris eher mit dem Degen ficht als mit solchem Schlächterwerkzeug", erwiderte er. "Ich bin mit den besten Absichten hierhergekommen. Was habe ich diesen Halunken getan, dass sie mir den Empfang in ihrer Stadt so seltsam verzuckern."
Der Einbeinige ließ sich mit einer geschickten Bewegung neben Antoine auf den Stufen nieder, zog eine hölzerne Schnupftabakdose aus der Tasche und nahm genussvoll eine Prise. "Mit guten Absichten, das lässt sich hören", sagte er und nieste zur Bekräftigung geräuschvoll. "Weshalb aber wunderst du dich dann, dass man dich auf eine besondere Weise empfängt? Die Burschen, die sich so deiner annahmen, wussten ohne Zweifel, was du wert bist. Dein Gesicht muss ihnen zugesagt haben, sonst hätten sie ihm ein paar rote und blaue Pflästerchen aufgesetzt. Du solltest es ihnen nicht allzu sehr verübeln, dass ihnen dein Bündel oder was du sonst bei dir trugst, noch besser gefiel."
"Ich werde meinen Mantel versetzen und ihnen für das Geld in der Kirche Notre-Dame aus Dankbarkeit eine große Kerze anzünden lassen", erwiderte Antoine Brac ungehalten, denn das Geschwätz des anderen ging ihm auf die Nerven. "Aus Dankbarkeit, Monsieur, aus großer Dankbarkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, was ich lieber täte."
Der Einbeinige kratzte sich an der Schulter, wo sich offensichtlich ein aufdringlicher Floh verborgen hielt, und brach in schallendes Gelächter aus. Seine ganze Gestalt bebte, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. "Seht an, wie wütend er ist, unser Grünschnabel", rief er, "die Funken springen ihm ja förmlich aus den Augen. Aber reg dich nicht auf, mein Lieber, ich will dich nicht ärgern. Im Gegenteil, ich möchte dir einen Dienst erweisen. Ich bin Fripier, von Beruf Verkäufer nicht mehr ganz neuer Kleider, und was du da über deinen Mantel gesagt hast, ist einer ernsthaften Erörterung wert. Gleich, als ich dich hier so sitzen sah, dachte ich, dass du mich brauchen wirst. Ein junger Mann, der nach Paris kommt, um seinen Weg zu machen, hat in diesen unsicheren Zeiten einen Kerl wie mich nötig. Du trägst einen Umhang, der kaum Flecke hat, eine ziemlich neue Jacke, Stiefel aus anständigem Leder, Hosen, die noch nicht durchgesessen sind, und ein Hemd, das nur gewaschen werden muss, um wieder weiß wie ein Gänsekiel zu sein. Man hat dir etwas genommen, aber du bist noch immer reich. Hör meinen Rat, lass mir die Sachen, solange sie nicht zu schlecht dafür sind. Ich werde dir einen anständigen Preis zahlen. Wenn du bescheiden bist, hast du eine Woche zu leben. Am ersten Tag wirst du dich von dem Schrecken erholen, am zweiten wirst du dich umschauen in der Stadt, am dritten wirst du dir eine Arbeit suchen, die ihren Mann ernährt. Gewiss, das ist nicht ganz einfach, aber du wirst es schaffen. Schau mich an, die Österreicher haben mir vor sechs Jahren ein Bein abgenommen, und noch heute wart ich auf die Rente, die mir der König versprochen hat. Als ich keinen Heller mehr hatte, nähte ich zwei Schnüre auf meinen bunten Rock und vertauschte ihn gegen drei Paar Hosen. Vier Wochen bin ich ohne Jacke herumgehoppelt. Jetzt hab ich einen Laden in der Rue Mouffetard, und meine Frau trägt sechs seidene Unterröcke."
Antoine Brac stellte sich die Frau des Fripiers, die vielleicht nicht mehr ganz jung, aber gewiss noch appetitlich war, in ihrer Unterwäsche vor, und sein Gesicht hellte sich etwas auf. Jedoch nur für einen Augenblick: Was für eine Idee, deine Kleider für einen Spottpreis zu verhökern, dachte er missmutig. "Sie haben eine gewandte Zunge, Monsieur", sagte er, "nur glaube ich, dass sie zu schnell über einiges hinwegspringt, was für mich wichtig wäre. Soll ich etwa, nachdem unser Geschäft abgeschlossen ist, nackt durch die Straßen laufen wie eine gestäupte Dirne? Ich habe mich in der Stadt Bourges ein paar Jahre mit den Wissenschaften befasst und hoffe, hier in Paris eine Stelle als Privatsekretär oder Hauslehrer zu bekommen. Wie soll ich aber einen geeigneten Platz finden, wenn ich als abgerupfte Krähe oder bunt gefleckter japanischer Sittich zu den Herrschaften gehe, denen ich mich empfehlen will?"
Die Frage war berechtigt, und der Einbeinige kaute eine Weile an der Antwort herum. Dann aber hatte er wohl eine Lösung gefunden. Er richtete sich an seinen Krücken auf, als gelte es keine Zeit zu verlieren. "Komm", sagte er, "das werden wir an Ort und Stelle klären. Wir werden finden, was du brauchst, du wirst mit mir zufrieden sein. Es gibt Geschäfte, die bringen allen Beteiligten etwas ein. Du wirst mir am Ende zugestehen müssen, dass ich deine miserable Lage kaum ausgenutzt und dich nur ein ganz klein wenig übers Ohr gehauen habe."
Antoine Brac, auf diese Weise unsanft mit den Sitten in der großen Stadt Paris vertraut gemacht, hatte keine Zeit, lange über seine üble Lage nachzugrübeln. Nachdem er, trotz heftiger Versuche, das eine oder andere Stück zu behaupten, seine guten Kleider gegen ein recht sonderbares Habit losgeworden war, brachte er den Rest dieses und die folgenden Tage damit herum, eine Bleibe zu suchen, ein Dach überm Kopf, einen Winkel, wo er zu Hause sein und die vom vielen Laufen ganz dumpf gewordenen Beine ausstrecken konnte. Die ersten drei Nächte überstand er im Obdachlosenasyl, auf einem verwanzten, stinkenden Strohsack, zwischen Tagedieben und Kerlen, die noch jämmerlicher dran waren als er. Die meisten von ihnen hatten nur Lumpen auf dem Leib, und sie beneideten ihn um seinen noblen Anzug, denn von außen gab Antoine ein ganz passables Bild ab. Er trug einen schwarzen Rock mit langen Schößen, lila getönte Kniehosen, ein seidenes Gilet, spitzenbesetzte Manschetten, weiße Strümpfe und Absatzschuhe mit roten Schnallen. Wenn ihm auch Maitre Lard, der Fripier, keine Perücke zusätzlich zu diesen Dingen hatte abgeben wollen, so sah er doch mit etwas billigem Puder auf dem Kopf wie ein Bürger aus, der betont bescheiden daherkommt. Freilich durfte man die Pracht nicht aus der Nähe betrachten. Der schwarze Rock war in Wirklichkeit fadenscheinig und voller Flecke. Die Hosen, einst von kräftigem Rot, hatten ihre jetzige Färbung durch vieles Waschen angenommen. Die Strümpfe bestanden unterhalb der Knöchel aus tausend Stopfstellen. Das Gilet war ein Flicken aus einem alten Unterrock. Die Schuhe stellten die Überbleibsel zweier verschiedener Paare dar, und das schönste waren die Spitzenmanschetten, denn zu ihnen gehörte kein Hemd, Maitre Lard hatte sie vielmehr ein paar Tage zuvor von einer zerrissenen Damenbluse abgeschnitten und mit ein paar Nadelstichen innen an den Ärmeln des Rocks befestigt. Da Antoine nicht gut mit nacktem Oberkörper herumspazieren konnte, hatte er ihm großzügig eine Art Leinensack zur Verfügung gestellt, der, mit Löchern für Kopf und Arme versehen, zwar abscheulich auf der Haut kratzte, aber immerhin Schutz gegen die Kälte bot.
Drei Tage lang marschierte der junge Mann in diesem Anzug quer durch Paris, vom Val-de-Grace bis zur Porte-Montmartre, von der Salpétrière bis zum Champ-de-Mars. Er war auf der Suche nach Arbeit und nach einem billigen Quartier. Er unterhielt sich mit den Krämern von Pont-Neuf, freundete sich mit den Lakaien der Rue Sant-Antoine an, spazierte in den Gärten des Palais-Royal auf und ab, immer darauf bedacht, mit einem der hier promenierenden reichen Stutzer ins Gespräch zu kommen. Am vierten Tag hatte er Glück. Er fand eine Unterkunft in einem kleinen, mit einem Rundgiebel versehenen Haus mitten auf den Seine-Inseln. Eine Kammer unterm Dach, weiß getüncht, eng: ein Korbstuhl, als würde er aus der Zeit Richelieus stammen, ein wackliger Schrank, ein wurmstichiger Tisch, eine Decke aus abgewetztem Camelot über einem Bündel Stroh. Aber das Zimmer besaß ein winziges Fenster auf den Fluss hinaus, und die Vermieterin, eine noch junge Glasersfrau, gab sich mit einer Vorauszahlung für eine Woche zufrieden. An einem Dienstagmittag zog Antoine in sein neues Domizil ein. Er war fast ausgesöhnt mit seinem Schicksal, warf sich angezogen auf die Strohschütte und blieb bis zum Abend dort liegen. Dann erhob er sich und trat ans Fenster. Unter ihm dehnte sich Paris oder zumindest dessen größter Teil, durch die Seine in zwei Hälften zerschnitten, wie eine Torte. Gewundene, eng zusammengedrückte, dunkle Gassen und breite, gerade, weit nach Süden, Westen oder Norden führende Straßen. Die Kirchtürme und Adelspaläste bildeten das Zuckerwerk auf diesem Gebäck, die Parks und Klostergärten die Cremetupfen. Eine besondere Kostbarkeit war das Palais-du-Parlement, das sich mit seinem Schmuckstück, der Sainte-Chapelle, direkt vor seinen Augen befand. Den Blick auf den spitzen Turm dieser berühmten gotischen Kirche gerichtet, die im 13. Jahrhundert unter Ludwig dem Heiligen erbaut worden war und die Dornenkrone sowie Teile des echten Kreuzes Christi beherbergen sollte, dachte Antoine, dass er sein Leben jetzt ganz neu gestalten werde. Du hast das Abenteuer in der Hauptstadt schlecht begonnen, mein Lieber, sagte er sich, aber das hat nichts zu bedeuten. Du hast in vier Tagen Erfahrungen für ein Jahr gesammelt. Du hast Prügel bezogen, bist deinen Stock und deine Kleider losgeworden, doch du stehst hier, und dir liegt die Stadt zu Füßen. Du verfügst über einen eigenen Palast, besitzt genügend Sols, um dich an Brot, Käse sowie ab und zu an einer billigen Pinte Wein zu mästen. Du hast dir bereits Paris angesehen und drei oder vier Leute kennengelernt, die keine Schufte sind. Selber arme Schlucker, wollen sie dir dennoch weiterhelfen. Du wirst deinen Weg machen, Antoine, es gibt keinen Zweifel daran. Und nach diesen Überlegungen wünschte er sich selbst eine gute Nacht.
Am anderen Morgen machte er sich frisch und ausgeschlafen zum rechten Seine-Ufer auf. Er interessierte sich aber ebenso wenig für die Kramläden und Goldschmiedewerkstätten auf dem Pont-au-Change wie für die Befestigungsarbeiten, die gerade an den Quais ausgeführt wurden, eilte vielmehr schnurstracks in die Rue Saint-Paul, wo ihm eine Adresse empfohlen worden war. Jemand hatte ihm zugeflüstert, dass Monsieur Turcat, ein Spezereienhändler, die Stelle eines Schreibers zu vergeben habe. Dieser Turcat sei ein Mensch mit literarischen Ambitionen. Er suche einen gebildeten Mann, der sich auf seine Arbeit einstellen könne. Da kommst du gerade recht, dachte Antoine Brac, dein Gänsekiel wird gewiss schneller über das Papier fliegen als seine Gedanken durch die Landschaft der Fantasie. Und er stellte sich einen dicken Bürger vor, der in den Künstlersalons verkehrte, und die runden Summen, die ihm seine Geschäfte mit den Gewürzen einbrachten, an notleidende junge Leute weitergab.
Es war ein hohes Haus aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit großen, geschwungenen Fenstern und festen Türen, und Antoine war nur etwas enttäuscht, als ihn ein magerer, schüchterner Diener einließ, der eine schon ziemlich verblichene Livree trug. "Monsieur Turcat ist beim Frühstück, er bittet die Herren, im Vorzimmer zu warten." Antoine wollte erklären, dass er ganz allein komme, aber da ging hinter ihm die Tür auf, und ein zweiter junger Mann trat ein. Ganz augenscheinlich hatte sich herumgesprochen, dass hier eine Stelle zu vergeben war. Als sie in den Vorraum kamen, saßen da bereits vier oder fünf zum Teil dubiose Gestalten. Ein eichenholzgetäfeltes Zimmer, das aber bis auf zwei rot gepolsterte Bänke entlang der Wände völlig leer war. "Seit einer Stunde frühstückt er nun schon", flüsterte einer der Anwesenden, als sich Antoine vorsichtig auf den blumengemusterten Plüschbezug setzte.
Der Bedienstete verschwand, und im Raum breitete sich unangenehme Stille aus. Die Männer, die hier zusammengekommen waren, um eine Arbeit zu ergattern, sahen einander abschätzend an, wogen ihre Chancen gegenüber den Konkurrenten ab. Das sieht trübe aus, dachte Antoine, denn er musste damit rechnen, erst an sechster Stelle vorgelassen zu werden. Wenigstens zwei der vor dir wartenden Bewerber machen mit ihren solide geschneiderten Kleidern, mit den Mienen, die sie zur Schau tragen, den Eindruck, als hätten sie die Sorbonne absolviert oder zumindest fünf Jahre lang die besten Jesuitenkollegs besucht. Die beherrschen sicherlich ihre fünf Fremdsprachen, sind bewandert im kanonischen Recht, wissen über die neuesten mathematischen und physikalischen Gesetze Bescheid, kennen sich in der Religion aus, in den schönen Künsten und der Philosophie. Und du, der du dein Latein mit Vaters Gänsen geübt hast, deinen Leibniz beim Verkauf von Schafskäse erprobt, deinen Descartes - cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich.) - bei der Weinernte studiert hast - wie sollst du da mithalten? Er dachte über seine Lage nach und rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Wenn du eine Chance haben willst, musst du erreichen, dass dieser schmalhüftige Lakai ein gutes Wort für dich einlegt, sagte er sich und stand auf. Unlautere Mittel waren ihm verhasst, doch tröstete er sich damit, dass ihm Paris bisher auch nicht gerade lauter entgegengekommen war. Wenn du dir hilfst, schadest du nur einem Einzigen, überlegte er, und dem fällt es gewiss leichter als dir, einen Ersatz zu finden. Er verließ den Raum und trat auf den Korridor hinaus. Aber erst als er erneut dem Diener gegenüberstand, der plötzlich hinter einer zweiten Tür hervorgeschossen kam, fiel ihm ein, dass er ja gar nicht wusste, wie er sein Anliegen vortragen sollte. So starrten sie sich an, jeder überrascht durch das Auftauchen des anderen, und erst nach einigen Sekunden peinlichen Schweigens stotterte Antoine Brac ohne jede Einleitung: "Hör zu, mein Lieber, da wir uns schon so unvermutet treffen... könntest du nicht deiner Zunge einen Wink geben, dass sie bei deinem Herrn ein gutes Wort für mich einlegt? Ich bin ganz bestimmt der geeignetste Mann für das Pöstchen."
Der Bedienstete schaute den sonderbaren Bittsteller keineswegs verwundert an - er war solche Vorschläge anscheinend gewöhnt. "Ich könnte es vielleicht", warf er lässig hin und machte überhaupt nicht mehr den verschüchterten Eindruck von vorhin. "Aber da wir schon von meiner Zunge reden. Sie folgt meinem Wink nur, wenn sie ein paar Silberstücke klimpern hört."
Antoine lachte etwas gezwungen. "Eine anspruchsvolle Zunge", sagte er, "dumm ist sie gewiss nicht. Sie hat nur das Pech, dass mir zurzeit alle Silberstücke aus den Taschen gesprungen sind. Ohne mich zu fragen. Bekäme ich dagegen das Pöstchen, würden gewiss einige von ihnen zu mir zurückkehren. Auf den ersten Wochenlohn sollte mir's nicht ankommen."
Für den jungen Mann war das ein großes Opfer, aber der spillerige Diener schien von dem Angebot keineswegs beeindruckt. Er blies im Gegenteil verächtlich die Backen auf. "Einen Wochenlohn? Weniger hast du wohl nicht zu bieten? Da drin sind drei Kerle, die reißen sich darum, mir ihr erstes Monatsgehalt in die Tasche zu stecken. Und alle sind sie bereit, noch heute zwei Silbertaler anzuzahlen, wenn es klappt."
Mit diesen Worten ließ er Antoine stehen und strebte eilig den Korridor hinunter.
Der junge Mann sah ihm wütend hinterher. Deine Zunge soll dir im Halse stecken bleiben, die Taler sollen sich in deinen Taschen zu Hundedreck verwandeln, dachte er. Er wollte die Sache schon aufgeben und sich das Haus von draußen ansehen, da kam ihm der Zufall zu Hilfe. Urplötzlich nämlich flog die Tür, durch die der Lakai gekommen war, erneut auf, und ein Mann, Ende der Fünfzig, stürzte heraus. Er war groß und nicht allzu dick; er trug lediglich ein langes weißes Nachthemd, einen dunkelgrünen, seidenen Morgenrock darüber, ein Paar Pantoffeln von gleicher Farbe an den nackten Füßen und eine langlockige, weiß bestäubte Perücke. Als er Antoine bemerkte, blieb er erstaunt stehen, streckte dann aber mit theatralischer Geste den rechten Arm vor und schrie mit lauter Stimme: "Bist du es, Grieche, der von meinen goldenen Tellern speisen will? Tritt ein und sei dem König Kroisos willkommen!"
Antoine war von dieser Begrüßung überrascht, da er es jedoch einerseits gewohnt war, herzlichen Worten herzlich zu entgegnen, andererseits nichts mehr zu verlieren hatte, erwiderte er nach einigem Überlegen: "Dies Angebot ist voller Größe, Majestät. Ich komm aus fernem Land und akzeptier es gerne."
Es war ein Satz, den er gewissermaßen aus dem Ärmel geschüttelt hatte und über den er sich selbst wunderte. Vielleicht ebenso sehr wie der andere, der seine Verblüffung ein zweites Mal zeigte. Er vergaß den Arm herunterzunehmen, kugelte die Augen aus den Höhlen und wiederholte: "Dies Angebot ist voller Größe, Majestät ... dies Angebot ist voller Große, Majestät ..." Dann aber raffte er sich zusammen, packte den jungen Mann beim Rockärmel und zog ihn hinter sich her in einen riesigen Salon. "Was du da eben von dir gabst, Bursche", sagte er mit vor Erregung bebender Stimme, "von wem stammt es?" Hast du es Äschylos gestohlen, Euripides, Racine oder Corneille? Gehört es etwa gar in das Werk eines dieser Nichtskönner, dieser Crébillon oder Voltaire? 'Dies Angebot ist voller Größe, Majestät'. Nein, das kann nicht sein. Wo also hast du es her?"
Antoine versuchte sich von seinem Griff loszumachen. Er sah keinen Grund für diesen Gefühlsausbruch, hielt den Mann im Morgenrock für nicht ganz bei Troste, sagte sich aber, dass es das Beste sei, auf seinen Ton einzugehen. "Nicht von Äschylos, Euripides, Racine oder Corneille, nicht von Crébillon oder Voltaire", gab er so bescheiden wie möglich zur Antwort. "Wenn Sie so wollen, Monsieur, ist es eher von mir. Eure wohlklingende Begrüßung hat mir diese Worte hervorgelockt."
Der Mann im grünen Schlafrock strahlte wie ein geputzter Zinnteller. "Weder von Äschylos noch von Racine, weder von Crébillon noch von Voltaire", wiederholte er, "sondern durch meine wohlklingende Begrüßung." Er packte Antoine noch fester und sagte beschwörend: "Und du belügst mich nicht?"
"Nein, Monsieur, aber zerreißen Sie mir bitte nicht das Hemd, Monsieur."
"Das Hemd", schrie der Mann im grünen Schlafrock, "was soll das Hemd bei diesem literarischen Disput? Ich zerreiße dein Hemd und gebe dir dafür zwei, drei, fünf neue! Nicht um Hemden geht es, sondern um ein Kunstwerk. Denn diese Worte, sie fehlten mir noch für den ersten Akt meiner Tragödie. 'Dies Angebot ist voller Größe, Majestät. Ich komm', wie ging es weiter?"
"Ich komm aus fernem Land und akzeptier es gerne."
"Ich komm aus fernem Land und akzeptier es gerne", sprach der andere laut tönend nach. Dann überlegte er einen Augenblick, rannte ins Nebenzimmer und kehrte mit Papier, Tinte, Streusand und einem Gänsekiel zurück. "Meine Worte", sagte er stolz, "hier schreib sie auf. Schreib sie schnell auf, schreib sie sauber auf, dass ich mich an ihrer äußern Schönheit freuen kann. Denn wer du auch immer bist, durch dich hat mich die Muse geküsst. Auf dich warte ich schon lange, dich bringt mir die Vorsehung ins Haus. Und keinen Widerspruch, ab heute bist du des großen Tragödiendichters Turcat Erster Sekretär."
Das Aufstehen des Gewürzhändlers und Amateurliteraten François Turcat war geregelt wie ein Lever des Königs. An den Tagen, da er nicht wegen dringender Geschäfte auf Reisen war, musste ihn sein Diener Pascal - ebenjenes sonderbare Individuum, mit dem Antoine in diesem Haus zuerst zu tun gehabt hatte - pünktlich um zehn Uhr wecken. Turcat hatte für diesen Vorgang ein leichtes Kratzen an der Tür vorgesehen, da er aber meist noch kräftig schnarchte, war Pascal gezwungen, einzutreten und ihn am Arm zu rütteln. Danach vollzog sich stets das gleiche Zeremoniell. Der Diener wünschte dem Herrn einen guten Morgen und einen schaffensreichen Tag, öffnete weit die Tür, um die bösen Träume hinauszulassen, hieß das Kammermädchen, den Gärtner, den Koch und neuerdings auch Antoine eintreten, die sich den morgendlichen Wünschen anschlossen. Turcat hätte in diesem Augenblick gern noch mehr Menschen am Fußende seiner mit einem blauen Betthimmel überdachten Liegestatt versammelt, doch er lebte ohne Familie, und ihm fehlten die Frau und eine Kinderschar, die zu ihm hätten aufblicken können. So begnügte er sich mit dem, was da war, dankte den Bediensteten, die sich sofort wieder zurückzogen, und kniete, sobald er sich aus den Federn geschwungen hatte, vor einem hölzernen Kruzifix zum Morgengebet nieder. Dann ließ er sich von Pascal, der inzwischen den Nachttopf hinausgetragen hatte, ein Stück weißes Linnen reichen, mit dem er sich die Hände abwischte und den Schlaf aus den Augen rieb. War diese Morgenwäsche beendet, ging es ans Ankleiden. Da er jedoch den Vormittag meist im Schlafrock verbrachte, gehörte dazu nicht viel. Er stülpte sich als Erstes eine Perücke auf und wartete, bis der Diener sie gehörig mit Puder bestäubt hatte. Zu diesem Zweck setzte er sich auf einen kleinen gepolsterten Schemel mitten ins Zimmer und begutachtete im Spiegel, wie Pascal den weißen Staub aus einem Blasebalg an die Decke schickte, damit er von dort herabriesele und sich gleichmäßig auf den Haaren verteile. Nachdem das Haupt ordnungsgemäß mit seinem Schmuck versehen war, ließ sich Turcat in den Morgenrock helfen, fuhr in die Pantoffeln und ging hinüber in den SaIon, wo er sein Petit Dejeuner zu sich nahm. Es bestand aus einer Tasse Schokolade, aus etwas Gebäck oder Weißbrot mit Butter. Eine Stunde später frühstückte er zum zweiten Mal, und zwar ausgiebig, denn er wollte nun kräftig ans Werk und hoffte große Dinge zustande zu bringen.
Während dieser ganzen Zeit musste sich Antoine Brac, der Erste Sekretär - einen Zweiten oder Dritten freilich gab es nicht - mit Papier und sorgsam gespitzter Gänsefeder in seiner Nähe aufhalten, um gelegentliche Geistesblitze des Herrn sofort notieren zu können. Das war eine anstrengende Tätigkeit, denn die Geistesblitze Turcats waren äußerst spärlich, um nicht zu sagen gleich null. Andererseits ärgerte sich aber der Gewürzhändler schrecklich, wenn am frühen Nachmittag noch nichts auf dem Papier stand. Um diese Zeit nämlich wurde er erneut hungrig und außerdem schläfrig. Hatte er aber erst einmal seine Siesta hinter sich gebracht, musste er sich um die profanen Geschäfte kümmern, die ihn ernährten und den Fortbestand des Hauses gewährleisteten. Spätabends dann widmete er sich wieder seiner geliebten Schriftstellerei, doch nur, um das am Tage Geschaffene durchzusehen und zu genießen. Fand er nichts Geschriebenes vor, konnte er höchst ungehalten werden. Vor allem lag ihm am Fortgang seines großen Dramas "Kroisos", mit dem er die zeitgenössischen Theaterdichter übertrumpfen und in ihre Schranken weisen wollte. Dummerweise befand sich das Stück erst in den Anfängen, und François Turcat hatte auch keine rechte Vorstellung, wie die Handlung weitergedeihen sollte.
Aus diesem Grund hielt sich Antoine stets bereit, und sobald der Herr etwa äußerte, dass die Sonne heute zu grell oder die Schokolade zu süß sei, griff er den Gedanken auf. Er schrieb mit Emphase: "In deinem Dolch, Verräter, funkelt grell die Sonne", oder "So süß wie Schokolade, Königin, sind deine Augen, zu süß für mich, der ich mein Los beweine." Später fiel es ihm dann nicht schwer nachzuweisen, dass diese Sätze dem poetischen Genie Turcats entsprungen wären und sich ohne Zweifel in dem zweiten, dritten oder vierten Akt des Stückes hervorragend ausnehmen würden. Der Herr sollte jetzt nur ja nicht so sehr auf die Anordnung achten, sondern der eigenen Inspiration vertrauen. Am Ende würde sich dann alles wie von selbst trefflich ineinanderfügen.
So vergingen mehrere Monate, in denen Antoine zwar rastlos auf der Suche nach neuen Versen oder poetischen Bildern war, aber sonst recht sorglos lebte. Es war, wie er sich selbst eingestand, keine ganz ernsthafte Beschäftigung, und er hatte sich, als er in die Hauptstadt aufbrach, anderes vorgestellt. Doch da er nun einmal diesem Narren über den Weg gelaufen war, warum sollte er nicht ihm und damit sich dienen. Er verstand es, seinen Herrn bei Laune zu halten, und wurde gut dafür entlohnt. Er hatte sich neu eingekleidet, trug ein Hemd, das besser war als sein erstes, einen blauen Rock mit Silberstickerei auf den Aufschlägen und graue Samthosen. Er aß gut und konnte es sich leisten, an zwei von fünf Nachmittagen in ein nahe gelegenes Café zu gehen, um dort den Bridge- oder Schachspielern zuzusehen. Auch mit Pascal, der anfangs böse wie ein Kettenhund um ihn herumgeschlichen war, stand er sich mittlerweile besser. Hatte ihm der Lakai zunächst verübelt, dass er sich den Sekretärsposten über dessen Kopf hinweg verschafft hatte, war er ihm außerdem gram gewesen, weil er um seine langjährige Vertrauensstellung bei Turcat fürchtete, so schien er sich jetzt mit der Lage abgefunden zu haben. Er begriff offenbar, dass ihm der junge Mann das Brot nicht beschneiden wollte. Er grüßte morgens, wechselte ab und zu ein paar Worte mit Antoine, ließ sich neuerdings sogar dazu herab, ihn in seiner Tätigkeit zu unterstützen. Gab Hinweise, welche Sätze Turcat besonders gefallen könnten, erzählte Anekdoten, kleine Geschichten, die Brac anregten, die Personen des Theaterstücks "Kroisos" mit bestimmten Zügen und Gewohnheiten zu versehen.
Aus all diesen Gründen also fühlte sich Antoine recht wohl im Haus des Gewürzhändlers, und er hätte sich gewiss noch eine Weile mit dem Erfinden literarischer Nichtigkeiten abgegeben, wäre er nicht jäh aus seinen Träumen aufgestört worden. Es geschah Ende Juni, an einem Morgen, der für die Jahreszeit zu kühl und mit unangenehm dichten Wolken verhangen war. Antoine, der noch immer zur Untermiete bei seiner Glasersfrau wohnte, befand sich schon im Hause Turcats, um wie üblich der Zeremonie des Aufstehens beiwohnen zu können, als plötzlich laut der schmiedeeiserne Türklopfer gegen das Tor geschlagen wurde.
"Was ist los, zum Donnerwetter, wer wagt es, die Ruhe meines Herrn zu stören", zischte der Gärtner durch die Pförtnerluke, denn er hatte sich in diesem Augenblick dem Eingang am nächsten befunden.
Draußen standen zwei Gestalten in der dunklen Robe der Gerichtsbeamten. "Im Namen des Königs, öffnen Sie unverzüglich die Tür!"
Der Gärtner wurde bleich. "Im Namen des Königs? Mein Gott, was ist geschehen?" Vor Aufregung gelang es ihm nicht, den Riegel zurückzuschieben.
Der Türklopfer in Form eines Tigerkopfes sauste erneut gegen das eisenbeschlagene Holztor. Schlaftrunken, nur mit Nachthemd und Zipfelmütze bekleidet, zornrot im Gesicht, fuhr der Gewürzhändler aus seinem Zimmer. Da war aber schon Pascal bei dem Gärtner, stieß ihn zur Seite und schob eilig den Riegel zurück.
Sie kamen schnellen Schritts herein und postierten sich vor dem Mann im Nachthemd, den sie sofort als den Hausherrn erkannten. "Im Namen des Königs", wiederholte der größere von beiden und entrollte ein Pergament, auf dem das Siegel Ludwigs XV. zu sehen war. "Das literarische Werk des Bürgers François Turcat, betitelt 'Kroisos', ist wegen seines aufrührerischen Geistes, wegen der Beleidigungen, die es gegen Seine Majestät, den Souverän dieses Landes, sowie gegen die königliche Mätresse, die Marquise von Pompadour, enthält, beschlagnahmt und unverzüglich herauszugeben. Herauszugeben sind auch sämtliche Niederschriften, Entwürfe und Notizen, die obengenannten Gegenstand betreffen. Das Werk darf nicht veröffentlicht oder als Spectaculum verbreitet werden. Die Personen, die an seinem Zustandekommen teilhaben, werden hiermit aufgefordert, ab sofort von dem Vorhaben Abstand zu nehmen. Andernfalls haben sie mit strengster Bestrafung zu rechnen. Claude-Laurent Batin, Polizeikommissar."
Nachdem der Gerichtsbeamte diesen eigenartigen Spruch verlesen hatte, rollte er das Pergament wieder zusammen, schob es in den Ärmel seines Überrocks und schaute Turcat durchdringend an. Ein Blick, der einen Wolf hätte töten können, dennoch malte sich auf dem Gesicht des Spezereienhändlers nichts als maßloses Erstaunen. Seine Schläfrigkeit, sein Zorn waren wie weggewischt. Er ließ die Arme kraftlos an den Seiten herunterhängen und klappte mehrfach mit den Augenlidern, als wolle er eine gespenstische Erscheinung verjagen. "Gegen den König ..., gegen die Marquise von Pompadour ..., wegen aufrührerischen Geistes ..." Er sprach mit tonloser Stimme, richtete sich aber plötzlich in seiner ganzen Größe auf, als habe er erst jetzt begriffen, worum es eigentlich ging. "Monsieur", sagte er energisch zu dem Büttel, "ich weiß nicht, wer Sie zu diesen Ansichten gebracht hat, aber ich muss Ihnen erklären, dass Sie sich im Irrtum befinden. In einem unglaublichen Irrtum. Meine Tragödie, mein 'Kroisos', voller Beleidigungen gegen den Souverän? Das kann nicht ernst gemeint sein. Sie sehen in mir einen unbescholtenen Untertan, einen treuen Diener Seiner Majestät. Nie würde es mir in den Sinn kommen, eine jener gottlosen Schriften zu verfassen, wie sie aus Holland oder England zu uns herübergelangen. Nie würde ich mich an die Seite jener Eiferer gegen Recht und Gesetz begeben, die sich so gern Philosophen nennen lassen und an deren Spitze Nichtskönner wie Voltaire oder Diderot stehen. Ja, ich gebe zu, dass ich an einem literarischen Werk größten Formats arbeite, aber es dient edlen Zwecken und wird Frankreich zur Ehre gereichen!"
Turcat rollte bei dieser Rede mit den Augen und hob die Arme empor, als stünde er auf der Bühne. Er war ehrlich empört, dennoch blieben seine Worte ohne Effekt. Die Beamten des Polizeikommissars Batin hörten ihm zwar zu, machten aber Mienen dabei, die ihn von vornherein zum Lügner stempelten. "Erteilen Sie uns keine Lehren darüber, was ernst gemeint ist oder nicht, Monsieur", erklärte der Wortführer hochnäsig. "Geben Sie lieber die Manuskripte heraus, dann wird sich schnell zeigen, wo die Wahrheit zu finden ist."
Turcat, noch immer im Nachthemd, aus dem seine nicht eben wohlgeformten, behaarten Beine hervorschauten, versuchte Herr der Lage zu bleiben, doch es gelang ihm schlecht. Er schaute sich - was ihm sonst nie passierte - hilfeheischend nach seiner Bediensteten um, die mit erstaunten und betretenen Gesichtern dastanden. "Die Manuskripte", stotterte er, nun ziemlich kleinlaut, "die Manuskripte, das ist nicht so einfach, Messieurs. Alles an meinem Werk ist im Entstehen, in der Entwicklung. Alles ist noch ziemlich ungeordnet. Nehmen Sie doch erst einmal im Salon Platz. Geben Sie mir Zeit, mich etwas zurechtzumachen."