Josa Gerth

 

Max Dauthendey

 

 

 

 

 

Inhalt:

 

Max Dauthendey – Biografie und Bibliografie

Josa Gerth

 

 

 

 

 

Josa Gerth, M. Dauthendey

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

 

ISBN: 9783849655037

 

www.jazzybee-verlag.de

admin@jazzybee-verlag.de

 

 

 

Max Dauthendey – Biografie und Bibliografie

 

Deutscher Schriftsteller und Lyriker, geboren am 25. Juli 1867 in Würzburg, verstorben am 29. August 1918 auf Java. Sohn eines hauptberuflichen Fotografen, in dessen Labor er bis zu seinem 25. Lebensjahr immer wieder arbeitet. 1891 flieht D. im Zwist mit seinem Vater nach Berlin und beginnt von dort seine langen Reisen durch die Welt. Ab 1892 besucht er immer wieder deutschen Regionen aber auch Paris und besonders Schweden, wo er besonders 1893 und 1894 viel Zeit verbringt. 1896 heiratet D. die Schwedin Annie Johannson auf der Insel Jersey. In den nächsten Jahren zieht er mit ihr um die Welt und reist nach New York, Mexiko und Griechenland. Von 1899 bis 1905 leben sie in Paris. Nach einem Aufenthalt in Würzburg zieht es den Autor wieder in die Welt und er reist u.a. nach Indien, China und Japan. 1914 wird er schließlich auf Java vom Ersten Weltkrieg überrascht und muss dort verweilen, da er vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren darf. Er stirbt dort 1918 an einer schweren Tropenkrankheit.

 

Wichtige Werke:

 

 

 

Josa Gerth

 

 

Vorakkorde

 

Tränen – Tränen im Frühling! Das Licht steht still und horcht, und die Lüfte halten den Atem an und lauschen, und alles starrt auf das schluchzende Kind.

 

Seine Arme umschlingen den Baum. Sie pressen ihn fest. So fest, daß das Blut stockt, die Adern schwellen, und dann zittert und glüht das junge Herz.

 

Die Einsamkeit sieht es groß und ernst an:

 

»Warum weinst du, Mädchen?«

 

Das Schweigen saugt ihm die Tränen von den Wimpern:

 

»Warum weinst du, Mädchen?«

 

Niemand weiß es. Niemand sagt es ihr.

 

Kein Leid, kein Schmerz ätzt ihre Seele. Und doch diese Tränen, dies Schluchzen.

 

Der Himmel ist blank und leuchtend. Das Sonnengold jauchzt. Licht und Klarheit wogen trunken im blendenden Äther.

 

Aber die Erde liegt noch im Frühlingsdämmern. Aus ihrer Brust quillt der Atem, leise zögernd, aber berauschend, kraftschwellend in gärender Macht, die junges, zündendes Blut durch winterschlaffe Adern treibt.

 

Das Licht zerschlägt schäumend die Wolken. Stürzt rauschend nieder. Küßt ihre Lippen. Küßt sie heiß, stürmisch. – Da schlägt die Erde die Augen auf.

 

Sie lacht nicht. Sie seufzt nicht. Sie ruht ganz, ganz still, gelähmt von der Starre des keimenden Erwachens. Die Gedanken, den trägen, warmen Schlaf in den Gliedern, stehen erst an der Schwelle des Bewußtseins. Unschlüssig, halb wachend, halb träumend, mit taumelndem Blick zum Lichte wankend. Das alles sah das Kind.

 

Aber nicht wie man Farben und Formen und Linien mit dem Augstrahl umklammert; auch nicht wie Träume, die man betastet; viel, viel näher. Tief im Herzschlag, mit dem Kern des warmen Pochens in eins verschmolzen und doch ein anderes und unfaßbar.

 

Es sah die Erwartung, die überall dem Lichte die Arme entgegenbreitete. Fühlte die Unbefriedigung der Natur. Die schmerzende Öde der matten und kargen Töne ringsum. Die hungernde Leere, in der jener Sonnenstrahl viel heftiger brannte, all dies gierige Mühen, Wärme, Kraft, Leben einzusaugen, um es in Farbe, Duft und Blüte wieder auszustrahlen.

 

Das alles sah das Kind, alles das pochte in seinem Herzschlag.

 

Und da seufzten die Augen, und gruben sich in die Helle und durchwühlten die aschfarbene Leere.

 

Wollten keine Farben blühen? kein Duft? keine Klänge?

 

Doch die Leere blieb leer und stemmte sich unerbittlich gegen das Sehnen, zerfleischte die Kinderbrust und zerschlug den Glanz der Augen in Tränensplitter.

 

Aber das Kind wußte nicht, warum es litt, noch warum es weinte. Es wußte nicht einmal, daß es ein Herz hatte.

 

Es starrte über die kahlen Bäume und die leeren Felder und die dunkle Nacktheit der Erde – und wie es sehnte, horchte und suchte, da löste es sich wie Tropfen vom Himmel, erst nur zart, leise und hell, Heller und immer Heller, – Glockenlieder, kristallene Laute, glitzernde Frühlingsklänge; – Trostschimmernd perlten die Töne nieder, – da sprengte die Sehnsucht das Herz.

 

Das Kind warf sich zur Erde. Küßte den blassen Keim unter der feuchten Scholle. Der Keim schlürfte seine Tränen, und aus den Tränen stieg die Frühlingsahnung, weißleuchtend, Hoffnungsmilde, und strömte Duft und Licht und Farbe.

 

Und das Mädchen umklammerte den Baum, schmiegte sich berauscht an das erwachende Leben. Und ihre Arme wärmten seinen Stamm, und im Mark stiegen und drängten die Säfte.

 

Frühling! Bist du es wirklich!? – –

 

Dann sank die Sonne.

 

»Josa! Josa!«

 

Man hat gerufen? –

 

»Josa! Josa!«

 

Sie springt auf. Die letzte Träne zersprüht. Sie starrt einen Augenblick in die Abendsonne – lacht und stürzt mit ausgebreiteten Armen dem Lichte entgegen.

 

»Josa! – Josa!« – – – – – – – – – – – – – – –

 

###

 

Als Josa fünfzehn Jahr alt war, schrieb sie ihr erstes Gedicht.

 

Ein Sonntagmorgen. Großmutter und Martin waren zur Beerdigung der Tante Agnes nach Kitzingen gefahren. Josa allein zu Hause.

 

Schon das Alleinsein war so wunderbar neu, so prickelnd behaglich. Und nun der Morgen mit seinem zarten Licht, seinen duftblauen rinnenden Schatten, der silbermatten Ferne, drin alles unwirklich glänzte und flimmerte. Der Kontrast zwischen Nähe und Weite schroff, unvermittelt. Die Wiesen und Büsche mit zartgrünen Konturen und plötzlichen schweren Tiefen und die Bäume wie dumpfe Silhouetten, mit dunklen scharfrandigen Stämmen, daran die Nacht in die Erde zurückkroch. Aber über allem wache, weißglitzernde Feuchtigkeit.

 

Als Großmutter und Martin fort waren, hatte sich Josa mit einem Buche auf die Terrasse gesetzt. Die weißen Tauben kamen auf den Tisch, nickten und pickten. Manchmal fiel ein feines dottergelbes Blatt von den Akazien, dann auch eines in das Wasserglas. Schaukelte wie eine Muschel hin und her, drehte sich leise im Bogen und legte sich an den Rand. Durch die großblätterigen Fliederbäume zogen die Glockenlaute und kreisten und rankten wie silberne Arabesken und schimmernde Kristallgewinde durch die Morgenstille.

 

Jeder Sommersonntag hatte hier oben im Pfauenhofe dasselbe Gesicht, denselben von weichen Lauten und weichem Licht umtosten Frieden.

 

Aber die Einsamkeit störte heute Josa. Die geschäftige Stille ringsum zerfaserte ihre Aufmerksamkeit. Erst schaukelte sie das Buch auf der Tischkante. Dann klappte sie es zu.

 

Sie stand auf.

 

Ah, sie war allein! Sie schüttelte Arme und Kopf in üppiger Freude. Dann sah sie mit weitem Blick, als wolle sie alles mit den Augen umarmen, von der Terrasse über die Ferne, dann im Garten am Hause hoch hinauf, als sehe sie dies alles heute zum ersten Male.

 

Darauf ging sie hinein.

 

Durch alle Zimmer, durch alle. Und alle Türen ließ sie hinter sich weit auf. Aber in Großmutters Zimmer trat sie mit gefesselter Energie, ganz wie Kinder, die nicht zeigen wollen, daß sie sich eigentlich fürchten. Sie glättete eine Kommodendecke, öffnete das Fenster, setzte sich in den schwarzen Lederstuhl, aber alles mit übertriebener Sicherheit, die noch im Keimgefühl mit der Scheu kämpft. Dann ging sie wieder zurück, vor dem Pfeilerspiegel und dem Spiegel des Porzellanschrankes verbeugte sie sich tief. Darnach wurde ihr Schritt gemessener. Der Nacken steifer. Und immer noch im Weitergehen mit den Gedanken am Spiegel, behielt ihr Gesicht den Ausdruck beherrschter Ordnung. An allem, was glänzte, blieb sie stehen. Ein Briefmesser aus Cuivre poli schwang sie hoch und stieß es hart nieder, daß der Glanz durch die Luft zischte. Den kupfernen Aschenbecher rollte sie über den Tisch, er fiel auf der andern Seite hinunter, sie ließ ihn liegen. Dann hauchte sie über die gelbgrünen tiefblanken Messingtüren des Ofens. Am Bronzefuß der Lampe schnitt sie Gesichter und lachte über die Verzerrung auf dem buckligen Metall.

 

Vor dem schillernden Pfauenbukett in der Ecke stand sie eine Weile. Dann griff sie mit beiden Händen zu, zog so viel sie fassen konnte heraus, sah sich einen Augenblick um und schleuderte alle Pfauenfedern durch das Zimmer, über Stühle, Sessel, Diele. Zuletzt griff sie nach dem Rest und streute ihn rings um sich und in ihr Haar und schob sich einige in die Ärmel und in den Nacken. Ein wildes Farbenfunkeln ätzte nun aus allen Ecken und Tiefen die Stille des Zimmers. Schlangengrün und Goldkäfergrün, und violettes Braun, und violettes Gold und Blau. Josa stand in der Mitte des Zimmers, die Arme niederhängend und den Kopf, sie schluckte nur manchmal, sonst schwieg alles an ihr, betäubt von den Farben,

 

Unter der Diele begann ein Hufstampfen und Poltern. Die Ställe lagen in den Kellern des Hauses und unter der Terrasse.

 

Das Mädchen richtete sich auf, begann zu wiehern und lief hinaus, durch das Gras, über ein Blumenbeet zur Terrassenbrüstung.

 

Die Töne hatten sich gekräftigt. Ein lichtsatter Sommertag starrte groß, hell, mit unbarmherzig weitgeöffneten Augen über die Felder und Höhen.

 

Würzburg, die Festung Marienberg, das Käpelle, und im Leistengrunde die weißen und roten Mauern und Dächer lagen zum greifen nahe.

 

Dicht unter ihr flirrten und zitterten weiße Schmetterlinge über den Klee, ein Lufthauch trieb graues Rieseln im Zackenlauf durch das Grün.

 

Josa stützte die Hände auf die warmen Steine. Ihre Augen preßten sich in die Sonnenhelle. Ihre Finger zitterten. Ihr Herz zitterte. Alles zitterte an ihr. Sie bog sich weit vor. Immer das Grün, immer die Schmetterlinge, sie konnte die Augen nicht mehr lösen, sie war wie angebunden an die schimmernden Punkte. Sie starrte und starrte, und als sie in der Ferne zergingen, starrte sie immer noch.

 

O das war so süß! Sie preßte die Arme fest an die Hüften. Was war das nur? So süß! So berauschend!

 

Die Füße pochten kurz und energisch. Es war in ihrem Blute ein Schluchzen und Lallen, das stieg wie gequollene Perlen hoch und tropfte üppig und glutträge in ihr Herz. Der Atem sog und stieß krampfartig. Die fessellose Unruhe, in der jeder Nerv schwelgte, spannte alle Sinne zu schärfstem Empfinden. Es war nicht mehr ein Leben – hunderttausend Leben rauschten durch ihren Körper. In jeder Ader drängte das Entzücken. Ein Empfinden, als ob sie hochgeschleudert über allem schwebte, ohne Bewußtsein für das, was wirklich, und sie mit schroffen Formen und derber Schwere umgab. Alles in kreisenden Wallungen, in wogender Weißglut.

 

Mit hastiger Hand wühlte sie in der Tasche. Ein altes Briefkuvert – ein winziger zerkauter Bleistift, die ersten zwei Strophen im Fluge mit gejagten, zerflatternden Buchstaben.

 

Dann sann sie einen Augenblick. –

 

Es war gar nicht möglich, das alles festzuhalten. Es tauchte auf und versank, blendend wie Sonnenlichter und zerrinnend wie Sonnenlichter. Sie klammerte sich mit Mühe an die Gedanken, um sie zum stehen zu bringen. Aber wenn sie einen faßte, in Worte fing, zerstäubte der weiche Schmelz der Empfindung an der engen linienbegrenzten Form des Ausdruckes. – Doch endlich stand es auf dem Papier.

 

Ein kleines scheues Lied, ein Gemisch aus Seufzern und Jubellauten.

 

Es plauderte von weißen Blüten, von Frühlingssehnsucht und Winterleid. Als Josa Gerth dieses Gedicht vom Schmachten eines kranken Herzens nach Lenz und Blüten schrieb, brannte die Julisonne und ihre Wangen leuchteten in kräftiger Gesundheit.

 

###

 

Gleich am Anfang des Hohlweges, der von der Heidingsfelder Chaussee zum Pfauenhofe aufführt, lag links noch vor der Buchenhecke eine ganz neue Villa im gotischen Stil. Einen Sommer lang war sie bewohnt gewesen, aber seitdem blieben die Jalousien geschlossen. Nur in der Gärtnerwohnung im Erdgeschoß standen im Juli Geranien und Flocks an zwei Fenstern, im Winter ein Futterkasten für Vögel. Die Ranachs hatten ihre Flitterwochen darin verlebt. Als er in Nizza starb, kehrte die Witwe nicht mehr nach Würzburg zurück. –

 

Josa hatte ihren Gummibaum zu Ranachs Gärtner gebracht, er sollte ihn umsetzen. Er klopfte eben mit der Scheuerfrau ein paar Teppiche, und oben im ersten Stock waren die Fenster geöffnet. Die weißgetünchten Scheiben weit zurückgeschlagen und seidene Vorhänge mit reichem glänzenden Rankenwerk und schlaffe Spitzengardinen hingen über die niederen Fensterbrüstungen. Die Sonne zuckte in scharfen Rissen auf der Seide und weich vom bleichen Gewebe. Manchmal huschte drinnen von Bronzen und Schnitzereien ein scheuer Lichtblitz, dann war es, als zucke das leblose Dunkel mit den Wimpern.

 

Josa empfand immer ein neugieriges Mitleid mit dem öden Hause.

 

Der Gärtner führte sie hinauf und zeigte ihr die Zimmer. Ihr Blut prickelte, als sie durch die glatten, üppigen Räume schritt. Erst durch eine malvengrüne Halle, eine Art Speisesaal mit wuchtigen Büffets, steifen Stühlen und grauem Kamin. Dann durch einen Salon mit altgold Plüsch und kupferfarbenem Damast und einen andern, wo alles meerblaue Seide und zwischen graziösen cremefarbenen Säulen in Blattpflanzen und Blumen ein Bassin aus Kristall und Bronze. Dann weiter – plötzlich schrak sie – stand still, zwischen heliotropfarbenen Portieren eine hohe Frauengestalt.

 

Der alte Mann ging ruhig hinein: »Das ist die Gnädige, schön, eine schöne Frau.« Er leckte am Finger und wischte Fliegenschmutz von der Rahmenrosette. »Ein großer Maler hat's gemalt. Ich kann's nit lesen, da steht's.« Dann antwortete er gegen das Fenster: »Ja, ja, ich komm' schon. – Sehen Sie sich das nur ruhig an. Die Dorette ruft wegen die Teppich'. Setzen's Ihne einstweilen, ich komm' glei' wieder.«

 

Ein lebensgroßes Pastellbild. Eine Dame in heller Gesellschaftstoilette auf blaublumigem Grunde. Zuerst fesselte nur der Kopf, die volle Kraft der Beleuchtung und der Farben sammelte sich in diesem in den Nacken gebäumten Kopf. Von ihm strömte Macht und Bewegung über den ganzen Körper.

 

Die Figur bis zu den Knien, ganz von der Seite, schritt im Rahmen vorbei. Der Kopf leicht umgewandt unterbrach das Vorwärtsschreiten. Leise keimende Aufmerksamkeit hemmte jede weitere Regung. Ein hauchzarter Gazeschleier sprang von der linken Schulter in pfeilscharfen blendenden Bruchadern über die energisch geschweifte Rückenlinie, schlang sich tändelnd über den vollen, nackten Oberarm und strich zitternd am gesenkten Arme nieder. Die Hand hielt einen Fächer. Die Knöchel der Mittelfinger griffen in den Schleier, der Zeigefinger krümmte sich zwischen die gespreizten Fächerstäbe. Ein Bukett von Seerosen und wirren Ranken auf der Wölbung der Büste machten die Brustform übermäßig schwellend. Das cremematte Seidenkleid bauschte sich im Gehen. Man fühlte das knappe Anschlagen der Kniee an den starren, knisternden Stoff, und in der Plötzlichkeit einer schrägeinknickenden Falte vibrierte noch das rauschende Stoßen der Schleppe.

 

Josa, in stockender Befangenheit, wagte kaum der fremden Frau ins Gesicht zu sehen. Sie kam sich fast zudringlich vor.

 

Aus dem kühnen Ausschnitt der Taille löste sich sanft der Nacken. Mattgelb, von jenem träumerischen Gelb, wie es in der süßen Dämmerung bleicher Teerosenblätter schlummert. Aber gegen Hals und Gesicht aufsteigend dunkelte es allmählich, nur an der Schläfe, am Ansatz des stumpfen nachtschwarzen Haares und auf der Stirn zwischen den schwarzen Brauen tauchte es nochmals auf, aber hier wurde es von bläulichem Geäder gekühlt. Die etwas zu starke Oberlippe lächelte. Die rundgeöffneten großen Augen lächelten. Und zwischen Wangen und Nasenflügeln, der Schatten aus Bronze und Rosen und die freie Rundung der Brauen und die gefesselte Rundung des Kinns, auch sie lächelten. Aber man fühlte das Lächeln nur. Man sah es niedergedrückt, gedämpft wie Farben und Formen auf dem Grunde zitternder Wasser.

 

Josa sah das nicht alles mit diesen Einzelheiten, wie es Koppay aufgefaßt und wiedergegeben hatte. Sie atmete nur die Seele, die aus dem Zusammenwirken all dieser Feinheiten strömte. Eine Beklemmung staute in ihr das freie Bewundern. Es jagte abwechselnd ein kalter Luftstrom und ein schwüler Luftstrom, wie taureine Keuschheit und wirrer Sinnenrausch über ihr Herz. –

 

Seit diesem Tage fühlte sich Josa nicht mehr einsam mit ihren Gedanken. Glaubte sie sich unverstanden, so dachte sie an dieses Bild. Mit der ganzen Leidenschaft einer Fünfzehnjährigen sehnte sie sich nach ihr. Sie hatte sich im Geiste alles ausgedacht, was sie ihr sagen und klagen wollte. Sie wußte genau Wort für Wort, was ihr Idol antworten würde. Sie errichtete ihm in ihrem Herzen einen Altar, und grub auf seine Tafeln mit goldenem Griffel strenge begeisterte Vorsätze.

 

In den ersten Tagen kehrte sie im Geiste immer vor das Bild zurück. Solange seine Linien noch fest und sicher in ihrer Erinnerung standen, hielt auch jene Beklemmung, dieser kniebeugende Respekt in ihr die Oberhand. Aber dann mit der Zeit verlor es seine formgezwungene Ruhe, nun trat es aus dem Rahmen und folgte ihr, nicht mehr in starren, gefesselten Umrissen, sondern als schwanke, schattengestaltige Idee.

 

###

 

Josa war in ein Pianofortegeschäft gegangen, um nach einem Klavierstimmer zu fragen. Im Nebenzimmer des Kontors wurde gespielt. Sehr geläufig und hurtig und immer von einer Melodie zur andern springend. Man schrieb ihr die Adresse auf. Josa horchte indessen und verfolgte die Schneespuren eines Damenfußes, die bis zur Schwelle des nächsten Zimmers führten.

 

Dann brach das Spiel jäh ab. Unter der Türe eine hohe Gestalt. Josas Gedanken knickten zusammen. Ein lähmender Schreck sog ihr alle Kraft aus den Gliedern – – – –: das war ja Frau Ranach!

 

»Vorzüglich, das Instrument ist vorzüglich. Haben Sie gehört, Herr Jäger, – meine kleine Komposition? Nun es ist ja nicht viel, aber ich denke doch, sie wird gefallen.

 

Was ich Sie fragen wollte, – können Sie mir sagen, wo der Peterkirchplatz ist? Kennen Sie Fräulein Paula Becker? Ja? Sie ist Soubrette hier, am Theater. Wir sind sehr befreundet.« Sie knöpfte ihren Samtmantel zu. »Gott, schon vier Uhr, ich muß mich eilen.« Er könne es ihr schon beschreiben, aber es sei schwierig zu finden, er überlege eben, was zu tun sei, er könne ihr leider im Augenblick niemand mitgeben – –

 

Josa verneigte sich.

 

»Wenn Sie erlauben, ich mache mir ein Vergnügen, ich kann Ihnen den Weg zeigen.« –

 

Josa wußte selbst nicht, was ihr diesen Mut gegeben hatte, sie bestaunte ihre eigene Kühnheit.

 

Die Dame schien überrascht:

 

»O, Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich weiß nicht – –«

 

»O ja, ich tue es gern.«

 

»Darf ich die Damen vielleicht bekannt machen: Fräulein von Auer – Fräulein Gerth. Das Fräulein wird morgen im Schrannensaal ihr Konzert geben.«

 

Also nicht Frau Ranach. Natürlich nicht. Sie mußte viel älter sein. Das Fräulein war kaum zwanzig. Aber diese Ähnlichkeit!

 

Dann gingen sie durch die Straßen. Es war Josa angenehm erregend, neben einer Künstlerin zu gehen. Es war, als ob etwas wie Lorbeerduft auch auf sie überströme.

 

Unterwegs zeigte sie ihr den Weg, den sie morgen zum Schrannensaale nehmen müsse. Dabei sah sie selbst alles mit fremden, neuen Augen an.

 

»Werden Sie morgen auch mein Konzert besuchen?« Sie hoffe, ja. Wenn ihr Bruder sie abholen könne. Sie wohne so weit von der Stadt. »Wenn Sie hier bleiben, besuchen Sie unseren Pfauenhof vielleicht auch einmal.«

 

»O ja, gerne.«

 

»Wir wohnen so schön auf dem Berge. Man könnte unsere Aussicht auch eine Sehenswürdigkeit Würzburgs nennen.«

 

»Ja wenn ich Zeit habe, verspreche ich Ihnen, übermorgen zu kommen. Meine Freundin wird wohl den Weg wissen. Sie erlauben doch, daß sie mich begleitet? Und kommen Sie morgen nur ins Konzert. Ich freue mich, unter den vielen Menschen gleich eine Bekannte zu wissen, und dann klatschen Sie doch auch recht tüchtig.« Sie lachte und reichte ihr die Hand.

 

»Besten Dank, mein liebes Fräulein.« – »Auf Wiedersehen!« – »Adieu!« –

 


 

Josa war unter den ersten, die kamen.

 

Es war noch Dämmerung im Saale. Die wenigen Leute sprachen viel ungenierter und eifriger. Dann füllte es sich allmählich. Man wünschte, daß es heller würde, und wurde ungeduldiger und gereizter. Plötzlich wuchsen die Gasflammen, reckten sich hell auf, und herrischer Glanz schwoll durch den weiten Raum. Es wurde stiller. Die Stimmung freier. Das Licht tat allen wohl.

 

Einige Minuten nach acht glitt aus den Portieren eine schlanke weiße Gestalt.

 

Josa zog betroffen den Atem tief ein. Aber das war Frau Ranach. Sie hatte heute immer gezweifelt. Die barocksten Ideen waren ihr aufgestiegen. Wenn sie unter anderem Namen reiste. Wenn sie unerkannt bleiben wollte!

 

Dies Crème-Seidenkleid, wie auf dem Bilde. So hoch und weiß und vornehm.

 

Nun neigte sie sich. Wie geschmeidig! Wie eine Lilie.

 

Auch die Menge klatschte ihrer Schönheit begeisterten Willkomm.

 

Sie ließ sich am Flügel nieder, rieb leicht mit dem Taschentuch die Hände, wischte über die Tasten, rückte zurecht, bog den Oberkörper vor und begann.

 

Es war gar keine Mühe, gar keine Anstrengung, gar nicht als ob sie die Töne greifen und wecken müsse. Sie koste die Tasten, schmeichelnd, lind, wie sich die Luft auf zarten Maiengräsern wiegt, und Düfte und Nachtigallenlaute zerrannen in einer Stimme. Dann wieder hob sie beschwichtigend die Hand, ließ einen Ton verklingen, andere flatterten nach, zogen in hellfunkelnden Ketten empor, in lockenden Echos zerschmelzend. Die Luft wiegte sich. Sie schuf Sonnenschein. Traumweichen Glanz. Und dann – ein übermütiger Schlag, tollwirbelndes Lachen, immer, immer wieder – schneller, wilder, atemlos, wehendes Haar, rasende Jagd. Sie stachelte die Töne, peitschte, – Flucht, Verfolgung – unbändige Lust, plötzlich – Schwäche, zitternde Ermattung, süßtaumelnd, – ein Bäumen, Aufraffen – klaffende Tiefe, verzweifelter Sprung – Leere, Einsamkeit, kreisende Stille.

 

Es wurde geklatscht und geklatscht und wieder geklatscht, und der Saal zitterte im Beifallssturm. –

 

Dann stand Josa mit den Menschen auf, ließ sich durch das Gedränge schieben, – an der Treppe stand sie einen Augenblick. Sie sah die Menschen hinuntergehen. Sie setzte auch einen Fuß vor den andern und ging hinunter. Sie fühlte wohl, daß sie gestoßen wurde, daß man auf ihr Kleid trat, sie ging ganz langsam, ganz langsam am Geländer entlang. Sie fühlte alles, was um sie vorging, viel deutlicher und gleichsam aus weiter Ferne. Ihre Gedanken lauschten immer noch dem Spiel und starrten der weißen Gestalt nach, und immer wieder folgten sie ihr nach den Portièren. – – – –

 

Und dann am andern Tage war sie mit ihrer Freundin auf den Pfauenhof gekommen. Ein Herr begleitete sie. Sie stellte ihn als ihren Vetter vor.

 

Großmutter Gerth ließ gern ihren Hof und ihr Haus bewundern. Martin war im Arbeitskittel und blieb dem Besuche fern.

 

Man sah sich die Stallungen an, die Dörrmaschine und die Brieftauben. Nach einer Stunde verabschiedeten sich die Damen wieder. Josa fragte, ob sich Fräulein Auer nicht mal das Käppele ansehen wollte.

 

Oh ja, das hätten sie auch vor, und zwar jetzt gleich; es sei nicht zu weit von hier.

 

Dann wollte Josa sie begleiten, wenn es die Damen erlaubten. Fräulein v. Auer bejahte sehr, sehr rasch. Ihre Stimme hatte den hastenden Eifer, mit dem sich die augenblickliche Verlegenheit schminkt.

 

Ihre Freundin errötete flüchtig, und der Herr meinte: »Aber ist es nicht zu naß?«

 

»Nein, nein,nein. Kommen Sie nur, Fräulein Gerth.« Fräulein v. Auer nahm Josas Arm. Man konnte nur zu zweien im Hohlwege gehen. Sie gingen voran.

 

Josa war durch diese unvermittelte Vertrautheit etwas eingeschüchtert. Aber dann, als die junge Künstlerin immer lachte und plauderte und neckende Bemerkungen machte über die Schreie des Pfaues, über das Echo, über die Signalübungen drüben von der Festung, da schmiegte sich Josa enger an sie und wärmte sich an ihrem zündenden Wesen.

 

Sie kamen an der Villa Ranach vorbei. Josas aufjauchzende Begeisterung zerschmolz alle Zurückhaltung und Besonnenheit. Sie erzählte in leisen glücklichen Worten, wie jene Frau auf dem Bilde dort drinnen ihr Ideal geworden, und wie ähnlich Fräulein Auer ihr sei. Als sie sich so lebhaft schildern hörte, trat das Porträt deutlicher in schärferen Linien in ihr Gedächtnis. Sie fand nun, daß es doch anders sei, daß sie sich in der Ähnlichkeit täusche. Je klarer sie sich der Verschiedenheit wurde, desto mehr verstärkte sie ihre Lebhaftigkeit fast bis zur Übertreibung, denn sie gefiel sich im Schmuck der lodernden Begeisterungsflammen.

 

Fräulein v. Auer lachte schmetternd auf: »Hören Sie, Anton, ich soll jener Ranach ähnlich sehen, sechsfache Millionärin.«

 

Der Spott tat Josa weh. Sie bereute, gesprochen zu haben. Aber dann lachte sie mit. Nannte sich empfindlich. Dann schritten sie schweigend weiter.