LEKTÜRESCHLÜSSEL FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Friedrich Schiller

Der Verbrecher
aus verlorener Ehre

Von Reiner Poppe

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre und andere Erzählungen. Nachwort von Bernhard Zeller. Stuttgart 2002. (Universal-Bibliothek. 8891.) Sperrungen in Zitaten wurden durch Kursivschrift ersetzt.

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© 2005, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
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Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
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Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 978-3-15-960061-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015353-6

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Werkaufbau

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

In der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift Rheinische Thalia erschien 1786 anonym eine Erzählung mit dem Titel Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte. Der Autor war Schiller selbst. Er war da schon längst kein Unbekannter mehr, zog es aber vor, sich als Verfasser nicht zu erkennen zu geben. Am 13. Januar 1782 war sein erstes Drama Die Räuber mit sensationellem Erfolg in Mannheim uraufgeführt worden; am 20. Juli 1783 in Bonn der Fiesco und ein knappes Jahr später, am 13. April 1784 in Frankfurt am Main, Kabale und Liebe. Da Schiller aufgrund gesundheitlicher Probleme und künstlerischer Misserfolge finanziell in Schwierigkeiten geraten war, hatte er 1785 die Zeitschrift Thalia ins Leben gerufen in der Hoffnung, dadurch und zugleich durch einen Ortswechsel seine Lebenssituation grundlegend zu verbessern. Einer Einladung von Bewunderern und Gönnern nach Leipzig folgend, versuchte er sich dort, obwohl bislang nur als Dramatiker bekannt geworden, nun auch als Erzähler.

Die »wahre Geschichte«, 1792 mit dem Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre geringfügig verändert in die Ausgabe Kleinerer prosaischer Schriften aufgenommen, greift die Geschichte des württembergischen Räubers Johann Friedrich Schwan (1729–60) mit dem Beinamen ›Sonnenwirt‹ auf. Wegen einiger Bagatellvergehen über die Maßen streng bestraft, hatte jener Friedrich Schwan starke Hass- und Rachgefühle gegen die Obrigkeit entwickelt und als Anführer einer Räuberbande ungehemmt ausgelebt. Obwohl er sich schließlich selbst den Behörden stellte, wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Der Stoff hatte Friedrich Schiller schon lange beschäftigt und ganz offenbar fasziniert. Bereits für sein Schauspiel Die Räuber hat ihm die Geschichte des Sonnenwirts als Quelle gedient. Angestoßen wurde er durch Gespräche mit seinem ehemaligen Philosophielehrer an der Karlsschule, Friedrich Abel (1751–1829), der in seinen Erinnerungen an den später wohl berühmtesten Absolventen der Stuttgarter Musterakademie schrieb: »Die Idee zu diesem Werk gab ihm teils der Räuberhauptmann Roque im Don Quixote, teils die Geschichte des so genannten Sonnenwirts oder Friedr. Schwans, von dem damals durch ganz Würtemb. viel gesprochen wurde u. über die er auch mich öfters fragte (Mein Vater war der Beamte, unter dem Schwan eingefangen und hingerichtet wurde) u. die er auch, jedoch mit einigen Abänderungen, in einem eigenen Aufsatz bearbeitet hat.«1

Schillers besonderes Augenmerk in der von ihm neu gegründeten Zeitschrift galt ungewöhnlichen Menschen und den Motiven ihres Handelns. Damit wollte er einerseits den Publikumsgeschmack seiner Zeit treffen und spannenden Lesestoff liefern, andererseits seinen eigenen Neigungen für »alles Außerordentliche, Sensationelle und Kriminelle«2 als literarischem Gegenstand nachgehen. Sein Interesse an Rechtsfällen und an Fragen der Psychologie war während seiner Schulzeit und seines Medizin-Studiums gewachsen. Die Dissertation, mit der er es beendete, hatte den Titel Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. In ihr postulierte Schiller, dass der Mensch, der von diesen einander entgegengesetzten Kräftefeldern beherrscht wird, nicht selten unter den beherrschenden Zwang seiner tierischen Natur und damit in schwerste Konflikte mit sich selbst geraten könnte. Mit dieser These setzte sich der junge Schiller bewusst und provozierend vom Gedankengut der Aufklärung ab, in der die rationalen Kräfte im Menschen allzu einseitig betont wurden. Schon in seinem Räuber-Drama hatte er sich mit dieser Thematik befasst und »drei außerordentliche Menschen« in den Mittelpunkt gerückt, deren Seelen er nach eigenem Bekunden nicht annähernd ausschöpfen konnte. In dem Drama musste ihre psycho-analytische Durchdringung im Ansatz stecken bleiben. Gleichwohl konnte er ihre Handlungsmotive deutlich machen. Schon mit Karl Moor, der Zentralfigur des Stückes, stellte Schiller nicht mehr den »heroischen Menschen« nach dem Vorbild des antiken Dramas dar, sondern den Menschen als »gesellschaftliches, als geschichtliches Wesen«, denn für ihn stand fest, »dass die hervorragenden, kolossalischen Menschen nicht mehr zeitgemäß waren«.3 Beindruckt und verwirrt war man allerdings von dem überraschenden Schluss des Stückes, in dem bereits das edle Pathos der späteren Dichtung Schillers hörbar wurde. Es wiederholte sich auf sehr ähnliche Weise in der Erzählung.

Ihre (einzige) Hauptfigur ist Christian Wolf, ein in sich zerrissener Mensch, der in kürzester Zeit eine wüste ›Karriere‹ als Wilddieb, Mörder und Anführer einer Räuberbande macht. Wie das wirkliche Vorbild für diese Figur und wie Karl Moor am Ende des Räuber-Dramas, gibt sich Wolf in freiem Entschluss schließlich den Richtern als landesweit gesuchter Verbrecher zu erkennen. Mehr als um das Aufzeigen der kriminellen Taten Wolfs ging es Schiller um die spannende Frage, was einen Menschen zu einem Verbrecher, gar zu einem Mörder macht: »In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verwirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismässig große Kraft in Bewegung«, lesen wir in der breit angelegten Einführung, die Schiller der eigentlichen Geschichte voranstellte (5), und in einem am 7. Mai 1785 an den Freund und Gönner Christian Gottfried Körner geschriebenen Brief heißt es: »Das Leben von tausend Menschen ist meistens nur Zirkulation der Säfte, Einsaugung durch die Wurzel, Destillation durch die Röhren und Ausdünstung durch die Blätter; das ist heute wie gestern, beginnt in einem wärmeren Apriltage und ist mit dem nämlichen Oktober zu Ende. Ich weine über diese organische Regelmässigkeit des größesten Teils in der denkenden Schöpfung, und den preise ich selig, dem es gegeben ward, der Mechanik seiner Natur nach Gefallen mitzuspielen und das Uhrwerk empfinden zu lassen, daß ein freier Geist seine Räder treibt.«4

Als einen »freien Geist« empfand sich Schiller selbst, und ein solcher Geist beseelte den Helden seines ersten Dramas und den seiner ungewöhnlichen Erzählung aus dem Jahr 1786. Als Mediziner wusste Schiller aber auch um die inneren Gefährdungen von Menschen, die sich von Euphorie getragen gleichsam in die Lüfte aufschwingen und Augenblicke später bereits wieder melancholisch und mit sich selbst tief unglücklich sein können. Er wusste aus dem Studium medizinischer und historischer Schriften, aus der Beobachtung der Menschen und der Analyse ihres Verhaltens von den widerstreitenden Kräften in uns allen, auch um manch krankhafte Gespaltenheit in unseren Köpfen und Seelen. Als Schüler und angehender Student hatte sich Friedrich Schiller für Shakespeare wie für keinen anderen Dichter begeistert, für die Leidenschaften der Charaktere, die er auf die Bühne brachte, und für die Freiheiten, mit denen der englische Dramatiker alle Konventionen des Theaters sprengte. Zu schreiben wie Shakespeare – das schwebte ihm selbst als Ziel vor. Die feurigen Reformideen in den Werken junger deutscher Dramatiker wie Goethe (Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand), Friedrich M. Klinger (Sturm und Drang) oder Johann A. Leisewitz (Die Kindermörderin) beflügelten ihn nicht weniger. Wie diesen schien ihm die Bühne das einzige Forum und das Drama die einzige literarische Gattung zu sein, die geeignet war, auch der deutschen Literatur vollkommen neue ästhetische Dimensionen zu erschließen und längst fällige Änderungen der sittlichen und sozialen Zustände in Deutschland zu befördern. Diese leidenschaftliche Literaturepoche (1767–85), die den Namen »Sturm und Drang« erhielt, war jedoch nur von kurzer Dauer und fast schon wieder ›Geschichte‹, als das Drama Die Räuber des gerade einmal Dreiundzwanzigjährigen in Mannheim uraufgeführt wurde.

Dass Friedrich Schiller als erstes Drama ein Räuber-Drama schrieb, war auch aus einem zweiten Grund keineswegs zufällig. Er war das Kind einer Zeit, in der das Räubertum allerorten in den deutschen Ländern präsent war: in dem rücksichtslosen Ausbeutertum der Mächtigen, die alles hatten und noch mehr wollten, und in den ungesetzlichen Übergriffen derer, denen alles genommen worden war und denen nur ein Leben außerhalb der Gesellschaft blieb, um sich das ihnen Genommene zurückzuholen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Deutschland an die 300 Territorialstaaten, Klein- und Kleinstfürstentümer, deren Herrscher die Zeichen einer sich wandelnden Zeit nicht verstehen wollten und wie ihre Vorbilder aus dem Zeitalter des Absolutismus regierten. Wer von einem deutschen ›Staat‹ in den anderen reiste, begab sich in fremdes Hoheitsgebiet, ins Ausland. Die mehr oder weniger gut gesicherten Grenzen hatten zahlreiche von Posten bewachte ›checkpoints‹. Viele tausend Kilometer unbewachter Grenzen jedoch boten mit ihren Nischen und ›grünen‹ Übergängen zahlreichen Räuberbanden, die zwischen Rhein und Weser, Elbe und Donau ganze Regionen unsicher machten, ideale Verstecke und Lagermöglichkeiten am Rande der Handelswege. Die politischen Zerreißproben in ganz Deutschland, Territorialkonflikte und anhaltende Kriegswirren (Siebenjähriger Krieg, 1756–63), verbunden mit der Auflösung bestehender Sozialstrukturen, hatten viele Männer und Frauen landauf, landab entwurzelt und das Aufkommen von Wegelagerei und Räubertum begünstigt. Die Entwurzelung betraf Menschen aller Schichten: desertierte Soldaten und Kriegsinvaliden, Abenteurer und Hasardeure, Tagelöhner und Bettler, rechtlos gewordene Bauern und arbeitslose Staatsdiener, Sonderlinge, aber auch fahrendes Volk, das in den festgefügten dörflichen oder städtischen Gemeinschaften keinen Platz hatte, Scherenschleifer und Korbflechter, Artisten oder Musikanten.5 Für sie war ein Überleben dann nur noch außerhalb der Gesellschaft, in der Illegalität möglich.

Nicht selten waren auch Frauen Anführerinnen von Diebesbanden. In Schwaben ist Elisabetha Frommerin (1690–1732) noch gut bekannt, die am Bodensee und in der Schweiz ihr Unwesen trieb. Obwohl die Behörden scharf vorgingen, um den Banden das Handwerk zu legen, wurden Bandenmitglieder oft nur durch Zufall, eigene Dummheit, Leichtfertigkeit oder Verrat aus den eigenen Reihen gefasst. Ein dichtes Netz aus Helfern und Hehlern garantierte ihnen zumeist auf recht lange Zeit Unterkunft, Versorgung und Informationen aller Art. Vor allem bewährte sich eine Art Frühwarnsystem, gegen das die Polizei und Soldaten trotz eines eigenen ausgeklügelten Spitzelwesens oft machtlos waren. Mochte das Leben in einer Räuberbande für Menschen, die sich von jeder Bürgerlichkeit losgesagt hatten, auch seine Reize gehabt haben, es fand doch stets am Abgrund statt. Von Räuberromantik keine Spur! Die Gesetzlosen kämpften jeden Tag hart ums Überleben. Jedes Mitglied, selbst in einer großen Bande und unter geschicktester Führung, musste immer auf der Hut sein, nicht ausgebootet oder beseitigt zu werden, wenn Angst und Misstrauen, Hunger und Elend am Gemeinschaftsgeist nagten. Am Ende ereilte Beil, Schwert oder der Galgen die meisten von ihnen. In der Erinnerung vieler Menschen verklärte sich manche Räuberexistenz zur Legende von Stolz und Edelsinn. Weltweit gilt Robin Hood, der englische Gentleman-Räuber, als die große Leitfigur eines höchst unbürgerlichen Berufs›standes‹. Auf seine literarische Vermarktung bis in unsere Zeit ist weiter unten noch einzugehen (siehe ).