Hanser eBook

 

Rafik Schami

 

MÄRCHEN AUS

MALULA

 

Illustriert von

Root Leeb

 

 

Carl Hanser Verlag

 

Der Band Märchen aus Malula erschien zuvor

seit 1987 in vier Auflagen

beim NEUER MALIK VERLAG, Kiel.

 

ISBN 978-3-446-23900-5

© Carl Hanser Verlag München Wien 1997

© eBook Carl Hanser Verlag München Wien 2011

 

Ausstattung und Umschlag: Root Leeb

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

INHALT

 

Eine Vorgeschichte

oder

Vom Glück Geschichten zu finden

7

 

 

Der einäugige Esel

oder

Wie einer auf dem Richter

reiten wollte

17

 

 

Fatima

oder

Die Befreiung der Träume

23

 

 

Der kluge Rabe

oder

Der Fuchs als Pilger

43

 

 

 

Die fünf Kläger

oder

Was Undankbarkeit alles

ins Rollen bringen kann

55

 

 

Der Geizhals

oder

Wenn Zwiebeln Enten heißen

67

 

 

Blumer

oder

Das Geheimnis

hinter dem Lächeln

77

 

 

Das stille Wasser

oder

Wie der Sieger

zum Verlierer wird

95

 

 

Der Mäusevertilger

oder

Von der Ohnmacht

der Unwissenden

111

 

 

Wintertraube

oder

Die Geschichte

vom schwangeren Mann

121

 

 

Takla

oder

Warum mein Großvater

vierhundert Jahre sein Gewehr trug

133

 

 

Warum der Fisch spuckte

oder

Von der Gefahr

des blinden Vertrauens

161

 

 

Die Leichtgläubigen

oder

Wie eine Taube

zwei Gänse rettete

183

 

 

Der Korb

der Wünsche

oder

Der Traum der Hungernden

195

 

 

Aida

oder

Wenn Männer

eine starke Hand brauchen

223

 

EINE VORGESCHICHTE

oder

VOM GLÜCK,

GESCHICHTEN

ZU FINDEN

 

Meine Großmutter mütterlicherseits wäre mit Sicherheit eine Heilige, hätte der Vatikan den Himmel nicht den Europäern vorbehalten. Jahrhundertelang schreckten die europäischen Päpste nicht einmal davor zurück, europäische Könige wie Ludwig IX. heiligzusprechen, obwohl dieser Tausenden Mord und Elend gebracht hatte, bis er auf einem seiner Kreuzzüge vor Tunis mit einem großen Teil seines Heeres einer Seuche erlag. Auch europäische Kriegshetzer wurden mit einem herrlichen Platz im Himmel belohnt, wie der edle Bernhard von Clairvaux, der vielen armseligen europäischen Knechten die ewige Seligkeit versprach, wenn sie einen Orientalen in die Hölle beförderten. Er selbst hauchte seine zarte Seele friedlich in seinem Kloster aus. Durch die vielen Kriege und Meuchelmorde der Könige Europas wurde der Himmel besetzt, deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn den Chinesen, Afrikanern, Arabern und nicht zuletzt meiner Großmutter kein Plätzchen freigehalten wurde. Mein Nachbar, ein alter Bauer, der 1925 gegen die französischen Besatzer kämpfte und seine Hand dabei verlor, sagte einmal zu mir, er sei im Herzen sehr fromm, doch sündige er widerwillig, bloß damit er nicht ins Paradies käme und dort unter den Europäern leiden müsse.

Doch zurück zu meiner Großmutter. Wäre sie heiliggesprochen worden, hätte man sie die »Heilige der Geduld« genannt. Sie mußte oft auf uns aufpassen und setzte sich dann immer ruhig lächelnd zu uns. Hiob hätte bei meinem Bruder und mir geflucht, aber unsere Großmutter war geduldig. Wenn meine Eltern wegen irgendeiner Beerdigung oder Hochzeit für mehrere Tage verreisen mußten, holten sie diese Großmutter. Die andere wollte zum Essen eingeladen werden, aber nie zum Kinderhüten. Sie mochte uns nicht besonders, und wir konnten sie nicht ausstehen. So kam es, daß immer die »Heilige der Geduld« uns ertragen mußte. Wenn meine Eltern verreisten, hatten mein Bruder und ich endlich Gelegenheit, all die alten offenen Rechnungen zwischen uns zu begleichen. Die Großmutter wartete, bis wir uns ausgetobt hatten, dann lächelte sie uns zärtlich an und räumte auf. Für Minuten schämten wir uns. Manchmal versagte ich mir sogar, meinem Bruder eine runterzuhauen, nur aus Mitleid mit Großmutter. Ich wußte, daß die Ohrfeige in eine Schlägerei ausarten würde, denn wir waren gleich stark. Unser Kampf ging manchmal bis zur Erschöpfung, und so ertrug ich oft seine Gemeinheiten, um dieser armen und zärtlichen Seele die Qualen des Aufräumens zu ersparen. Mein Bruder aber legte mir das als Feigheit aus, und so mußte ich ihn schweren Herzens doch immer wieder vom Gegenteil überzeugen.

Wenn meine Eltern zurückkamen, lobte Großmutter uns überschwenglich, und meine Mutter wunderte sich, wie sie uns im Zaum gehalten hatte. Allerdings wunderte sie sich dann auch jedesmal über die merkwürdige Erschöpfung von Großmutter, die tagelang im Bett lag und nur noch schlafen wollte. Wenn das keine Heilige ist!

Diese Großmutter konnte gut kochen und nähen, aber sie konnte im Gegensatz zu den anderen alten Verwandten und Nachbarn nicht gut erzählen. Wir boten ihr manchmal an, ruhig wie die Engel zu sein, wenn sie bloß eine spannende Geschichte zu erzählen wüßte, aber sie lächelte und sagte: »Ich kann nur die vom dummen Raben erzählen!« Früher, als wir noch recht klein waren, gaben wir uns auch mit dieser Geschichte zufrieden, und sie erzählte vom Raben, der einen Pfau sah und ihn nachahmen wollte. Die Geschichte machte meinen Lieblingsvogel schlecht und endete für ihn katastrophal. Und die Moral der Geschichte? Natürlich alles so zu lassen, wie es ist. Ein Rabe ist ein Rabe, und ein Pfau ist von Geburt an König. Eine Geschichte, die ziemlich langweilig ist und sehr verbreitet war. Nicht einmal die Schulbücher haben auf sie verzichten können. Nach ein paar Jahren fragten wir nicht mehr, weil wir sicher waren, daß die alte Frau wirklich nur diese eine erbärmliche Fabel kannte.

Ein Zufall führte mich im Herbst 1984 in Nürnberg – fünfzehn Jahre nach dem Tode meiner Großmutter – an die Geschichten meines Dorfes heran. Wenn ich nun diese Begegnung mit einem meiner Zuhörer als märchenhaft bezeichne, werden es manche Leser für übertrieben halten, doch ich nenne sie so und wage eine kurze Schilderung, danach kann jeder selbst urteilen.

In einer eiskalten Nacht kam ich ziemlich erschöpft in Nürnberg an, um in der Buchhandlung »Bücherkiste« Märchen zu erzählen. Mein altes Auto trieb in jenem Herbst ein gnadenloses Spiel mit mir. Kurz vor den Städten, in denen die Lesungen stattfinden sollten, blieb es ohne Grund oder wegen eines seiner tausend Mängel stehen. Das Schlimme aber war, ich hatte nicht nur pünktlich, sondern auch noch frisch zu erscheinen, denn meine Arbeit fing ja nach der Fahrt erst an. Das war so auf dem Weg von Salzgitter nach Rendsburg, von Wetzlar nach Alsfeld und an jenem Abend von Schriesheim nach Nürnberg.

Die Buchhändlerin war wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen besorgt, ob überhaupt ein Zuhörer kommen würde. Ein wichtiges Fußballspiel wurde an diesem Abend im Fernsehen übertragen, die Alternativen hatten eine große Fete, und auch die eisige Kälte ließ die Frau nichts Gutes erwarten. Ich versuchte, wie so oft, mir selbst Mut zu machen, indem ich die Buchhändlerin ermutigte. Kurz vor acht war der Laden voll, und sie lächelte erleichtert.

Ich erzählte ein paar kurze Märchen aus meinem Band »Das letzte Wort der Wanderratte«. Ein Zuhörer schien aber besonders neugierig auf mein Dorf Malula zu sein, von dem das eine Märchen handelte, denn er stellte viele Fragen. Ich hatte keine große Lust zu diskutieren, doch der Mann blieb hartnäckig und erzählte mir, daß er in seiner Doktorarbeit die Sprache meines Dorfes neu untersuchen wolle. Ich wußte damals überhaupt nicht, daß diese alte Sprache hier jemals untersucht worden war. Wir redeten eine Weile miteinander und tauschten die Adressen aus; ein harmloser und in der Regel folgenloser, alltäglicher Vorgang.

Die Monate vergingen. Ich hatte den Mann fast vergessen, doch plötzlich meldete er sich. Er benötigte ein paar Informationen, und die gab ich ihm gern, da er auf dem Weg nach Syrien war. Er versprach mir, die Kopie einer Arbeit über mein Dorf zu schicken. Ich bedankte mich im voraus und erwartete nichts. Eine Woche darauf bekam ich eine Untersuchung über das Leben, die Sitten und Bräuche meines Dorfes Malula in den dreißiger Jahren. Die Lektüre war mühselig und langweilig, doch am Ende der Arbeit fand ich eine lange Literaturliste, und da machte ich die Entdeckung meines Lebens: Mehrere Literaturangaben wiesen auf Bücher und Zeitschriften hin, die die Märchen, die Geschichte und die Sprache meines Dorfes Malula behandelten. Unruhe packte mich. Ein Studienkollege besorgte mir die besagten Bücher aus der Heidelberger Universitätsbibliothek. Einige von ihnen waren fast zerfallen. Plötzlich entdeckte ich einen Märchenband. Auf über zweihundert Seiten waren in Aramäisch (Lautschrift) und Deutsch Geschichten und Alltagsberichte aus Malula festgehalten. Auf einmal tauchten Menschen auf, die ich als alte Männer und Frauen noch gekannt hatte; andere habe ich nicht mehr erlebt, doch ihre Söhne und Töchter leben heute noch. Ich kann meine Freude über diesen Fund gar nicht beschreiben. Dreitausend Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt und hundertsechzehn Jahre nach dem Tag, an dem eine Frau namens Zeni Scho’ra zwei Orientalisten die erste Geschichte aus Malula erzählte, entdeckte ich sie in der Bundesrepublik. Was für ein Glück! Wenn mir das jemand vor fünfzehn Jahren vorausgesagt hätte, ich hätte es für einen derben Spaß gehalten.

Mehrere Männer und Frauen bemühten sich damals, die Geschichten zu erzählen, doch das größte Verdienst kommt unbestritten der oben erwähnten Zeni Scho’ra zu, die den größten Teil der Märchen im Jahre 1869 erzählt hat. Dieser Erzählerin und Tausenden von anderen Frauen Malulas ist es zu verdanken, daß die Sprache des Dorfes die Jahrhunderte überlebte. Sie bewahrten sie nicht nur, während die Männer mit ihrem Leben das Dorf verteidigten, sondern pflanzten sie von einer Generation auf die andere fort.

Als ich meinem Bruder von meinem Fund erzählte, wünschte er mir Geduld und lachte fröhlich, und gerade sein Lachen gab mir in den folgenden zwei Jahren den Mut der Geduldigen, im Dickicht der Literatur weiter zu suchen, auszuwählen und zu überarbeiten. Vieles, was mich im ersten Augenblick fasziniert hatte, erschien mir nach genauerer Untersuchung nur als ein Gerüst, das noch Leben braucht, um seine Schönheit zu entfalten. Auch hier war mein Bruder Francis mein erster kritischer Zuhörer, und wer erzählt, der weiß, wie unschätzbar ein kritischer Zuhörer ist, der aber auch so herzlich lachen kann wie mein Bruder, wenn ihm eine Stelle gefällt.

Die Geschichten und Märchen dieses Buches stellen eine Auslese dar. In meinem Dorf wurden auch Geschichten erzählt, die mich langweilen oder gar ärgern. Manche Geschichte habe ich ausgelassen, weil sie an anderer Stelle besser erzählt wurde, so z.B. die biblische Josephsgeschichte und eine kurze Fassung der Abenteuer Ali Saibaks, die im Arabischen sehr verbreitet ist. Meine Auswahl stützt sich auf die Sammlung »Neuaramäische Märchen aus Malula« und auf Fragmente, die mir einige Nachbarn vor langer Zeit erzählt haben. Nur die Geschichte von meinem Großvater und der heiligen Takla stammt von mir.

Ich gebe die Märchen und Geschichten meines Dorfes so wieder, wie ich mir vorstelle, daß sie einst fabuliert wurden. Vielleicht habe ich die eine oder andere auch erzählt, wie ich mir wünsche, daß sie so erzählt worden wäre. Es ist ein elementarer Bestandteil der Märchentradition, daß die Nacherzähler sich keine Zwänge und Grenzen durch eine einmal gehörte Geschichte auferlegen lassen, denn die Grenzen einer Geschichte sind die ihrer Erzähler. Sicher wurden und werden manche Märchen und Geschichten aus Malula auch anderswo erzählt. Ich habe Varianten in arabischen, persischen, jüdischen, griechischen, kurdischen und türkischen Geschichten gefunden. Welche Fassung nun die Urform darstellt und welche Gemeinschaft die Urquelle dieser Geschichten war, ist oft schwer herauszufinden und für den Genuß dieser eigenartigen Texte von zweitrangiger Bedeutung.

»Warum kannst du keine Geschichten erzählen?« fragte ich meine Großmutter eines Tages. Es war Winter, und wir saßen um den Holzofen herum. Mein Bruder hatte eine schlimme Grippe, lag fiebernd im Bett, und ich langweilte mich.

»Wie soll ich das können?« antwortete sie beschämt. »Vierzig Jahre lang habe ich unser Dorf Malula nicht verlassen. Damaskus habe ich erst vor zehn Jahren gesehen, als deine Mutter dich zur Welt brachte und meine Hilfe brauchte. Unser Leben in Malula war hart. Es war nicht die Zeit für Geschichten.« Diese Worte hallten in meiner Erinnerung wider, als ich durch die merkwürdige Begegnung in Nürnberg die Märchen meines Dorfes in die Hand bekam. Zwei Tage lang las ich die Geschichten, und erst am Morgen des dritten Tages gegen vier Uhr habe ich das Buch zugeklappt. Erschöpft machte ich das Licht aus und legte mich aufs Bett, aber ich konnte nicht einschlafen. In der Morgendämmerung jenes Tages dachte ich an meine Großmutter und wünschte mir, sie lebte noch, dann hätte ich ihr all diese Geschichten so erzählt …

 

DER EINÄUGIGE ESEL

oder

WIE EINER AUF DEM RICHTER

REITEN WOLLTE

 

In Malula lebte einst ein reicher Bauer, der viele Länder und Orte bereiste. Wenn er dann zurückkam, erzählte er von seinen Abenteuern in der Fremde, und die Bauern achteten ihn sehr, weil viele von ihnen nie die große Welt draußen gesehen hatten.

Der Bauer hielt sich für den klügsten Mann im Dorf, denn nicht einmal der Dorfälteste wagte es, ihm zu widersprechen.

Er heiratete eine junge und kluge Frau, hatte aber keine Achtung vor ihr.

Wenn sie ihm einen Rat geben wollte, unterbrach er sie: »Schweig, von dir brauche ich keinen Rat. Ich weiß es besser!«

Eines Tages kaufte der Mann auf einer seiner Reisen für hundert Piaster einen einäugigen Esel.

Seine Frau war erbost über den schlechten Handel, und sie versuchte, ihrem Mann zu erklären, daß er von den Städtern reingelegt worden sei, aber dieser schrie sie nur an: »Was verstehst du schon vom Handel? Dieser Esel ist kein einfaches Lasttier. Er ist klug und weise. Du wirst es sehen.«

Er fütterte den Esel mit dem besten Getreide. Dieser war aber ein gemeines Tier. Er schlug fortwährend aus, sobald sich die Frau ihm näherte.

Wenn sie sich darüber beschwerte, verhöhnte der Bauer sie.

»Er ist klüger und nützlicher als du«, sagte er und zeigte ihr, wie sanftmütig der Esel wurde, wenn er auf ihn zuging. Und in der Tat, der Esel fügte sich ergeben dem Willen seines Herrn, was dieser ihm auch immer befahl. So begann die Frau, den Esel zu hassen.

Kurze Zeit später mußte der Bauer wieder eine Reise antreten, und er befahl seiner Frau: »Gib gut acht auf den Esel, laß ihn keinen Hunger leiden. Was du ihm zufügst, tust du mir an.«

Gegen Mittag kam ein Händler, der Kleider und Schmuck von Haustür zu Haustür feilbot. Der Frau gefiel eine schöne Halskette und ein Kleid aus gutem Stoff, und so bot sie dem Mann kurzerhand den Esel dafür.

Der Händler schaute auf den wohlgenährten Esel, und da er sich wünschte, endlich seinen müden Rücken von der Last seines schweren Bündels zu befreien, nahm er den Esel und zog davon.

Nach einer Woche kehrte der Bauer zurück. Seine Frau schmückte sich mit der Kette und zog das schöne Kleid an, doch ihr Mann interessierte sich nicht für sie.

»Wo ist der Esel, Frau?«

»Lieber Mann«, erwiderte sie, »ich ging, wie du mir befohlen hast, ihm Futter zurechtzumachen. Die beste Gerste habe ich ihm gebracht, und was sehe ich da? Er hatte sich inzwischen in einen Richter verwandelt. Er sagte mir, er hätte keine Lust mehr, in deinem stinkenden Stall zu stehen und dich mit deinem fetten Bauch zu tragen. Das hat der verdammte Esel gesagt und ist in die Stadt gegangen, um über die Menschen zu richten.«

»Das habe ich nun von diesem undankbaren Vieh! Ich werde ihm zeigen, wer der Herr und wer der Esel ist. Hat er dir gesagt, wo er ist?«

»Ja, am Gerichtshof in der Hauptstadt.«

»Na warte, ich werde ihn zurückbringen!« rief der Mann und beeilte sich, in die nahe Hauptstadt zu kommen.

Dort fragte er nach dem Gerichtshof, und als er das prächtige Gebäude sah, stöhnte er: »Natürlich hast du es hier besser, aber ich bin nun mal dein Besitzer.«

Er nahm ein Büschel Gras und lief suchend von Raum zu Raum, bis er einen einäugigen Richter fand.

Er betrat den Saal, wedelte mit dem Gras und rief: »Komm! Komm, komm! Du Verfluchter, hast du die Gerste vergessen, die du bei mir gefressen hast? Komm!«

Da fragten ihn die Leute, die im Gerichtssaal saßen: »Was sagst du, Mann?«

»Der Richter ist mein Esel«, antwortete er. »Er hat meine Frau zum Narren gehalten. Sie ist ein dummes Weib. Aber er hat auch noch mich beschimpft. Jetzt sitzt er da und spielt den Richter. Nicht mit mir! Komm, du Hurensohn, komm!« rief er wieder und wollte zum Richter vortreten.

»Und woher weißt du, daß der Richter wirklich dein Esel ist?« wollte einer der Anwesenden wissen.

»Er ist einäugig«, antwortete der Bauer bestimmt. Die Leute lachten.

»Der Esel bist du! Weißt du, daß dieser Richter dich mit einem Wink seines Fingers an den Galgen bringen kann? Sei doch froh, daß er dich nicht gehört hat, du Dummkopf!« Sie warfen den Bauern hinaus.

Inzwischen war der Richter auf die Unruhe im Saal aufmerksam geworden und fragte nach dem Grund.

Einer erzählte ihm von dem verrückten Bauern. Der für seine Weisheit berühmte Richter hörte die Geschichte und lächelte. »Laßt den Mann hereinkommen!« befahl er.

Der Bauer zitterte vor Angst.

»Hab keine Angst, komm näher«, beruhigte ihn der Richter, und als der Mann ganz nahe bei ihm stand, fragte der Richter leise: »Wieviel war ich damals als Esel wert?«

»Fünfhundert Piaster, Euer Ehren!« sprach der Mann mit trockener Kehle.

»Nun, hier sind deine fünfhundert Piaster, nimm sie und geh nach Hause, aber sei so gut und verrate es niemandem hier, sonst kann ich nicht mehr richten.«

Er gab dem Bauern das Geld, und dieser eilte erleichtert davon.

Zu Hause angekommen, fragte ihn seine Frau: »Nun, was hast du erreicht?«

»Was habe ich dir gesagt?« antwortete er. »Der Esel war doch kein gewöhnliches Lasttier. Der Verfluchte saß auf einem schönen Stuhl und richtete über die Menschen. Und wenn ich nicht so klug wäre, hätte er mich an den Galgen gebracht.«

Das war die letzte Angeberei dieses Mannes, denn von nun an hörte er auf seine Frau und lebte glücklich bis zum Ende seiner Tage.