Honoré de Balzac
Die Frau von dreißig Jahren
Gewidmet dem Maler Louis Boulanger
Impressum
ISBN 9783955013356
2013 andersseitig.de
Covergestaltung: Erhard Koch
Digitalisierung: Erhard Koch
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
info@new-ebooks.de
(mehr unter Impressum-Kontakt)
Anfang April des Jahres 1813 verhieß ein Sonntagmorgen den Parisern einen jener schönen Tage, an welchen sie zum erstenmal im Jahr ihr Pflaster frei von Schmutz und den Himmel wolkenlos sehen. Kurz vor Mittag bog ein mit zwei feurigen Pferden bespanntes prächtiges Kabriolett aus der Rue de Castiglione in die Rue de Rivoli ein und machte hinter einer Reihe von Equipagen halt, die vor dem kürzlich neueröffneten Gitter mitten auf der Terrasse des Feuillants standen. Der zierliche Wagen wurde von einem kränklich und vergrämt aussehenden Mann gelenkt, dessen ergrauendes Haar nur spärlich den gelblichen Schädel bedeckte und ihn vor der Zeit gealtert erscheinen ließ. Er warf die Zügel dem Lakaien zu, der dem Wagen zu Pferde gefolgt war, und stieg ab, um ein junges Mädchen herunterzuheben, dessen liebliche Schönheit die Aufmerksamkeit der müßigen Spaziergänger auf der Terrasse erregte. Wie sie oben am Kutschrand stand, ließ sich die Kleine willig um die Taille fassen und umschlang den Hals ihres Führers, der sie auf das Trottoir hob, ohne den Besatz ihres grünen Ripskleides gedrückt zu haben. Ein Liebhaber hätte nicht sorgsamer sein können. Der Unbekannte musste der Vater des Mädchens sein, das, ohne ihm zu danken, vertraulich seinen Arm nahm und ihn ungestüm in den Garten zog. Der alte Vater bemerkte die verwunderten Blicke einiger junger Leute, und für einen Augenblick verflog die Trauer, die auf seinem Gesicht eingegraben war. Obwohl er längst das Alter erreicht hatte, wo sich die Männer mit den trügerischen Freuden der Eitelkeit bescheiden müssen, lächelte er. »Man hält dich für meine Frau«, sagte er dem jungen Mädchen ins Ohr, wobei er sich straffte und mit einer Langsamkeit dahinschritt, die die Kleine zur Verzweiflung brachte.
Er schien für seine Tochter kokett zu sein und genoss wohl mehr als sie die bewundernden Blicke, welche die Gaffer auf die kleinen Füße richteten, die in Schnürstiefeln aus flohbraunem Prünell stockten, auf die zierliche Taille, die sich unter dem schmalen Kleid abzeichnete, auf den frischen Hals, den ein gestickter Kragen leicht verhüllte. Bisweilen hob sich das Kleid des jungen Mädchens beim Gehen und zeigte oberhalb der Stiefelchen durch die durchbrochenen seidenen Strümpfe hindurch die Rundung eines feingeformten Beines. So überholte auch manch ein Spaziergänger das Paar, um das junge, von braunen Löckchen umspielte Gesicht noch einmal zu betrachten und zu bewundern, dessen weißer, rosig überhauchter Ton ebenso von dem Widerschein des rosafarbenen Atlasfutters eines eleganten Hutes wie von der aus allen Zügen der hübschen Kleinen leuchtenden Sehnsucht und Ungeduld vertieft wurde. Eine leise Schelmerei belebte die schönen, mandelförmig geschnittenen schwarzen Augen, die, unter sanft gewölbten Brauen von langen Wimpern beschattet, in einem feuchten Glanz schimmerten. Lebenslust und Jugendfrische hatten ihr Füllhorn über das mutwillige Gesicht ergossen und über eine Büste, die trotz des nach der damaligen Mode unterhalb des Busens angebrachten Gürtels doch von zierlicher Anmut war. Der Huldigungen nicht achtend, blickte das junge Mädchen mit einer gewissen Unruhe auf das Schloss der Tuilerien, das offenbar das Ziel ihres hastigen Spazierganges war. Es war Viertel vor zwölf. Trotz der frühen Stunde kamen schon einige Frauen, die sich in vollem Staat hatten zeigen wollen, vom Schloss und wandten den Kopf noch einmal missmutig zurück, um ihr Bedauern auszudrücken, dass sie zu einem ersehnten Schauspiel zu spät gekommen waren. Ein paar unwillige Worte, die der Enttäuschung der schönen Spaziergängerinnen entsprangen, waren von der hübschen Unbekannten im Vorbeigehen aufgefangen worden und hatten sie seltsam beunruhigt. Der alte Herr erspähte eher neugierig als spöttisch die Zeichen der Ungeduld und Furcht auf dem entzückenden Gesicht seiner Begleiterin, und er beobachtete sie wohl allzu genau, als dass der Hintergedanke des Vaters sich hätte verkennen lassen. – Dieser Sonntag war der dreizehnte des Jahres 1813. Zwei Tage später brach Napoleon zu jenem verhängnisvollen Feldzug auf, in dem er nacheinander Bessières und Duroc verlieren, die denkwürdigen Schlachten von Lützen und Bautzen gewinnen, sich von Österreich, Sachsen, Bayern und von Bernadotte verraten sehen und die schreckliche Schlacht von Leipzig ausfechten sollte. Die prachtvolle Parade, die der Kaiser selbst kommandierte, war die letzte von denen, die so lange die Bewunderung der Pariser und der Fremden erregt hatten. Die alte Garde sollte zum letztenmal die kunstvollen Bewegungen ausführen, deren Pracht und Präzision den Riesen bisweilen selber in Erstaunen zu setzen vermochten, den Riesen, der sich zu seinem Zweikampf mit Europa rüstete. Es war ein Gefühl von Trauer, das eine Menge Schaulustiger im Sonntagsstaat zu den Tuilerien hinführte. Jeder schien die Zukunft zu erraten und vielleicht zu ahnen, dass die Phantasie sich noch oft das Bild dieses Schauspiels zurückrufen würde, wenn diese heldischen Zeiten Frankreichs, wie es heute ist, schon einen fast sagenhaften Charakter angenommen haben würden.
»Lass uns doch schneller gehen, lieber Vater!« mahnte das junge Mädchen und zog den Greis mutwillig vorwärts, »ich höre die Trommler.« – »Das sind die Truppen, die in die Tuilerien einziehen«, beschwichtigte er. »Oder die defilieren ... es kommen schon alle zurück«, erwiderte sie mit einem kindlichen Missmut, der den Greis lächeln ließ. »Die Parade beginnt erst um halb eins«, begütigte der Vater, der seiner ungestümen Tochter kaum mehr folgen konnte.
Wie sie ihren rechten Arm schwang, hätte man meinen können, sie brauche das, um schneller vorwärts zu kommen. Ihre wohlbehandschuhte kleine Hand, die ungeduldig ein Taschentuch zerknitterte, glich dem Ruder eines Bootes, das die Wellen teilt. Der alte Herr lächelte hin und wieder, doch zuweilen verdüsterte auch flüchtig ein sorgenvoller Ausdruck sein hageres Gesicht. Seine Liebe für das schöne Geschöpf ließ ihn die Gegenwart ebenso genießen, wie sie ihn die Zukunft fürchten ließ. Er schien sich zu sagen: ›Heute ist sie glücklich, wird sie es immer sein?‹ Denn die Alten sind nur zu sehr geneigt, der Zukunft ihrer Kinder die Mitgift ihrer Sorgen aufzubürden. Als Vater und Tochter unter dem Säulengang des Pavillons angelangt waren, auf dessen Spitze die Trikolore flatterte und den die Spaziergänger auf ihrem Weg vom Tuileriengarten zur Place du Carrousel passieren müssen, riefen die Posten barsch: »Kein Durchgang mehr!«
Die Kleine stellte sich auf die Zehenspitzen und konnte eine Vielzahl geputzter Frauen sehen, die die beiden Seiten des alten Marmorbogens, durch den der Kaiser herauskommen musste, versperrten.
»Siehst du wohl, lieber Vater, wir sind zu spät von daheim weggegangen.«
Ihre betrübte Schmollmiene verriet, wie wichtig es ihr gewesen war, bei der Heerschau zugegen zu sein.
»Komm, Julie, lass uns gehen, du willst doch nicht zerdrückt werden!« – »Ach nein, bleiben wir, lieber Vater! Von hier aus kann ich immerhin noch den Kaiser sehen; wenn er im Feldzug umkäme, hätte ich ihn nie zu sehen bekommen.«
Der Vater erschrak, als er diese egoistischen Worte vernahm; seine Tochter hatte Tränen in der Stimme. Er sah sie an, und es kam ihm der Gedanke, dass die Tränen unter ihren gesenkten Lidern wohl weniger von diesem Verdruss als von einem jener ersten Bekümmernisse herrührten, deren geheimer Ursprung für einen alten Vater leicht zu erraten war. Plötzlich errötete Julie und stieß einen Ruf aus, den weder die Posten noch der Vater verstehen konnten. Ein Offizier, der aus dem Hof auf die Treppe zueilte, wandte sich bei diesem Ruf schnell um, kam bis zu der Gartenarkade heran, erkannte die junge Dame, die einen Augenblick von den großen Fellmützen der Grenadiere verdeckt gewesen war, und ließ sofort für sie und ihren Vater das Verbot, das er selbst erteilt hatte, aufheben. Dann zog er, ohne sich um das Murren der eleganten Menge, die das Tor belagerte, zu kümmern, die entzückte Kleine sanft an sich.
»Nun wundere ich mich nicht mehr, weder über ihren Zorn noch über ihr Ungestüm, da du hier Dienst tatest«, sagte der alte Herr mit einem Ton, der zugleich ernst und neckend war.
»Monsieur, wenn Sie einen guten Platz haben wollen«, antwortete der junge Mann, »dürfen wir jetzt nicht plaudern. Der Kaiser liebt es nicht zu warten, und ich bin vom Großmarschall zur Meldung befohlen.«
Während er sprach, hatte er mit einer gewissen Vertraulichkeit Julies Arm genommen und sie hastig zum Carrousel hin fortgezogen. Julie sah erstaunt, wie sich eine endlose Menge in den kleinen Raum zwischen den grauen Mauern des Palastes und den von Ketten gezogenen Schranken, mit denen man inmitten des Hofes der Tuilerien große sandbestreute Vierecke abgegrenzt hatte, drängte. Die Postenkette, die den Weg für den Kaiser und seinen Generalstab freihalten sollte, hatte die größte Mühe, die erwartungsvolle, wie ein Bienenschwarm surrende Menge nicht durchbrechen zu lassen.
»Es wird wohl sehr schön werden?« fragte Julie mit einem Lächeln. »Geben Sie doch acht!« rief der Offizier und fasste sie um die Taille, sie mit ebensoviel Kraft wie Schnelligkeit neben einer Säule in Sicherheit zu bringen.
Ohne diese rasche Entführung wäre seine neugierige Verwandte von der Kruppe eines Schimmels gequetscht worden. Dieses Pferd, das einen goldgewirkten grünen Samtsattel trug, wurde von dem Mamelucken Napoleons unmittelbar am Torbogen zehn Schritt hinter den übrigen Pferden, welche auf die hohen Offiziere warteten, die dem Kaiser zur Gefolgschaft dienten, am Zügel gehalten. Der junge Mann wies dem Vater und der Tochter neben der ersten Schranke, rechts vor der Menge, ihren Platz an und empfahl sie mit einer Kopfbewegung den beiden alten Grenadieren, zwischen denen sie standen. Als der Offizier sich wieder dem Palast zuwandte, war der Schreck, den ihm das Zurückweichen des Pferdes verursacht hatte, auf seinem Gesicht einem Ausdruck von Glück und Freude gewichen. Julie hatte ihm geheimnisvoll die Hand gedrückt, sei es, um ihm für den kleinen Dienst zu danken, sei es, um ihm zu sagen: ›Endlich sehe ich Sie also wieder!‹ Sie hatte sogar in Erwiderung des respektvollen Grußes, mit dem sich der Offizier vor seinem eiligen Verschwinden von ihr und ihrem Vater verabschiedete, sanft den Kopf geneigt. Der alte Herr, der die beiden jungen Leute absichtlich sich selbst überlassen zu haben schien, hielt sich in tiefstem Ernst dicht hinter seiner Tochter; doch beobachtete er sie heimlich und suchte ihr eine trügerische Sicherheit zu verleihen, indem er tat, als sei er von dem Anblick des prächtigen Schauspiels, den die Place du Carrousel bot, ganz hingerissen. Als Julie ihren Vater ängstlich wie ein Schüler seinen Lehrer anblickte, antwortete er ihr sogar mit einem heiter gütigen Lächeln; aber sein scharfes Auge war dem Offizier bis unter die Arkade gefolgt, und keine Einzelheit dieser flüchtigen Szene war ihm entgangen.
»Welch schönes Schauspiel!« sagte Julie leise und drückte ihrem Vater die Hand.
Der malerische und großartige Anblick, den das Carrousel in diesem Augenblick bot, entlockte denselben Ausruf Tausenden von Zuschauern, die alle vor Bewunderung in regloser Verzückung dastanden. Eine Menschenmasse, ebenso dichtgedrängt wie die, in der sich der Greis und seine Tochter befanden, stand in einer geraden Linie dem Schloss gegenüber auf dem engen, gepflasterten Raum, der am Gitter des Carrousels entlangläuft. Diese Menge brachte mit der Buntheit ihrer Damentoiletten das riesenhafte Rechteck, das die Gebäude der Tuilerien und das damals neuerrichtete Gitter bildeten, erst vollends zur Geltung. Die Regimenter der alten Garde, welche Revue passieren sollten, füllten den mächtigen Platz und bildeten dem Palast gegenüber zehngliedrige imposante blaue Linien. Parallel zu diesen hatten sich jenseits der Absperrung, im Carrousel, mehrere Infanterie- und Kavallerieregimenter formiert, bereit, durch den Triumphbogen zu defilieren, der die Mitte des Gitters ziert und auf dessen Spitze man zu jener Zeit noch die wundervollen venezianischen Pferde sah. Die Regimentskapellen, die unter den Galerien des Louvre postiert waren, wurden von den diensttuenden polnischen Ulanen verdeckt. Ein großer Teil des sandbestreuten Karrees blieb leer, wie eine für den Aufmarsch dieser lautlosen Marschblöcke vorbereitete Arena. Die mit militärischer Kunst symmetrisch verteilten Massen fingen die Strahlen der Sonne in den blitzenden dreieckigen Spitzen von zehntausend Bajonetten auf. In dem leichten Wind bewegten sich die Federbüsche der Soldaten wie die Bäume des Waldes unter einem heftigen Sturm. Diese alten Truppen boten schweigsam und glänzend in der Mannigfaltigkeit ihrer Uniformen, der Aufschläge, Waffen und Achselschnüre tausend Farbkontraste. Das riesenhafte Gemälde, das Miniaturbild eines Schlachtfeldes vor der Schlacht, mit all seinen Requisiten und bizarren Erscheinungen, wurde von den hohen, majestätischen Gebäuden, deren starre Ruhe sich auf die Offiziere und Soldaten zu übertragen schien, poetisch eingerahmt. Der Zuschauer verglich unwillkürlich die Mauern der Menschen mit den Mauern aus Stein. Die Frühlingssonne breitete verschwenderisch ihr Licht wie über die weißen, neuerbauten Mauern so über die schon jahrhundertealten und erhellte mit ihrer Strahlenfülle jene unzähligen wettergebräunten Gesichter, die alle von überstandenen Gefahren zeugten und die zukünftigen erst erwarteten. Die Obersten jedes Regiments schritten einzeln die Fronten dieser heldenmütigen Männer ab. Hinter den Massen der in Silber, Himmelblau, Purpur und Gold schimmernden Truppen konnten die Neugierigen die dreifarbigen Wimpel an den Lanzen von sechs unermüdlichen polnischen Reitern erkennen. Diese galoppierten, Hunden gleich, die eine Herde durch das Feld treiben, unaufhörlich zwischen den Truppen und den Zuschauern hin und her, um die letzteren daran zu hindern, den winzigen Raum, der ihnen neben dem kaiserlichen Gitter zugebilligt war, zu überschreiten. Abgesehen von diesem Hin und Her hätte man sich in Dornröschens Schloss versetzt glauben können. Der Frühlingswind, der über die langhaarigen Bärenfellmützen der Grenadiere strich, ließ die Unbeweglichkeit der Soldaten sichtbar werden, gleichwie das dumpfe Murmeln der Menge ihr Schweigen noch stärker hervorhob. Nur zuweilen erklang ein Schellenbaum oder ein versehentlicher leichter Schlag gegen eine große Trommel, den das Echo des kaiserlichen Palastes zurückwarf, was dem fernen Grollen des Donners bei einem aufziehenden Gewitter glich. Eine unbeschreibliche Begeisterung brodelte in der erwartungsvollen Menge. Frankreich schickte sich an, Napoleon am Vorabend eines Feldzugs, dessen Gefahren von dem einfachsten Bürger vorausgesehen werden konnten, Lebewohl zu sagen. Diesmal ging es um Sein oder Nichtsein des französischen Kaiserreichs. Dieser Gedanke schien Zuschauer wie Militärs zu bewegen, die sich gleicherweise schweigend in dem Umkreis zusammendrängten, über dem der Adler und das Genie Napoleons schwebten. Diesen Soldaten, der Hoffnung Frankreichs, diesen Soldaten, Frankreichs letzten Blutstropfen, galt vor allem die unruhige Neugier der Zuschauer. Die Mehrzahl der Anwesenden und der Soldaten sagten sich vielleicht auf ewig adieu. Alle Herzen aber, selbst die dem Kaiser feindlich gesinnten, richteten glühende Wünsche für den Ruhm des Vaterlandes zum Himmel. Selbst jene Männer, die des Kampfes, der sich zwischen Europa und Frankreich entsponnen hatte, ganz und gar müde waren, hatten ihren Hass abgetan, als sie durch den Triumphbogen zogen, wohl wissend, dass am Tag der Gefahr Napoleon ganz Frankreich war. Die Schlossuhr schlug halb eins. In diesem Augenblick verstummte das Surren der Menge, und die Stille wurde so tief, dass man das Wort eines Kindes hätte hören können. Da vernahmen der Greis und seine Tochter, die nur ganz Auge waren, das Klirren von Sporen und ein Rasseln von Säbeln, das unter dem hohen Säulengang des Schlosses laut widerhallte.
Ein kleiner, ziemlich fetter Mann, in hohen Reitstiefeln, mit einer grünen Uniform und einer weißen Hose bekleidet, erschien plötzlich, auf dem Kopf einen Dreimaster, der ebenso seltsam war wie der Mann selbst; das breite rote Band der Ehrenlegion flatterte auf seiner Brust, ein kleiner Degen hing an seiner Seite. Der Mann konnte von allen Augen und von allen Punkten des Platzes aus gleichzeitig gesehen werden. Sogleich schlugen die Trommeln den Fahnenmarsch, die beiden Orchester spielten einen Satz, dessen kriegerisches Thema von allen Instrumenten, von der zarten Flöte bis zur großen Trommel, aufgegriffen wurde. Bei diesem Kampfsignal erbebten alle Herzen; die Fahnen grüßten, die Soldaten präsentierten die Waffen mit einem einzigen gleichmäßigen Griff, durch welchen die Gewehre von der ersten bis zur letzten Reihe des Carrousels in einem Ruck emporgerissen wurden. Kommandoworte schallten von Reihe zu Reihe wie Rufe eines Echos. Die begeisterte Menge rief: »Es lebe der Kaiser!« Kurz, alles bebte, war in Bewegung, alles brodelte. Napoleon war zu Pferde gestiegen. Diese Bewegung hatte die schweigsamen Massen belebt, den Instrumenten eine Stimme gegeben, die Adler und die Fahnen zum Schwingen gebracht und auf allen Gesichtern Erregung hervorgerufen. Die Mauern der hohen Galerie dieses alten Schlosses schienen mitzurufen: ›Es lebe der Kaiser!‹ Es war nichts Menschliches mehr, es war ein Zauberwerk, ein Abbild der göttlichen Macht oder vielmehr ein vergängliches Bild dieser so vergänglichen Herrschaft. Der Mann, der von so viel Liebe, Begeisterung, Hingebung, Wünschen getragen wurde, für den die Sonne die Wolken vom Himmel gejagt hatte, saß auf seinem Pferde, drei Schritt vor dem kleinen, goldbetressten Stabe, der ihm folgte, mit dem Großmarschall zur Linken und dem diensttuenden Marschall zur Rechten. Inmitten all der Erregung, die er geweckt hatte, schien jeder Zug in seinem Gesicht völlig ungerührt.
»Bei Gott, ja! Bei Wagram mitten im Feuer, an der Moskwa zwischen den Toten, immer ist er unerschütterlich, der Kaiser!« Diese Antwort auf zahlreiche Fragen gab der Grenadier, der neben dem jungen Mädchen stand. Julie war eine Weile in der Betrachtung dieser Gestalt versunken, deren Ruhe ein so großes, sicheres Machtgefühl anzeigte. Der Kaiser bemerkte Mademoiselle de Chatillonest und neigte sich gegen den Marschall Duroc, um eine Bemerkung zu machen, die ein Lächeln bei diesem hervorrief. Die Heerschau nahm ihren Anfang. Während das junge Mädchen ihre Aufmerksamkeit bisher zwischen der kaltblütigen Miene Napoleons und den blauen, grünen und roten Reihen der Truppen geteilt hatte, beschäftigte sie sich in diesem Augenblick, angesichts der raschen und genauen Bewegungen der alten Soldaten, mit einem jungen Offizier, der zu Pferde durch die Marschkolonnen jagte und mit unermüdlichem Eifer zu der Gruppe zurückkehrte, an deren Spitze der schlichte Napoleon glänzte. Dieser Offizier ritt einen prächtigen Rappen und zeichnete sich, im Gegensatz zu der herausgeputzten Menge, durch die schöne himmelblaue Uniform des Ordonnanzoffiziers des Kaisers aus. Die Goldstickerei seines Rockes und der Reiherbusch seines schmalen, länglichen Tschakos funkelten so lebhaft in der Sonne, dass ihn die Zuschauer mit einem Irrlicht vergleichen mussten. Er war die sichtbar gewordene Seele des Ganzen, auf den Befehl des Kaisers dazu bestellt, die Bataillone zu beleben, zu führen, deren erhobene Waffen Blitze schleuderten, wenn auf einen Wink seiner Augen die Reihen sich teilten, sich wieder vereinigten, sich wie die Wellen eines Strudels im Kreise drehten oder wie die langen, geraden, hohen Wogen, die der empörte Ozean ans Ufer trägt, auf ihn zukamen.
Als die Heerschau zu Ende war, ritt der Ordonnanzoffizier mit verhängtem Zügel heran und hielt vor dem Kaiser, um seine Befehle zu erwarten. In diesem Augenblick war er zwanzig Schritt von Julie entfernt, vor der kaiserlichen Gruppe, in einer Haltung, ähnlich der, wie sie Gérard dem General Rapp auf dem Gemälde ›Die Schlacht von Austerlitz‹ gegeben hat. Es war dem jungen Mädchen vergönnt, den Mann ihres Herzens in seinem vollen militärischen Glanze zu bewundern. Der Oberst Victor d'Aiglemont, der kaum dreißig Jahre zählte, war groß, gut gewachsen, schlank. Sein wohlproportionierter Körper kam nie besser zur Geltung, als wenn er seine Kraft dazu gebrauchte, ein Pferd zu zügeln, dessen geschmeidiger, eleganter Rücken sich dann unter ihm zu biegen schien. Sein männliches, wettergebräuntes Gesicht hatte den unerklärlichen Reiz, den eine vollkommene Regelmäßigkeit der Züge jungen Gesichtern verleiht. Seine Stirn war breit und hoch. Seine feurigen Augen, von dichten Brauen beschattet und langen Wimpern umrandet, bildeten zwei weiße Ovale zwischen zwei schwarzen Linien. Seine Nase hatte die graziöse Biegung eines Adlerschnabels. Das Rot seiner Lippen trat unter den Krümmungen des unvermeidlichen schwarzen Schnurrbarts kräftig hervor. Breite Backen von lebhafter Farbe zeigten braune und gelbe Töne, die auf außerordentliche Kraft deuteten. Es war eins von jenen Gesichtern, denen die Tapferkeit ihr Gepräge verliehen hat, der Typus, auf den der Künstler heute aus ist, wenn er einen der Helden des kaiserlichen Frankreich darstellen will. Das schweißtriefende Pferd, dessen unruhig hin und her gehender Kopf äußerste Ungeduld ausdrückte, stand, die beiden Vorderfüße gespreizt und auf einer genauen Linie gehalten, unbeweglich da und ließ die langen Haare seines dichten Schweifes flattern; seine Hingebung versinnbildlichte auf eine greifbare Art die seines Herrn für den Kaiser. Julie empfand eine Regung von Eifersucht, als sie ihren Geliebten so beflissen sah, die Blicke Napoleons aufzufangen; sie dachte daran, dass er sie noch nicht angesehen hatte. Plötzlich, auf ein Wort des Herrschers, drückt Victor die Flanken seines Pferdes und galoppiert von dannen; aber der Schatten einer Schranke auf dem Sande erschreckt das Pferd; es scheut, weicht zurück und bäumt sich so jäh auf, dass der Reiter in Gefahr scheint. Julie stößt einen Schrei aus, sie erbleicht; alle Augen richten sich auf sie, sie sieht niemand; ihre Augen sind auf das wildgewordene Tier gerichtet, das der Offizier züchtigt, während er davonjagt, um die Befehle Napoleons weiterzugeben. Diese verwirrenden Szenen hatten Julie in solche Spannung versetzt, dass sie sich unbewusst an den Arm ihres Vaters geklammert hatte, dem sie so unwillkürlich durch den mehr oder weniger lebhaften Druck ihrer Finger ihre Gedanken mitteilte. Als Victor nahe daran gewesen war, von dem Pferd abgeworfen zu werden, hatte sie sich noch fester an ihren Vater geklammert, als ob sie selbst in Gefahr wäre zu fallen. Der Greis betrachtete mit finsterer, schmerzlicher Unruhe das liebliche Gesicht seiner Tochter, und über seine wie im Krampf zusammengezogenen Züge glitt ein Ausdruck von Mitleid, Eifersucht und Bedauern. Doch als der ungewohnte Glanz in Julies Augen, der Schrei, den sie ausgestoßen hatte, und die zuckende Bewegung ihrer Finger ihm vollends ihre heimliche Liebe enthüllten, mussten sich ihm wohl traurige Zukunftsbilder offenbaren, denn sein Gesicht spiegelte die Ahnung künftigen Unheils. In diesem Augenblick schien die Seele Julies in die des Offiziers übergegangen zu sein. Unter einem Gedanken, der an Grausamkeit alle bisherigen übertraf, krampfte sich das leidende Gesicht des Greises zusammen, als er d'Aiglemont, der an ihnen vorbeiritt, einen Blick des Einverständnisses mit Julie tauschen sah, deren Augen feucht schimmerten und deren Gesicht von Röte übergossen war. Er führte seine Tochter, ehe sie sich dessen versah, in den Garten der Tuilerien.
»Aber Vater«, sagte sie, »die Regimenter auf der Place du Carrousel werden noch weiter exerzieren.« – »Nein, mein Kind, alle Truppen defilieren.« – »Ich glaube, du irrst dich, lieber Vater, Monsieur d'Aiglemont sollte sie vorrücken lassen.« – »Wenn auch, liebes Kind, ich fühle mich nicht wohl und mag nicht mehr bleiben.«
Julie hätte ihrem Vater das ohne weiteres glauben können, wenn sie auf dieses von väterlichen Kümmernissen bedrückte Gesicht einen Blick geworfen hätte.
»Haben Sie starke Schmerzen?« fragte sie gleichgültig, so ganz war sie mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. »Ist nicht jeder Tag ein Gnadengeschenk für mich!« erwiderte der Greis. »Willst du mich wieder traurig machen, weil du von deinem Tode sprichst? Ich war so heiter. Verjage rasch deine bösen, schwarzen Gedanken!« – »Ach!« rief der Vater mit einem Seufzer, »verwöhntes Kind! Gerade die besten Herzen sind doch oft recht grausam! Dass man euch das Leben weiht, nur an euch denkt, für euer Behagen sorgt, seine Neigungen euren Launen opfert, euch vergöttert, das Blut für euch hingibt, ist das denn gar nichts? Ach ja, ihr nehmt alles unbekümmert hin. Man müsste allmächtig sein wie Gott, damit ihr einem immer euer Lächeln und eure herablassende Liebe zuteil werden lasst. Dann kommt schließlich ein anderer – ein Geliebter, und raubt uns euer Herz!«
Erstaunt sah Julie ihren Vater an, der langsam einherschritt und niedergeschlagen auf sie blickte.
»Ihr versteckt euch sogar vor uns«, fing er von neuem an, »aber vielleicht auch vor euch selber ...« – »Aber wie kannst du das sagen, lieber Vater!« – »Ich meine, Julie, dass du Geheimnisse vor mir hast. Du liebst!« sagte er lebhaft, als er sah, dass seine Tochter errötete; »ach, ich hoffte, du würdest deinem alten Vater treu bleiben bis zu seinem Tode; ich hoffte, dich glücklich und strahlend bei mir zu behalten, dich zu bewundern, so wie du noch eben warst. Solange mir dein Geheimnis unbekannt war, hätte ich an eine ruhige Zukunft für dich glauben können. Aber jetzt ist es unmöglich, dass ich eine Hoffnung auf Glück für dich mit mir fortnehme, denn du liebst noch mehr den Offizier als den Cousin. Ich kann nicht mehr daran zweifeln.« – »Warum soll ich ihn denn nicht lieben dürfen?« rief sie mit lebhafter Neugierde. »Ach, meine Julie, du würdest mich nicht verstehen!« sagte der Vater mit einem Seufzer. »Sage es nur!« erwiderte sie mit leisem Trotz. »Gut also, höre mich an, mein Kind! Die jungen Mädchen machen sich oft edle, berückende Bilder zurecht, ganz ideale Gestalten, und bilden sich phantastische Ideen über die Männer, die Gefühle, die Welt; dann statten sie in ihrer Unschuld irgendeinen Charakter mit allen Vollkommenheiten aus und vertrauen ihm; sie lieben in dem Mann ihrer Wahl diese eingebildete Gestalt. Aber später, wenn sie sich nicht mehr von dem Unglück losmachen können, verwandelt sich die trügerische Erscheinung, die sie so reich begabt haben, ihr erstes Idol, in ein abscheuliches Skelett. Julie, lieber sähe ich dich in einen Greis verliebt als in diesen Oberst. Ach, wenn du dich nur zehn Jahre älter sehen könntest, würdest du meiner Erfahrung Gerechtigkeit widerfahren lassen! Ich kenne Victor: seine Fröhlichkeit ist ohne Geist, eine Kasernenfröhlichkeit; er ist ohne irgendeine Begabung und verschwenderisch. Er ist einer von denen, die der Himmel erschaffen hat, um am Tage vier Mahlzeiten einzunehmen und zu verdauen, zu schlafen, die erste beste zu lieben und sich zu schlagen. Er versteht das Leben nicht. Sein gutes Herz, denn ein gutes Herz hat er, wird ihn vielleicht dazu bringen, einem Unglücklichen, einem Kameraden seine Börse zu geben; aber er ist leichtfertig, er hat nicht die Feinheit des Herzens, die dem Glück einer Frau Opfer bringt; er ist unwissend, egoistisch ... es gibt da sehr viele Aber.« – »Nun, Vater, er muss doch wohl etwas Geist und Begabung haben, da man ihn zum Oberst gemacht hat.« – »Meine Liebe, Victor wird sein ganzes Leben Oberst bleiben. – Ich habe noch keinen gesehen, der mir deiner würdig erschienen wäre«, sagte der alte Vater mit einer gewissen Begeisterung.
Er hielt einen Moment inne, sah seine Tochter an und fügte hinzu: »Meine liebe, arme Julie, du bist noch zu jung, zu zart, zu empfindsam, um die Leiden und Mühseligkeiten der Ehe zu ertragen. D'Aiglemont ist von seinen Eltern verwöhnt worden, ebenso wie du von deiner Mutter und mir verwöhnt worden bist. Wie ist es denkbar, dass ihr beide euch solltet verstehen können, da jeder von euch seinen eigenen Willen hat, der mit dem des anderen unvereinbar ist? Du wirst dich entweder tyrannisieren lassen oder selbst Tyrann sein. Das eine wie das andere bringt gleichermaßen Unglück in das Leben einer Frau. Doch du bist sanft und bescheiden, du wirst dich also zuerst beugen. Du hast«, sagte er mit zitternder Stimme, »eine Herzensanmut, die man nicht zu würdigen wissen wird, und dann ...« Er beendete den Satz nicht, die Tränen übermannten ihn. »Victor«, fing er nach einer Pause wieder an, »wird die unschuldigen Regungen deiner jungen Seele verletzen. Ich kenne die Soldaten, meine Julie; ich habe unter ihnen gelebt. Es ist selten, dass das Herz dieser Leute stark genug ist, um über die Gewohnheiten Herr zu werden, die sie inmitten all des Unglücks, das sie umgibt, und in den Zufällen ihres abenteuerlichen Lebens angenommen haben.« – »Du willst dich also meinen Gefühlen entgegensetzen und mich für dich und nicht für mich verheiraten?« versetzte Julie in einem Ton, der zwischen Ernst und Scherz lag. »Dich für mich verheiraten!« rief der Vater überrascht, »für mich, dessen freundlich warnende Stimme du bald nicht mehr hören wirst. Ich habe immer gesehen, dass die Kinder die Opfer, die ihnen ihre Eltern auferlegen, einem eigennützigen Gefühle zugeschrieben haben. Heirate Victor, meine Julie! Eines Tages wirst du seine Nichtigkeit, seine Liederlichkeit, seinen Egoismus, sein fehlendes Zartgefühl, seine Unfähigkeit zur Liebe und soundsoviel anderes Ungemach, das er dir bereiten wird, bitter beweinen. Dann erinnere dich, dass unter diesen Bäumen dich die prophetische Stimme deines Vaters vergeblich gewarnt hat!«
Der Greis schwieg, er hatte bemerkt, wie seine Tochter trotzig den Kopf schüttelte. Die beiden schritten auf das Gitter zu, wo ihr Wagen hielt. Während dieses schweigsamen Ganges beobachtete das junge Mädchen verstohlen das Gesicht ihres Vaters und gab ihre schmollende Miene allmählich auf. Der tiefe Schmerz, der auf dieser herabgeneigten Stirn eingegraben war, machte einen lebhaften Eindruck auf sie. »Ich verspreche dir, lieber Vater«, sagte sie mit sanfter und bewegter Stimme, »dir nicht mehr von Victor zu reden, bevor du von den Vorurteilen, die du gegen ihn hegst, abgekommen bist.« Der Greis betrachtete seine Tochter mit Erstaunen. Zwei Tränen rannen ihm über die gefurchten Wangen. Er konnte Julie vor der Menge, die sie umgab, nicht umarmen, aber er drückte ihr zärtlich die Hand. Als er den Wagen bestieg, waren alle sorgenvollen Gedanken, die seine Stirn umwölkt hatten, verflogen. Die ein wenig traurige Haltung seiner Tochter beunruhigte ihn weit weniger als die unschuldige Freude, deren geheime Ursache sie bei der Revue verraten hatte.
In den ersten Märztagen des Jahres 1814, knapp ein Jahr nach dieser Heerschau des Kaisers, rollte eine Kalesche auf dem Wege von Amboise nach Tours. Beim Verlassen des aus Nussbäumen gebildeten grünen Domes, unter welchem das Postgebäude von La Frillière versteckt lag, wurde das Fahrzeug mit solcher Geschwindigkeit dahingetragen, dass es im Nu an der Brücke, die über die Cise ging, bei der Mündung dieses Flusses in die Loire anlangte, wo es halten musste. Infolge der ungestümen Eile, zu der ein junger Postillion auf Befehl seines Herrn die vier schnellsten Pferde der Poststation angefeuert hatte, war einer der Zugriemen gerissen. So hatten die beiden Personen, die sich im Innern der Kalesche befanden, durch einen Zufall Musse, bei ihrem Erwachen eine der schönsten Landschaften, die die reizvollen Ufer der Loire bieten können, zu bewundern. Zur Rechten umfasst der Reisende mit einem Blick alle Krümmungen der Cise, die sich wie eine silberne Schlange durch das junge Gras der Wiesen windet, dem der erste Lenztrieb zu dieser Zeit einen smaragdenen Ton verlieh. Zur Linken erscheint die Loire in ihrer ganzen Pracht. Auf der weiten, vom frischen Morgenwind leichtgekräuselten Wasserfläche, die dieser majestätische Fluss entfaltet, werden die Sonnenstrahlen von unzähligen Facetten gebrochen. Wie die Edelsteine eines Halsbandes reihen sich hier und da grünende Inseln auf den schier unendlichen Wassern. Auf der anderen Seite des Flusses breiten die schönsten Landschaften der Touraine, soweit das Auge reicht, ihre Herrlichkeit aus. In der Ferne ist der Blick nur von den Hügeln des Cher begrenzt, dessen Gipfel sich zu dieser Stunde in leuchtenden Konturen von dem durchsichtigen Blau des Himmels abhoben. Durch das zarte Laubwerk der Inseln gesehen, scheint Tours, im Hintergrund des Bildes, sich wie Venedig aus dem Schoß des Wassers zu heben. Die Glockentürme seiner alten Kathedrale ragten in die phantastischen Gebilde eines weißlichen Gewölks hinein. Jenseits der Brücke, auf der der Wagen hielt, erblickt man längs der Loire bis gegen Tours eine Felsenkette, die die Natur aus einer Laune dahin gestellt zu haben scheint, um den Fluss einzudämmen, dessen Fluten unaufhörlich den Stein aushöhlen – ein Schauspiel, das stets das Staunen der Reisenden hervorruft. Das Dorf Vouvray liegt wie eingebettet in den Schlünden und Aushöhlungen dieser Felsen, die von der Brücke der Cise eine Biegung machen. Von Vouvray bis Tours hat ein Winzervolk seine Wohnstätten in den furchterregenden Klüften dieser zerrissenen Hügel. An mehr als einer Stelle sind drei Stockwerke hohe Häuser in den Felsen eingehöhlt und durch gefährliche, gleichfalls in den Stein gehauene Treppen miteinander verbunden. Oben von einem Dach aus läuft ein junges Mädchen im roten Unterrock in ihren Garten. Der Rauch eines Kamins steigt zwischen den sprossenden Reben und Ranken eines Weinbergs auf. Pächter arbeiten auf beinahe senkrecht abfallenden Feldern. Eine alte Frau sitzt mit ihrem Spinnrad ruhig auf einem eingestürzten Felsblock unter einem blühenden Mandelbaum und lächelt über das Erschrecken der Reisenden, die zu ihren Füßen vorüberziehen. Sie kümmert sich ebensowenig um die Risse, die im Boden klaffen, wie um die überhängenden Reste einer alten Mauer, deren Steinschichten nur noch von den krausen Wurzeln eines Efeumantels festgehalten werden. Der Hammer der Küfer tönt durch die in luftiger Höhe eingebauten Kellergewölbe. Das Land ist überall bestellt und fruchtbar, obwohl die Natur dem menschlichen Fleiß die Erdscholle versagt hat. Entlang der Loire ist nichts dem reichen Panorama vergleichbar, das die Touraine hier den Augen des Reisenden auftut. Das dreifache Bild dieser in ihrer Mannigfaltigkeit kaum angedeuteten Szenerie bereitet der Seele ein Schauspiel, das sie für immer in ihr Gedächtnis einprägt; und wenn ein Dichter dies genossen hat, so werden ihm seine Träume auf eine märchenhafte Weise immer wieder diese romantischen Eindrücke hervorzaubern.
Im Augenblick, wo der Wagen auf der Brücke der Cise angelangt war, tauchten zwischen den Inseln der Loire mehrere weiße Segel auf und verliehen dieser harmonischen Landschaft einen neuen Reiz. Der starke Duft der Weiden, die den Fluss begrenzen, vermischte sich mit dem Hauch der feuchten Brise. Die Vögel ließen ihr vielstimmiges Konzert ertönen, in welches der eintönige Gesang eines Ziegenhirten eine gewisse Schwermut mischte, während die Rufe der Schiffer eine ferne Regsamkeit ahnen ließen. Ein weicher Dunst, der launisch um die in die weite Landschaft gestreuten Bäume hing, lieh dem Bilde noch einen besonderen Zauber. Das war die Touraine in ihrer ganzen Pracht, der Frühling in seiner ganzen Herrlichkeit. Dieser Teil Frankreichs, der einzige, den die fremden Armeen nicht stören sollten, war zu jener Zeit der einzig ruhige, und man hätte meinen können, dass er der Invasion Trotz biete.
Sowie die Kalesche nicht mehr weiterfuhr, zeigte sich ein Kopf mit einer Feldmütze; und sogleich öffnete ein ungeduldiger Offizier eigenhändig den Wagenschlag und sprang auf die Straße, um den Postillion zur Rede zu stellen. Doch die Geschicklichkeit, mit der dieser Mann aus der Touraine die zerrissene Zugleine wieder instand setzte, beschwichtigte den Obristen Comte d'Aiglemont, der an den Wagenschlag zurücktrat und die Arme streckte, um die steifen Glieder zu lockern. Er gähnte, betrachtete die Landschaft und legte die Hand auf den Arm einer jungen Frau, die sorgfältig in einen Pelzmantel eingehüllt war.
»Wach auf, Julie«, rief er mit heiserer Stimme, »sieh dir doch einmal die Landschaft an! Sie ist prachtvoll.«
Julie steckte den Kopf aus dem Wagen. Sie trug eine Marderpelzmütze, und der weite pelzgefütterte Mantel, den sie trug, verbarg ihre Gestalt so völlig, dass man nur das Gesicht sehen konnte. Julie d'Aiglemont glich schon nicht mehr dem jungen Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit freudig und glücklich zu der Parade in die Tuilerien geeilt war. Ihr noch immer zartes Gesicht hatte die rosigen Farben verloren, die es ehedem hatten so blühend erscheinen lassen. Ihr schwarzes, von der Feuchtigkeit der Nacht aufgelöstes Lockenhaar ließ das matte Weiß des Gesichts hervortreten, dessen Lebhaftigkeit erstarrt schien. Ihre Augen glänzten allerdings in einem übernatürlichen Feuer; doch unterhalb der Lider lagen dunkle Schatten auf den müden Wangen. Sie ließ ihre Blicke gleichgültig über die Landschaften des Cher, der Loire mit ihren Inseln, über Tours und die Felsenkette von Vouvray schweifen, dann sank sie schleunigst wieder in die Polster des Wagens zurück, ohne das entzückende Tal der Cise ansehen zu wollen, und sagte mit einer Stimme, die im Freien außerordentlich schwach klang: »Ja, es ist wunderbar.«
Sie hatte, wie man sieht, über ihren Vater gesiegt – zu ihrem Unglück.
»Julie, möchtest du nicht hier leben?« – »Oh, hier oder anderswo«, sagte sie leichthin. »Fehlt dir etwas?« fragte sie der Oberst d'Aiglemont. »Keineswegs«, erwiderte die junge Frau mit erzwungener Lebhaftigkeit. Sie blickte ihren Mann lächelnd an und fügte hinzu: »Ich möchte schlafen.«
Plötzlich ertönte der Galopp eines Pferdes. Victor d'Aiglemont ließ die Hand seiner Frau los und wandte den Kopf nach der Biegung, die der Weg an dieser Stelle machte. Sobald der Oberst von Julie wegblickte, schwand der heitere Ausdruck, den sie ihrem blassen Gesicht gegeben hatte, als wäre ein heller Schein plötzlich erloschen. Da sie weder den Wunsch hatte, die Landschaft wiederzusehen, noch die Neugier, zu wissen, wer jener Kavalier sei, dessen Pferd so wild dahergaloppierte, drückte sie sich in die Ecke des Wagens und hielt die Augen starr und ohne irgendein Gefühl zu verraten, auf die Kruppe der Pferde gerichtet. Sie hatte den stumpfen Blick eines bretonischen Bauern, wenn er die Predigt seines Pfarrers hört. Ein junger Mann auf einem kostbaren Pferde kam plötzlich aus einem Wäldchen von Pappeln und blühendem Hagedorn hervor.
»Das ist ein Engländer«, sagte der Oberst. »Ach Gott, ja, Monsieur le Général«, erwiderte der Postillion; »es ist einer von den Kerlen, die, wie man sagt, Frankreich fressen wollen.«
Der Unbekannte war einer jener Reisenden, die sich auf dem Kontinent befanden, als Napoleon in Erwiderung der Verletzung des Völkerrechts durch das Kabinett von Saint-James, das den Vertrag von Amiens gebrochen hatte, alle Engländer festnehmen ließ. Diese Gefangenen, die den Launen der kaiserlichen Macht unterstellt waren, blieben nicht alle an den Orten, wo sie festgenommen worden waren, noch an denen, die sie anfangs nach Belieben wählen konnten. Die meisten von denen, die zu dieser Zeit die Touraine bewohnten, waren aus den verschiedensten Teilen des Kaiserreichs, wo ihr Aufenthalt die Interessen der kontinentalen Politik hätte gefährden können, dorthin transportiert worden. Der junge Gefangene, der hier seine Vormittagslangeweile spazierenführte, war solch ein Opfer der bürokratischen Macht.
Vor zwei Jahren hatte er auf Befehl des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Montpellier, wo er sich zur Zeit des Friedensbruchs aufhielt, um eine Heilung von einem Lungenleiden zu erlangen, verlassen müssen. Im Augenblick, da der junge Mann in dem Comte d'Aiglemont einen Offizier erkannte, suchte er dessen Blicken auszuweichen und wandte den Kopf auffällig genug den Wiesen längs der Cise zu.
»Alle diese Engländer sind unverschämt, als ob die ganze Welt ihnen gehörte«, brummte der Oberst; »nun, Soult wird ihnen schon die Peitsche geben!«
Als der Gefangene an der Kalesche vorbeiritt, warf er einen Blick hinein. Trotz der Flüchtigkeit dieses Blicks konnte er auf dem nachdenklichen Gesicht der Comtesse der Melancholie gewahr werden, die ihm einen so unbeschreiblichen Reiz verlieh. Es gibt viele Männer, die durch den bloßen Anblick des Leidens einer Frau mächtig bewegt werden; in ihren Augen scheint der Schmerz eine Bürgschaft der Treue oder der Liebe zu sein. Julie, die ganz in die Betrachtung eines Wagenkissens versunken war, achtete weder auf das Pferd noch auf den Reiter. Der Riemen war rasch und fest ausgebessert worden. Der Comte stieg wieder in den Wagen. Der Postillion bemühte sich, die verlorene Zeit wieder einzuholen, und fuhr in raschem Trab auf dem Damm dahin, den die überhängenden Felsen begrenzten, an deren Hängen die Weine von Vouvray reifen und auf denen so viele hübsche Häuser emporragen. In der Ferne konnte man die Ruinen der berühmten Abtei von Marmontiers, den Zufluchtsort des heiligen Martin, erblicken.
»Was will dieser bleichwangige Lord eigentlich von uns?« rief der Oberst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Reiter, der seinem Wagen von der Cisebrücke an folgte, tatsächlich der junge Engländer war.