Ignaz Miller

Mit vollem
Risiko
in den Krieg

Deutschland 1914 und 1918
Zwischen Selbstüberschätzung
und Realitätsverweigerung

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Einleitung

Überrüstung, Überschuldung, Übermut

Als Winston Churchill und Charles de Gaulle von einem dreissigjährigen Krieg sprachen, hatte der Zweite Weltkrieg gerade begonnen. Er wurde das lange Schlusskapitel eines 1914 ausgelösten Konflikts. Fünfundzwanzig Jahre nach den deutschen Kriegserklärungen an Russland und Frankreich im Jahr 1914 folgte 1939 – vor 75 Jahren – der Überfall auf Polen. Bis zur bedingungslosen Kapitulation sollten schliesslich knapp 31 Jahre vergehen.

Bereits 1918 war das Reich nur knapp an einer bedingungslosen Kapitulation vorbeigeschrammt. Die militärischen Führer der USA, einflussreiche Republikaner im Senat wie Henry Cabot Lodge und weite Teile der Presse verlangten nichts anderes.

Auf deutscher Seite waren im November 1918 Heeresleitung, Parlamentarier und Regierung bereit zu kapitulieren. So verzweifelt war die Lage. Einzig die in letzter Sekunde signalisierte Einwilligung der Alliierten in den ersehnten Waffenstillstand ersparte dem Reich diesen Schritt.

Keine vier Wochen später begrüsste jedoch der SPD-Führer und nachmalige Reichspräsident Friedrich Ebert die paradierenden Truppen in Berlin mit seinem «Unbesiegt im Felde!». Der Feldmarschall Paul von Hindenburg fing den Ball dankbar auf und montierte vor dem Reichstag seine Dolchstosslegende. Kein Parlamentarier wagte den Hinweis, dass der vormalige Generalstabschef mit dieser Erklärung vom eigenen Versagen ablenkte. Die Oberste Heeresleitung hatte die politische Führung ahnungslos gehalten. Das Notgeständnis des drohenden Zusammenbruchs überrumpelte die Politiker komplett.

Als Opfer seiner eigenen Propaganda war Deutschland in den Krieg gezogen im Glauben, die anderen hätten sich gegen das Reich verschworen. Um aus dem Krieg in der Überzeugung zurückzukehren, den Sieg verdient zu haben. Wo man doch so viel tüchtiger war als die anderen. Eine der Folgen war eine «tonnenschwere […] Kriegsunschuldliteratur», wie der Schweizer Historiker Herbert Lüthy in seinem Essay Das Ende einer Welt 1914 notierte.1

Befangen in ihrer Verantwortlichkeitsleugnung vergab die Weimarer Republik die Möglichkeit für einen Neuanfang. Anstelle von Frieden und Abrüstung dominierten Revision und heimliche Aufrüstung. Ohne die gründliche Vorarbeit der Republik hätte das Dritte Reich nicht schon fünf Jahre später über eine kriegsbereite Armee verfügen können.

Der leider früh verstorbene britische Historiker Tony Judt schrieb in seinem Postwar, dass der Versailler Friedensvertrag kaum so schrecklich gewesen sein könne, wenn das Reich 20 Jahre später wieder Europa überfallen konnte.

Der schlechte Ruf des Vertrags ist eine der bleibenden deutschen Propagandaleistungen. Wie auch die Betonung einer alliierten Verantwortung für den Kriegsausbruch von 1914. Dieser Doppelmythos – nicht für den Krieg verantwortlich gewesen und im Felde unbesiegt zu sein – bildete den Nährboden für die auf die alldeutsche Vaterlandspartei des Kaiserreichs aufgepfropften Nationalsozialisten.

Die Wurzeln der Karriere des Führers und der Nationalsozialisten im Friedensvertrag von Versailles zu orten, ist bis heute ein intensiv gepflegter Nachkriegsmythos. Er bietet den grossen Vorteil der moralischen Entlastung vom Krieg und der unglaublichen Verbrechensorgie, die damit einherging. Bis hin zur Massenversklavung und der industriell betriebenen Vernichtung missliebiger Minderheiten.

Das beliebte Frankreichfeindbild und ein unübersehbarer Hass auf den Ministerpräsidenten Georges Clemenceau erleichtern die Vorstellung, dass Adolf Hitler mit allen seinen Folgen im Grunde eine – weitere – böse Erfindung des französischen Ministerpräsidenten war.

Kein Historiker bestreitet indes heute ernsthaft, dass Berlin im Juli 1914 ein diplomatisches Powerplay betrieb. «Den Weltkrieg hat nicht Petersburg ausgelöst – wäre es auch nur, weil ihm Berlin keine Zeit liess», so bereits Herbert Lüthy 1964. Unumstritten ist weiter, dass die deutsche Führung den sich verhärtenden Widerstand Russlands als Gelegenheit zum Krieg nutzte, statt zurückzukrebsen. In Berlin gratulierten sich die Generalstäbler freudestrahlend, «endlich über den Graben zu sein».2

Was motivierte das Land im Bewusstsein seiner wenigen Freunde zum Krieg? Sicher einmal die Zuversicht, seine Gegner in einem schnellen Feldzug vernichtend zu schlagen und mit einer fetten Kriegsbeute heimzukehren.

Wie Aussenminister Gottlieb von Jagow dem amerikanischen Botschafter erklärte, «war Deutschlands bestes Asset in einem Krieg die Bereitschaft zu einem plötzlichen, überwältigenden Schlag».3 Genau deswegen wollte das Reich auch nicht die Bryan-Friedensverträge unterschreiben, die sich der amerikanische Aussenminister zur Konfliktvermeidung ausgedacht hatte. Es hätte sonst sein «bestes Asset» preisgegeben.

Der in Berlin akkreditierte amerikanische Diplomat Joseph Grew zweifelte indes bereits im August 1914 am deutschen Erfolg: «Deutschland ist fabelhaft kriegsbereit […] Deutschland kämpft um sein Leben, und es weiss es. Aber so stark und bereit es auch ist, kann ich mir nicht vorstellen, wie es gegen die furchtbaren Kräfte gewinnen kann.»4

Was bewog die Führung, solch übergrosse Risiken einzugehen? Und mit der übergrossen Risikobereitschaft während des Krieges weiterzufahren, bis sie sich schliesslich auch noch die USA als Feind aufgeladen hatte?

Die Antwort findet sich weniger in den akkuraten Aufmarschtabellen der Eisenbahnabteilung des Generalstabs oder der sicher exzellenten Qualität der Torpedokonstruktionen.

Sie findet sich nur bedingt im Führungschaos des halbautokratischen Berlin und dem «pickelhäubig-byzantinischen Plebejertum des letzten Hohenzollern», wie Herbert Lüthy Kaiser Wilhelm II. ungnädig charakterisierte.

Sie findet sich weit eher bei einem Blick auf die Mentalität mit ihrem überaus gesunden Selbstbewusstsein und der Neigung wie Fähigkeit, Umstände schnell und taktisch geschickt zu nutzen. «Grenzenloses Selbstvertrauen», notierte Joseph Grew. Zur Mentalität gehören aber auch eine Verbohrtheit und Sichtverengung, die bis zur Realitätsverweigerung geht.

Eine Rolle spielten ebenso die labilen Finanzen. Das Reich hatte sich schwer verschuldet. Die Wirtschaft steckte in einer scharfen Konjunkturkrise. Die Vorstellung einer fetten französischen Kriegskontribution hatte entschieden ihren Reiz.

Insgesamt sind drei Faktoren hinter der Kriegsentscheidung auszumachen: Überrüstung, Überschuldung und Übermut.

Das Attentat von Sarajevo bot eine taktische Gelegenheit. Das Reich entschloss sich, sie zu nutzen. Wie der britische Diplomat Eyre Crowe bereits im Juli 1914 formulierte: «Es geht in diesem Kampf nicht um den Besitz Serbiens, sondern um Deutschland, das auf eine politische Diktatur in Europa zielt, und die Mächte, die ihre individuelle Freiheit zu erhalten wünschen.»5

Wilhelm II. sah es nicht anders. In seiner Thronrede vom 6. August 1914 führte der Kaiser aus: «Die gegenwärtige Lage ging nicht aus vorübergehenden Interessenkonflikten oder diplomatischen Konstellationen hervor, sie ist das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reichs.»6

Anders als Christopher Clark 100 Jahre später in seinen Sleepwalkers orteten diese beiden Hauptakteure den Grund für den Krieg nicht in den Betten französischer Ministergattinnen oder im komplizierten Liebesleben des österreichisch-ungarischen Generalstabschefs. Der englische Diplomat sah seine Freiheit gefährdet. Der Kaiser fand, man habe etwas gegen Deutschland. Damit widersprachen sie sich nicht einmal.

Wie der deutsch-englische Antagonismus aufkam, hat niemand besser untersucht als Paul Kennedy. Der Professor an der Yale University in New Haven hatte zehn Jahre an seiner Studie gearbeitet und intensiv direkt aus den Quellen geschöpft. Seine Arbeit über die deutsch-englischen Beziehungen bis 1914 bleibt auch 30 Jahre nach ihrer Veröffentlichung unverzichtbar, um sich ein Bild von der Aussenpolitik und der anti-englischen Stimmung des Kaiserreichs zu machen (Clark nimmt diese Spur nicht auf).

Weiter hilft eine Reihe von Längsschnitten, eine bessere Vorstellung der handlungsleitenden Mentalität des Hauptakteurs zu gewinnen.

Zur spezifischen Mentalität gehörten die spielerische Leichtfertigkeit und die immense Risikobereitschaft der Führung in Berlin. Sie paarte sich mit einer markanten Selbstüberschätzung. Die wiederum ging einher mit einer stark rassistisch gespeisten Geringschätzung anderer Nationen. Nur so erklärt sich vieles, das sonst letztlich unerklärt bleibt.

Nach einem prüfenden Blick auf französische Ministerbetten fand Christopher Clark, dass sich die Verantwortung für den Krieg auf alle Parteien verteile, vor allem aber Grossbritannien anzulasten sei. In der Nahanalyse räumt er jedoch ein, dass Deutschland die kriegstreibende Macht war. Mit diesem manifesten Widerspruch bietet er seinen Studenten kaum ein leuchtendes Vorbild.

Die deutschen Medien gehen meist grosszügig darüber hinweg. Sie spüren das Bedürfnis nach einem heilen Geschichtsbild und einer veredelnden Selbststilisierung. Ganz in der langen Tradition des friedlichen Deutschen, dessen Gutmütigkeit «welsche Tücke» und der «perfide Albion» nach Kräften strapazieren.

Das deutsche Selbstbild als Opfer übler Fremdbestimmung reicht zurück bis ins späte Mittelalter. Es lebte in der aktuellen Eurokrise unterschwellig wieder auf und steigerte sich phasenweise zu Ad-hominem-Attacken gegen den Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Clark spürte den Trend und machte mit seinen Sleepwalkers ein Business daraus.

Über dem kommerziellen Erfolg konnte der australische Professor auch in Kauf nehmen, dass sich der britische Historiker Nigel Jones öffentlich wunderte, wieso er seine Vorlesungen nicht schon längst mit der Pickelhaube halte.

Nigel Jones attestierte seinem Kollegen «Teutonophilie» und wies auf den deutschen Orden hin, den er entgegengenommen habe. Dies wäre nur ein Beleg mehr für Clarks Grenzen. Der Bankier Carl Fürstenberg – aus dem Berlin Wilhelms II. nicht wegzudenken – vermied es, Orden und Titel entgegenzunehmen, da es darauf keine Amnestie gebe.

Mein Verleger, dem ich für sein umsichtiges Coaching unendlich dankbar bin, lud mich ein auszuführen, was mich zu diesem Buch motivierte. Ausgangspunkt war der Versailler Friedensvertrag mit seiner schlechten Reputation. Selbst ein Hans Magnus Enzensberger verteufelt ihn in seinem Buch Hammerstein oder der Eigensinn.7 Sicher in gewählteren Worten als die nationalsozialistische Propaganda, aber in der Stossrichtung identisch. Ein – zugegeben: nichtarischer – Historiker wie Tony Judt sah es sichtlich anders.

Dass der Vertrag unmittelbar auf den Waffenstillstandsbedingungen aufbaute, wissen höchstens einige Spezialisten. Ebenso, dass er genügend elastisch ausgelegt war, um Revisionen zu erlauben. Schliesslich John Maynard Keynes: Nachdem er wegen manifester Illoyalität aus der britischen Friedensdelegation ausgeschlossen war, schrieb er seine vielzitierten The Economic Consequences of the Peace. Das Pamphlet kombiniert eine manifeste Germanophilie, Antisemitismus und die verletzte Eitelkeit des besserwissenden Fachbeamten mit deutschem Propaganda-Zahlenmaterial. Was seinem Erfolg höchstens entgegenkam.

Über dem Blick auf das Kriegsende wurde es unvermeidlich, sich den Kriegsbeginn anzuschauen. Das Auswärtige Amt in Berlin arbeitete bereits 1918 an einer entlastenden Interpretation. Die Tradition, sich dafür gefügige angelsächsische Historiker zu sichern, kam in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf.

Dass im Kriegsentschluss des überschuldeten Kaiserreichs manifeste wirtschaftliche Motive mitschwangen, wird gerne ignoriert. Dabei sind sie sehr erhellend. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Weigerung, für die angerichteten Kriegsschäden aufzukommen. Oder wenigstens nach dem Krieg die eigene Währung zu stabilisieren und die aufgelaufenen Kriegskosten gleichmässig zu verteilen. Stattdessen sanierte sich das Reich mit der Hyperinflation einseitig auf Kosten der politisch schlecht vertretenen Sparer unter intensiver Favorisierung der Arbeiterschaft und der Industrie.

Wenn heute die Deutsche Bundesbank in der Eurozone eine dogmatisch starre Geldpolitik verficht und im Zweifelsfall lieber eine Deflation als eine Abweichung von der monetären Orthodoxie riskiert, beruft sie sich dafür gerne auf die Weimarer Hyperinflation. Dass diese Inflation in der Überrüstung des Kaiserreichs wurzelt und der höchst unsoliden, da auf Siegesprämie abgestellten Kriegsfinanzierung, wird nie erwähnt. Ebenso die mehr als exzessiven Haushaltsdefizite der Weimarer Republik und die Subventionierung der Industrie mit den Zinsen der von der Reichsbank erworbenen Staatspapiere.

In der – hoffentlich überstandenen – Eurokrise zeigten sich die Fortschritte einer deutschen Integration in Europa ebenso wie die alten Reflexe. Ich erwähne nur die Neigung, taktische Gelegenheiten ohne Rücksicht auf grössere Zusammenhänge bis zum Äussersten zu strapazieren. Oder die Bereitschaft, stur auf einem Standpunkt zu verharren und darüber unverhältnismässige Risiken einzugehen. Viel hätte nicht gefehlt, bis die Krise der Gemeinschaftswährung ausser Kontrolle geraten wäre. Und dies alles für den kurzfristigen Vorteil unverhältnismässig günstiger Zinsen. Darüber nahm die Bundesbank auch in Kauf, dass die Zinsen gerade für Italien und Spanien in dramatische Höhen schossen. Mit der Folge unnötig scharfer Rezessionen in beiden Ländern.

Unübersehbar ist ebenso der bestens organisierte Propagandaapparat der Deutschen Bundesbank. Die Maschinerie funktioniert so gut, dass selbst in Zürich unliebsame Zentralbankentscheidungen dank williger Interviewpartner umgehend kritisch kommentiert wurden.

Unübersehbar ist weiter die Kontinuität der unseligen Professorentradition des Kaiserreichs, sich lautstark zu Tagesfragen zu äussern. Statt für Kolonialerwerbungen und unbeschränkten U-Boot-Krieg trommeln sie heute mit grösster Verbissenheit für eine Politik, die auf einen deutschen Alleingang hinausläuft.

Unübersehbar ist aber auch, dass die Nachbarn die spezifische deutsche Mentalität viel besser kennen als früher und gelernt haben, damit umzugehen. Das Land bleibt gleichwohl ein schwieriger Partner. Um nur ein konkretes Beispiel zu geben: Berlin insistierte bei Einführung der Währungsunion, auf eine Koordination der Wirtschaftspolitik auf europäischem Niveau zu verzichten. Vierzehn Jahre und eine fundamentale Krise später ist das Land so weit, dass es den Wert einer europäischen Wirtschaftspolitik erkennt. (Die unübersehbare wirtschaftliche Asynchronisierung in Europa ist in vieler Beziehung eine Folge der deutschen Vereinigung und der daraufhin ausgelösten Sonderkonjunktur. Seither bewegt sich die deutsche Wirtschaft phasenverschoben.)

Der Hang zur Brutalität, den amerikanische Diplomaten vor dem Ersten Weltkrieg notierten, mag nicht mehr ganz so dramatische Formen annehmen wie auch schon. Ihm ausgesetzt zu sein, bleibt unangenehm genug. Seit der Vereinigung erlebt nicht nur die Eidgenossenschaft ein ganz anderes Deutschland als dasjenige nach dem Krieg, das dankbar helvetische Anerkennung für seine demokratischen Fortschritte entgegennahm.

Letztes Motiv: Die grosse Europäisierung wird irgendwann auch zu einer Geschichtsschreibung aus europäischer Sicht führen. Damit wird eine Neudeutung des deutschen Erklärungsmodells der «verspäteten Nation» unvermeidlich werden. «Verspätet» kam zweifellos das Bekenntnis zum Recht statt zur Gewalt.

Entsprechend dürften die Pariser Friedensverträge eine neue Würdigung erfahren als erster fundamentaler Versuch zu Gewaltfreiheit und Selbstbestimmung. Die Gründung des Völkerbunds bildete den wichtigsten Teil des Versailler Vertrages. Für die Schweiz, der die Missachtung der belgischen Neutralität alles andere als gleichgültig gewesen war, boten sich dank des Vertrags neue Sicherheitsperspektiven. Sie trat dem Völkerbund bei. Sicher nicht, weil die Idee einer Zukunft ohne Krieg schlecht war. «Nichts lässt sich […] zugunsten des Vertragswerks von Versailles sagen, als dass es der letzte und bei aller Mangelhaftigkeit verzweifelt ernsthafte Versuch eines ‹grossen Friedens› war», bilanziert Herbert Lüthy.

Aber wie Lüthy weiter betonte: «Für einen ‹Endkampf der Germanen, Slawen und Gallier› war selbst bei Macchiavelli kein Kraut gewachsen. Versailles konnte ihn nicht regeln, Locarno nicht und München auch nicht; was 1914 begann, kam erst 1945 ans Ende.»

1
Vom «auserwählten» zum «wirklich dummen Volk»

Vom Angriff zum unerwünschten Finale und der gross inszenierten Selbstentlastung

«Unsere Lazarettwagen fassten vier schmale Tragbahren. Wenn das Geschäft blühte, wurden auf jede mindestens zwei Schwerverwundete gebunden (schon für einen war’s zu schmal). Schnell wie der Wind (Maximalgeschwindigkeit zwanzig Stundenkilometer) sausten wir mit wimmernden Fuhren immer erst zu unserem Lazarett in Ardon, wo die Scheisse ausgeladen, sortiert und etikettiert wurde. Meistens kamen vier von den acht tot an. Ich wurde Leichenkutscher. In einer der ersten Nächte ohne Licht und ohne Erfahrung kippte ich in einer Kurve mit voller Karre. Die Sterbenden brüllten im umgeworfenen Wagen, ich blieb todmüde liegen und schlief mich aus. Nur einer kam mit dem Leben davon: ich. Die Turnhalle der Dorfschule diente als Krankensaal. Beim Empfang entschied Feldunterarzt von Schulzenburg kurzangebunden, wer ins Kellerloch, durch das in Friedenstagen die Kohlen unter die Turnhalle trudelten, geworfen zu werden hatte. ‹Dem Lebenden ist nichts recht zu machen, ein Sterbender wird ewig dankbar sein!›, zitierte er mit medizinischem Lächeln. Verzweiflungsschreie aus der Unterwelt straften ihn Lügen, während die Obenbleibenden mit Antitetanusspritzen gequält wurden.»1

So der «Sanitätskraftwagenführer» Erwin Blumenfeld über seine kriegsmedizinischen Erlebnisse im Jahre 1917. Mit seinen Bildern für das Modemagazin Vogue wurde der Fotograf so berühmt, dass ihm der Grand Palais in Paris im Herbst 2013 eine Ausstellung widmete.

Blumenfeld war dem Feldlazarett in Ardon-sous-Laon zugeteilt worden. Das Lazarett gehörte zur 7. (sächsischen) Armee. 1917 kontrollierten die deutschen Armeen im vierten Jahr weite Teile Nordfrankreichs und Belgiens.

Knapp drei Jahre zuvor, am 4. Oktober 1914, hatte Gerhart Hauptmann den «Aufruf an die Kulturwelt» unterschrieben zusammen mit den Malern Max Liebermann, Hans Thoma, Max Klinger und Wilhelm Hübner, dem Komponisten Engelbert Humperdinck, dem Regisseur Max Reinhardt, dem Theologen Adolf von Harnack, dem Physiker Max Planck und anderen prominenten Persönlichkeiten: «Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten.»2

Insgesamt hatten 93 prominente Figuren des öffentlichen Lebens ihren Namen unter das Manifest gesetzt. Die Herren verneinten radikal, dass es bei der Eroberung Belgiens auch nur zu den kleinsten Übergriffen gekommen sei.

In Wirklichkeit hatten die einfallenden Armeen im August 1914 in kürzester Zeit 6000 Zivilisten ermordet – darunter viele Kleriker –, reihenweise Kirchen zerstört und die Universitätsbibliothek von Louvain angezündet. Augenzeugen fühlten sich an einen Religionskrieg erinnert. Der Nuntius (Giovanni Tacci-Porcelli) erwähnte in seinem Bericht nach Rom einen «lutherischen Hass». Die schlimmsten Exzesse hatten tatsächlich evangelische Einheiten zu verantworten, die zuletzt in Südwestafrika eingesetzt worden und mit äusserster Brutalität gegen die aufständischen Hereros vorgegangen waren.3

Die Künstler und Professoren beliessen es nicht bei ihren empörten Negierungen. Sie attackierten gleichzeitig: «Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weisse Rasse zu hetzen.»4 (Mit diesem Hinweis spielten die Professoren auf die russischen Einheiten aus dem Turkgürtel und die französische Kolonialinfanterie an.)

Der «Aufruf an die Kulturwelt» war erfolgt:

bevor von der «weissen Rasse» der Chemiker Fritz Haber sein Giftgas entwickelt hatte und vor Ypern persönlich den ersten Chlorgasangriff überwachte. Fritz Haber gehörte zu den Mitunterzeichnern des Aufrufs. (Seine Frau fand ihren Mann so monströs, dass sie sich mit seiner Dienstwaffe erschoss.)5

Bevor im besetzten Brüssel die englische Krankenschwester Edith Cavell hingerichtet wurde. Noch dazu mit dem Revolver, wie man sich empört berichtete. (Was Gottfried Benn als zur Exekution abgeordneter Medizinalrat dementierte und den Reichskanzler Adolf Hitler 1940 in Paris höchstens zusätzlich motivierte, ihre Statue zerstören zu lassen.)6

Bevor U-86 das Lazarettschiff Llandovery Castle versenkte und die Schiffbrüchigen ermordete.

Bevor der gewöhnlich milde Arthur Balfour die Versenkung des irischen Postschiffs Leinster – am 10. Oktober 1918 – mit seinem berühmt gewordenen Wort kommentierte: «Brutes they were and brutes they remain.» Ähnlich Rudyard Kipling: «A people with the heart of beasts.» 450 Frauen und Kinder waren bei dem U-Boot-Angriff auf das waffenlose Postschiff ums Leben gekommen.

Bevor der letzte Generalstabschef Wilhelm Groener angesichts der alliierten Forderung, die Kriegsverbrecher auszuliefern, denen zu verschwinden empfahl, die «ein schlechtes Gewissen» hatten. 6000 bis 8000 Offiziere beherzigten diese Empfehlung.

Bevor schliesslich auf der Pariser Friedenskonferenz eine Liste der 1580 schlimmsten Kriegsverbrecher zusammengestellt wurde. Sie verzeichnete neben Fritz Haber den späteren Grossadmiral Erich Raeder (er wurde 1946 in Nürnberg verurteilt), Walther Rathenau und auch die Saar-Industriellen Robert und Hermann Röchling.

Mit der deutschen Bitte um Waffenstillstand konfrontiert, hatte US-Präsident Woodrow Wilson drohen müssen, keinen Armistice zu akzeptieren, solange es zu Terrorakten kam und der Kaiser oberster Kriegsherr war. Aber keine zwei Wochen, nachdem die deutsche Delegation in Rethonde (bei Compiègne) das Waffenstillstandsabkommen unterschrieben hatte, arbeiteten die Vertreter des Auswärtigen Amtes bereits daran, die Kriegsverantwortung abzuschieben.7

Die Berliner Diplomaten hatten Deutschland 1914 in den Krieg geführt, konnten sich aber unbeschadet durch die Revolution retten. Ihre Verantwortung bekannt werden zu lassen, lag nicht in ihrem Interesse. Entsprechend hatten sie ihre Antikriegsschuld-Propaganda längst organisiert, bevor der Schuldartikel 231 des Versailler Vertrages auch nur angedacht, geschweige denn formuliert war.8

Dafür richtete das Auswärtige Amt in Berlin das «Spezialbüro v. Bülow» ein, benannt nach ihrem ersten Leiter Bernhard Wilhelm von Bülow.9 Von 1919 an hiess es Schuldreferat. Es arbeitete höchst effizient, und Bülow machte eine grosse Karriere. 1930 wurde der «kompromisslose Revisionist» Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Als Bülow 1936 starb, erfüllte sich ein nationaler Traum: Das Rheinland war remilitarisiert und die unverzichtbare Aufmarschbasis für einen Angriff gegen den Westen wieder unter der vollen Kontrolle Berlins.

*

Die Deutschen selbst waren ursprünglich keineswegs im Glauben gewesen, nicht verantwortlich zu sein. Im Juli 1919 notierte Hans Freytag im Auswärtigen Amt: «Weite Teile der deutschen Bevölkerung sind von der deutschen Schuld am Krieg überzeugt.»10 Auch in Bayern stiess die offizielle Propaganda gegen die «Kriegsschuldlüge» auf wenig Sympathie.11

Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner hatte bereits am 23. November 1918 – keine zwei Wochen nach dem Waffenstillstand – der Münchner Presse die Berichte des bayerischen Gesandten in Berlin überlassen. Graf Lerchenfeld hatte während der Julikrise 1914 intensiv nach München berichtet. In Eisners Nahbeobachtung war der Krieg die Idee einer kleinen Clique preussischer Militaristen gewesen und die Kriegsverantwortung der Reichsregierung mehr als deutlich.

Eisner machte sich mit den Veröffentlichungen nicht beliebt.12 Der deutsche Gesandte in Bern berichtete umgehend über die verheerende Wirkung der Veröffentlichung und warnte vor weiteren Enthüllungen.13 Eisner wurde im Februar 1919 ermordet.

Delegiert vom Rat der Volksbeauftragten, der revolutionären Regierung in Berlin, hatte sich Karl Kautsky in seinen Tagen als «beigeordneter Staatssekretär» des Auswärtigen Amtes die Akten zum Kriegsausbruch angeschaut: «Nicht als Ankläger, sondern als Geschichtsschreiber, der erforschen will, wie die Dinge gekommen sind.»14 Sein Urteil: «Unerträglich leichtfertig und kopflos» gehandelt. Die Verantwortung für den Krieg lag klar bei Deutschland.15

Sein Gegenspieler, der Karrierediplomat Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, wehrte sich energisch gegen eine Veröffentlichung. Professoren wie Max Weber und Hans Delbrück unterstützten ihn dabei nach Kräften.16 Der Verhandlungsführer der deutschen Friedensdelegation in Versailles schob als Begründung vor, mit der Publikation der Untersuchung würde die deutsche Position bei den Friedensverhandlungen unterminiert.

Ein bezeichnendes Detail: Karl Kautsky hatte sich entschieden, auch die Randbemerkungen Wilhelms II. uneingeschränkt zu publizieren. Daraufhin warf ihm Friedrich Thimme vor, er gönne sich «das hämische Vergnügen […] dem Volk einmal ‹einen Kaiser in Unterhosen› vorzuführen».17 Thimme wurde wenig später Mitherausgeber der Aktendokumentation Die grosse Politik der europäischen Kabinette. Die Finanzierung dieser in entlastender Absicht angelegten Edition erfolgte aus der Schatulle des Kriegsschuldreferats im Auswärtigen Amt.

Kautskys Dokumentation Wie der Weltkrieg entstand ging erst in Druck, nachdem die Friedensverträge unterzeichnet waren.

Die Verantwortung für den Krieg aus den eigenen Akten zur Kenntnis nehmen zu müssen, war für die deutschen Diplomaten eine unliebsame Erfahrung. Sie veranlasste das Aussenministerium, fortan den Zugang zu kontrollieren.18 Gleichzeitig intensivierte das Auswärtige Amt seine international angelegte Entlastungskampagne.

Der 1914 gestartete Propagandafeldzug der deutschen Professoren und Künstler war nicht unkommentiert geblieben: «Von verwegener Verlogenheit», fand der Soziologe Emile Durkheim.19 Für Karl Kraus, den Autor der Letzten Tage der Menschheit, waren die deutschen Professoren nur noch «eine Kreuzung von Lehrstuhl und U-Boot». Über die Künstler notierte Auguste Vierset, der Kabinettschef des Stadtpräsidenten von Brüssel, in seinem Tagebuch: «mehr Goten als zivilisiertes Volk».20 Emile Durkheim deutete in einer Entgegnung den deutschen Angriff als «une conduite nietzschéenne en vue de la domination du monde», «ein nietzscheanisches Verhalten, um die Welt zu beherrschen».21

Erstes Opfer der «conduite nietzschéenne» wurde Belgien im August 1914. Dabei hatte Preussen als Vorgängerstaat des Reichs dessen Neutralität und territoriale Integrität 1839 ausdrücklich garantiert. Der Überfall auf Belgien fand die beifällige Zustimmung des Reichstags. Nicht einmal einem Linkssozialisten wie Karl Liebknecht gab der Angriff auf den neutralen Staat zu denken: «Die SPD hatte ihre alldeutsche Seele entdeckt», bemerkte André Tardieu dazu.22 Tardieu war ein enger Mitarbeiter des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau. Der vielseitig begabte Absolvent der Ecole Normale Supérieure redigierte 1919 den Friedensvertrag mit Deutschland und wurde später selber Ministerpräsident.23

Nach der Besetzung fand die deutsche Industrie grossen Geschmack an Belgien. Dessen Zukunft malten die einflussreichen Industriellen innerhalb des deutschen Reichs aus: «Diese Herren der Schwerindustrie haben mich belagert und Belgien verlangt, was ich nicht wollte. Und jetzt lassen sie mich fallen», empörte sich der Kaiser am 1. November 1918 über den Undank der abtrünnigen Industriekapitäne.24

Alfred von Tirpitz – und mit ihm die Admiralität – hatte die Annexion Belgiens nicht weniger vehement verlangt. Der auf England und kurze Anmarschwege für seine U-Boote fixierte Grossadmiral hatte es auf die Marinebasen abgesehen.25 Die Cockerill-Werft in Hoboken (bei Antwerpen) wurde bereits im März 1915 für den Bau von U-Booten genutzt.26

Die Idee einer grossdeutschen Zukunft Belgiens begeisterte selbst die deutschen Pazifisten. Ein Bernhard Dernburg etwa schwelgte in wilden Annektionsphantasien.27 Er wurde 1919 im Kabinett Scheidemann Finanzminister.

Der mehr aufs Konkrete bedachte Kronprinz (der Sohn Wilhelms II.) nutzte die Gelegenheit der Besetzung, seine Gastgeber auszuplündern, angefangen mit der archäologischen Sammlung des Barons de Baye.28

Gelassenheit war nicht die Stärke der deutschen Besetzung. Bereits ein einfaches «Sale prussien!» («Dreckpreusse») trug der 16-jährigen Gräfin Hélène Jonghe d’Ardoye drei Monate Gefängnis ein. Ihre alte Grossmutter erhielt vier Monate. Sie hatte ihre Enkelin auf die Kommandantur begleitet und gewagt, sich über den «deutschen Eid» zu amüsieren. Der denunzierende Offizier, ein Graf Metternich, war auch noch ein Bekannter der Familie gewesen.29

Claude Debussy hatte ein Weihnachtslied für obdachlose Kinder komponiert. Als Hommage an König Albert von Belgien und seine Soldaten.30 Dagegen hatte kein deutscher Künstler das Herz für eine mitleidige Geste. Keinem deutschen Gelehrten gab die Vernichtung der Universitätsbibliothek Louvain zu denken. Ebenso wenig die gezielt betriebene Ausplünderung Belgiens und die aggressive Flamisierung.

Viereinhalb Jahre später, am 7. Mai 1919, hielt Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau in Versailles seine Ansprache: «Ganz brutale Unverfrorenheit», wie sich Georges Clemenceau erinnerte.31

Im Trianon Palast hatten sich um 15 Uhr die Grossen der Welt versammelt. Als Letzter erschien der Komponist und polnische Staatsmann Ignaz Paderewsky. Als Pianist war er gewohnt, dass das Publikum ihn erwartete, wenn er die Bühne betrat. Danach zog die deutsche Delegation ein: «Als die Deutschen hereinkamen, standen nach kurzem Zögern alle auf», so Lord Riddell in seinem Intimate Diary of the Peace Conference.

Auf der Tagesordnung stand die Übergabe des Friedensvertragsentwurfs. Den deutschen Aussenminister beschrieb der renommierte englische Journalist als «krank, abgespannt und nervös […] gelbliche Haut und tiefe Ringe unter den eingefallenen Augen. Als er seinen Überzieher ablegte, bemerkte ich, dass sein Gesicht schweissgebadet war. Er wirkt steif, genau, geschäftig, mechanisch und taktlos.»

Maurice Hankey, der britische Kabinettssekretär, war ebenfalls Augenzeuge der Szene. Er empfand Brockdorff-Rantzau als «düster schauenden Schurken und typischen Junker».32

Tatsache war, dass der Aussenminister eine Gelegenheit zu schweigen verpasste. Wo es einzig um die Entgegennahme des Entwurfs ging, verlas er eine Rede. Noch dazu sitzend, was die angelsächsische Presse intensiv kommentierte. Der Daily Mail bezeichnete die Haltung als «unverschämt und verstockt» («impudent and unrepentant»).33

Brockdorff-Rantzau warf den Alliierten vor, Deutschland zu hassen: «weil sie ihrem Scharfrichter nicht ihre Kehle dargeboten hatten», wie Georges Clemenceau bündig notierte.34 Lord Riddell notierte: «Die Länge und der Ton der Grafenrede waren offenkundig eine Überraschung für die alliierten Delegierten. Man hatte uns gesagt, dass die Verhandlung in fünf Minuten vorbei sein werde; sie sei so formal, dass es sich für die Presse nicht lohne, dabei zu sein. […] Als der Graf einige besonders provozierende und taktlose Bemerkungen artikulierte, wandte sich Clemenceau zu Lloyd George und gab offenbar bissige Kommentare zu dem, was gesagt wurde.»35

Wie Clemenceau in seinen Memoiren schrieb, erkundigte sich der britische Premierminister: «‹Was werden Sie ihm antworten?› Worauf meine Antwort war: ‹Ich werde ihm mein Papier unter die Nase halten und ihm sagen: Hier, was Sie unterschreiben werden.›»36

«Man muss Clemenceau zugute halten, dass er sich genügend zusammenriss, um Rantzaus Rede nicht zu unterbrechen; aber sein Gesicht lief rot an vor Wut», beschrieb Walter Simons aus der deutschen Delegation die Szene.37 Der deutsche Chefjurist sass den alliierten Staatsmännern genau gegenüber: «Wilson hörte aufmerksam zu, und die mit viel Verve vorgetragene englische Übersetzung machte offensichtlich Eindruck auf ihn, wenn auch keinen vorteilhaften. Die Briten gaben sich gelangweilt und gleichgültig. Lloyd George lachte und Bonar Law gähnte […] Nach einer knappen halben Stunde schloss Clemenceau die Sitzung so lakonisch und abrupt, wie er sie eröffnet hatte. Der Weg zur Tür war für uns wieder ein Spiessrutenlaufen. Rantzau zündete sich eine Zigarette an, was eine Sensation auslöste.»38

«Ja, man war mitleidig, als sie eintraten und zornig, als sie gingen», hörte Paul Cambon einen Delegierten sagen.39 Paul Cambon war Frankreichs Botschafter in London und auf der Friedenskonferenz für das Protokoll zuständig.

Woodrow Wilson schnaubte im Hinausgehen zu Riddell: «Die Deutschen sind wirklich ein dummes Volk. Sie machen immer das Falsche. Darum bin ich hier. Sie verstehen die menschliche Natur nicht. Dies ist die taktloseste Rede, die ich je gehört habe. Sie wird die ganze Welt gegen sie aufbringen.»40

«Der Junker Brockdorff – blass, hochmütig – brauchte eine Lektion», kommentierte Clemenceau den Vorfall gegenüber seinem Kabinettschef Mordacq: «Dieser Brockdorff ging uns allen auf die Nerven; man hatte wirklich Lust aufzustehen und ihm irgendwohin zu treten. Einmal mehr haben die Deutschen gezeigt, dass ihnen jedes psychologische Gespür abgeht; sie haben sich heute immens geschadet, vor allem bei den Engländern und den Amerikanern. Wilson hat mir mehrere Male wiederholt: ‹Diese Leute sind wirklich absolut dumm.› Lloyd George war verblüfft, und nach der Sitzung erklärte er mir in seiner charakteristischen Art: ‹Jetzt verstehe ich, warum die Franzosen die Deutschen so sehr verabscheuen. Denen kann man wirklich nicht helfen. Die Hunnen bleiben immer die Hunnen.›»41

Zu André Tardieu gewandt meinte David Lloyd George: «Es ist hart, Sieger zu sein und so etwas zu hören.»42 Am nächsten Tag auf dem Golfplatz hatte der britische Premierminister das Erlebnis noch nicht verarbeitet: «Diese anmassenden Deutschen haben mich sehr verärgert. Ich weiss nicht, wann ich je stärker verärgert war. Ihr Verhalten zeigt, dass der alte Deutsche weiterhin da ist. Merkwürdigerweise waren die Amerikaner und wir stärker verärgert als die Franzosen und Italiener. Ich fragte den guten Clemenceau warum. Er sagte: ‹Weil wir ihre Anmassung gewohnt sind. Wir mussten sie 50 Jahre lang ertragen. Für euch ist es neu und deshalb seid ihr verärgert.›»43

Die Gewöhnung wollte sich aber nicht einstellen. Acht Jahre später beklagte Joseph Austen Chamberlain – von 1924 bis 1929 Chef des Foreign Office – in einem Brief an seine Frau «die fatale Unfähigkeit der Deutschen, die Psychologie anderer Völker zu erfassen und die Wirkungen ihres Handelns vorauszusehen».44

Die neue deutsche Führungsschicht hatte nicht den besten Ruf. Der J. P. Morgan-Partner Thomas Lamont in der amerikanischen Delegation fand sie arrogant und bar jeglichen Verantwortungsgefühls dafür, die Welt in den zerstörerischsten und tragischsten Krieg gestürzt zu haben. Dass der Hamburger Bankier Max Warburg – als Angehöriger der deutschen Delegation – die alliierten Regierungen in Paris belehren wollte, empfand Lamont als Gipfel der Arroganz.45

Für André Tardieu waren Männer wie «Ebert, Scheidemann, David, Erzberger, Brockdorff-Rantzau und nicht zu vergessen Hindenburg höchst aktive Handlanger des Imperialismus und des Militarismus». Sie repräsentierten die «sogenannte deutsche Demokratie, die moralisch jede Orientierung verloren habe».46

Die weitere Entwicklung bestätigte die Einschätzung Tardieus: Eberts Sozialdemokraten und ihr Anhang waren durchaus angetan von der Idee deutscher Weltgeltung und deutscher Überlegenheit. Die Arbeiterschaft in Deutschland blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine Stütze des Dritten Reichs.47 So hatte es Ferdinand Foch, der alliierte Oberbefehlshaber, auch vorhergesehen und darüber mit Georges Clemenceau während der Friedenskonferenz einen gröberen Streit riskiert. Der sah es im Grunde nicht anders, konnte sich aber bei seinen Alliierten nicht durchsetzen.

Auf deutscher Seite bilanzierte der württembergische Liberale und Vizekanzler Friedrich Payer nüchtern: «Wir kamen, ganz unbefangen betrachtet, zum parlamentarischen System so wenig wie zur Republik im Weg des zielbewussten Strebens; beide blieben schliesslich als die einzigen Möglichkeiten noch übrig.»48 So fiel es auch nicht weiter schwer, sich mit dem Führerstaat des NS-Deutschlands zu arrangieren.

Als Woodrow Wilson es ablehnte, mit dem Kaiser zu verhandeln, ging er davon aus, dass einzig Wilhelm II. und seine Umgebung kriegslüstern waren. Dies war ein Irrtum. Der amerikanische Präsident erlag ihm nicht allein. Der britische Diplomat Harold Nicolson notierte in seinem Tagebuch eine Diskussion mit Carlo Placci (Eintrag vom 30. April 1919): «Ich sagte, dass ich die Deutschen als ein friedliches, entzückendes Volk von guter Kultur empfinde, das unter schlechter Regierung litt.»49

Philipp Kerr erhielt die Aufgabe, der harten Verweigerung eine entschiedene Antwort zu erteilen und die Proportionen zurechtzurücken. Der Privatsekretär David Lloyd Georges liess in der – von Georges Clemenceau als Vorsitzendem der Friedenskonferenz unterschriebenen – Mantelnote zum Friedensvertrag keinen Zweifel an der Verantwortung Deutschlands «und der grausamen, unmenschlichen Art, in welcher der Krieg geführt wurde, die in der Geschichte der Menschheit geradezu beispiellos ist […] Der Krieg, der am 1. August 1914 begann, war das grösste Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Freiheit der Völker, das je eine Nation verübte, die sich selbst als kultiviert bezeichnet […] Um ihre Ziele zu erreichen, nutzten sie jede Möglichkeit, um ihren Bürgern einzuimpfen, dass in internationalen Angelegenheiten Macht recht sei. […] Das Verhalten Deutschlands ist beinahe ohne Beispiel in der Menschheitsgeschichte. […] Sie trachteten danach, zwischen den Nationen Feindschaft und Verdacht zu säen statt Freundschaft. Sie entwickelten ein System der Spionage und Intrige, das ihnen ermöglichte, innere Unruhen und Rebellion zu schüren und sogar geheime Angriffsvorbereitungen auf dem Territorium ihrer Nachbarn zu treffen, von wo aus sie sie sicherer und einfacher würden bezwingen können, wenn der Augenblick kam […].»

«Die deutsche Delegation verlangt Gerechtigkeit und sagt, sie sei Deutschland versprochen worden. Deutschland soll Gerechtigkeit erhalten. Aber es muss Gerechtigkeit für alle sein. Es muss Gerechtigkeit geben für die Toten und Versehrten, für diejenigen, die verwaist und beraubt wurden, um Europa von der preussischen Gewaltherrschaft zu befreien. Es muss eine Gerechtigkeit geben für die Völker, die jetzt unter Kriegsschulden wanken, die 30 Milliarden Pfund Sterling übersteigen, damit die Freiheit gerettet wurde. Es muss Gerechtigkeit geben für die Millionen, deren Häuser und Land, Schiffe und Eigentum deutsches Wüten ruinierte und zerstörte […]. Deutschland hat die Industrien, die Kohlenzechen und die Maschinenausrüstung der benachbarten Länder nicht in der Schlacht zerstört, sondern mit dem vorsätzlichen und kalkulierten Zweck, seinen Industrien den Zugang zu deren Märkten zu ermöglichen, bevor sich deren Industrien von den brutal zugefügten Verwüstungen erholen konnten. Deutschland hat seinen Nachbarn alles geplündert, was es brauchen oder abtransportieren konnte. […]»

«Es ist nur gerecht, dass eine Rückerstattung erfolgen soll und dass die geschädigten Völker eine Zeitlang geschützt werden sollen vom Wettbewerb einer Nation, deren Industrien intakt und sogar verstärkt sind dank der Produktionsmaschinen, die aus den besetzten Territorien gestohlen wurden. Wenn diese Dinge Härten für Deutschland sind, dann sind es Härten, die sich Deutschland selbst zugezogen hat. Irgend jemand muss die Folgen des Kriegs tragen. Ist es Deutschland oder einzig die Völker, denen es geschadet hat?»50

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Die vorherrschende Frage in der deutschen Diskussion nach dem Ersten Weltkrieg war nicht, warum das Reich den Krieg angefangen, sondern warum es ihn verloren hatte. Ein abstinenter Professor namens Hans Schmidt identifizierte den Alkohol als kriegsentscheidenden Faktor.

In seiner Schrift Unsere Niederlage im Weltkrieg führte der Gelehrte das Scheitern der März-Offensive von 1918 darauf zurück, dass sich die 3. Marine-Infanterie-Division vor Amiens betrunken und dass sich die Angriffe auf Soissons und Reims im Mai 1918 in den Champagner-Kellern festgelaufen hätten.51 Die Brauereizeitung nahm Stellung. Sie schloss den Alkohol als Grund für die Niederlage kategorisch aus.52

Wilhelm Groener – Schmidts Korrespondenzpartner – sah es nicht anders: «Die Wirkungen des Alkohols an der Front waren bei weitem nicht so verhängnisvoll wie die Selbsttäuschungen, in denen wir infolge der Überschätzung unserer Siege befangen waren. Nicht selten wurden die Entschlussfassungen durch ‹Wunschgedanken› geleitet.»53

In der Öffentlichkeit fand stattdessen die «Dolchstosslegende» allgemeinen Anklang. Inszeniert hatte sie Paul von Hindenburg vor einem Publikum, das ihm ergeben war. Die parlamentarische Kommission des Reichstags hatte dafür gesorgt, dass der Feldmarschall – über die seinem Rang zustehenden Ehren hinaus – empfangen wurde wie ein Gott. Als sein Sonderzug in den Bahnhof rollte, präsentierte eine Ehrenwache. Zwei Offiziere wurden als Adjutanten eingeteilt. Vor der Villa Helfferich, in der Hindenburg logierte, zog eine Wache auf.

Als Hindenburg am 18. November 1919 in Uniform in den Reichstag stiefelte, erhoben sich die Parlamentarier in corpore. Seinen Platz hatten die Parlamentsdiener dekoriert mit weissen Chrysanthemen und eingeflochtenen schwarz-weiss-roten Bändern, den alten Reichsfarben. Der Feldmarschall verlas seine andächtig aufgenommene Erklärung und tischte seine Dolchstosslegende auf. Niemand stellte eine Frage.54

Die Dolchstosslegende lief darauf hinaus, dass die Revolution den Zusammenbruch provoziert hatte, statt umgekehrt der Zusammenbruch die Revolution. Damit entfiel die Notwendigkeit zu erklären, wieso es – infolge der stark beschönigenden Nachrichten vielfach unerwartet – zum Zusammenbruch gekommen war statt zum erhofften «Siegfrieden» und damit der Domination Europas.

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