Hanser E-Book
Die weiße Festung
Roman
Aus dem Türkischen
von Ingrid Iren
Carl Hanser Verlag
Die türkische Originalausgabe erschien 1985
unter dem Titel Beyaz kale bei Can Yayınları in Istanbul.
Die Übersetzung wurde vom Kulturkreis
im Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.,
Köln, angeregt und gefördert.
Dieses Buch erschien erstmals 1990 im Insel Verlag
und wurde für die vorliegende Ausgabe durchgesehen.
ISBN: 978-3-446-25235-6
© İletiş im Yayıncilık A.Ş.
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 2005/2016
Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München unter Verwendung einer französischen Buchmalerei, um 1400, © AKG, Berlin
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Für Nilgün Darvinoğlu
(1961–1980)
ein guter Mensch,
eine gute Schwester
Sich vorzustellen, daß eine Person, die uns interessiert, Zugang hat zu einer unbekannten Lebensweise, die ihres Mysteriums wegen für uns um so attraktiver ist; zu glauben, daß wir zu leben beginnen werden nur durch die Liebe dieser Person – was anderes ist dies als die Geburt einer großen Leidenschaft?!
Marcel Proust nach einer
Fehlinterpretation von
Y. K. Karaosmanoğlu
Dieses Manuskript fiel mir 1982 in die Hände. Ich fand es tief am Boden einer mit Verordnungen, Grundbucheinträgen, Gerichtsakten und amtlichen Registern vollgestopften staubigen Truhe, als ich, wie jeden Sommer, für zwei Wochen in dem verrotteten »Archiv« des Landratsamtes Gebze herumstöberte. Da das Manuskript einen traumhaften, blauen ebruverzierten Einband hatte, gut leserlich geschrieben war und zwischen den verschossenen Amtspapieren hervorleuchtete, erregte es sofort meine Aufmerksamkeit. Eine vermutlich fremde Hand hatte, wie um meine Neugier zu steigern, auf die erste Seite einen Titel gesetzt: »Steppdeckenmachers Stiefkind«. Weitere Überschriften gab es nicht. Ich las das Buch sofort mit großem Vergnügen. Auf freie Stellen der Seiten hatte eine Kinderhand Männchen mit winzigen Köpfen in dichtgeknöpften Kleidern gemalt. Das Manuskript gefiel mir sehr, doch da ich zu faul war, es zu kopieren, mißbrauchte ich das Vertrauen des Amtsdieners, der mich aus Respekt unbeaufsichtigt ließ, und stahl es aus diesem Abfallhaufen, den nicht einmal der junge Landrat noch als »Archiv« bezeichnen konnte, indem ich es kurzerhand in meine Tasche stopfte.
Zuerst wußte ich mit dem Buch nicht viel mehr anzufangen, als es wieder und wieder zu lesen. Da Geschichte für mich noch etwas Zweifelhaftes war, interessierte ich mich weniger für den wissenschaftlichen, kulturellen, anthropologischen, ja, schlechthin »historischen« Wert des Manuskripts als vielmehr für die Erzählung an sich. Und das führte mich natürlich zu dem Verfasser der Erzählung. Da wir, meine Freunde und ich, die Universität hatten verlassen müssen, war ich auf den Beruf meines Großvaters, eines Enzyklopädikers, verfallen. Damals kam mir der Gedanke, einen Paragraphen über den Verfasser des Buches in der »Enzyklopädie bekannter Persönlichkeiten« unterzubringen, für deren historischen Teil ich verantwortlich war.
So habe ich dann jene freien Stunden, die die enzyklopädische Tätigkeit und der Alkohol mir ließen, dieser Arbeit gewidmet. Aus den einschlägigen Quellen der Periode ersah ich sofort, daß manche der in der Erzählung geschilderten Ereignisse wohl kaum der Wahrheit entsprechen konnten. So war in den fünf Jahren Amtszeit Köprülüs als Großwesir in Istanbul zwar ein großer Brand ausgebrochen, doch für eine größere Seuche, besonders wie die im Buch beschriebene, lagen keinerlei Anhaltspunkte vor. Die Namen einiger Wesire dieser Periode waren falsch geschrieben, manche miteinander verwechselt, andere sogar ganz geändert worden. Was die Namen der Sterndeuter betraf, so stimmten sie nicht mit denen in der Serail-Registratur überein, doch mit Rücksicht auf die Bedeutung, die gerade diesem Punkt innerhalb des Buches zukam, ging ich darüber hinweg. Andererseits wurden die geschilderten Ereignisse im allgemeinen durch unser »historisches Wissen« bestätigt. Sogar im kleinsten Detail erkannte ich manchmal diese »Richtigkeit«, denn die Hinrichtung des Sterndeuters Hüseyin Efendi oder auch die Hasenjagd Mehmets IV. in der Umgebung des Mirahor-Schlößchens z.B. sind bei Naima in ähnlicher Weise beschrieben. Ich erwog auch die Möglichkeit, daß der Autor, dem Lesen und Wunschträumen offensichtlich besonders gelegen hatten, für seine Geschichte diese Art von Quellen sowie etliche andere Bücher herangezogen und ihnen so manches entnommen haben könnte. Vielleicht hatte er nur die Schriften von Evliya Çelebi, den er zu kennen vorgab, gelesen. Dann aber meinte ich wieder, an anderen Beispielen zu sehen, das Gegenteil könnte zutreffen, und versuchte mich an die Hoffnung zu klammern, daß ich die Spur des Verfassers meiner Geschichte doch noch finden würde, aber meine Nachforschungen in den Istanbuler Bibliotheken enttäuschten diese Erwartungen. Ich entdeckte keine einzige Abhandlung und kein einziges Buch, die zwischen 1652 und 1680 erschienen und Mehmet IV. gewidmet waren, weder unter den Beständen des Topkapi-Serails noch in irgendeiner der anderen Bibliotheken, auf die sie meiner Ansicht nach hätten verstreut sein können. Lediglich auf einen Hinweis stieß ich: Andere Werke des in der Erzählung erwähnten »linkshändigen Kalligraphen« befanden sich in diesen Bibliotheken. Eine Zeitlang ging ich der Sache nach, doch schließlich wurde mir das alles zuviel. Die Antworten der von mir mit Briefen überhäuften italienischen Universitäten waren entmutigend. Meine Nachforschungen auf den Friedhöfen von Gebze, Cennethisar und Üsküdar nach dem Namen des Autors, der aus dem Buch selbst hervorging, ihm aber nicht vorangestellt war, blieben ebenfalls ohne Erfolg. So gab ich die Spurensuche auf und schrieb den Paragraphen für die Enzyklopädie aufgrund der Geschichte selbst. Wie ich befürchtet hatte, wurde er nicht gedruckt, doch nicht etwa wegen des fehlenden wissenschaftlichen Nachweises, sondern weil die beschriebene Person zu unbekannt war.
Vielleicht wurde dadurch meine heftige Liebe zu dem Buch gesteigert. Einmal dachte ich sogar daran zu kündigen, doch ich hing an meiner Tätigkeit und an meinen Freunden. So kam es, daß ich meine Geschichte eine Zeitlang jedem, der mir begegnete, voll Begeisterung erzählte, als hätte ich sie nicht gefunden, sondern erfunden. Um das Interesse zu mehren, sprach ich von ihrem symbolischen Wert, sagte, sie berühre im Grunde genommen unsere heutige Wirklichkeit, ich hätte unsere Gegenwart erst durch diese Geschichte verstanden und dergleichen mehr. Die jungen Leute, die sich eigentlich eher für Themen wie Politik, Gewalt, Orient und Westen und Demokratie interessierten, wurden zwar aufmerksam, doch, wie meine Trinkgenossen, hatten auch sie nach kurzer Zeit die Geschichte wieder vergessen. Ein befreundeter Professor, der auf mein Drängen hin das Manuskript durchgesehen hatte, meinte bei der Rückgabe, in den Holzhäusern der Gassen von Istanbul gebe es Zehntausende von Handschriften, die vollgepackt seien mit Geschichten dieser Art. Falls die Bewohner sie nicht im Glauben, es sei der Koran, hoch oben auf einen Schrank geschoben hätten, würden sie Seite um Seite herausreißen und den Ofen damit heizen.
So beschloß ich, ermutigt auch von einem bebrillten Mädchen mit ewig brennender Zigarette in der Hand, diese Erzählung, die ich immer und immer wieder gelesen hatte, zu veröffentlichen. Um einen besonderen Stil habe ich mich beim Übertragen des Buches nicht bemüht, wie der Leser sehen wird. Wenn ich ein, zwei Sätze des vor mir auf einem Tisch aufgeschlagenen Manuskripts gelesen hatte, ging ich in ein anderes Zimmer, wo ich an einem anderen Tisch in heutigen Worten sinngemäß zu Papier zu bringen versuchte, was mir im Gedächtnis haftengeblieben war. Der Titel des Buches stammt nicht von mir, sondern wurde von dem Verlag bestimmt, der sich zur Veröffentlichung bereit erklärte. Vielleicht wird sich, wer die voranstehende Widmung liest, fragen, ob sie von besonderer Bedeutung ist oder nicht. Nun, alle Dinge in wechselseitiger Beziehung miteinander zu sehen ist wohl die Krankheit unserer Tage. Da auch ich von dieser Krankheit befallen bin, veröffentliche ich diese Geschichte.
Faruk Darvinoğlu
Von Venedig nach Neapel ging unsere Fahrt, als wir von türkischen Schiffen aufgebracht wurden. Wir hatten nur drei Schiffe, bei ihren aus dem Nebel auftauchenden Galeeren aber war kein Ende abzusehen. Sogleich herrschten Furcht und Verwirrung an Bord, unsere Ruderer, Türken und Maghrebiner zumeist, stießen Freudenschreie aus, unser Gleichmut versagte. Wie die anderen beiden, so wandte auch unser Schiff den Bug landwärts nach Westen, doch beschleunigten wir nicht, wie sie, unsere Fahrt. Unser Kapitän fürchtete die Bestrafung, sollte er sich ergeben müssen, und so zögerte er, die Rudersklaven mit der Peitsche antreiben zu lassen. Viele Male dachte ich später daran, daß die Feigheit unseres Kapitäns mein ganzes Leben verändert hatte.
Heute aber meine ich, in Wirklichkeit hätte sich mein Leben wohl damals verändert, wenn unser Kapitän nicht von dieser kurzwährenden Feigheit befallen worden wäre. Die meisten Menschen wissen, daß nichts im Leben vorherbestimmt ist, daß in der Tat alle Begebenheiten nichts weiter sind als eine Kette von Zufällen. Dennoch beurteilen auch die Wissenden jene wie zufällig erlebten Dinge als notwendige Fügung, wenn sie Rückschau halten in einer Phase ihres Lebens. Auch für mich trifft das zu: Jetzt, während ich versuche, hier an einem alten Tisch mein Buch zu schreiben und mir die Farben der im Nebel so gespenstisch auftauchenden türkischen Schiffe vorzustellen, jetzt, denke ich, ist die rechte Zeit gekommen, um meine Geschichte von Anfang bis Ende aufzuzeichnen.
Als unser Kapitän erkannte, daß unsere beiden anderen Schiffe zwischen denen der Türken hindurch entkommen und im Nebel verschwunden waren, schöpfte er Hoffnung und brachte endlich, auch von uns dazu gezwungen, den Mut auf, die Galeerensklaven schärfer antreiben zu lassen, doch es war zu spät, zumal die Peitschenhiebe bei den von heftigem Freiheitsdurst erregten Sklaven nichts mehr auszurichten vermochten. Buntschillernd durchstießen plötzlich mehr als zehn türkische Galeeren die unheimliche Nebelwand und kamen auf uns zu. Jetzt entschloß sich unser Kapitän zum Gefecht, nicht, um den Feind, sondern die eigene Furcht und Schande zu besiegen, nehme ich an. Erbarmungslos ließ er die Sklaven peitschen und befahl, die Geschütze zu laden, doch die spät erwachte Kampfeslust erlosch sehr schnell. Uns traf eine heftige Breitseite, und hätten wir uns nicht sofort ergeben, wäre unser Schiff versenkt worden, weshalb wir beschlossen, die weiße Fahne zu hissen.
Während wir draußen auf ruhiger See das Kommen der türkischen Schiffe erwarteten, stieg ich in meine Kabine hinab und ordnete meine Sachen, als kämen einige Freunde zu Gast und nicht der Feind, der mein ganzes Dasein verändern sollte. Ich öffnete die kleine Truhe und kramte gedankenverloren zwischen meinen Büchern herum. Als ich einen Band aufschlug, den ich für recht viel Geld in Florenz erstanden hatte, wurden mir die Augen feucht. Von draußen hörte man hastige Schritte und Lärm, ich wußte, sehr bald würde ich mich von diesem Buch trennen müssen, doch daran wollte ich nicht denken, sondern vielmehr an das, was auf den Seiten stand. Als befände sich unter den Gedanken, Sätzen, Gleichungen des Buches meine ganze Vergangenheit, die ich nicht aufgeben wollte, als wollte ich, die mir ins Auge springenden Zeilen im Lesen wie ein Gebet vor mich hin murmelnd, das ganze Buch in mein Gedächtnis eingraben, damit ich, wenn sie kamen, nicht sie und das, was sie mir antun würden, in Erinnerung behielte, sondern die liebevoll auswendig gelernten, mir so teuren Worte dieses Buches, als wären sie die bunten Töne meiner Vergangenheit.
Zu jener Zeit war ich ein anderer Mensch, den seine Mutter, seine Verlobte und seine Freunde mit anderem Namen riefen. Hin und wieder sehe ich jene Person, die ich einst war oder jetzt meine, gewesen zu sein, noch in meinen Träumen und wache schweißgebadet auf. Dieser Mensch, der sich heute an die traumhaften Farben von Ländern erinnert, die es nie gegeben hat, an Fabeltiere oder an unglaubliche Waffen, die wir jahrelang ersonnen hatten, dieser Mensch war damals dreiundzwanzig Jahre alt. Er hatte in Florenz und Venedig Wissenschaft und Kunst studiert und glaubte, etwas von Astronomie, Mathematik, Physik und Malerei zu verstehen; er war natürlich sehr von sich eingenommen, meinte, fast alles, was vor seiner Zeit gemacht worden war, bis ins kleinste zu begreifen, und fand das alles nicht so bedeutend, denn er war zweifellos imstande, es viel besser zu machen, er war einmalig, wußte, daß er klüger und erfindungsreicher war als jeder andere, kurz, er war ein ganz gewöhnlicher junger Mann. Jedesmal, wenn ich Vergangenes mit meinem Selbst in Einklang bringen muß, widerstrebt es mir zu glauben, daß ich dieser junge Mensch gewesen sein soll, der mit seiner Geliebten über seine Leidenschaften, seine Pläne, die Welt und das Wissen sprach und es nur recht fand, von ihr angebetet zu werden. Doch es tröstet mich, daß einige der Leute, die eines Tages meinen Aufzeichnungen geduldig bis zum Ende folgen, verstehen werden, daß ich jener junge Mann nicht gewesen bin. Vielleicht auch werden diese geduldigen Leser –gleich mir jetzt – meinen, daß jener junge Mensch seine Geschichte dort, wo sie unterbrochen wurde, als er seine geliebten Bücher durchblätterte, eines Tages wiederaufnahm.
Als die Enterer an Bord kamen, legte ich meine Bücher in die Truhe zurück und trat hinaus. Chaos herrschte auf dem Schiff. Man hatte alle an Deck geholt und riß ihnen jedes Stück vom Leibe. Mir kam der Gedanke, den Wirrwarr zu nutzen und ins Meer zu springen, dann aber dachte ich an die Pfeile, die sie mir nachsenden würden, um mich wieder einzufangen und sogleich zu töten, zumal ich nicht wußte, wie nahe wir der Küste waren. Mich ließ man zunächst in Ruhe. Die von ihren Ketten befreiten moslemischen Sklaven schrien vor Freude, manche von ihnen waren jetzt schon dabei, Rache zu nehmen an ihren peitscheschwingenden Antreibern. Wenig später dann fanden sie mich in meiner Kabine, drangen ein und plünderten meine Sachen. Sie durchwühlten meine Truhe nach Gold, nahmen einige meiner Bücher und alles übrige, als einer kam, der diesen und jenen der mir verbliebenen Bände nachdenklich durchblätterte, mich dann ergriff und zu einem der Kommandanten brachte.
Dieser Kapitän, ein genuesischer Renegat, wie ich später erfuhr, behandelte mich gut. Auf was ich mich verstünde, fragte er. Um nicht auf die Ruderbank zu kommen, erwähnte ich meine astronomischen Kenntnisse, sagte, ich könne des Nachts die Richtung weisen, doch niemand war beeindruckt davon. Im Vertrauen auf das mir verbliebene Anatomiebuch behauptete ich daraufhin, Arzt zu sein. Ein Chirurg aber sei ich nicht, mußte ich einschränken, als sie mir gleich darauf jemanden brachten, der den Arm verloren hatte. Das machte sie zornig, und sie waren drauf und dran, mich in Ketten zu legen, als der Kapitän nach einem Blick auf meine Bücher fragte, ob ich etwas vom Harn und vom Puls verstünde, und ich antwortete ja, womit ich vor der Ruderbank bewahrt blieb und auch einige meiner Bücher retten konnte.
Doch dieses Absondern kam mich auch teuer zu stehen. Die übrigen zum Rudern verurteilten Christen ließen mich ihren Haß sogleich spüren. Wär’s ihnen möglich gewesen, sie hätten mich umgebracht dort im Lagerraum, in den wir nachts zusammen eingesperrt wurden, doch weil ich gleich mit den Türken ins Gespräch gekommen war, fürchteten sie mich auch wieder. Unser kleinmütiger Kapitän war gepfählt worden, den peitscheschwingenden Antreibern aber hatte man Nase und Ohren abgehackt und sie als warnendes Beispiel auf einem Floß ausgesetzt. Nachdem ich, weniger meine anatomischen Kenntnisse als vielmehr meinen Verstand gebrauchend, einige Türken behandelt hatte und sich ihre Wunden von selber schlossen, glaubte jeder an meine ärztliche Kunst. Selbst einige meiner eifersüchtigen Feinde, die den Türken einreden wollten, daß ich kein Heilkundiger sei, kamen nachts im Laderaum mit ihren Verletzungen zu mir.
Wir kamen mit großem Gepränge in Istanbul an. Der Padischah, ein Kind noch, schaue uns zu, so hieß es. Banner wurden hoch an allen Masten gehißt, darunter befanden sich unsere Fahnen, Marienbilder und Kreuze, das oberste zuunterst aufgehängt, und man ließ das gemeine Gesindel mit Pfeilen darauf schießen – da begannen auf einmal die Kanonen zu donnern. Sehr lange dauerte diese Festlichkeit, wie ich sie später noch oft voller Trauer, Überdruß und Freude vom Lande aus mit ansehen sollte, und die Sonnenhitze ließ so manchen in Ohnmacht sinken. Gegen Abend warfen wir Anker vor Kasimpascha. Man fesselte uns mit Ketten, da wir dem Herrscher vorgeführt werden sollten, unseren Soldaten aber wurden, damit sie recht lächerlich wirkten, die Panzer verkehrt herum angelegt, Kapitänen und Offizieren legte man Eisenringe um den Hals, und während voll spöttischer Lust unsere auf dem Schiff gefundenen Hörner geblasen und die Trommeln geschlagen wurden, brachte man uns in übermütiger Laune zum Serail. Das Volk am Straßenrand betrachtete uns neugierig und heiter. Der Sultan wählte sich, ohne daß wir ihn sahen, den ihm zustehenden Anteil an Sklaven aus, dann brachte man uns hinüber nach Galata und warf uns in die Verliese des Sadik Pascha.
Ein entsetzlicher Ort war dieser Kerker, in den winzigen, feuchten und finsteren Zellen verkamen Hunderte von Gefangenen im Dreck. Dort fand ich Menschen in Hülle und Fülle, um meine neue Profession auszuüben, konnte auch manchem zur Heilung verhelfen. Den Wärtern verschrieb ich Arzneien für ihre Schmerzen im Rücken und an den Beinen. Daher sonderten sie mich wieder ab von den übrigen und gaben mir eine ordentliche Zelle, in die das Sonnenlicht fiel. Die Lage der anderen bedenkend, versuchte ich, dankbar zu sein für die meine, als sie mich eines frühen Morgens wie die übrigen weckten und sagten, ich würde jetzt zur Arbeit gebracht. Mein Einwand, ich sei doch Arzt, verstünde mich aufs Heilen, auf die Wissenschaft, brachte sie nur zum Lachen: Die Mauern um des Paschas Garten würden erhöht, dazu brauche man Leute. So wurden wir morgens vor Sonnenaufgang in Ketten gefesselt aus der Stadt geführt. Wenn wir des Abends nach einem ganzen Tag voll Steineschlepperei wieder aneinandergefesselt zu unserem Kerker zurückgebracht wurden, kam mir stets der Gedanke, wie schön die Stadt Istanbul sei, doch man sollte hier Herr und nicht Sklave sein.
Gleichwohl war ich kein gewöhnlicher Sklave. Ich betreute nicht nur die in den Verliesen dahinsiechenden Gefangenen, sondern auch andere Patienten, die von meinem Ruf als Heilkundiger gehört hatten. Einen großen Teil des Geldes, das ich für die Behandlungen einnahm, mußte ich an die Sklavenaufseher und Wächter abgeben, die mich heimlich aus dem Gefängnis schafften. Mit dem Geld, das ich vor ihnen retten konnte, bezahlte ich Lektionen im Türkischen. Mein Lehrer war ein gutherziger alter Mann, der für den Pascha kleine Geschäfte erledigte. Er freute sich über meine raschen Fortschritte und glaubte, ich würde bald ein Moslem werden. Das Honorar für den Unterricht nahm er jedesmal recht verlegen an. Ich gab ihm außerdem Geld, damit er mir Nahrungsmittel brachte, denn ich hatte mir vorgenommen, auf meine Gesundheit zu achten.
An einem nebligen Abend kam der Vorsteher in meine Zelle: Der Pascha wolle mich sehen. Ich staunte, geriet in helle Aufregung, machte mich sogleich zum Gehen fertig. Vielleicht, dachte ich, ist es jemand aus meiner Heimat gelungen, ein Lösegeld zu schicken, womöglich meinem Vater oder meinem zukünftigen Schwiegervater. Während wir durch das Gewirr der engen Gassen liefen, glaubte ich, wir würden auf einmal vor unserem Haus ankommen, und ich würde, wie aus einem Traum erwachend, den Meinigen gegenüberstehen. Dann wieder dachte ich, sie hätten einen Vermittler gefunden und hergeschickt, und man werde mich jetzt zu einem Schiff bringen und in mein Vaterland zurückschicken, doch als wir des Paschas Residenz betraten, begriff ich, so leicht gäbe es kein Entkommen. Die Leute dort bewegten sich auf Zehenspitzen.
Man brachte mich zunächst in eine Vorhalle, und nach einigem Warten wurde ich in ein Gemach geführt. Ein liebenswürdig aussehender, kleiner Mann lag ausgestreckt unter einer wollenen Decke auf einer Polsterbank. Bei ihm war ein großer, kräftiger Mensch. Der Ruhende – er war der Pascha – rief mich zu sich heran. Wir sprachen miteinander über dies und das. Eigentlich hätte ich Astronomie, Mathematik und ein wenig auch Ingenieurwesen studiert, sagte ich, doch verstünde ich mich auch auf die Medizin und hätte schon so manchen geheilt. Er fragte weiter, und ich hätte noch mehr erzählt, als er einwarf, ich müsse wohl ein kluger Mensch sein, da ich das Türkische so schnell gelernt hätte. Er habe ein Leiden, keinem der anderen Ärzte sei es gelungen, Abhilfe zu schaffen, und da er von mir gehört habe, wolle er es mit mir versuchen.
Der Pascha begann, sein Leiden auf eine solche Weise zu schildern, daß ich denken mußte, nur ihn allein auf dem ganzen Erdenrund habe eine ganz besondere Krankheit befallen, weil es seinen Feinden gelungen war, ihn vor Allah zu verleumden. Dabei war, was ihm zusetzte, nichts weiter als das uns gut bekannte Asthma. Ich erkundigte mich genau, horchte ihn ab und stieg dann hinunter in die Küche, wo ich mit dem, was ich vorfand, und Pfefferminze grüne Pillen anfertigte, außerdem bereitete ich noch einen Hustensirup zu. Da der Pascha sich vor dem Vergiftetwerden fürchtete, trank ich vor seinen Augen einen Schluck von dem Sirup und schluckte auch eine der Pillen. Ich solle, so trug er mir auf, sehr vorsichtig und ohne daß ein Auge mich erblickte, die Residenz verlassen und in den Kerker zurückkehren. Wie ich dann von dem Vorsteher erfuhr, wollte der Pascha vermeiden, daß die anderen Ärzte eifersüchtig würden. Auch am nächsten Tag besuchte ich ihn, horchte ihn wieder ab und gab ihm die gleiche Medizin. Er freute sich wie ein Kind über die bunten Pillen, die ich ihm in die Hand drückte. Nach der Rückkehr in meine Zelle betete ich um seine Genesung. Der Nordwind wehte am nächsten Tag, eine kühle, leichte Brise. Bei solchem Wetter muß es wohl jedem von alleine bessergehen, dachte ich, und niemand fragte nach mir.
Als ich nach einem Monat wieder um Mitternacht gerufen wurde, war der Pascha auf, munter und beweglich. Mit Freude hörte ich ihm zu, wie er, ohne Atemnot, lauthals irgend jemanden ausschalt. Er war zufrieden, als er mich erblickte, und sagte, ich hätte seine Krankheit geheilt und sei ein guter Arzt. Was ich mir von ihm wünschte? Ich wußte, daß er mich nicht sofort freilassen und nach Hause schicken würde, so beklagte ich mich über meine Zelle und meine Fesseln, betonte, ich könnte doch in der Medizin, der Astronomie, also in den Wissenschaften tätig und damit von Nutzen sein, und wies darauf hin, daß man mich für nichts und wieder nichts mit schweren Arbeiten ermüde. Wieviel er von alldem verstand, weiß ich nicht. Den größten Teil des Geldes aber, das er mir in einem Beutel überließ, nahmen mir die Wächter wieder ab.
Eine Woche darauf kam eines Nachts der Vorsteher und löste meine Ketten, nachdem ich hatte schwören müssen, nicht zu entfliehen. Wieder wurde ich zur Arbeit geholt, doch nunmehr begünstigten mich die Aufseher. Als mir der Vorsteher drei Tage später neue Kleider brachte, begriff ich, daß der Pascha mich in seine Obhut genommen hatte.
Und nach wie vor rief man mich nachts in die Residenz. Alten, vom Rheumatismus geplagten Korsaren, jungen Soldaten mit Magenbrennen gab ich Heilmittel, denen mit Hautjucken, Bleichsucht oder Kopfweh zapfte ich Blut ab. Als der stotternde Sohn eines Dieners eine Woche nach dem Einnehmen meiner Arznei flüssig zu sprechen begann, sagte er mir ein Gedicht auf.
So verging der Winter. Zu Beginn des Frühjahrs erfuhr ich, daß der Pascha, der mich seit Monaten nicht mehr hatte rufen lassen, mit seiner Flotte ins Mittelmeer abgesegelt war. Einige Leute, die im Laufe der heißen Sommerzeit Zeuge meiner Hoffnungslosigkeit und meines Zornes wurden, erklärten mir rundheraus, ich hätte gute Einnahmen als Heilkundiger und damit kein Recht, mich über mein Schicksal zu beschweren. Und ein ehemaliger, vor vielen Jahren zum Islam konvertierter und hier verheirateter Sklave riet mir davon ab zu fliehen. Nützliche Sklaven würde man hinhalten, wie es mit mir geschehe, und ihnen niemals die Rückkehr in die Heimat erlauben. Wenn ich Moslem würde, wie er selbst, könne ich meine Freilassung erreichen und nichts weiter. Da ich es für möglich hielt, daß er mir das alles nur erzählte, um mich auszuhorchen, versicherte ich, an eine Flucht nicht zu denken. Nein, nicht an der Absicht fehlte es mir, es fehlte mir an Mut. Alle, die zu fliehen versuchten, wurden wieder eingefangen, ohne weit gekommen zu sein. Die Wunden dieser Unglückseligen, die man stets ausprügelte, pflegte ich dann des Nachts in den Kerkerzellen mit Balsam.
Vor Anbruch des Herbstes kehrte der Pascha mit seiner Flotte zurück, er grüßte den Padischah mit Kanonendonner, versuchte, Frohsinn und Lustbarkeiten in die Stadt zu bringen wie im Vorjahr, doch es stand fest, daß der Feldzug diesmal nicht gut verlaufen war. Sie brachten auch nur wenige Gefangene in den Kerker. Wir hörten später, die Venezianer hätten sechs ihrer Schiffe verbrannt. Ich wollte unbedingt mit den Gefangenen sprechen, vielleicht konnte ich etwas aus der Heimat erfahren, doch es zeigte sich, daß die meisten von ihnen Spanier waren, stille, unwissende, schüchterne Wesen in einem Zustand, der ihnen gerade erlaubte, um Hilfe und um Nahrung zu bitten. Nur einer ließ mich aufmerken. Obwohl er seinen Arm eingebüßt hatte, war er guter Dinge. Einem seiner Vorfahren seien die gleichen Abenteuer zugestoßen, er sei aber freigekommen und habe dann mit der ihm verbliebenen Hand einen Ritterroman geschrieben. Er selbst sei, wie er sagte, ganz fest von seiner Befreiung überzeugt, um später das gleiche tun zu können. Wenn ich in den folgenden Jahren Geschichten erfand, um zu überleben, erinnerte ich mich an jenen Mann, der zu leben wünschte, um Geschichten zu erfinden. Nicht lange danach brach in den Verliesen eine ansteckende Krankheit aus. Diese unheilvolle Seuche, vor der mich nur eine über alle Maßen reiche Bestechung der Wärter bewahrte, tötete mehr als die Hälfte der Gefangenen.
Die sie heil überstanden hatten, wurden bald wieder zu neuen Arbeiten fortgeschickt. Ich aber ging nicht mit ihnen. Abends berichteten sie dann von ihren Erlebnissen. Bis ganz zum Ende des Goldenen Horns wurden sie gebracht, dort wurden sie Schreinermeistern, Schneidern und Färbern übergeben und mußten ihnen zur Hand gehen, um aus Pappkarton Schiffe, Festungen, Türme zu bauen. Wir hörten alsbald, daß der Pascha seinen Sohn mit der Tochter des Großwesirs verheiraten und ein prächtiges Hochzeitsfest ausrichten lassen wollte.
Eines Morgens rief man mich zu des Paschas Residenz. Ich dachte an seine Atemnot, die wieder begonnen haben mochte, und begab mich auf den Weg. Der Pascha sei beschäftigt, ich müsse warten, sagte man und führte mich in ein Zimmer, wo ich mich niederließ. Kurz darauf öffnete sich eine andere Tür, ein Mann, fünf, sechs Jahre älter als ich, trat ein – ich schaute in sein Gesicht und war verblüfft, ja, sogar verängstigt.
Der Eintretende glich mir in schier unglaublicher Weise. Als stünde ich dort, war mein erster Gedanke. Es war, als wolle mir jemand einen Streich spielen, mich noch einmal durch die gegenüberliegende Tür hineinschieben und dabei sagen: Schau, im Grunde genommen hättest du so sein müssen, so hättest du zur Tür hereinkommen müssen, so hättest du Arme und Beine bewegen müssen, so hättest du den anderen hier Sitzenden anschauen müssen! Als unsere Augen sich trafen, grüßten wir uns. Er aber schien nicht besonders erstaunt zu sein. So kam ich zu dem Schluß, so groß könne die Ähnlichkeit mit mir wohl nicht sein, er trug einen Bart, und außerdem, schien mir, hatte ich mein eigenes Gesicht längst vergessen. Während er mir gegenübersaß, fiel mir ein, daß ich ein Jahr lang in keinen Spiegel geschaut hatte.
Wenig später öffnete sich die Tür, durch welche ich eingetreten war, und er wurde gerufen. Nein, überlegte ich während des Wartens, es ist doch kein gut gemachter Streich, sondern nur eine Ausgeburt meines gequälten Hirns. Hatte ich doch in jenen Tagen ständig Trugbilder vor Augen, trostreiche Märchen wie diese: Sie lassen mich frei; ich kehre nach Hause zurück, und jeder begrüßt mich; eigentlich schlafe ich noch auf dem Schiff in meiner Kabine, das alles ist nur ein Traum. So meinte ich, auch das hier sei nur eines der Märchen, doch während ich noch erwog, ob es vielleicht schon Wirklichkeit geworden oder aber ein Zeichen dafür sei, daß sich alles mit einem Schlag ändern und die alte Ordnung wiederhergestellt werde, da ging die Tür auf, und man rief nach mir.
Der Pascha stand etwas entfernt hinter dem mir so ähnlichen Mann. Er ließ sich den Rocksaum küssen, und als er nach meinem Ergehen fragte, wünschte ich von den Bedrängnissen zu sprechen, denen ich in meiner Kerkerzelle ausgesetzt war, und von dem Verlangen, in mein Heimatland zurückzukehren, doch er hörte mir gar nicht zu. Er, der Pascha, erinnere sich an meine Erklärung, etwas von den Wissenschaften, der Astronomie, dem Ingenieurwesen zu verstehen, nun gut, ob ich denn auch von diesen gen Himmel geschleuderten Feuerwerksraketen, vom Schießpulver irgend etwas wisse? Sogleich bejahte ich, doch als mein Blick für einen Lidschlag den jenes anderen traf, befiel mich der Argwohn, man habe mir eine Falle gestellt.
Die von ihm auszurichtende Hochzeit solle einmalig werden, so meinte der Pascha, auch ein Feuerwerk lasse er vorbereiten, es müsse aber so großartig werden, daß es alles bisher Dagewesene übertraf. Der mir Gleichende, vom Pascha nur »Hodscha« genannt, habe schon früher einmal mitgetan bei einem solchen Schauspiel anläßlich der Geburt des Sultans. Damals habe er es mit einem inzwischen verstorbenen Malteser und den Feuerwerkern vorbereitet, er kenne sich also ein wenig aus in diesen Dingen, ich aber sei vielleicht imstande, ihm dabei zu helfen, so meinte der Pascha. Wir würden einander gut ergänzen können. Und wenn wir ein gutes Feuerwerk machten, werde er uns eine Freude bereiten. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, sagte ich mir und begann, um die Erlaubnis zur Rückkehr in mein Vaterland zu bitten, als der Pascha mich fragte, ob ich seit meiner Ankunft hier schon mit Frauen geschlafen hätte und auf meine Antwort hin äußerte, wozu wohl die Freiheit tauge, wenn ich dieses nicht täte! Er drückte sich in der Sprache der Wärter aus, und ich muß wohl recht dumm dreingeschaut haben, denn er lachte lauthals. Dann wandte er sich meinem Hodscha genannten Ebenbild zu: Jener habe nun die Verantwortung.
Als ich am nächsten Morgen zum Hause des mir so Ähnlichen ging, meinte ich nichts zu wissen, was ich ihn lehren könnte. Doch seine Kenntnisse schienen nicht größer zu sein als die meinen. Unser Wissen stimmte zudem überein. Das ganze Problem lag darin, ein gut mit Kampfer durchsetztes Gemisch herzustellen. Dazu mußten wir die mit Waage und Gewichten abgemessenen, sorgfältig zubereiteten Mixturen bei Nacht unter der Stadtmauer zünden und daraus unsere Schlüsse ziehen. Und wie wir desgleichen viel später bei Tage tun sollten, im Laufe der Arbeit für die unglaubliche Waffe, so stellten wir uns jetzt unter die dunklen Bäume und warteten gespannt auf das Ergebnis, während wir unsere Raketen unter den bewundernden Blicken der zuschauenden Kinder von un-Leuten entzünden ließen. Anschließend versuchte ich, manchmal bei Mondlicht, manchmal im Finstern, das Beobachtete in ein Heftchen einzutragen. Bevor wir des Nachts auseinandergingen, kehrten wir noch einmal zu des Hodschas Haus zurück, das aufs Goldene Horn schaute, und sprachen des langen und breiten über die Ergebnisse.