Nachdem Quinn aus dem Vietnam-Krieg wiederkehrt, will er bloß eines: Alles Grauen vergessen, das er gesehen hat. Und endlich das große Glück finden. Doch wo soll er danach suchen? Und ist dafür Oaxaca, Mexiko, wirklich der richtige Ort? Hier hat es vor allem vom Leben gebeutelte Pechvögel hinverschlagen: Soldaten, Dealer, Verlierer… Quinn setzt alle Hoffnung in seine Exfreundin Rae – aber um sie zurückzuerobern, muss er zuerst ihren Bruder Sonny aus dem Gefängnis holen, der wegen Drogenschmuggels angeklagt ist. Schonungslos und zugleich mit größter Einfühlsamkeit erzählt Richard Ford von Momenten des Glücks in einer erbarmungslosen Welt voller Drogen, Waffen und Boxkämpfe.
Hanser E-Book
Verdammtes Glück
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Hans Hermann
Hanser Berlin
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel The Ultimate Good Luck bei Houghton Mifflin, Boston
ISBN 978-3-446-25543-2
© Richard Ford 1981
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016
Cover: Peter-Andreas Hassiepen, München
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Kristina und
für Edna Ford
Quinn wußte, er brauchte das Glück auf seiner Seite. Rae kam am Nachmittag aus Mexico City, und wenn sie das Geld richtig einsetzten, war Sonny in drei Tagen aus dem prisión und konnte verschwinden.
Das Glück, dachte Quinn, war immer in die Tüchtigkeit vernarrt. Ein persisches Sprichwort besagte genau das. Und seit er in Oaxaca war, hatte er sich bis hin zu Kleinigkeiten als tüchtig erwiesen. Wenn schon nichts anderes, so war er jedenfalls tüchtig gewesen. Nur in einem Punkt war er unsicher und machte sich Sorgen: Er fragte sich, ob er noch der Typ war, der im entscheidenden Moment das Glück auf seiner Seite hatte.
Am Nachmittag hatte er im Portal de Flores eine Italienerin kennengelernt. Sie war aus dem Park gekommen und hatte sich, ehe sie sich an seinen Tisch setzte, in dem Straßencafé umgeschaut, als suche sie ein bekanntes Gesicht. Mit einem Lächeln nahm sie Platz und drehte sich dann um und blickte zurück zum Portal, zu den Hippies und den Bettlern mit ihren Decken und zu den Kaffee trinkenden englischen Touristen. Sie sah ihn an, und ihr Lächeln hatte etwas Vertrauensvolles, gerade so, als müsse er verstehen, weshalb sie da war. Quinn hatte es sich angewöhnt, keine belanglosen Gespräche zu führen. Gespräche waren riskant. Man wußte nie, was man sagen würde, und sieben Monate des Alleinseins hatten ihn gelehrt, den Mund zu halten. Aber er saß ihr nicht ungern gegenüber. Blicke hatten noch niemanden schwanger gemacht. Der Portal begrenzte den zentralen Park mit einer Ladenpassage, einem langen Gewölbegang, dessen Innenseite offen war. Es war der Mittelpunkt übler und anständiger Geschäfte in Oaxaca. Hier im Portal traf er sich immer mit Bernhardt, wenn sie zum Gefängnis rausfuhren; unter der in der Luft baumelnden Schachtel Raleighs wartete er dann darauf, daß Bernhardts Mercedes auf die Avenida Hidalgo einbog. Und an Tagen, an denen sie nicht zum Gefängnis rausfuhren, kam er gerne am frühen Abend hierher, wenn es im Centro nicht von neuen Touristen wimmelte; das Licht war dann von einem zarten Grün und nicht so hart, und auf den Straßen herrschte so etwas wie ein bescheidenes, unpersönliches, einladendes Leben, und man hatte das sichere Gefühl, daß alles, was man sah, berechenbar war.
Das Mädchen war Anfang Zwanzig und hatte ein rundes skandinavisches Gesicht, das sie nicht zur Schönheit machte, ihrer Schlichtheit jedoch einen besonderen Reiz gab. Sie hatte dunkle, ausdrucksstarke Lippen. Sie holte ein Paar Sandalen aus ihrer bolsa, zog sie aber erst an, nachdem sie eine ganze Weile wortlos an den Riemen herumgemacht hatte. Quinn las im Excelsior die Baseballergebnisse. Das Mädchen blickte zum Portal hinüber und bemühte sich vergeblich, einen der Kellner auf sich aufmerksam zu machen. Sie sah wieder Quinn an, lächelte und bat ihn um eine Zigarette. Als sie dann rauchte, fragte sie ihn, wo er herkomme, und er sagte ihr nur, aus den Staaten. Sie atmete den Rauch aus und erzählte ihm, sie komme aus Milano und habe sich jetzt eine Woche lang in Oaxaca erholt. Sie sagte, sie sei zusammen mit einem Freund im Wohnmobil von Mexico City heruntergefahren, und dieser Freund habe sie verlassen und sei verschwunden, und jetzt wolle sie noch einen Tag auf ihn warten und dann mit dem Bus nach San Cristóbal fahren, wo sie Leute kenne. In eine feine Strähne ihrer dichten braunen Mähne, die sie für ihr attraktivstes Merkmal hielt, war ein grünes Band geflochten. Immer wieder fuhr sie sich mit der Rückseite ihrer Finger durch die Haare, als gerieten sie ihr in die Quere, was sie nicht taten. Sie schien hübscher, wenn sie redete, und ihm machte es nichts aus zuzuhören. Sie fragte ihn, weshalb er in Oaxaca sei, und er gab sich als Tourist aus. Sie erzählte ihm, die beste zapotekische Keramik sei in den armen Dörfern hinter Mitla zu finden, und die besten gefärbten Wollsachen würden in den Bergen bei Teotitlán verkauft, und der beste Meskal werde in den fábricas außerhalb der Stadt hergestellt, und auf dem Markt in Juárez werde nur Ramsch angeboten. Sie fragte ihn, wie viele Mandrax-Tabletten man seiner Meinung nach per Post in die Staaten schicken könne, ohne Verdacht zu erregen, und er sagte ihr, er habe keine Ahnung; es schien sie zufriedenzustellen, daß ihn die Vorstellung nicht aus dem Gleichgewicht brachte.
Quinn fing an, sie zu beobachten. Sie war keine Italienerin, aber das machte nichts. Seinetwegen hätte sie Pennsylvania-Deutsche oder sonstwas sein können, und wer Mandrax in die Staaten schickte, war nicht gleich gefährlich. Er glaubte ohnehin nicht, daß sie’s tat, sonst hätte sie nicht gefragt. Wenn du Langeweile hast und pleite bist – und so schätzte er sie ein –, versuchst du eben, das Leben ein bißchen interessanter zu machen. Sie hatte sich nicht ernsthaft darum bemüht, bedient zu werden, und wartete auf ein Angebot. Ihm gefiel die Art, wie sich ihr Gesicht beim Reden rasch auf und ab bewegte, so daß ihre Züge abwechselnd reizlos und anziehend wirkten, je nachdem, ob sie lächelte oder nicht. Der Wechsel von einem eben noch reizlosen zu einem anziehenden Gesicht überraschte ihn jedesmal, und er wartete immer wieder darauf. Vier Wochen lang hatte er mit keiner Frau geredet, und er fragte sich, welches Gesicht wohl in der Nacht zu sehen sein und welches in Erinnerung bleiben würde. Seit Rae weg war, erinnerte er sich immer nur an die schlechten. Er fragte sie, ob sie einen Meskal wolle, und sie sagte ja und lächelte.
Nach einer Stunde wurde es langsam ruhig im Portal. Die Amerikaner gingen zu Cocktails ins Victoria, und die Hippies verzogen sich in die schäbigen Hotels hinterm Markt. Es war die Tageszeit, die ihm in Mexiko am besten gefiel, während er ihr in Michigan nichts abgewinnen konnte. In Michigan war nun alles beendet, während in Mexiko etwas Neues begann. Er wollte dableiben, bis im Park die Militärkapelle loslegte, und danach zum Boxen gehen.
Das Mädchen hörte auf zu reden, als hoffe sie, etwas Interessantes werde geschehen. Sie bat um eine weitere Zigarette und lehnte sich zurück; ohne den Arm vom Tisch zu nehmen, sah sie zu, wie sich der Park von Touristen leerte. Sie hatte kein Bett für die Nacht, das war klar. Sie ließ sich treiben. Aber er wußte nicht, ob er das Risiko eingehen sollte. Seit er hier war, waren Frauen vom Programm gestrichen. Sie brachten die Dinge zu schnell durcheinander. Auf nichts mehr war Verlaß, alles konnte kippen. Ganze Weltreiche waren wegen kleinerer Risiken zugrunde gegangen. Aber manchmal mußte man das Programm den Umständen anpassen, und aus den Umständen ergab sich nun mal, daß er das Mädchen mitnehmen wollte.
Nachdem er eine Weile wortlos dagesessen hatte, fragte er sie, ob sie Lust habe, drüben im Monte Albán die comida zu essen und sich dann ein paar Boxkämpfe anzusehen. Er hatte schon die ganze Woche die Plakate an den comerciales gesehen, und er wollte einen Boxkampf erleben. Es gefiel ihm, wie die Mexis boxten. Er erinnerte sich an die Chicos in Michigan, unten zwischen den langgezogenen Baracken in den Kirschplantagen, nördlich von Traverse City. Er schlich sich oft spätabends aus dem Haus und stellte sich in den dichten Ring der Zuschauer um die schlanken Jungs, die mit nacktem Oberkörper im Kerosinlicht mit bloßen Fäusten aufeinander losgingen. Es waren verbissene und ehrliche Kämpfe, und die blutigen Schläge saßen genau. Die Jungs flüsterten, während sie im heißen Lehm kämpften, bis einer der beiden nicht mehr aufstehen konnte; dann drängten alle zur Mitte und stellten ihn förmlich wieder auf die Beine, ehe sie in geordneten Reihen in die gekalkten Häuser zurückkehrten, um sich zu betrinken, und er blieb mit hämmerndem Herzen allein im Dunkeln zurück. Es war immer ein Krieg, und er konnte sich nicht an Feiglinge erinnern. Feigheit schien so weit weg wie der Tod, und wenn alles vorbei war, fühltest du dich – obwohl allein gelassen – wie ein Glückspilz.
Das Mädchen lachte seltsam, als er die Boxkämpfe ansprach, und blickte ein wenig um sich, sah überall im Portal die leeren Tische und die Kellner, die regungslos herumstanden. Ein paar bettelnde Straßenjungen waren gerade dabei, eine fette Deutsche anzumachen. Die Frau schlug mit der Hand nach ihnen, als wären sie lästige Fliegen. Quinn spürte, in einer Stunde würde hier alles wieder zum Leben erwachen.
Die Vorstellung von einem Boxkampf schien sie zu verwirren. Sie hatte mit einem anderen Vorschlag gerechnet. Während der Zeit, die sie hier saß, war es im Centro dunkel geworden. Es war kühl, und pflaumenblaue Schatten säumten den Portal. Der Verkehr hatte sich gelichtet. Die Zapotekenfrauen auf der Plaza hatten ihre Webrahmen von den Bänken genommen und packten sie nun zu tragbaren Bündeln zusammen. Der Nachmittag war vorüber, und der Tag sah für das Mädchen jetzt wahrscheinlich anders aus, als er bei ihrem Eintreffen im Portal ausgesehen hatte. Es war schlimm, um diese Zeit irgendwo allein sein zu müssen. Quinn sah ihr diese Gefühle an. Die Militärkapelle versammelte sich unterhalb des erhöhten Pavillons. Geduldig standen die Musiker mit ihren Instrumenten da und warteten darauf, daß ihnen jemand die kleine Tür aufschloß. Sie wirkten distanziert und sachlich.
Das Mädchen war pleite, und was er mit ihr vorhatte, war ihr ziemlich einerlei. Sie wollte sich nur noch einen letzten Eindruck vom Tag verschaffen, ehe sie ihn abhakte, um die Nacht mit einem Fremden anzugehen. Man schlug sich durch, so gut es ging, und das bedeutete immer, daß man sich noch ein letztes Mal umsah. Er hatte es nicht eilig. Durch die gekalkten Bäume sah er einen Fotografen, der sein Holzpferd durch den Park schleppte. Es wäre schön, dachte er, sich fotografieren zu lassen.
Nachdem sie eine Weile über den Portal geblickt hatte, biß sie sich auf die Lippe und sah ihn an, als sei er der Besitzer eines gefährlichen Wagens, mit dem er sie zwar an einen ganz anderen als den gewünschten Ort bringen würde, das aber schnell.
»Warum wollen Sie zu den Boxkämpfen?« fragte sie mit einem sonderbaren Lächeln.
»Wahrscheinlich aus Verzweiflung darüber, daß das Ballett abgereist ist«, sagte er und erwiderte das Lächeln.
»Das wird’s sein«, sagte sie.
»Wollen wir gehen?« Er faltete seine Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch.
»Wollen Sie, daß ich heute nacht bei Ihnen bleibe?« fragte sie. Sie biß sich wieder auf die Lippe und strahlte ihn an. Nun war es ihre Idee, und alles wurde offen angesprochen. Sie hatte gern klare Verhältnisse, keine Geheimnistuerei, und sie hatte ihn durchschaut wie eine altkluge Vierzehnjährige.
»Ich hab morgen früh was zu erledigen«, sagte er, »aber das krieg ich schon hin.«
Ihr Gesicht wirkte jetzt wieder anziehend, und er kam sich gut vor. »Jeder hat was zu erledigen«, sagte sie. Sie steckte ihre Schuhe wieder in ihre bolsa. »Warum wären Sie sonst hier? Es ist so langweilig. Nie passiert irgendwas. Ich bereue schon, daß ich hergekommen bin. Aber da bin ich nun mal.« Sie lächelte wieder.
»Ich werde Sie schon beschäftigen«, sagte er. »Na großartig.« Sie stand auf.
Die arena de boxeo war ein kleines, nicht zu lüftendes Lagerhaus draußen am American Highway nach den letzten Straßenlaternen, am Rande des barrio popular. Die Italienerin trank mescalitos zum Essen und lamentierte über die mexikanischen Männer, die sie nicht mochte, und erzählte, ihr Vater habe viel Geld in Milano, nur könne sie ihn nicht ausstehen, und deshalb sei sie zu ihrer Mutter nach New York gezogen, und dann habe sie sich in Mexiko mit den falschen Leuten eingelassen. Es stimmte sie offenbar traurig. Die heiße Luft in der Arena roch stark nach Pomade und Einreibemittel, wie damals in den kleinen Hallen der Boxclubs in East L.A., vor zwei Jahren, als er Rae zum erstenmal begegnete, eine Luft voller Risiken, greifbar und absolut gegenwärtig, und wenn er sich ihr so direkt aussetzte, fühlte er sich als Glückspilz – und genau so wollte er sich auch fühlen.
Im Ring tänzelten zwei Zapotekenjungen bereits umeinander herum; mit sichtlichem Unbehagen umkreisten sie einander unter einer bläulichen Lampe, die über die Mitte des Lagerhauses eine dichte, schwarze Wolke zu breiten schien. Keiner der zwei war Boxer, und sie wollten beide nicht getroffen werden. Bei ihren aus der Distanz geschlagenen linkischen Jabs tauchten die Handschuhe nach unten weg und wirkten schwer, wie große rote Ballons; so undiszipliniert und langsam, wie sie sich bewegten, war klar, daß sie nicht kämpfen wollten. Es waren Freunde, dachte Quinn, und das machte alles zu schwer. Es war schwer, den eigenen Freund totschlagen zu wollen. Die mexikanischen Zuschauer waren verärgert. Sie tranken Meskal und brüllten, doch die Jungs hörten nichts. Er wollte, daß dieser Kampf zu Ende ging und bessere Boxer in den Ring kamen, und den Mexikanern ging es genauso. Die Italienerin hatte aufgehört zu reden und blickte zum Ring hinauf, als stehe dort ein Bekannter von ihr und als könne dem möglicherweise etwas Komisches zustoßen. Sie war betrunken und träumte bereits, und er wollte, daß sie ihre fünf Sinne beisammenhielt.
Es wurde immer lauter in der Arena, und die Betreuer in der Ecke hämmerten mit den Ellbogen auf den Mattenrand und feuerten ihre Jungs auf zapotekisch an. In dem blauen Licht wirkten beide Boxer langsam und unentschlossen, und die Leute begriffen mit einem Mal, daß es keinen richtigen Kampf geben würde.
Plötzlich stand in den hinteren Reihen ein großer Mann auf und schleuderte eine Limonadenflasche in den Ring; sie prallte von den Seilen ab und kullerte über die Matte, wo sie den größeren der beiden Jungen am Fuß traf. Der Junge hörte auf zu tänzeln, ließ die Fäuste sinken und blickte auf die Flasche hinunter, die jetzt neben seinem Fuß lag. Er schien besorgt und wandte sich an den Ringrichter, und es sah aus, als wolle er erst weitermachen, wenn die Flasche weg war. Der Ringrichter blickte wütend in die Menge, um festzustellen, wer die Flasche geworfen hatte. Er war ein kleiner Mann mit einem schmalen Schnurrbärtchen, der ein weißes Hemd voller Schweißflecken anhatte, und er wirkte sichtlich erbost. Der größere Junge machte mit seinem Handschuh eine Geste, und der Betreuer des anderen Boxers schrie und trommelte mit den Fäusten auf den überhängenden Mattenrand, und plötzlich schlug der Junge eine rechte Gerade mit abgespreiztem Daumen und traf den größeren Boxer an der Schläfe, direkt unter dem Haaransatz, mit einer Wucht, die ihn umwarf und nach hinten in die Seile schleuderte. Er landete hart auf dem Hosenboden, die Fersen in der Luft, und Quinn sah, daß das Auge vom Daumen des anderen Jungen aus der Höhle gedrückt worden war und nur an Fäden herabhing.
»Nein, bitte«, stieß die Italienerin keuchend hervor. »Bitte, bitte, nein, ich mag das nicht, bitte.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und lehnte sich so weit zurück, daß er Angst hatte, sie könnte von der Bank fallen. Dabei war es unter Boxern ein alter Trick, den er nicht zum erstenmal erlebte. Es sah schon übel aus, aber es war halb so schlimm. Ein guter Betreuer konnte das Auge wieder einsetzen, und dann war es mit zwei Stichen zu fixieren. Nur daß die Italienerin davon nichts wußte, und es schien allmählich ratsam, sie hier wegzubringen, bevor sie völlig durchdrehte.
Der Junge mit dem heraushängenden Auge zog sich an den Seilen hoch und ging, die Hände auf den Hüften, steif um den Ring herum, als wolle er einen Muskelkater vertreiben; er hielt den Kopf gesenkt, so daß das Auge ein wenig baumelte. Quinn sah hinter ihm nichts als eine dichte wogende Schwärze. Die Mexikaner waren alle wie betäubt und überlegten stumm, ob nicht vielleicht gegen eine wichtige Etikette verstoßen worden war und was dagegen zu tun sei. Der Ringrichter versuchte den verletzten Jungen aufzuhalten und umklammerte ihn mit seinen kurzen Armen, doch der Junge ging weiter. Der andere Boxer stand, die Arme um die Seile geschlungen, in der neutralen Ecke und redete auf seine Betreuer herab, die die Fäuste ballten und irgend etwas brüllten. Die Italienerin weinte jetzt leise vor sich hin, und er wollte, sie könnte einfach verschwinden.
Der Junge mit dem heraushängenden Auge blieb urplötzlich stehen und sank nach hinten in die Seile, als sei er ohnmächtig geworden. Keiner seiner Betreuer kam in den Ring. Der Ringrichter zog ein pinkfarbenes Taschentuch heraus und versuchte, das Auge des Jungen wieder in die Höhle zu betten, aber offenbar wußte er nicht, wie das alles funktionierte. Der Junge, der immer noch seinen Mundschutz trug, blutete aus der Nase, und Blut suchte sich einen Weg durch den Schweiß und tropfte ihm auf die Knie. Er bewegte sich und wollte aufstehen, aber in seinen Beinen schien keine Kraft mehr zu stecken.
Die Italienerin blieb stumm; sie war auf ihrem Sitz erstarrt. Quinn wollte raus aus der Arena.
Der Junge in der neutralen Ecke blickte beiläufig in die Menge. Seine Betreuer redeten schnell und zählten irgend etwas an den Fingern ab, das offenbar für den Jungen bestimmt war, doch der konnte es nicht hören. Wie in Gedanken schob er den Mundschutz hin und her und bewegte unwillkürlich die Knie, als rechne er zwar damit, daß der Kampf weiterginge, er aber nicht sonderlich daran interessiert wäre. Sein Blick war fest, und sein Gesicht wirkte ruhig. Seine Gedanken schienen weit weg. Plötzlich machte er mit dem Handschuh eine Geste zu seinen Betreuern, wandte sich wieder dem Ring zu, stürzte sich auf den verletzten Jungen und schlug ihn noch einmal voll ins Gesicht, so daß dieser seitlich wegkippte; und dann fing er an, mit erhobenen Armen in der Ringmitte umherzutanzen. Der Ringrichter fuchtelte mit den Armen, und die Italienerin, die instinktiv zurückwich, prallte gegen die Männer neben ihr und sagte »con permiso, con permiso«, und dann flog ein Klappstuhl durch die Luft und die Menge schrie auf und Polizei drängte zum Ring und Quinn wußte, er mußte raus aus der Arena. Eine Auseinandersetzung mit der Polizei konnte er nicht riskieren, und so schob er das Mädchen vor sich her durch die Menge, dorthin, wo er eine Tür vermutete; er mußte unbedingt zurück in die Nacht, bevor noch etwas Schlimmeres passierte und bevor er alles versaut hatte.
Im Bungalow wollte das Mädchen alles tun, gerade so, als sei es nicht seine, sondern ihre blöde Idee gewesen, zum Boxen zu gehen, und als wolle sie das wiedergutmachen. Wortlos zog sie sich im Wohnzimmer aus, nahm ein Mandrax, kniete sich neben die Couch und leckte ihm die Beine runter und die Brust und Arme wieder rauf, und dann blies sie ihm einen, so geschickt, daß er schnell kam. Sie trank Meskal aus einer Flasche, die sie in ihrer bolsa hatte, nahm eine von den Amphetaminpillen und ging dann, als sei sie hier zu Hause, vor ihm her ins Schlafzimmer. Sie machte Licht und setzte sich auf die Bettkante, und es sah aus, als wolle sie sich für irgend etwas entschuldigen. Ohne Kleider wirkte sie noch kleiner, ein Mädchen mit nach oben gerichteten Brüsten und dünnen Beinen. Ihr Haar schien im Licht dichter, und als er zu ihr ins Bett kam, legte sie sich auf ihn und fickte ihn, bis sie tief in ihrer Pille und im Meskal versank und den Boxring und alles hinter sich ließ, was sie dort gesehen hatte, auch das, wofür sie sich hatte entschuldigen wollen. Auf einen Boxkampf war sie einfach nicht gefaßt gewesen, aber er hielt sie für eine Frau, die aus allem das Beste machte, und dafür bewunderte er sie, auch wenn er die Lebensanschauung, die es ihm ermöglicht hätte, sie zu bedauern, schon lange verloren hatte. Als sie fertig war, stieg sie von ihm herunter und ging ins Bad; mit einem feuchten Tuch kam sie wieder und wischte ihm die Beine ab, und kurze Zeit später ließ sie im Licht den Kopf ins Kissen sinken und schlief ein.
Um zwei Uhr stand er auf, knipste das Licht aus und machte Liegestütze, bis ihm die Arme schmerzten, und ging dann hinaus auf die ummauerte Terrasse, von wo er die Stadt vor dem Hintergrund der schwarzen Sierra sehen und den Duft der Bougainvillea einatmen konnte. Im Krieg war das die Zeit, wo es gefährlich wurde. Die Schüsse holten dich aus dem Schlaf, und du konntest nur noch das Gesicht in den Dreck drücken und nach deiner kugelsicheren Weste und deinem Helm grapschen. Er wollte um zwei Uhr nicht mehr schlafen. Er wollte lieber hellwach sein und hören, was es zu hören gab. Der Bungalow stand auf einem langen, mit vielen Eukalyptusbäumen bewachsenen, schattigen Hügel, der sich mit buckelartigen Erhebungen bis zu den hohen Bergen im Norden der Stadt erstreckte. Es war die begehrte Stadtrandlage. Amerikaner wohnten hier gern zur Miete, weil die Bungalows billig und sauber waren und einen richtigen Rasen hatten und weil hier keine Kaution verlangt wurde. Aber die amerikanischen Mädchen im Nachbarhaus kannte er nicht, und nun, da Rae mit dem Geld kam und das Schlimmste geschafft war und Sonny freikam, würde es auch dabei bleiben. Nachdem er einen Monat lang gewartet hatte und durch Büros und Vorzimmer gezogen war und sieben Monate allein gelebt hatte, kam es ihm allmählich so vor, als verliere er irgendeine Art von Freiheit, als werde er vorsichtig, ohne dafür mehr Klarheit zu gewinnen. Bernhardt sagte, es sei die amerikanische Erfahrung im Ausland: Die Erwartungen würden nach und nach abgebaut, bis man die unmittelbare Welt wie ein Einheimischer sehen könne, nur eben ohne die Freiheit des Einheimischen. Eigentlich sollte es eine große Erleichterung sein, sagte Bernhardt, aber für Amerikaner sei es immer schwer. Nach Bernhardts Meinung ging es Amerikanern gut, solange sie Privilegien verteidigen konnten, auf die sonst niemand Wert legen würde. Bernhardt erging sich gerne in solchen Erklärungen. Es war ein für Anwälte typisches Laster.
Oaxaca funkelte wie ein Haufen Platinzechinen auf dunklem Samt. Die Dunkelheit ergoß sich nach Süden in das Tal Richtung Chiapas, so daß das Auge nicht wahrnehmen konnte, wo das Land aufhörte und der Himmel begann. Quinn vergewisserte sich jede Nacht seiner Orientierungspunkte: da waren das rote Licht des rotierenden Scheinwerfers auf dem Flughafentower, die blaue Corona-Cerveza-Reklame an der Bustamante, die Scheinwerfer, die während der ganzen Nacht die Kathedrale gegenüber dem zócalo beleuchteten, und der rote Pepsi-Schriftzug, der weit draußen in den Mixteken-Barrios auf der anderen Seite des Flusses schimmerte. Es stellte sich nie ein Gefühl der Vertrautheit ein. Anscheinend funktionierte die Stadt in der sichtbaren Ferne, doch die dazwischenliegende leere Luft wurde verführerisch und still und reglos. Der American Highway wand sich die Berge herab, teilte sich, legte sich wie eine Zange um die Stadt und vereinigte sich dann wieder, und die einzige erkennbare Bewegung dort war die der Scheinwerfer eines Fernlasters, der herunterschaltete, bevor er ins Tal und in die Ebene kam. Amerikaner waren schon seit Stunden nicht mehr auf der Straße. Die Lastwagen und die Dinas würden nämlich nur kurz aufblenden und einen dann von der Straße und über die Klippen schubsen.
Nach Quinns Überzeugung konnte sich jemand, der – so wie er – ganz in der Gegenwart lebte, zwar nicht von der Zukunft, wohl aber von der Vergangenheit lösen, und all die Ängste kamen dann mit größeren Kalibern. Deshalb fickte er gern verlogene Italienerinnen vom Portal, und deshalb hatte er Rae gehen lassen, als sie soweit war. Zuviel Zukunft, zuviel Angst. In der Gegenwart wußte er ganz genau, wie es jedesmal ablaufen würde: der Kontakt, dann das Alleinsein, dann das Auftauchen einer neuen Person, die die Lücke wieder füllte. Das war zu bewältigen, und man fühlte sich im Glück und hatte keine Angst, und wenn es mal nicht richtig lief, so wie diesmal, dann machte das nichts. Außer bei Rae. Rae hatte eine Lücke hinterlassen, mit der er nicht mehr ganz fertig wurde. Und er holte Sonny nur raus, um Rae zu bekommen, denn Rae schien für die Gegenwart von entscheidender Bedeutung, und er hatte es satt, mit sich allein zu sein. Mit Tüchtigkeit allein war es nicht getan.
In ihrem Brief hatte es geheißen: »Lieber Harry. Was, kein Telefon? Bist Du immer noch da oben und beschützt die Tiere in der Stille? Wenn ja, könntest Du noch einen zusätzlichen Schützling ertragen? (Das war ein Witz von mir, auch wenn Du mit Witzen nichts am Hut hast.) Ich entschuldige mich dafür, daß ich es Dir sage, aber Sonny steckt in Mexiko in Schwierigkeiten. Braucht Geld. Braucht Hilfe. Ich bin diejenige, die Schutz braucht. Könntest Du das in die Hand nehmen? Kannst Du’s tun, wirst Du’s tun? Ich glaube, es gibt immer noch eine Chance. Ruf mich auf Long Island an. In Liebe, Rae. (Du erinnerst Dich doch an mich?)«
In zwei Tagen hatte er den Trailer dichtgemacht.
Im Bungalow ging es der Italienerin schlecht. Die bösen Folgen des Meskal. In einem Meskaltraum warf sie sich herum und suchte mit den Armen Halt. Man hatte in solchen Träumen das Gefühl, als falle man durch Wasser, wo es keinen Boden gab, der einen aufhalten konnte. Sie rief: »Bitte, komm nicht zu mir ins Bett, tu das bitte nicht, bitte.« Er fragte sich, ob sie von ihm oder von dem Jungen mit dem herausgedrückten Auge träumte oder gar von einem noch schlimmeren Typ.
Er sah wieder einen Lastwagen den American Highway herunterkommen und ließ zu, daß sich seine Augen in der Dunkelheit weiteten. Wenn Rae wiederkam und sie zusammen rauskonnten, war er glücklich. Etwas anderes interessierte ihn jetzt nicht. Die Boxveranstaltung hatte ihm nicht das Gefühl gegeben, das Glück sei auf seiner Seite, aber sie hatte auch nichts kaputtgemacht, und damit ließ sich leben. Es hätte schlimmer kommen können. Unten in der Reforma hörte er Hunde bellen. Eine Hündin war läufig, und all die anderen Hunde hatten ihren Spaß daran.
Er ging wieder hinein. Die Italienerin saß im Dunkeln im Bett und rauchte eine Zigarette.
»Ich weiß nicht, warum ich mit dir hier raufgekommen bin«, sagte sie. Sie war wütend, und sie bereitete ihren Abgang vor. Er setzte sich auf den Stuhl und fragte sich, wie sie wohl den Berg hinunter in die Stadt kommen würde. »Wenn man viel unterwegs ist, lernt man allerhand Leute kennen«, sagte sie kalt. »Leute, mit denen man sich unter anderen Umständen gar nicht erst abgeben würde.« Sie blies den Rauch in die Luft und beobachtete ihn im Dunkeln. Offenbar bereute sie eine ganze Reihe von Dingen, und alle gleichzeitig. »Ich hab dir einen geblasen, ja? Und dabei weiß ich nicht mal, wie du heißt.«
»Harry Quinn«, sagte er. Er wollte sich einen komischen Namen ausdenken, aber etwas richtig Komisches fiel ihm nicht ein. Es spielte keine Rolle. Sie war nur ein Flittchen; das wußte sie, und deshalb war sie sauer. Er konnte es ihr nicht verübeln. Sie war nicht gerade erstklassig behandelt worden.
»Du könntest schließlich Polizist sein«, sagte sie. »Ich schmuggle Mandrax und Bambinos, verdammt noch mal, und du könntest mich auffliegen lassen, und wo wär ich dann?«
»Wahrscheinlich da, wo du jetzt auch bist, so wie du aussiehst«, sagte Quinn. Er wollte sie nicht ungerecht behandeln, aber er hatte auch keine Lust, die ganze Nacht Mitleidsarien zu singen. Er wußte, er hätte sie rauswerfen sollen, bevor sie einschlief.
»Das ist nun mal das Problem für Ausländer in einem fremden Land«, sagte sie.
»Was denn?« fragte er.
»Ein Bezugssystem. Es fehlt ein Bezugssystem, mit dessen Hilfe man sich in Gedanken das richtige Bild machen kann. Bis ich merken würde, daß du ein beschissener federale bist, wäre es längst zu spät. Aus meiner Sicht könntest du tatsächlich ein federale sein, und ich säße mit all den anderen Arschlöchern im prisión.« Sie drückte an der Wand hinter dem Bett die Zigarette aus. Er traute sich zu, die Sache zu einem besseren Ende zu bringen. Er wollte sich wieder schlafen legen, dachte aber, er habe möglicherweise zu lange gewartet. »Ich habe dir vertraut«, sagte sie und räusperte sich, um den Rauch aus dem Hals zu bekommen. »Du weißt ja, Vertrauen ist der wahre Kern der Liebe und der Kunst und der ganzen Scheiße. Und du hättest mich leicht reinlegen können. Was heißt das eigentlich an deinem Arm da, diese blöde Tätowierung?«
»Gute Führung«, sagte Quinn. »Es soll mir Ärger vom Leib halten. Aber es funktioniert nicht.«
»Also, für mich bist du ein Arschloch. Nur die dümmsten Arschlöcher lassen sich tätowieren. Du und deine Scheißmuskeln.«
»Du solltest sehen, daß du wieder den Berg runterkommst«, sagte er. »Ich steh auf und fahr dich.« Er dachte, er könnte ein, zwei Stunden hereinholen, wenn sie erst weg war.
»Vergiß es«, sagte sie und schlüpfte wieder unter die Decke.
Er verstand nicht, warum sich das Mädchen als Italienerin ausgab. Vielleicht machte sie das einfach glücklich. Vielleicht glaubte sie, irgendwo irgendwas versäumt zu haben. Sie war nur eine schlechte Idee, sonst nichts. Aber sie würde bald weg sein, und sie zahlte ihm nur den Boxkampf heim und die Tatsache, daß sie in einer Stadt ins Straucheln geriet, in der sie niemanden kannte. Irgend jemand mußte für diese Kränkung bezahlen. Ihm tat es nicht weh, und vielleicht gab es ihr ja Auftrieb. Es war so etwas wie ein Geschenk für sie.
Es gab so viele erbauliche Geschichten über das prisión in Oaxaca, wie es Körperteile gab, die einen interessierten konnten. Wenn man sie erzählte, hatten sie bald den Reiz schmutziger Limericks. Jede neue Geschichte war noch schlimmer als die eben erzählte, aber man hörte endlos lange zu, weil das Tempo stimmte. Da war die Geschichte von dem amerikanischen Jockey mit dem großen Schwengel, der jede Hure fickte, die die Straße von Animas Trujano heraufgestolpert kam, bis er es schließlich mit einem brennenden Schmerz zu tun bekam, der seine Hoden anschwellen und platzen ließ, noch ehe sich ein Arzt darum kümmern konnte. Dann war da die Geschichte, die Sonny ihm an seinem ersten Besuchstag erzählte, die Geschichte von dem Jungen aus Beloit, der Ohrenschmerzen gehabt hatte und innerhalb von zwei Stunden gestorben war, nachdem das Zeug in seinem Ohr, was immer es gewesen sein mochte, ins Gehirn gedrungen war. Leute nahmen sich mit Häkelnadeln das Leben. Die mayores in den »F«-Baracken köpften ihre Liebhaber und ließen sie tagelang in ihren Betten liegen. Doch Quinn interessierte vor allem die Geschichte von der Österreicherin, deren Mann einige Jahre sitzen mußte, weil er auf dem Flug mit einer DC-3 nach Cancun zehn bolivianische Aspirintabletten in seinem Besitz gehabt hatte. Der Mann, Besitzer eines Haushaltswarengeschäftes, war nicht gesund, und seine Frau kam mit dem Flugzeug aus Wien und besuchte ihn jeden Tag. Und jeden Tag wurde sie von den Aufseherinnen im Frauentrakt den intimsten Leibesvisitationen unterzogen. Und nach einer Weile, sagte Sonny, kam die Frau zweimal am Tag, morgens und während der Siesta, wenn die Aufseherinnen mehr Zeit hatten, und dann noch öfter, bis die Aufseherinnen schließlich keine Lust mehr hatten und sie nur noch gegen Bezahlung untersuchten. Andernfalls ließen sie sie direkt zu ihrem Mann durch. Und die Frau hatte das Interesse an ihm längst verloren. Es zeigte, fand er, wie sich Menschen den Umständen anpaßten, wenn die Umstände außer Kontrolle gerieten. Und es entsprach dem Geist, der in Mexiko herrschte. Mexiko war wie Vietnam oder L.A., nur noch enttäuschender – eine gewaltige, nichtssagende Fülle an Mist, wobei nicht Vielfalt, sondern Eintönigkeit der bestimmende Eindruck war. Und da man die Einzelheiten nicht bis zum nächsten Tag behalten konnte, wußte man auch nicht mehr, was man besser mied und worüber man die Kontrolle hatte. Der einzige Trost war letztlich, daß man an all dem kein echtes Interesse hatte, und Quinn hatte nicht vor, so lange zu bleiben, bis sich das ändern konnte.
Bernhardt steuerte den Wagen mit gespannter Aufmerksamkeit, als beunruhige ihn etwas. Sie fuhren in Bernhardts Mercedes auf dem American Highway in der Nähe des prisión, und sie fuhren zu schnell. Im Laufe des Vormittags war das opalartige Licht schmerzend grell geworden, und hinter ihnen hatte sich Oaxaca zusammengezogen und lag flach hingestreckt in der Ferne, eine glanzlose Platte aus jacarandas und palmeras und casitas mit rechteckigen Dächern und der blassen doppelten Kranzleiste der Kathedrale von Santo Domingo, verkleinert in der klaren, traumhaften mexikanischen Luft. Mexikanische Städte, fand Quinn, weckten aus der Ferne andere Illusionen als amerikanische Städte. Sie wirkten wie Traumoasen, wohingegen amerikanische Städte wie demontierte Alpträume wirkten, doch die Tatsachen verkehrten sich dann ins Gegenteil, denn wenn man hinkam, hatten amerikanische Städte Besseres zu bieten.
»Gestern abend wurde im Flughafen eine große Ladung Kokain beschlagnahmt«, sagte Bernhardt. Er wirkte betroffen, als sei die Nachricht eine Enttäuschung für ihn. »Da war eine Schießerei. Auf einen Mann, einen amerikanischen Soldaten, wird dreißigmal geschossen. Polizisten schießen sogar auf Polizisten in der Aufregung.« Bernhardt blickte geradeaus, die Hände fest auf dem Lenkrad.
Sie waren nun ein gutes Stück außerhalb der Stadt auf der breiten, ebenen Landstraße. Es war genau das, was er vermeiden wollte, die Nähe von Dingen, die außer Kontrolle waren. Das bedeutete Ärger. Man mußte mittendrin bleiben. Viele Zweiter-Klasse-Busse fuhren schaukelnd in die andere Richtung, alte flexibles mit dem derben rotweißen Anstrich von Schulbussen, von der ständigen Ruckelei klapprig und kaputt. Und Indianer gingen am staubigen Straßenrand entlang, unterwegs in die Stadt. Die Indianer hatten alle den gleichen beschwingten Gang, der sie ehrgeizig aussehen ließ. »In Mexiko«, sagte Bernhardt, »befolgt man Gesetze grundsätzlich am besten, indem man sie umgeht. Wenn Polizisten erschossen werden, dann werden Guerillas beschuldigt. Dann kommen die Leute, die das Gesetz vertreten, überallhin. Und wenn Guerillas beschuldigt werden, muß man noch mehr Guerillas aufspüren.« Er warf einen kurzen Blick auf die Indianer, an denen das Auto vorbeifuhr. »Viele Leute erfahren erst von der Polizei, daß sie Guerillas sind. Aber von dem Moment an verhalten sie sich auch wie Guerillas.« Bernhardt zuckte mit den Schultern.
»Das ist verdammt hart«, sagte Quinn.
»Vielleicht ist es für Sie jetzt nicht mehr wichtig«, sagte Bernhardt zuversichtlich. »Ihre Frau kommt heute nachmittag?«
»So ist es geplant«, sagte Quinn.
»Und sie hat alles dabei?«
Bernhardt meinte das Geld. »Sie hat es dabei.«
»Dann läuft’s reibungslos«, sagte Bernhardt.
»Das will ich hoffen«, sagte Quinn. »Keine großen Auftritte.«
Nachdem sich Rae abgesetzt hatte, war er zum Wintercamping aufgebrochen, wie sie das immer nannten. Eine Verrücktheit, die aus Finnland stammte. Am fünfzehnten Januar war er mit dem Scout zu einer Stelle nördlich von Antrim gefahren, hatte für sein Zelt eine Plattform aus Lindenholz gebaut und fortan seine Aufmerksamkeit den Ojibwas zugewandt. Mit seiner geladenen .336er auf dem Schoß fuhr er über Knüppeldämme und durch bewaldete Sumpfgebiete, bis er ihre Autos entdeckte, mit schweren Ziegelsteinen im Kofferraum, mit toten Ästen über der Motorhaube gut getarnt, die Scheinwerfer geschwärzt, alte verrostete Kleinlaster der Marken Nash und Studebaker. Um Mitternacht fuhr er dann ohne Licht raus, blockierte die Straße mit dem Scout und folgte dann auf Schneeschuhen ihrem schmalen Weg nach oben, bis er Stimmen hörte. Dann ging er im Bogen um sie herum, so daß er sie auf der anderen Seite, wo sie niemanden erwarteten, aus dem dichten Wald heraus überraschen konnte. Er hatte gelernt, sich vollkommen geräuschlos zu bewegen, und so erwischte er sie voll im Scheinwerferlicht, wie sie eine Hirschkuh zerlegten, Dope rauchten und die abgesägten Teile in schwarzen Müllsäcken verstauten, um sie mit dem Schlitten zu den Autos zu transportieren. Die Ojibwas nannten das Highspeed-Fleisch, und der Trick dabei war, eine Salzlecke so in einer Baumgabel zu befestigen, daß das Wild am Ende den Hals lang machen mußte, um an den Rest der Salzkruste heranzukommen, und wenn es dann den Kopf zurückziehen wollte, wurde es von den Lärchenpflöcken, die einen zum Salz hin enger werdenden Trichter bildeten, im Genick festgehalten, bis die Ojibwas nachts mit ihren Kettensägen und Äxten angefahren kamen. Manchmal erfroren die Tiere, und bei ihrem wilden Bocken riß manchmal die große Schlagader am Hals. Doch meistens standen sie still da und atmeten so lange, bis sich die Männer mit ihren Taschenlampen, Sägen und Müllsäcken leise anschlichen, um ihnen die Kehle durchzuschneiden und sie verbluten zu lassen; die Männer setzten sich dann hin und drehten einen Joint und warteten, bis das Tier ganz ausgeblutet war. In den ersten vier Wochen erwischte er zwanzig Indianer, und so langsam sprach es sich herum. Er legte ihnen immer Handschellen an, ging mit ihnen hinaus zur Straße, verfrachtete sie hinten in den Scout und brachte dann das tote Wild zur Bezirksbehörde, die es unter Verschluß nahm, und die Ojibwas zum Vollzugsbeamten in Traverse City, der ihnen zur Strafe einen Hunderter abnahm, ehe er sie wieder freiließ. Er erwischte immer wieder dieselben Männer, und langsam war es schon ein Witz. Aber er hatte Zeit, und er konnte im Zelt keine zwei Stunden am Stück schlafen, und die Ojibwas machten ihm nie Ärger, und es gab bis zum Frühjahr nichts anderes zu tun.
Sie waren nun im Hochgebirge, in einer Kordillerenlandschaft mit tiefen Falten und Klüften bis hinunter in ein langgestrecktes Trockental aus brauner Erde, die weiter unten in ein kreidiges Grün überging und sich zu den höheren Gipfeln hin wie Sandpapier kräuselte. Gelegentlich konnte man zwar einen roten Turm ausmachen, der aus den Palmenwäldchen in den winzigen fernen Pueblos aufragte, aber das Land selbst war von Erosion und Verwerfungen gezeichnet. Die Landschaft war nicht von der Art, wie er sie mochte. Es war keine vielschichtige Landschaft. Das Licht war zu hell und unveränderlich. In den Staaten hätten diese Berge einen Namen, aber hier drückte sich das Gefühl der Dauerhaftigkeit anders aus, in einer Anonymität nämlich, die einem bewußtmachte, daß man nur einen halben Berg sah und nicht sagen konnte, ob er auf der anderen Seite nicht vielleicht orangerot angestrichen war.
Die Leute auf der Straße waren alle Zapoteken, die gebündelte Wollsachen und Wassergefäße zum mercado trugen. Hier und da tanzten Kinder am Straßenrand; sie hatten Schnüre in der Hand, an denen Leguane baumelten. Die Leguane ruderten träge in der Luft, während die Kinder sie gegen die Autos schwenkten, doch Quinn hörte nur Rufe, die schwächer wurden und sich wie good-bye, good-bye anhörten.
»Wenn er kein Geständnis unterschrieben hätte«, sagte Bernhardt, »wäre es jetzt leichter.« Er räusperte sich. »Wenn er tapferer gewesen wäre.«
»Dann wäre er nicht unser Mann«, sagte Quinn. Irgend etwas an Sonnys Namen war Bernhardt unangenehm. Er sprach ihn nie aus. »Was macht man eigentlich mit so einem beschissenen Leguan?« Er blickte zurück und sah die Kinder langsam von der Straße weg auf ein ausgebombtes Adobehaus zugehen, bei dem das Dach fehlte. Es war nie nachzuprüfen, ob die meisten mexikanischen Häuser erst halb fertig oder schon halb abgerissen waren.
»Man läßt ihn laufen«, sagte Bernhardt mit Autorität in der Stimme. Er wartete einen Moment, ehe er mit einem kumpelhaften Lächeln fortfuhr. »Manchmal kaufe ich einen, und dann lasse ich ihn auf der carretera laufen. Was soll ich denn sonst damit anfangen?«
Quinn wandte sich wieder der Straße zu. »Ihn den Kindern lassen«, sagte er. »Einfach zahlen und weiterfahren.«
»Die wollen keine Leguane.« Bernhardt schüttelte den Kopf. »Leguane sind eine Plage. Warum sollten Kinder sie mehr mögen als unsereiner?«
Bernhardt war der mexikanische Anwalt, den er dafür bezahlt hatte, daß er Raes Bruder aus dem prisión holte. Bernhardt war ihm vom Konsulat vermittelt worden, man hatte ihm gesagt, Bernhardt habe schon amerikanische Drogensüchtige herausgeholt, er sei seriös, allerdings auch nicht billig. Bernhardt mochte Amerikaner und lächelte viel und schien gute Verbindungen zur administración de justicia zu haben. Er war das Beste, was zu bekommen war. Er erinnerte Quinn an die Leute vom Nachrichtendienst, die er im Krieg gesehen hatte: teure Anzüge, eine beginnende Glatze und eine positive Selbstdisziplin, die bewirkte, daß man ihm vertrauen wollte. Zumindest, sagte er sich, würde sich Bernhardt nicht aus purer Langeweile hineinziehen lassen, wenn es keine Chance gab, Sonny freizukaufen.
alcaide