Odette Joyeux

Delphine über den Dächern

Ein Ballettroman

Aus dem Französischen von Hildegard Lest

Illustriert von Leanne Shapton

Insel Verlag

Folge deinem Traum!

Einfach unvergesslich, dieser Moment: Ich bin elf, vielleicht zwölf Jahre alt und laufe über die Hinterbühne des Bolschoi-Theaters in Moskau. Gleich werde ich Teil eines Traums – meines Traums: Endlich darf ich mittanzen in Dornröschen, in Nussknacker, in den Märchen, die wir alle lieben. Mein ganzes Leben lang werde ich mich an diesen Augenblick erinnern. Daran, wie es hinter den Kulissen des großen Theaters knistert und riecht, wie die Lichter strahlen, die Kostüme rascheln. Wie ich den Tänzerinnen und Tänzern atemlos aus der Seitengasse zuschaue – magischer Zauber! Auch heute noch stehe ich am liebsten neben der Bühne, es ist mein Lieblingsplatz. Von dort aus tauche ich ein in das Ballett, werfe mich hinein in die Kunst, die ich von klein auf gelernt habe.

Seitdem bin ich einen weiten Weg gegangen. Ich habe meinen Traum verwirklicht, tanze die großen Rollen auf den großen Bühnen der Welt, von New York über Berlin bis Moskau. In den Schoß gefallen ist mir das nicht. Als neunjähriges Mädchen habe ich angefangen – eine von vielen, die an der Bolschoi-Ballettschule jedes Jahr mit der Ausbildung beginnen. Die ersten Jahre waren schwer. Hundert Mädchen, die um die Aufmerksamkeit des Lehrers, um kleinste Rollen konkurrieren. Da war ich erst einmal nichts Besonderes, mein Körper nicht unbedingt ideal fürs Ballett. Aber darum geht es auch gar nicht. Sondern um das, was dich zum Tanzen bringt – um deine Seele, dein Innerstes, das dir sagt: Du musst tanzen! Ich hatte am Ende Glück. Ich bin Lehrern begegnet, die meine Sehnsucht erkannten und mir vertrauten. Sie haben nicht nur meine Begabung, sondern auch Ehrgeiz, Disziplin, Lernbereitschaft gefördert und alles aus mir herausgekitzelt. Nicht alle Lehrer bringen das zustande.

An dem Tag, an dem ich das allererste Mal auf die Bühne ging, war ich schrecklich ängstlich und nervös. Was, wenn ich nur den kleinsten Fehler mache? Dann ruiniere ich doch die ganze Vorstellung! Mit dieser Angst schlug ich mich herum, seit ich die großartigen Bolschoi-Ballerinen bewundert hatte: ihre perfekten Körper, ihre perfekten Auftritte, ihre perfekten Pirouetten und Arabesques. So perfekt wollte ich auch sein. Und dann stand ich plötzlich mit ihnen im Scheinwerferlicht, aus dem Orchestergraben erklang die Musik, und ich überließ mich ganz diesem überwältigenden Gefühl – und begriff: Du kannst gar keinen Fehler machen. Denn es geht überhaupt nicht um Perfektion. Natürlich brauchst du eine möglichst makellose Technik. Aber erst danach beginnt die Kunst, wenn du dich selbst in die Figuren hineinatmest. Das lässt sich nicht lernen. Man hat es, oder man hat es nicht.

Das Ballett ist ein Beruf mit vielen Seiten. Manchmal ist es ein Traum, manchmal ein Alptraum. Ob so oder so – nie sollte man sich mit anderen vergleichen. Ich bin ich, du bist du. Jeder Mensch ist einzigartig. Wozu also soll es gut sein, sich zu vergleichen? Ganz im Gegenteil lautet die Aufgabe, dass wir das Einzigartige an uns erkennen und als Tänzer leuchten lassen. Dann sind wir frei, sind nicht mehr auf Anerkennung angewiesen. Diese Freiheit macht den wahren Künstler aus.

Und wenn du ein Künstler werden willst – eine Tänzerin, ein Tänzer? Was kann ich dir mitgeben? Drei Worte: Go for it!

Träume deinen Traum! Egal was es kostet. Wenn du wirklich tanzen willst, findest du deinen Weg. Wenn nicht im Ballett, dann vielleicht in einem zeitgenössischen Stil – es gibt so viele Möglichkeiten. Den Wunsch einfach wegzuschieben, ist keine gute Idee. Wenn du leidenschaftlich für das Tanzen brennst, dann hol dir Unterstützung. Von deinen Eltern, Freunden, Lehrern.

Das Glück, das auch dazugehört, kann niemand erzwingen. Man muss eine andere Richtung einschlagen können, wenn der Weg sich als falsch erweist. Ich habe meinen Weg gefunden. Dafür bin ich dankbar. Wenn ich heute irgendwo auf die Bühne gehe, denke ich an die vielen Tänzerinnen, die vor mir dort gestanden haben. Die sich verwandelt und mit ihrem Verstand, ihrem Gefühl, ja mit dem eigenen Körper ein »Dornröschen« oder eine »Schwanensee«-Königin erschaffen haben.

Dann atme ich tief ein, höre das Rascheln der Kostüme, sehe den Lichterglanz. Und tue den ersten Schritt hinaus in die Freiheit.

Polina Semionova

Polina Semionova ist eine der berühmtesten Ballerinen der Welt. Sie ist Gasttänzerin am Berliner Staatsballett und Professorin der Staatlichen Ballettschule Berlin.

Die verbotene Tür