Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie

 

Herausgegeben von Ralf T. Vogel

Christian Roesler

Das Archetypenkonzept C. G. Jungs

Theorie, Forschung und Anwendung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-028416-6

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Geleitwort

 

 

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine grössere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C.G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüsse ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der grossen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

 

Verena Kast

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Geleitwort
  2. 1 Einführung
  3. 2 Die klassische Definition und Theorie des Archetypenkonzepts bei Jung
  4. 2.1 Definition
  5. 2.2 Archetypen im Leben des Individuums
  6. 2.3 Äußerungsformen von Archetypen
  7. 2.4 Das Kollektive Unbewusste
  8. 2.5 Der Individuationsprozess
  9. 2.5.1 Die zwei Lebenshälften und die Lebensmittekrise
  10. 2.5.2 Die Persona
  11. 2.5.3 Der Schatten
  12. 2.5.4 Das Seelenbild: Anima und Animus
  13. 2.5.5 Exkurs: Kritik am Anima/Animus Konzept und zeitgemäße Konzeptionen
  14. 2.5.6 Der alte Weise und die Große Mutter (die Mana-Persönlichkeiten)
  15. 2.5.7 Das Selbst
  16. 2.5.8 Abschließendes zum Individuationsprozess in seiner Gesamtheit
  17. 2.6 Klassische Arbeiten zu zentralen Archetypen
  18. 2.7 Darstellungen weiterer Archetypen von Nachfolgern Jungs
  19. 2.8 Zur Begriffsgeschichte
  20. 2.9 Verwandte Konzepte in der allgemeinen Psychoanalyse
  21. 2.10 Parallelen zum Kollektiven Unbewussten in anderen Therapieschulen
  22. 3 Kritik am klassischen Archetypenkonzept und Erweiterungen
  23. 3.1 Probleme und Widersprüche im Jung’schen Archetypenkonzept
  24. 3.1.1 Biologistische Definition
  25. 3.1.2 Empirisch-statistische Definition
  26. 3.1.3 Transzendentale Definition
  27. 3.1.4 Kulturpsychologisches Verständnis
  28. 3.2 Erweiterungen des Archetypenkonzepts durch unmittelbare Schüler Jungs
  29. 3.2.1 Michael Fordhams Theorie des Prozesses von Deintegration und Reintegration als Erweiterung von Jungs Theorie des Selbst
  30. 3.2.2 Erich Neumanns »Ursprungsgeschichte des Bewusstseins«
  31. 3.2.3 Die Archetypenpsychologie von James Hillman
  32. 4 Forschung zum Archetypenkonzept und sich daraus ergebende Weiterentwicklungen der Theorie
  33. 4.1 Wissenschaftlich überprüfbare Bestandteile des Archetypenbegriffs
  34. 4.2 Empirische Evidenz für Archetypen
  35. 4.2.1 Assoziationsstudien: Interindividuell übereinstimmende Komplexkerne
  36. 4.2.2 Belege für angeborene psychische Strukturen
  37. 4.2.3 Anthropologische Forschung
  38. 4.2.4 Forschung zu veränderten Bewusstseinszuständen
  39. 4.2.5 Experimentelle Studien zum Archetypenkonzept – Studien zum archetypischen Gedächtnis
  40. 4.2.6 Forschung mit dem Archetypenkonzept
  41. 4.2.7 Diskussion der empirischen Evidenz
  42. 4.3 Erklärungsansätze für das Zustandekommen und die Weitergabe von Archetypen
  43. 4.3.1 Aktueller Stand der Humangenetik und Epigenetik
  44. 4.3.2 Endophänotypen
  45. 4.3.3 Konzepte und Forschungsergebnisse aus der Gestaltpsychologie, den Kognitions-und Neurowissenschaften
  46. 4.3.4 Archetypen als emergente Strukturen
  47. 4.3.5 Spiegelneurone und der »intersubjektiv geteilte Raum«
  48. 4.3.6 Eine Reformulierung der Archetypentheorie
  49. 4.4 Forschung zum Kollektiven Unbewussten im Sinne einer unbewussten Verbindung zwischen Menschen
  50. 5 Anwendung der Archetypentheorie
  51. 5.1 Die Methodik der Amplifikation
  52. 5.2 Klinische Anwendung
  53. 5.2.1 Charakter – Identität – Lebensweg
  54. 5.2.2 Die Bedeutung von Archetypen im psychotherapeutischen Prozess
  55. 5.2.3 Fallbeispiel für die therapeutische Arbeit mit einem archetypischen Traumelement
  56. 5.2.4 Archetypische Übertragung
  57. 5.2.5 Der Archetyp des verwundeten Heilers als Orientierung für die Haltung des Psychotherapeuten
  58. 5.2.6 Die Verwendung des Archetypenkonzepts für die Erklärung der Dynamik in Paarbeziehungen und sein Einsatz in der Paartherapie
  59. 5.2.7 Die Verwendung des Archetypenkonzepts in pädagogisch-selbsterfahrungsorientierten Gruppenkonzepten am Beispiel eines Selbsterfahrungsgruppenkonzepts für Männer
  60. 5.3 Kulturwissenschaftliche Anwendungen
  61. 5.3.1 Kulturpsychologische Analysen mythologischer Narrative
  62. Die Odyssee – eine Irrfahrt durchs Unbewusste und ein Prozess der Selbstwerdung
  63. Der Archetyp des Heldenmythos
  64. Spielfilme – die Mythen der Spätmoderne
  65. Eine exemplarische Produktanalyse: James Bond – der moderne Heros
  66. 5.3.2 Archetypen als Analyseinstrument einer politischen Psychologie
  67. 6 Ist die Archetypentheorie noch zeitgemäß? – Ein vorläufiges Fazit
  68. Literaturverzeichnis
  69. Stichwortverzeichnis
  70. Personenverzeichnis

1         Einführung

 

 

 

 

Als Hinführung zum Thema Archetyp möchte ich das folgende Fallbeispiel vorstellen, das sich vor einigen Jahren in meiner psychotherapeutischen Praxis zugetragen hat. Ich hatte damals einen jungen Mann Anfang 20 in Psychotherapie, der sich bei mir angemeldet hatte vor allem wegen einer wiederkehrenden Depression. Hinzu kam, was sich allerdings erst nach einiger Zeit und einer von seiner Seite zögerlichen Offenlegung herausstellte, ein Missbrauch von Cannabis, der solche Ausmaße angenommen hatte, dass mein Klient über längere Zeiten des Tages im Dösen verbrachte. Er wies schon kognitive Störungen wie z. B. Konzentrations-und Merkfähigkeitsschwächen auf, was im Zusammenspiel mit seiner Depression zur Folge hatte, dass er in seiner beruflichen Situation und Ausbildungsperspektive stagnierte.

In der Vorgeschichte hatte mein Klient im Alter von sieben Jahren den Tod seiner Mutter erlebt, die an einer Blutvergiftung im Zusammenhang mit einer Krankenhausbehandlung starb. Er lebte dann weiter mit seinem Vater und seiner viele Jahre älteren Schwester zusammen, wobei die Schwester in der Zeit, in der sie zuhause lebte, quasi Mutterfunktion für ihn übernahm. Als mein Klient 14 Jahre alt war, erkrankte auch der Vater an Krebs und es war bald abzusehen, dass auch er an der Erkrankung sterben würde. Zu diesem Zeitpunkt war die ältere Schwester schon ausgezogen und lebte selbst in Ehe mit eigener Familie in größerer Entfernung vom Wohnort meines Klienten. Mein Klient musste nun als Jugendlicher den langsamen Verfall und das Sterben seines Vaters mitverfolgen und blieb schließlich völlig allein im Hause seiner Eltern zurück. Das zuständige Jugendamt entschied dann, dass er in der Lage sei, seinen Lebensalltag alleine zu bewältigen. So lebte mein Klient seit dem Tode seines Vaters allein im elterlichen Haus, schloss seine Schulausbildung und eine Berufsausbildung ab und arbeitete zu dem Zeitpunkt, an dem er zu mir kam, schon einige Jahre in einem Lehrberuf. In seinem Elternhaus, in dem er nach wie vor lebte, hatte er praktisch alles so belassen, wie die Eltern es eingerichtet hatten – mir drängte sich manchmal der Gedanke auf, das Ganze wirkte wie ein Mausoleum, in dem der verlorenen Eltern gedacht wird, und das weniger ein Ort zum wirklichen Leben ist.

Die Depression meines Klienten kehrte in Schüben immer wieder, insbesondere verstärkte sie sich in der Zeit kurz vor dem Todestag seiner Mutter. Es war offensichtlich, dass der Klient viel zu früh in seinem Leben von diesen Verlusten betroffen worden war und diese auch angesichts der kargen Lebenssituation in keiner Weise psychisch verarbeitet hatte. Die Erfahrung des Verlustes seiner emotionalen Basis, des Alleingelassenseins und der Überforderung wurde dann sicherlich durch den ebenfalls vorzeitigen Tod seines Vaters noch einmal verstärkt. Psychodynamisch ist in diesen frühen Verlusten sicherlich der genetische Hintergrund für seine Depressionen zu sehen. Der exzessive Missbrauch von Cannabis, mit dem er sich über weite Strecken des Tages in eine Art Trancezustand versetzte, stand für mich offensichtlich in dem Zusammenhang, sozusagen eine gewisse Nähe im Jenseits mit den verlorenen Eltern wiederherzustellen. Auf der bewussten Ebene rationalisierte mein Klient den Cannabismissbrauch mit einer libertinären Lebenseinstellung, und betonte, dass er es sehr schätze, dass er schon als Jugendlicher habe machen können, was er wolle. Insofern war der Klient in einer Überhöhung eines Zustandes von jugendlicher Freiheit und Verantwortungslosigkeit stehen geblieben. Gleichzeitig litt mein Klient deutlich an den ihn verfolgenden Zuständen von depressiver Gefühllosigkeit, Verlassenheit und Antriebslosigkeit und haderte mit seiner beruflichen Stagnation. Eigentlich wollte er seine Ausbildung fortführen und auf ein höheres Niveau heben, wozu er aber die Energie nicht aufbrachte.

Wir hatten nun schon über ein Jahr miteinander gearbeitet, was sich als relativ zäh erwies, da der Klient zum einen sich vehement gegen eine kritische Betrachtung seines Cannabismissbrauchs wehrte, und zum anderen die wiederkehrenden depressiven Zustände kaum beeinflussbar erschienen. Es hatte sich allerdings eine gute therapeutische Arbeitsbeziehung zwischen uns entwickelt, der Klient kam gern zu den Sitzungen und brachte auch zunehmend Themen, die ihn aktuell emotional beschäftigten (wie z. B. aktuelle Paarbeziehungen) in die Psychotherapie ein. Auf diesem Hintergrund hatte mein Klient nun folgenden Traum, den er sichtlich erregt in der nächsten Therapiesitzung erzählte:

Ich bin in einem fremden Land und werde von Leuten eines mir fremden Volkes sehr brutal behandelt. Sie ziehen mir die Kleider aus und malen mich mit einer Art heller Farbe oder auch Ton bzw. Schlamm an. Dann schlagen und pieken sie mich mit kleinen Stöcken, was sehr schmerzhaft ist. Sie packen mich an den Armen und Beinen und schleifen mich durch den Staub und schließlich zu einer Art Altar. Auf diesem Altar ist ein großer Stein mit einem runden Loch darin. Ich werde von den Männern mit meinem ganzen Körper durch dieses Loch hindurch gezogen, was ebenfalls sehr schmerzhaft ist. Danach aber werden die Leute sehr freundlich zu mir, sie tanzen einen Freudentanz um mich herum, tragen mich auf den Armen und wir gehen zu einer Art Fest, an dem ich gefeiert werde. Ich fühle mich jetzt sehr angenommen und euphorisch.

Der Traum, der für einen unbefangenen Betrachter zunächst einmal etwas fremdartig wirkt, hatte auf mich eine ungeheuer wuchtige Wirkung: Ich war so betroffen, dass ich kaum etwas sagen konnte. Ich beschäftigte mich zu dieser Zeit für eine Prüfung in Ethnologie mit Initiationsriten verschiedener Völker. Es sprang mir sofort ins Auge, dass der Traum meines Klienten bis ins Detail Elemente von Initiationsriten beschreibt, wie man sie bei verschiedenen Völkern, z. B. in Ostafrika, findet. Hätte ich mich zu dieser Zeit nicht mit entsprechender ethnologische Literatur beschäftigt, wäre mir der Zusammenhang vielleicht nicht so deutlich aufgefallen. Interessant ist nun, dass der Traum meines Klienten derartige Initiationsriten dermaßen detailgetreu beschreibt, obwohl ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehme, dass mein Klient kein diesbezügliches Wissen besaß und auch mit entsprechender Fachliteratur nicht in Kontakt gekommen war. Darüber hinaus war überaus interessant, dass der im Traum beschriebene Vorgang der Initiation im Grunde genau das war, was mein Klient in seiner damaligen Lebenssituation brauchte. Initiationsriten bei den Völkern dienen immer dazu, Heranwachsenden den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter zu ermöglichen. Die teilweise schmerzhaften und auch ängstigenden Prozeduren, denen sich die Initianten unterziehen müssen, dienen nach dem Verständnis traditioneller Völker, so weit die Ethnologie dies rekonstruieren kann, dazu, »das Kind in der Person zu töten«, also den Abschied und das Loslassen von kindlichen Bindungen insbesondere an die Mutter, aber auch an die Ursprungsfamilie im allgemeinen, zu erleichtern. Erst wenn das Kind in der Person auf diese Weise, so das Verständnis der Ethnologie, beseitigt ist, kann der Heranwachsende in sich Platz schaffen für eine Orientierung an der Welt und den Werten der Erwachsenen und in dieser Erwachsenenwelt Verantwortung übernehmen. Viele Initiationsriten beinhalten dementsprechend auch den Vorgang einer symbolischen Wiedergeburt oder Neugeburt, z. B. durch Taufe, also durch Eintauchen, Untertauchen in einem Wasser, in dem die alte Person stirbt, und Wiederauftauchen als eine neue Person, ein neugeborener Mensch, hier ein Erwachsener. Im Traum meines Klienten war dies das Hindurchgezogen-Werden durch den »Geburtskanal« des Steins auf dem Altar. Der Altar im Traum markiert dabei, dass es sich hier um einen quasi sakralen Kontext handelt. Typisch für Initiationsriten ist auch die Feier der Initianden, nachdem sie die schwierigen Prozeduren der Initiation überstanden haben und sich als mutig erwiesen haben, Schmerz und Angst auszuhalten, sowie ihre Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen, der dann in der Regel eine Zeit der Unterweisung in die Regeln und das Wissen der Älteren folgt.

Dieser Traum an genau diesem Punkt der Behandlung war für mich deshalb auch so verblüffend, weil eine Initiation im Grunde genau das war, was mein Klient brauchte. Aufgrund seiner frühen Verlusterfahrungen war es ihm nicht möglich, sich beizeiten von den Bindungspersonen seiner Kindheit zu lösen und diese zu verabschieden, sondern er konservierte im Grunde die Bindung an die Eltern durch das Leben in deren »Mausoleum« und stellte mit seinem Cannabiskonsum immer wieder quasi eine trancehafte Verbindung zu seinen Eltern im Jenseits her. Das Ganze war rational überhöht durch Werte von jugendlicher Freiheit und Verantwortungslosigkeit. Auch aus meiner Sicht als Psychotherapeut bedurfte es hier einer Verabschiedung der Kindheit, was natürlich hier abweichend von einem üblichen Initiationsritus auch ein Betrauern der frühen Verluste bedeutet hätte, sowie den bewussten Schritt in eine erwachsene Verantwortung für sein Leben.

Als ich mir diese Zusammenhänge bewusst gemacht hatte, erzählte ich meinem Klienten längere Zeit von Initiationsriten und deren Funktion bei verschiedenen Völkern. Auch wenn ihm dies einleuchtete, so bewirkte dies natürlich nicht sofort eine umfassende Veränderung bei ihm. Für mich aber gab der Traum deutliche Hinweise auf die weitere Entwicklung und Zielrichtung der therapeutischen Arbeit und es war auch zu bemerken, dass in der Folge des Traumes es deutlich leichter fiel, mit dem Klienten schwierige Themen wie z. B. die Konservierung des Andenkens seiner Eltern oder seinen exzessiven Cannabiskonsum zu thematisieren. Die Therapie setzte sich dann noch für etwa zwei Jahre fort, wobei es schließlich gelang, dass der Klient die Verluste seine Eltern betrauerte, seine depressiven Schübe überwand, eine neue Ausbildung begann und schließlich auch aus dem Haus seiner Eltern in eine für ihn angemessenere, kleine Wohnung zog. Insgesamt war das Ergebnis der Therapie insofern sehr erfolgreich.

Die Initiation, die im Traum meines Klienten auftaucht und die er hier durchlaufen muss, kann zurecht als ein Archetyp bezeichnet werden. Dieses Beispiel enthält die wesentlichen Elemente, die das Konzept des Archetypus ausmacht: es ist ein universelles Muster, das sich zu allen Zeiten bei allen Völkern in strukturell ähnlicher Weise findet; es taucht spontan aus dem Unbewussten der Person, wie hier z. B. in einem Traum, auf; in der Regel kann davon ausgegangen werden, dass die Person kein Wissen um das Muster aus der Erfahrung erhalten hat, es scheint sozusagen in der Person angelegt zu sein; das Auftauchen des Archetypus ist mit einer psychischen Energie verbunden, die eine Transformation bewirkt – bei der Initiation geht es darum, den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter zu bewirken; insofern zeigen sich Archetypen insbesondere in Transformationsprozessen, wie z. B. in der Psychotherapie, als spontaner seelischer Ausdruck, der festgefahrene seelische Prozesse wieder in Bewegung bringt und insofern heilsame Wirkung entfaltet; oft macht einen das Auftauchen von Archetypen ehrfürchtig, was Carl Gustav Jung als Numinosum bezeichnet hat. Jung hat das Konzept des Archetypus für die Psychologie ausformuliert. Diese Konzeption und seine Weiterentwicklung sowie seine Anwendungsbereiche sind Gegenstand dieses Buches.

2         Die klassische Definition und Theorie des Archetypenkonzepts bei Jung

 

 

 

 

Der Begriff Archetyp, in Kombination mit dem Begriff des Kollektiven Unbewussten sowie dem des Individuationsprozesses, ist sicherlich das zentrale Konzept der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs. Die Archetypen bilden das theoretische Fundament der Jung’schen Psychologie, sie machen ihre Besonderheit gegenüber allen anderen psychotherapeutischen Schulen aus, und bedingen im Grunde die spezifische Vorgehensweise in der Psychotherapie mit ihren verschiedenen Methoden der Traumdeutung, Arbeit mit Bildern und anderem symbolischem Material, der aktiven Imagination usw. Das Konzept der Archetypen war – neben persönlichen Konflikten – ein hauptsächlicher Grund für die theoretischen Differenzen und den nachfolgenden Bruch zwischen Freud und Jung und markieren den Beginn der Ausformulierung von Jungs eigenem psychologischen Theoriegebäude.

2.1       Definition

Der Begriff Archetyp lässt sich am besten mit dem Wort Urbild übersetzen. Diese Urbilder, so nimmt Jung an, gehören quasi zur Ausstattung der menschlichen Psyche (Jungs eigene Publikationen zum Konzept des Archetypus finden sich hauptsächlich im Band 9/1 der gesammelten Werke). Archetypen sind Strukturelemente der kollektiven Psyche und geben psychischer Energie eine bestimmte Form, wobei sie selbst unanschaulich und gestaltlos sind. Als selbst inhaltsleere Gestaltungsfaktoren liegen sie vor jeder Erfahrung und präformieren menschliche Vorstellungen, Erleben und Handeln. Archetypen kreisen um die elementaren und allgemeinen Erfahrungen des Lebens wie Geburt, Ehe, Mutterschaft, Tod, Trennung, Krisen usw. Sie haben dabei folgende Merkmale:

1. Nach Jungs Verständnis sind Archetypen angeborene Muster des Erlebens und Verhaltens, die er sich in Analogie zu den Instinkten bei Tieren vorstellt (zur Frage des Angeborenseins der Archetypen siehe ausführlicher  Kap. 4.3.1). Sie sind sozusagen apriorischen Formen der Wahrnehmung und Organisationen von Welterfahrung des Menschen, das heißt sie steuern das Erleben des Menschen in seiner Umwelt. Als Beispiel sei hier genannt: ein Kind kann eine Betreuungsperson als Mutter bzw. mütterlich erfahren, nicht nur weil diese Person sich in einer bestimmten Weise verhält, sondern weil im Kind eine Bereitschaft vorhanden ist, die Erfahrung mit dieser Person in einer bestimmten Weise, eben als Mutter, zu organisieren. Hier wird deutlich, dass Jung explizit die Auffassung der behavioristischen Lerntheorie, die zu seiner Zeit im Aufstreben begriffen war und in den folgenden Jahrzehnten praktisch die Herrschaft über die wissenschaftliche Psychologie erlangte, ablehnte, dass nämlich ein Kind eine »Tabula rasa« sei, also eine leere Tafel. Damit ist gemeint, dass das Kind bei seiner Geburt keine spezifischen Eigenschaften oder Vorstrukturierung mitbringt, sondern alles, was die Psyche später ausmacht, durch Erfahrung und Lernen in sie hinein kommt. Hier war Jung dezidiert anderer Auffassung, seine Psychologie markiert sozusagen den Gegenpol zum Behaviorismus. Sein Archetypenkonzept besagt, dass Menschen schon bei der Geburt mit einem umfassenden Wissen sowie einer Art und Weise, wie sie psychisches Erleben organisieren, ausgestattet sind. Diese Ausstattung der Psyche manifestiert sich im Lebensverlauf in typischen menschlichen Verhaltensweisen, z. B. der Tendenz, sich monogam an einen Partner zu binden, dies mit einem Ritus, genannt Heirat, zu formalisieren und auf dieser Basis eine Familie zu gründen. Diese Grundausstattung der Psyche des Menschen führt dazu, dass es bei allen Menschen in allen Völkern zu allen Zeiten typische menschliche Verhaltensweisen, Entwicklungsverläufe, Riten, Symbole und Überzeugungen gibt.

2. Dies ist gleichbedeutend damit, dass Archetypen universell sind, d. h. sie sind kulturunabhängig und finden sich sowohl in den Verhaltensweisen als auch den Überzeugungen und dem innerpsychischen Erleben aller Menschen an allen Orten der Welt zu allen Zeiten in gleicher Form.

3. Nach Jung sind Archetypen stark affektiv aufgeladen, das heißt, wenn wir sie erleben, sind sie mit spezifischen und deutlich spürbaren Emotionen verbunden. Man könnte sogar sagen, dass sie Emotionen strukturieren und kanalisieren. Wenn wir archetypische Erfahrungen machen, erleben wir dies häufig als, wie Jung es nennt, »numinos«, d. h. irgendwie machtvoll, ehrfurchtgebietend, sogar beängstigend. Wir sind auf eine gewisse Weise überwältigt von der Erfahrung und empfinden eine Art Ehrfurcht wie vor religiösen Dingen. Die Erfahrung erscheint uns beeindruckend und übermächtig, ja geradezu übermenschlich. Ein gutes Beispiel dafür ist die in der Einleitung beschriebene Erfahrung der Initiation im Traum meines Klienten, von der sowohl er selbst als auch ich äußerst beeindruckt waren.

4. Die Archetypen sind uns unbewusst, sie kommen aus dem Unbewussten und wirken auch aus dem Unbewussten auf das bewusste Erleben. Jung geht sogar davon aus, dass der Archetyp an sich als solcher für das menschliche Bewusstsein niemals zugänglich ist, nur seine Manifestationen in Form von Bildern, Symbolen und ähnlichem.

5. Archetypen sind autonom, was sich hauptsächlich auf ihr Verhältnis zum Bewusstsein bezieht. Sie sind für das bewusste Ich weder machbar noch steuerbar, sondern entspringen dem Unbewussten, aus dem sie spontan hervorgehen und aus dem sie steuernd bzw. strukturierend auf das Bewusstsein wirken.

6. Archetypen drücken sich häufig in der Form von Symbolen aus, manifestieren sich aber auch in menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen, sozialen Phänomenen und anderem. Für eine ausführliche Darstellung des Symbolbegriffs in der Analytischen Psychologie siehe Dorst (2014).

Ein Beispiel ist das Symbol des Kreuzes: Kreuzesdarstellungen finden sich bereits in der Jungsteinzeit; in vielen Kulturen auf der ganzen Welt und in unterschiedlichen Epochen findet sich das Kreuz als ein religiöses Symbol, z. B. bei den Germanen in Form der Swastika (Hakenkreuz, ein Symbol der Verehrung der Sonne), ebenso aber auch in Indien, natürlich als das zentrale Symbol des christlichen Abendlandes, aber auch auf Felszeichnungen der Ureinwohner Australiens. Das Kreuz konnte aber auch außerhalb von Religionen in der Moderne in Form des Hakenkreuzes der Nationalsozialisten Massen ergreifen und Verehrung auslösen. Offenbar drückt sich im Kreuz ein sehr umfassender, ergreifender Inhalt aus, der sich nur schwer in Worte fassen lässt. Genau dies charakterisiert einen Archetyp.

Für die klassische Definition des Archetypus bei Jung muss an dieser Stelle auch hervorgehoben werden, dass in seiner ausdifferenzierten Konzeption Jung Wert darauf legt, dass der Archetyp als solcher inhaltsleer ist und nur eine allgemeine Struktur darstellt, die Inhalte bzw. Information organisiert, man könnte es auch einen allgemeinen Attraktor nennen. Jung benutzt zur Illustration dieses Aspektes das Bild der Kristallstruktur: wenn in einer Lösung sich ein Festkörper herauskristallisiert, so ist die Form oder Gestalt dieses Festkörpers jeweils individuell und einzigartig, auf der molekularen Ebene ist aber das Kristallgitter immer dasselbe. »Ihre Form ist etwa dem Achsensystem des Kristalls zu vergleichen, welches die Kristallbildung in der Mutterlauge gewissermaßen präformiert (der Archetypus per se), ohne selber eine materielle Existenz zu besitzen. Diese Existenz erscheint erst in der Art und Weise des Anschießens der Ionen und dann der Moleküle. Das Achsensystem bestimmt somit bloß die biometrische Struktur, nicht aber die konkrete Form des individuellen Kristalls. … und ebenso besitzt der Archetypus … zwar einen invariablen Bedeutungskern, der stets nur im Prinzip, nie aber auch konkret, seine Erscheinungsweise bestimmt« (Jung GW 9/1, § 95).

2.2       Archetypen im Leben des Individuums

»Archetypische Muster warten darauf, in einer Persönlichkeit verwirklicht zu werden; sie sind unendlicher Variationen fähig und auf individuellen Ausdruck angewiesen. Sie üben eine Faszination aus, die durch traditionell und kulturell bedingte Erwartungen verstärkt wird; so sind sie Träger eines starken und möglicherweise überwältigenden Energiebetrages, dem – abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstadium und dem Grad an Bewusstheit – schwer zu widerstehen ist. Archetypen wecken Affekt, machen realitätsblind und Ergreifen Besitz vom Willen. Archetypisch Leben heißt, ohne Begrenzung leben (Inflation). Irgendetwas aber archetypischen Ausdruck zu verleihen, kann eine bewusste Interaktion mit dem kollektiven, historischen Bild bedeuten, die dem Spiel elementarer Polaritäten Raum gibt: Vergangenheit und Gegenwart, persönlich und kollektiv, typisch und einzigartig (Gegensätze)« (Samuels et al. 1991, S. 44).

Mit diesem Zitat aus dem »Wörterbuch Jungscher Psychologie« werden zahlreiche wichtige Aspekte des Archetypenbegriffs thematisiert. Jung war der Auffassung, dass sich in den Archetypen eine transzendentale Sinnebene im menschlichen Leben manifestiert und hier zum Ausdruck kommen will. In diesem Sinne würden für jeden Menschen bestimmte Archetypen lebensbestimmende Themen darstellen, mit denen sich diese Person zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Ebenen auseinandersetzen muss. Archetypen wären in diesem Sinne menschliche Lebensthemen. Jung versuchte hiermit eine Erklärung dafür zu finden, warum manche Menschen in ihrem Leben sich mit bestimmten Themen – auch leidvoll – auseinandersetzen müssen. Jungs Schüler, James Hillman, hat dies später in seiner »Archetypischen Psychologie« noch zugespitzt, indem er sagte, das Leben bestehe daraus, den archetypischen Kern, der in einem angelegt ist, zu verwirklichen. Jung hat mit diesem Begriff aber auch in den Blick genommen, was auch im obigen Zitat anklingt, dass manche Menschen in geradezu übermäßiger Weise von einem Archetyp ergriffen sind bzw. sich mit diesen identifizieren, was man in der Analytischen Psychologie als Inflation bezeichnet. Dies kann sich z. B. darin äußern, dass eine Person mit dem Archetyp der Gerechtigkeit und Solidarität mit den Unterdrückten so identifiziert ist, dass sie zum Rebell gegen die bestehenden Autoritäten wird und dabei auch zu Gewalt greift, und letztlich daran auch zugrunde geht. Das Konzept der Inflation war ein früher Versuch von Jung, individuelle Psychopathologie zu erklären. Jung hatte ja seine klinische Karriere in der Psychiatrie begonnen und hier die psychiatrische Behandlung mit dem Konzept revolutioniert, dass in den Phantasiebildungen der Psychotiker ein verborgener Sinn enthalten sein müsse und es sich hier nicht um rein sinnlose Produktionen eines organisch kranken Gehirns handle. Beim Psychotiker, so Jung, habe eine massive Inflation stattgefunden, d. h. dem Bewusstsein gelingt es nicht mehr, sich gegen die Inhalte des Unbewussten, insbesondere die Archetypen, genügend abzugrenzen. Archetypische Inhalte dringen dann in das Bewusstsein ein und überschwemmen dieses, übernehmen teilweise komplett die Steuerung über die Persönlichkeit. Damit ließen sich psychotische Wahnbildungen recht gut erklären. Die Frage in einer analytische Psychotherapie wäre dann an dieser Stelle: Mit welchem Archetyp bist du übermäßig identifiziert? Welcher Archetyp bestimmt unbewusst dein Leben, ohne dass du dich genügend von ihm distanzierst? Es ginge dann in einer Psychotherapie darum, zunächst das lebensbestimmende Motiv als ein archetypisches zu erkennen, um sich dann reflektierend von diesem zu distanzieren und zu deidentifizieren. Dies wäre dann eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Archetyp, der im eigenen Leben eine Rolle spielt, und in einer gelungenen Psychotherapie würde man schließlich diesen Aspekt als einen bewusst reflektierten Bestandteil der eigenen Persönlichkeit integrieren, anstatt von diesem unbewusst gesteuert zu werden. Jung meint dazu immer wieder lakonisch: Menschen sind nun mal keine Götter und das schadet ihnen, wenn sie sich mit diesen identifizieren. Es wird in Kapitel 5.2.1 noch ausführlicher dargestellt, dass man derartig lebensbestimmende archetypische Muster in den Biographien von Menschen tatsächlich auch empirisch nachweisen kann.

Schließlich wird im obigen Zitat ein weiterer wesentlicher Aspekt von Archetypen angesprochen, nämlich dass sie aus Gegensätzen bestehen. Dies war eine der Grundannahmen Jungs über die menschliche Psyche, dass sie in Gegensätzen aufgebaut ist. In seinen frühen Assoziationsstudien an der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich konnte er dies auch empirisch nachweisen, indem er die Persönlichkeitsdimension Introversion vs. Extraversion identifizierte. Jung war überzeugt, dass es zu jedem Persönlichkeitsmerkmal, jeder psychischen Qualität, jeder Eigenschaft in der Persönlichkeit eines Menschen einen Gegenpol gibt, und dass aus der Spannung zwischen diesen Polen die psychische Energie entsteht. Als Beispiel soll hier die stärkste Polarität in der Psyche überhaupt dienen, nämlich die zwischen Männlichem und Weiblichem. Diese Energie manifestiert sich in der Dynamik von Liebe und Hass, Anziehung und Trennung, Bindung und Autonomie zwischen den Geschlechtern. Jung hat das zwar selbst nie so explizit getan, aber im Grunde könnte man seine Archetypenpsychologie als eine Liste zentraler Gegensatzpaare formulieren, die die menschliche Psyche bzw. das menschliche Leben an sich ausmachen. Im Folgenden soll eine – keineswegs abschließende – Auflistung solcher zentraler Gegensatzpaare im menschlichen Leben dargestellt werden:

Gegensatzpaare auf körperlicher Ebene:

•  Einatem – Ausatem

•  Wachen – Schlafen

•  Arbeit – Erholung

•  Systole – Diastole

Gegensatzpaare auf psychischer und Beziehungsebene:

•  Nähe – Distanz

•  Hingabe – Abgrenzung

•  Bindung – Autonomie

•  Abhängigkeit – Unabhängigkeit

•  Schwäche – Stärke

•  Unterwerfung – Dominanz (Macht)

•  Grandiosität – Minderwertigkeit (Selbstwert)

•  Gemeinschaft – Eigensinn

•  Introversion – Extraversion

•  Veränderung – Beständigkeit

•  Irrational – rational

•  Gefühl – Vernunft

•  Loslassen – Kontrolle

•  Akzeptanz – Konfrontation

•  Kooperation – Konkurrenz

•  Verschmelzung – Trennung

In der Mythologie und Religionsgeschichte finden wir diese archetypischen Gegensatzpaare personifiziert in der Gestalt von Göttern, Fabelwesen oder mythischen Helden. Deshalb auch wird in der Analytischen Psychologie eine intensive Beschäftigung mit Mythologie, vergleichender Religionswissenschaft, Ethnologie und anderen Kulturvergleichenden Wissenschaften betrieben, weil in der psychologischen Analyse solcher mythischer Figuren Erkenntnisse über Grundqualitäten, eben archetypische Eigenschaften, der menschlichen Psyche gewonnen werden können. Hierzu ein Beispiel: In den Göttergestalten, die in der Vorstellung des antiken Griechenlands den Olymp bewohnten, ist die Göttin der Liebe, Aphrodite, offiziell verheiratet mit dem Gott Hephaistos, dem Gott der Schmiedekunst und des Handwerks. Tatsächlich aber hat sie ein geheimes Liebesverhältnis mit dem Gott des Krieges, Mars. In einem berühmten Mythos gelingt es dem Gott Hephaistos, die beiden beim Liebesakt mit einem metallenen Netz einzufangen und sie den Göttern vorzuführen, wobei diese nur mit dem berühmten olympischen Gelächter reagieren. Der psychologisch interessante Gehalt dieses Mythos ist aber, dass es eine geheime Verbindung oder Anziehung zwischen Liebe und Aggression gibt. Dies lässt sich so interpretieren, dass es einer Liebesbeziehung gut tut, wenn es in ihr auch ein gewisses Maß an Aggression gibt, sei es im Sinne einer guten Abgegrenztheit voneinander, vielleicht auch in einem gewissen Maß von Konflikten, die bewusst ausgetragen werden. Der Jungianer Peter Schellenbaum (1994) hat dies weiter ausgeführt.

Jung hat auch eine Methode entwickelt, um den psychologischen Sinngehalt von Archetypen zu identifizieren oder zumindest einzukreisen. Diese Methode wird als Amplifikation bezeichnet. Dabei werden für ein bestimmtes archetypisches Motiv oder Symbol alle kulturellen Parallelen herangezogen, d. h. seine Verwendung in verschiedenen Kulturen, in der Mythologie, in religiösen Vorstellungen usw., um auf diese Weise das Bedeutungsfeld des archetypischen Symbols abzustecken. In der Praxis der Jung’schen Psychologie werden hierzu in der Regel bestimmte Symbollexika verwendet, die aber nicht einem Symbol eine eindeutige Bedeutung zuordnen, sondern vielmehr einen Überblick über die Verwendung eines Symbols in verschiedenen Kulturen, Religionen, Traditionen usw. geben. Auch Märchen und Mythen werden in dieser Weise verwendet ( Kap. 5.1). Es geht bei der Amplifikation eines archetypischen Symbols nicht darum, eine ganz spezifische Deutung für das Symbol festzulegen, sondern vielmehr durch das Aufzeigen des Bedeutungsfeldes in der Person, die mit dem Archetyp beschäftigt ist, Bedeutungen in Schwingung zu bringen. »Die Grundprinzipien, die archetypoi, des Unbewussten sind wegen ihres Beziehungsreichtums unbeschreibbar, trotz ihrer Erkennbarkeit. Das intellektuelle Urteil sucht natürlich immer ihre Eindeutigkeit festzustellen und gerät damit am Wesentlichen vorbei, denn, was vor allem als das einzige ihrer Natur entsprechende festzustellen ist, das ist ihre Vieldeutigkeit, ihre fast unabsehbare Beziehungsfülle, welche jede eindeutige Formulierung verunmöglicht« (Jung GW 9/1, § 80).

2.3       Äußerungsformen von Archetypen

Archetypen können sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen äußern:

1. Primitiver Wahrnehmungsmodus: Es war schon oben erwähnt worden, dass alle menschlichen Neugeborenen mit einer Erwartung auf die Welt kommen, die Erfahrung einer mütterlichen Figur bzw. von Bemutterung zu machen. Konkret äußert sich dies hier z. B. im Suchen des Säuglings nach der Mutterbrust unmittelbar nach der Geburt – das Neugeborene muss dies also nicht erst lernen, sondern bringt bereits eine präformierte Erwartung mit. Dies wäre ein Beispiel für einen offenbar biologisch angelegten, primitiven Modus, wie menschliche Wesen ihre Erfahrung der Welt organisieren. Die Bindungsforschung hat bestätigt, dass alle menschlichen Säuglinge eine Bindung zu mindestens einer erwachsenen Bezugsperson aufbauen und die dabei entstehenden Bindungsmuster universell sind. Ebenfalls hierzu ließen sich zuordnen die frühe Fähigkeit zur Gesichtserkennung, die besondere Aufmerksamkeit von Neugeborenen für menschliche Reize wie z. B. die menschliche Stimme und anderes mehr (vgl. Knox 2003).

2. Bilder und Formen: Als Beispiel für eine abstrakte Form mit archetypischem Charakter war oben schon das Kreuz erwähnt worden. Ein weiteres, von Jung häufig verwendetes abstraktes Muster ist das so genannte Mandala, ein Begriff, der aus dem tibetischen Buddhismus stammt. Dort wird in zum Teil mehrtägigen Zeremonien aus farbigem Sand ein abstraktes Bild auf dem Boden gezeichnet, das meist eine runde oder quadratische Grundform hat und in verschiedenen Achsen spiegelbildlich ist. Im Verständnis des tibetischen Buddhismus repräsentiert ein Mandala die kosmische Ordnung und dient häufig als Objekt für die Meditation, um sich selbst daran innerlich zu zentrieren und zu ordnen. Dieselbe Idee findet man am anderen Ende des Globus, nämlich bei dem indianischen Volk der Navaho im Südwesten der USA. Dort vollziehen Schamanen in rituellen Zeremonien, die zur Heilung von Krankheiten oder psychischen Störungen dienen, die kunstvolle Zeichnung eines Sandbildes aus verschiedenfarbigem Sand auf den Boden, häufig begleitet von zeremoniellen Gesängen. Es gibt verschiedene Grundmuster dieser Sandzeichnungen, die für unterschiedliche Zwecke bzw. als Heilungszeremonie für unterschiedliche Probleme und Störungen vorgesehen sind und die ein Schamane dieses Volkes bei seiner Ausbildung erlernen muss, ebenso wie die begleitenden Gesänge. Auch hier wieder dient die Sandzeichnung, die ebenfalls in der Regel kreisrund ist, als Ausdruck der kosmischen Ordnung, und der betroffene Kranke soll durch Teilnahme an der Zeremonie und Betrachtung des Sandbildes wieder zur Zentrierung und inneren Ordnung finden. Schließlich findet sich eine ähnliche Idee im christlichen Abendland, nämlich in den kunstvollen farbigen und kreisrunden Rosettenfenstern der gotischen Kathedralen. Auch hier war die Idee, dass das Fenster in seiner Gestaltung das Himmelreich Gottes, also ebenfalls die kosmische Ordnung, zum Ausdruck bringt und für die Gläubigen anschaulich macht. Dabei kann angenommen werden, dass diese Kulturen miteinander wohl kaum Austausch über derartige Konzepte hatten.

3. Lebewesen und Objekte: In vielen Kulturen haben bestimmte Tiere, Pflanzen oder Unbelebte Objekte übereinstimmende symbolische Bedeutung. So werden in vielen Kulturen Vögel als Manifestationen des Geistes betrachtet, weswegen auch Schamanen und Heiler in verschiedenen Kulturen sich traditionell mit Vogelfedern schmücken, weil dies ihre Verbindung zur geistigen Welt ausdrückt. In gleicher Weise ist der Baum in vielen Kulturen übereinstimmend ein Symbol sowohl für das Heranwachsen des Menschen als auch für die Verbindung zwischen Erde und Himmel. Als Beispiel für ein Tier mit archetypischer Bedeutung soll an dieser Stelle die Schlange erwähnt werden. Im antiken Griechenland war die Schlange, die sich um einen Stab windet, das Symbol des Gottes Äskulap, der als Gott der Heilkunde verehrt wurde. Noch heute ziert die Schlange, die sich um den Stab windet, die Apotheken. Aber auch im Alten Testament findet sich dieselbe Bedeutung dieses Symbols, nämlich in Form der Ehernen Schlange im zweiten Buch Mose. Auf Gottes Geheiß hin errichtet Mose eine Eherne Schlange, zu der die Israeliten aufschauen sollen und damit geheilt werden von einer unbekannten Krankheit, die sie in der Wüste befallen hat. Auch in vielen anderen Kulturen gilt die Schlange als ein Symbol für Heilungsvorgänge, oder vielmehr allgemeiner gesagt für Transformationen, vermutlich weil die Schlange sich regelmäßig häutet und aus diesem Vorgang jeweils als neue hervorgeht.

4. Soziale Muster, Regeln und Rituale: Als ein Ritual mit archetypischem Charakter war oben schon der Initiationsritus erwähnt worden. An dieser Stelle soll ein weiteres soziales Muster bzw. Rituale als Beispiel für einen Archetyp ausgeführt werden, nämlich die Heirat. Wir finden bei allen Völkern in der ganzen Welt und den unterschiedlichen Epochen, von unter primitiven Bedingungen lebenden traditionellen Völkern bis hin zu hoch differenzierten spätmodernen Gesellschaften übereinstimmend das soziale Handlungsmuster, dass sich ein Mann und eine Frau in ritualisierter und vom menschlichen Kollektiv allgemein geregelter Weise zu einem Paar verbinden. Ethnologen haben darüber hinaus festgestellt, dass auch die sozialen Regeln und rituellen Abläufe um die Heirat herum sich in vielen Kulturen in frappierender Weise ähneln. So hat der französische Ethnologe Claude Levy-Strauss (1976) eine bei vielen traditionellen Völkern in ganz unterschiedlichen Erdteilen vorhandene Regel entdeckt, die als Oheimsregel bezeichnet wird: Vor dem eigentlichen Ritus der Verheiratung führt der Bruder der Mutter der Braut (der Oheim) diese aus ihrem Elternhaus und bringt sie zu ihrem Bräutigam. Auch hier wieder ist anzunehmen, dass diese unterschiedlichen Kulturen wohl kaum kulturellen Austausch über derart spezifische Regeln und Rituale hatten.

5. Narrative Muster: Geschichten in der Form von Märchen, Mythen und Legenden können ebenfalls archetypischen Charakter haben – »Götter sind Metaphern archetypischen Verhaltens, Mythen sind archetypische Inszenierungen« (Samuels et al. 1991, S. 44). Jung selbst hat schon früh darauf hingewiesen, dass Märchen eine Verkörperung von Archetypen in narrativer Form darstellen. Vor allem seine Schülerin Marie-Louise von Franz hat sich intensiv mit der Untersuchung des archetypischen Gehalts von Märchen beschäftigt und die Verwendung von Märchen in der Psychotherapie beschrieben. In seinem Buch »Wandlungen und Symbole der Libido« von 1912 (Jung GW 5), das der Auslöser zum Bruch mit Freud war, hat Jung sich ausführlich mit den psychotischen Phantasien einer jungen Frau beschäftigt, wie er sie in deren Tagebuchaufzeichnungen vorfand. Kern des Buches ist die Argumentation, dass diese Phantasien parallel zu mythologischen Motiven verlaufen. Insbesondere das Motiv des Heldenmythos konnte Jung in verschiedenen dieser Phantasiebildungen nachweisen. Das Motiv des Helden, der mutig zu einer großen Fahrt aufbricht, um sein Volk oder auch die ganze Welt von einer Bedrohung, z. B. durch einen Drachen, zu befreien, durchzieht die Märchen und Mythen aller Völker. Insofern kann der Mythos des Helden als ein archetypisches Narrativ bezeichnet werden ( Kap 5.3).

6. Religiöse und philosophische Ideen, weltanschauliche Überzeugungen, politische Ideologien: Auch auf der Ebene von abstrakten Ideen, Weltanschauungen und Überzeugungen finden sich archetypische Strukturen. Als ein Beispiel soll hier das Motiv von Tod und Auferstehung genannt werden. Die früheste, schriftlich niedergelegte Form dieser religiösen Idee findet sich schon im alten Ägypten im Mythos vom Tod und der Zerstückelung des Gottes Osiris durch seinen Widersacher Seth; die Schwester des Osiris, Isis, sammelt den zerstückelten Leib wieder ein und setzt ihn zusammen, sie begräbt den toten Bruder, der wieder zum Leben erwacht und mit ihr den Sohn Horus zeugt. Dasselbe Motiv von Tod und Auferstehung findet sich darüber hinaus in der altpersischen Religion von Zarathustra, im Mythos vom Phönix, der aus der Asche steigt, und natürlich im christlichen Glauben an den Tod und die Auferstehung Jesu. Im antiken Griechenland war das bedeutendste religiöse Ereignis die sich jährlich wiederholenden Eleusinischen Mysterien. Wie sie im Detail abliefen, ist nicht gänzlich gesichert, weil die Teilnehmer der Mysterien zum strengen Stillschweigen verpflichtet waren. Man geht heute aber davon aus, dass im Kern der Mysterien ein Getreidekorn vergraben wurde, aus dem dann ein Keim hervorging, und dies als Verheißung eines Lebens nach dem Tode für die Adepten galt. Am Höhepunkt der Mysterien wurde angeblich vom ausführenden Priester der Satz gesprochen: »Wer stirbt, bevor er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt«.

7. Psychische Prozesse: Schließlich können auch Entwicklungen in der Psyche des Menschen, insbesondere Wandlungsprozesse, archetypischen Charakter haben. Das zentrale Beispiel hierfür ist der Individuationsprozess, der archetypisch in jedem Menschen angelegt ist und darauf abzielt, im Verlaufe des Lebens die Einzigartigkeit der Person zum Ausdruck zu bringen und die Persönlichkeit in Richtung auf ihre Ganzheit zu bewegen ( Kap. 2.5).