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Impressum

Ahnenflüsterin

von Yvonne Bauer (Autor)

Preis 12,99 Euro

1. Auflage

Copyright: © 2021 Yvonne Bauer

Coverdesign: Yvonne Bauer

Coverfotos: Adobe Stock, Dateinummer 236649381, Surreal Dimensions of You von agsandrew

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-753-44914-2

Für meine Herzensmädchen

Annika und Jessika

Lebt immer Eure Träume!

»Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele

dem Körper zu leihen vermag.«

Wilhelm von Humboldt (1767-1835)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ich sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würde meine Großmutter mit einem Krankentransport zuhause eintreffen. Diesen Moment fürchtete ich, seit die Ärzte der Wachstation angerufen und mir mitgeteilt hatten, dass man für sie nichts mehr tun könne. Ich dachte zuerst, hier läge eine Verwechslung vor. Sie ist nicht einmal siebzig. Wie konnte das sein? Aber die Mediziner irrten sich nicht. Klara Goldberg, die Frau, die mich nach dem Tod meiner Mutter großgezogen hatte, würde sterben. Brustkrebs, eine besonders aggressive Form. Bis vor zwei Wochen ahnten wir nicht einmal, dass sie so krank war. Aber Oma hatte sich in den letzten Monaten häufig müde gefühlt und an Gewicht verloren. Jetzt hatten wir zumindest Gewissheit. Ihr ganzer Körper war von Metastasen zerfressen. Eine Heilung war ausgeschlossen.

Tränen brannten mir in den Augen. Mein Hals war staubtrocken. Warum ausgerechnet jetzt? Ich brauche Oma. Wir waren seit Jahren ein eingespieltes Duo. Außer ihr habe ich niemanden. Die Mädchen in meiner Klasse halten mich alle für seltsam und altbacken. Aber nicht Oma. Mit ihr verbringe ich die meiste Zeit, kann sein, wie ich bin. Wir lesen und gucken uralte Filme. Was sollte aus mir werden, wenn sie nicht mehr da war? Ich war nicht einmal achtzehn. Ich konnte nicht allein sein. Die Vorstellung von einem düsteren Heim und gleichgültigen Betreuern schoss mir in den Kopf. Die Furcht vor der Zukunft schnürte mir die Kehle zu und eine Welle der Übelkeit drohte, mich zu übermannen. Hastig lief ich in die Küche, in der meine geliebte Oma jeden Tag nach Schulschluss mit dem Essen auf mich wartete. Mit dem Bild vor Augen, wie sie am Herd steht und mit den Töpfen herumfuhrwerkt, lief ich zur Spüle und goss mir Wasser in ein Glas, das ungewaschen neben dem Becken stand. Hastig spülte ich das kühle Nass hinunter. Als das Zimmer sich zu drehen anfing, rutschte ich an dem Spülenschrank herunter, an den ich mich angelehnt hatte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Mit dem Kopf zwischen den Knien saß ich schwer atmend auf dem Küchenboden und beobachtete einen Marienkäfer dabei, wie er versuchte, am Tischbein des kleinen weißlackierten Holztischchens hochzuklettern, an dem Oma und ich sonst gemeinsam aßen. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, was das Käferchen mitten im November hier zu suchen hatte, als ein Klingeln mich aus meinen Überlegungen riss.

Vorsichtig stand ich auf und lief schwankend zur Tür. Mit jedem Schritt wurde mir schwerer ums Herz. Die Klinke in der Hand, hielt ich kurz inne, raffte meine Schultern und öffnete die Tür.

»Hallo, sind wir hier richtig bei Goldberg?« Der Retter, der mindestens zwei Meter groß war, und mit seiner Statur den Eingang verdunkelte,

schob sich an mir vorbei, während meine Großmutter auf der Rettungsdiensttrage leise kicherte.

»Er hat schon den ganzen Weg hierher Späße gemacht. Stell dir vor, Nora, er hat keine Freundin.« Ihre Stimme nahm bei den letzten Worten einen geheimnisvollen Klang an.

»Oma! Du kannst doch nicht ...«

»Doch, ich kann. Wie du weißt, werde ich mir demnächst die Radieschen von unten ansehen. Da muss ich sicher sein, dass es jemanden gibt, der auf dich aufpasst.«

Während die beiden Rettungskräfte meine Oma an mir vorbeifuhren, konnte ich nicht fassen, mit welcher Gelassenheit sie von ihrem Tod sprach. Ich sah dabei zu, wie die Männer die Trage am Fußende nach unten klappten und meiner Großmutter auf den nebenstehenden Sessel halfen. Der Ältere schob ihr ein Kissen in den Nacken und breitete die Wolldecke über die Beine, während der Jüngere die Trage wieder zurechtrückte und die Anschnallgurte auf die Liegefläche legte. »Dann mal alles Gute, Frau Goldberg.«

»Vielen Dank, die Herren!« Sie bedachte die Männer mit einem bezaubernden Lächeln, bevor sie sich mir zuwandte. »Nora, bring die beiden doch an die Tür!«

Als ich mich umdrehte, um die Retter hinauszubegleiten, hörte ich, wie sie leise hinzufügte, dass ich mir doch die Nummer des Spaßvogels geben lassen sollte. Kopfschüttelnd folgte ich den Männern und verabschiedete sie.

Der Ältere drückte den Knopf vom Fahrstuhl, während der Jüngere verlegen von einem Bein auf das andere trat. Er zögerte einen Moment, dann drehte er sich um und errötete leicht, als er mich ansprach. »Ich bin im übrigen Connor.«

Ich sah in große braune Augen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Bevor ich meinen Gedanken zu Ende denken konnte, was für einen ungewöhnlichen Namen er trug, trat er einen Schritt auf mich zu und hielt mir die Hand entgegen.

»Meine Mutter war in ihrer Jugend in den Highlander verliebt. Sie hat immer gesagt, dass sie ihren Sohn einmal nach ihm nennen will. Gut, dass sie Christopher Lambert mehr mochte als Sean Connery, sonst stünde jetzt ein Juan vor dir.«

Ich schüttelte ihm die Hand und war überrascht, wie redselig er war. Gleichzeitig fragte ich mich, wie alt er wohl sein könnte, wenn seine Mutter auf einen Historienschinken aus den Achtzigern stand. Der Signalton des Fahrstuhls riss uns aus dem Moment.

»Also dann, war schön, dich kennenzulernen, Connor.« Ich sah ihm nach, als er hinter der Fahrstuhltür verschwand. Sein Pferdeschwanz kringelt sich in seinem Nacken, war mein letzter Gedanke, bevor ich die Wohnungstür hinter mir schloss. »Soll ich dir einen Tee kochen, Oma?«

»Das kann ich doch machen.« Sie war schon dabei, die Wolldecke zur Seite zu schieben.

»Kommt gar nicht in die Tüte. Du kommst eben aus dem Krankenhaus.« Ich eilte an ihr vorbei. In der Küche goss ich Wasser in den Pfeifkessel, ein Überbleibsel aus früheren Zeiten, von dem meine Großmutter sich nicht trennen wollte. Ich setzte ihn auf den Gasherd, zündete die Flamme an, nahm die Teekanne aus dem Schrank und befüllte den Filter mit getrockneten Teeblättern. Als das Wasser kochte, übergoss ich den Tee, stellte die Kanne neben zwei Steinguttassen auf ein Tablett und ging zurück ins Wohnzimmer. »Wie geht es dir?« Ich setzte mich auf den freien Sessel gegenüber dem meiner Oma und musterte sie. Sie sah blass aus, dünner als sonst.

»Na ja, die Knochen tun mir weh und ich bin etwas müde. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich schon Schlimmeres durchgestanden habe.« Sie nahm den Filter aus der Kanne und goss mir und sich ein. »Aber jetzt erzähl du erst einmal, wie war es in der Schule?«

Fassungslos sah ich zu, wie sie vollkommen tiefenentspannt ihren Tee schlürfte. Ich konnte nicht glauben, dass sie sich über Banalitäten unterhalten wollte. »Oma, das ist doch jetzt nicht wichtig.«

Das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand schlagartig. »Nichts ist im Moment wichtiger als dein Schulabschluss.«

»Aber Oma ...«

»Nein. Du brauchst mich nicht daran erinnern, dass meine Tage gezählt sind. Ich möchte sie aber nicht damit füllen, Trübsal zu blasen oder vor Selbstmitleid zu vergehen. Wir müssen an deine Zukunft denken. Du weißt, dass ich ein hübsches Sümmchen zusammengespart habe. Damit kommst du locker durchs Studium, ohne dir Sorgen machen zu müssen.«

»Aber ich weiß ja noch gar nicht, was ich studieren soll.« Hastig nahm ich einen Schluck Tee und zuckte zurück, als ich mir den Mund verbrannte.

Ein Grinsen machte sich auf dem Gesicht meiner Großmutter breit. »Als du klein warst, hattest du jede Woche eine andere Idee, was du später werden willst. Einmal hast du mit dem Brustton der Überzeugung verkündet, dass du Königin von Deutschland wirst. Du hast dich wochenlang verkleidet und dich mit dem Schmuck deiner Mutter behängt.« Sie kicherte bei dem Gedanken und ich konnte nicht anders, als es ihr gleich zu tun.

»Das Schmuckkästchen war meine Schatztruhe.« Kurz ging ich dessen Inhalt, den ich als kleines Mädchen jeden Abend auf Vollständigkeit überprüft hatte, in Gedanken durch. Ich liebte den Schmuck meiner Mutter, genau genommen tat ich das noch. Das Kästchen stand im Regal neben den Plüschtieren, von denen ich mich nicht trennen konnte. Wann hatte ich damit aufgehört, hineinzusehen?

Oma wurde wieder ernst. »Tust du mir einen Gefallen und holst es? Ich würde gern etwas nachsehen.«

Verwundert stand ich auf, holte das mit Blumen und Ranken bemalte Holzkästchen aus meinem Zimmer und gab es ihr.

Sie kramte darin herum, bevor sie triumphierend einen Siegelring zum Vorschein brachte. »Hier ist er ja!« Sie hielt ihn mir entgegen.

Ich griff danach und betrachtete ihn genauer. Es war lange her, seit ich ihn zuletzt in den Händen gehalten hatte. Er war mir immer zu groß gewesen, weswegen ich ihm bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Das kühle Silber lag mir schwer in der Handfläche. Der Ring war etwas angelaufen und an einigen Stellen schwarz. Mit dem Ärmel meines Pullovers versuchte ich, ihn zu polieren. Dann steckte ich ihn mir auf den Ringfinger der linken Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. »Er passt.« Das kalte Metall fühlte sich unerwartet gut an.

»Ich kann mich gut an den Tag erinnern, an dem ich den Ring deiner Mutter gegeben habe.« Sie sah mich wehmütig an. »Mein Gott, du siehst ihr so ähnlich.«

»Ich weiß, Oma.« Auch, wenn die Fotoalben in den Regalen verstaubten, so kannte ich doch jedes einzelne Bild darin in- und auswendig. Ich war das Abbild meiner Mutter, die gleichen rotbraunen Locken, die schmale Nase, die vollen Lippen, die katzenartigen grünen Augen, die jungenhafte Figur ohne großartige Rundungen. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob meine Mutter sich auch einen volleren Busen und eine weiblichere Taille gewünscht hatte.

»Sie fehlt mir.« Oma seufzte.

Den traurigen Blick sah ich nicht das erste Mal. »Wann willst du mir endlich erzählen, was damals passiert ist, als Mutter starb? Du hast immer gesagt, wenn ich alt genug bin, alles zu verstehen. Aber meinst du nicht, dass es mittlerweile soweit ist?« Wahrscheinlich würde es nicht mehr viele Gelegenheiten dafür geben, dachte ich und bereute diesen Gedanken sofort. Wie konnte ich nur so selbstsüchtig sein?

»Du hast recht, mein Kind. Es ist an der Zeit, dich in das Geheimnis unserer Familie einzuweihen. Normalerweise ist das die Aufgabe der Mutter, ihre Tochter um ihren achtzehnten Geburtstag herum, darauf vorzubereiten, was sie erwartet. So lautet die Regel.«

»Das klingt ja geheimnisvoll.«

Oma lächelte verschmitzt. »Warts ab, wenn du den Rest gehört hast.« Sie rückte sich im Sessel zurecht. »Der Ring ist alt, ein Relikt aus vergangenen Tagen. Wie ich schon gesagt habe, wird er von einer Generation zur Nächsten von der Mutter an die älteste Tochter weitergegeben. Siehst du das Siegel? Ein Gänseblümchen.«

Ich drehte den Ring so, dass ich die Oberfläche genauer betrachten konnte. »Wie eigenartig. Warum ein Gänseblümchen?«

Schmunzelnd fuhr sich meine Großmutter über ihren Ringfinger. Sie musste den Ring ebenfalls getragen haben, wenn es stimmte, was sie mir erzählte. »Das habe ich auch gedacht, als meine Mutter ihn mir gab. Aber du musst wissen, dass unsere Vorfahrinnen heilkundig waren. Heute weiß kaum noch jemand, dass das Gänseblümchen eine blutreinigende Wirkung hat. Es hilft bei Hauterkrankungen und bei Rheuma.«

»Du klingst echt wie eine alte Kräuterhexe.« Ich schob den Ring vom Finger und legte ihn aufgebracht auf das Tablett neben die Teekanne. »Wenn du dich so gut mit Heilpflanzen auskennst, warum bist du dann krank?«

Wütend sprang ich auf, rannte in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Was sollte der ganze Quatsch? Heilerinnen? Gänseblümchen? Ich hielt das alles nicht mehr aus. Tränen brannten mir in den Augen. Ich ließ mich aufs Bett fallen, krallte meine Hände in das Kopfkissen und weinte ohne Unterlass wegen all der Ungerechtigkeit auf dieser Welt. Ich hörte nicht, wie die Tür aufging. Erst als die Matratze neben mir nachgab und Oma mir sanft über die Haare strich, bemerkte ich sie. Ich schämte mich für den Ausbruch und drehte meinen Kopf von ihr weg. Vor lauter Schuldgefühlen konnte ich sie nicht einmal ansehen. Eigentlich sollte ich sie trösten und ihr nicht das Leben noch schwerer machen.

»Ist schon gut, Nora. Ich weiß, dass du Angst hast.« Sie schob mir die Locken aus dem Nacken und streichelte sanft meinen Hals und die Wange. »Mir geht es genauso. Was gäbe ich darum, zu sehen, wie du dein Abiturzeugnis in den Händen hältst, auf dem Abiball tanzt, einen Freund mit nachhause bringst, heiratest und glücklich wirst. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit und ich könnte dich darauf vorbereiten, was dich erwartet.«

»Ach Omi ...« Wie ein Schachtelteufel schoss ich in die Höhe und warf mich ihr an den Hals. Erneut rannen mir die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen. »Es tut mir leid ...« Ich schniefte. Aus Ermangelung eines Taschentuchs wischte ich mit dem Ärmel meines Pullovers über das Gesicht. »Ich will nicht, dass du stirbst. Was soll ich denn ohne dich machen?«

Meine Großmutter fasste mich an den Schultern, schob mich von sich und sah mir eindringlich in die Augen. »Wir müssen jetzt beide stark sein. Es gibt so viel, was ich dir erklären muss. Du musst vorbereitet sein, wenn du hinüber gehst.« »Hinüber?«

»In die Träume der Ahnen.«

Langsam kam ich mir vor, wie in einem falschen Film. Sollte ich mir Sorgen machen? »Oma, geht es dir wirklich gut? Hast du von den Ärzten irgendwelche Medikamente gekriegt, die dich verwirren?«

»Ich weiß, mein Kind, dass es so auf dich wirken muss, aber ich bin klaren Geistes. Komm, lass uns etwas zum Abendessen kochen, dann erzähle ich dir alles in Ruhe.« Sie stand auf und lief in die Küche. In diesem Moment wirkte sie weder schwach noch krank. Sie war einfach meine Oma, so, wie ich sie kannte. Ich wischte mir die letzten Spuren der Tränen aus dem Gesicht und folgte dem Klappern der Töpfe.

»Nudeln mit Fangfleisch, was hältst du davon?« Sie sah nicht auf, als ich in den Raum kam. Mein Lieblingsessen, seit ich mich erinnern kann. Ich weiß noch, wie sich Mutti und Oma darüber lustig machten, weil mir das Wort für Jagdwurst nicht eingefallen war. Seither gibt es statt gebratener Jagdwurstwürfel mit Zwiebeln und Kümmel eben Fangfleisch. Ich machte mich daran, die Gemüsezwiebeln zu schälen, während Oma vor sich hin summte. Alles fühlte sich an wie immer und doch irgendwie surreal.

***

Schweigend ließen wir uns das Essen schmecken. Dann räumte ich die Teller in den Geschirrspüler. »Ich koche uns noch einen Kakao.«

Oma erhob sich langsam. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass sie Schmerzen hatte. Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihr zur Seite zu springen, weil ich wusste, dass sie das nicht wollen würde. »Das ist eine gute Idee. Ich hole den Rum.«

»Wie bitte?«

»Du hast schon richtig gehört. Ein Schuss brauner Rum in warmem Kakao und am besten noch Sahne obendrauf, da plaudert es sich gleich viel besser.«

»Bist du sicher, dass ...«

»Papperlapapp! Was soll ich mich jetzt noch gesund ernähren oder Enthaltsamkeit üben? Ich hatte in den vergangenen beiden Wochen genügend Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, und bin fest entschlossen, meine letzten Wochen, so Gott will – Monate – auf nichts zu verzichten.«

Ich sah ihr nach, als sie in die Stube lief. Vermutlich hatte sie recht. Sie sollte das Leben genießen, so lange es ging. Genau genommen wäre das der richtige Ansatz für jeden Menschen.

Heißer Dampf stieg aus den Tassen auf und verbreitete einen aromatischen Duft im Wohnzimmer. Ich stellte eine davon vor Oma ab, umfasste meine mit beiden Händen und genoss die wohltuende Wärme.

Oma lehnte sich mit nachdenklicher Miene zurück.

»Okay, jetzt rück schon raus mit der Sprache! Ich glaube bald, du willst mir nicht erzählen, was mit Mutter passiert ist.« Meine Stimme klang fest und mutiger, als mir eigentlich zumute war.

»Ach Kind, wenn das alles nur so leicht wäre.« Sie runzelte die Stirn. »Also gut, versprich mir, dass du einfach nur zuhörst. Du kannst glauben, was du möchtest, aber lass mich ausreden, bevor du den Notruf wählst und deine alte, verrückte Großmutter in die Irrenanstalt einweisen lässt.«

Nickend umklammerte ich die Tasse fester. »Einverstanden. Du redest, ich höre zu.«

Klara Goldberg schaute über den Tassenrand und taxierte ihre Enkeltochter. Dann schloss sie die Augen. »Deine Mutter starb in einem Traum.« Sie öffnete die Augen wieder und versuchte abzuschätzen, ob sie weiterreden sollte. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Das Träumen ist gefährlich für die Frauen unserer Familie, musst du wissen. Ich weiß nicht, wie lange diese Gabe oder dieser Fluch, je nachdem, wie man es betrachtet, bereits zurückgeht. Ich weiß nur, dass meine Mutter, deine Urgroßmutter, mir wenige Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag eine unglaubliche Geschichte erzählte und mir diesen Ring gab.« Sie zog den Siegelring mit dem Gänseblümchen-Siegel aus der Tasche ihrer Strickjacke und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger in die Luft. Sie drehte und betrachtete ihn, als wäre es das erste Mal, dass sie ihn sah. »Ich konnte auch nicht glauben, was meine Mutter mir weismachen wollte, aber ich wurde bald eines Besseren belehrt. Kurz nachdem ich achtzehn Jahre alt geworden war, fingen die Träume an. Beinahe jede Nacht tauchte ich in die Körper unserer Vorfahrinnen ein und lebte einen Teil ihres Lebens. Du trägst das Vermächtnis der Ahnen in dir. Alles, was du tust, wird durch ihre Erfahrungen und Weisheit mitbestimmt.«

Kopfschüttelnd sah ich die Frau, die mir gegenüber saß an und fragte mich, ob sie jetzt vollkommen den Verstand verloren und vor allem, was das Ganze mit dem Tod meiner Mutter zu tun hatte. Vorausgesetzt es stimmte, was Oma da sagte.

Sie hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, dass du mir im Augenblick nicht glaubst. Aber spätestens nach deinem ersten Traum wirst du viele Fragen an mich haben. Dennoch muss ich dich warnen. Du darfst dich in den Träumen nicht in Gefahr begeben! Wenn du stirbst, dann stirbst du auch im echten Leben. Das ist deiner Mutter passiert.«

Das war mir dann doch zu viel des Guten. »Was auch immer im Moment in deinem Kopf vorgeht, behalt es bitte für dich! Ich kann das alles nicht glauben. Oma, ich möchte nicht undankbar oder respektlos erscheinen. Ich kann mir vorstellen, dass du Angst hast, die habe ich auch. Ich wünschte, du wärst nicht so krank und alles wäre wie immer.« Langsam stand ich auf. Ich war so müde, so erschöpft. »Ich gehe schlafen. Lass uns morgen darüber reden.« Als ich nach den Tassen griff, legte Oma ihre Hand auf meine. Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Gute Nacht, mein Mädchen.«

Ich stellte das schmutzige Geschirr ins Spülbecken und schlurfte ins Badezimmer. Im Nachthemd stand ich vor dem Spiegel und putzte meine Zähne. Das Summen der Elektrozahnbürste dröhnte mir im Gehirn und übertönte die Gedanken, die laut darin wüteten. Ich spuckte den Schaum der Zahnpasta ins Waschbecken, stellte die Zahnbürste zur Seite und hielt mich krampfhaft am Waschbeckenrand fest, bis sämtliches Blut aus meinen Fingerknöcheln gewichen war. Aus dem Spiegel starrte mir ein totenbleiches Gesicht mit schräggestellten, leuchtend grünen Augen entgegen. Im Schein der Badezimmerlampe schienen die kastanienbraunen Locken meinen Kopf wie ein Feuer zu umtanzen. Konnte es wahr sein? Was, wenn alles, was Oma mir eben erzählt hatte, stimmte? Das Gesicht im Spiegel blieb stumm.

»Schluss mit dem Blödsinn!« Ich knipste das Licht aus und ging zu Bett.

***

Adela

»Und wofür ist diese Wurzel da, Mami?«

Mami? Verwirrt blickte ich auf das kleine Mädchen mit wilden rotblonden Locken, das vor mir mit den bloßen Fingern in der Erde grub. Meine Hände entwickelten ein Eigenleben und halfen dem Kind dabei, die Pflanzenwurzel freizulegen. Ich sah an mir herunter. Unter einem Schaffell, das mir locker um die Schultern hing und mit einer Fibel zusammengehalten wurde, trug ich ein farbloses Leinengewand, das mit Gürteln unterhalb der Brust und um die Taille gerafft war. Strohblonde Haare umflossen meinen Körper. In einige Strähnen waren Schnüre und Holzperlen hineingeflochten. Mit fremder Stimme antwortete ich dem Kind. »Das ist die Wurzel einer Baldrianpflanze, mein Herzensmädchen.«

»Und was machen wir damit?«

Ich spürte den neugierigen Blick der Kleinen auf mir ruhen. »Man kann die Wurzel trocknen, reiben und einen Tee davon zubereiten. Er hilft beim Einschlafen.« Woher wusste ich das alles? Ein Knacken im Unterholz unterbrach meine Gedankengänge und ließ mich zusammenfahren.

»Adela? Merit? Wo seid ihr?«

Das Mädchen stand auf und fuchtelte mit den Armen. »Hier sind wir.«

Ein rotbärtiger Berg von einem Mann ragte vor mir in die Höhe. »Hallo, Mutram. Was suchst du hier?« Wieder diese fremde Stimme.

»Euch. Königin Amalaberga möchte dich sehen. Komm, ich bringe dich zu ihr.«

»Einen Augenblick.« Ich zog ein Messer aus einer Lederscheide, die ich an meinem Gürtel befestigt hatte, schnitt einen Teil der Wurzel ab und steckte ihn mir in einen Leinenbeutel, den ich ebenfalls am Gürtel trug. Dann folgte ich dem Krieger durch das Gestrüpp.

***

Mit klopfendem Herzen wachte ich auf. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ich lauschte in die Nacht und hörte die Glocke der Marienkirche in einiger Entfernung zur vollen Stunde schlagen. Vier Uhr. Wovon war ich wach geworden? Ich knipste die Nachttischlampe an und erschrak. Meine Finger waren ganz dreckig. Hastig sprang ich auf und lief ins Bad. Unter laufendem Wasser entfernte ich den Schmutz. Der Geruch feuchter Erde erfüllte den kleinen Raum. Was um Himmelswillen ging hier vor? Mit zitternden Knien setzte ich mich auf den Klodeckel und suchte krampfhaft nach einer vernünftigen Erklärung für all das. War ich vielleicht schlafgewandelt? Ein Blick auf meine sauberen Füße verriet mir die Antwort. Es musste einen logischen Grund geben, warum ich mitten in der Nacht mit Erde unter den Fingernägeln aufwachte. Ich ging zurück in mein Zimmer, klappte den Laptop auf und startete die Suchmaschine. Aber wonach sollte ich suchen? Nach kurzem Überlegen tippte ich den Begriff SCHLAFWANDELN ein und wartete. Im Ersten der über 355000 Ergebnisse fand ich heraus, dass der Fachbegriff hierfür Somnambulismus hieß und der Schlafwandler, ohne aufzuwachen, sein Bett verlässt. In diesem Zustand könne er auch teilweise Tätigkeiten verrichten. Auslöser hierfür könnte eine emotionale Belastung sein. Nun gut, als gefühlsmäßig belastet würde ich mich durchaus bezeichnen, schließlich war Oma schwer erkrankt und würde sterben. Ich rieb mir die müden Augen und las weiter. Als auslösender Faktor käme außerdem der übermäßige Genuss von Kaffee oder Alkohol infrage. Ich wusste es! Es war der Rum, eindeutig, der Rum! Ich las weiter. Die Handlungen während des Schlafwandelns würden von den Eindrücken und Gefühlen vor dem Schlafengehen abhängen. Sicher, das war es. Oma hatte mir diesen Quatsch von den Ahnen erzählt und den Träumen. Kein Wunder, dass ich das beim Schlafen verarbeitete. Fragt sich bloß, wo ich meine Hände so schmutzig gemacht hatte. Die Topfpflanzen! Hastig sprang ich auf und lief zur Fensterbank. Alle meine Blumen steckten ordentlich und unangetastet in ihren Töpfen. Nach und nach wanderte ich durch die Wohnung und überprüfte die übrigen Pflanzen. Nichts. War ich etwa vor der Tür gewesen?

Als ich die Kette an der Eingangstür prüfte, stand Oma plötzlich hinter mir.

»Was machst du denn hier? Solltest du nicht im Bett liegen?«

Kurz überlegte ich, was ich ihr erzählen sollte. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, nahm sie mich in den Arm. »Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass dich irgendwas beschäftigt.« Sie hielt mich an den Oberarmen, schob mich ein Stück von sich weg und musterte meinen Gesichtsausdruck. »Du kannst mir nichts vormachen, schon vergessen? Ich bin deine Oma.«

Mir entfuhr ein resignierter Seufzer. Wie recht sie hatte. Sie hat mir immer angesehen, wenn mich etwas bedrückte. »Na schön. Als ich aufgewacht bin, habe ich schmutzige Hände gehabt.« Ich sah ihr direkt in die Augen und wartete auf ein »Hab ich´s doch gesagt.« Aber sie schwieg. »Ich habe von einer Frau geträumt, die aussah wie eine Wikingerin oder sowas. Sie hat mit ihrer kleinen Tochter Wurzeln ausgegraben und dann ...«

Oma griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her in die Stube. »Setz dich!«

Nachdem ich es mir im Sessel bequem gemacht hatte, breitete sie eine Wolldecke über mich und drückte die Ränder tief in die Ritzen des Möbelstücks. Ich fühlte mich so eingewickelt in die Vergangenheit zurückversetzt, eine Art Déjà-vu. Das hatte sie auch getan, als sie mir sagte, dass meine Mutter tot war. Ich bekam eine Gänsehaut.

Oma schob ihren Sessel dicht heran und machte es sich bequem. »Du hast also geträumt.«

Die simple Feststellung ließ mich erschaudern. Ich nickte. Konnte es tatsächlich wahr sein?

»Eigentlich dachte ich, du hättest noch ein wenig Zeit. Die Meisten von uns träumen das erste Mal, nachdem sie das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben. Manche auch etwas eher.« Sie musterte mich erneut. »Geht es dir gut?«

»Ich weiß nicht.« Ging es mir gut? »Keine Ahnung.«

»Ich kann mich noch an meinen ersten Traum erinnern. Es hat sich alles so echt angefühlt. Auch, wenn ich einigermaßen darauf vorbereitet war, so kann ich doch mit Fug und Recht behaupten, dass ich erschüttert war, als es dann passierte. Und ich muss sagen, du hast dich gut im Griff. Ich war panisch.« Sie verdrehte die Augen und machte ein irres Gesicht.

Obwohl mir nicht nach Späßen zumute war, musste ich lächeln. »Na ja, eigentlich dachte ich, ich wäre schlafgewandelt. Aber die schmutzigen Hände haben mich doch etwas irritiert.«

»Das glaube ich dir gern. Wo warst du denn in deinem ersten Traum?« Ihre Augen funkelten vor Neugierde.

»Keine Ahnung. Da war ein Mann. Er nannte mich Adela. Ich hatte eine Tochter, Merit. Wir haben zusammen nach Kräutern gesucht.«

»Das sind sehr alte Namen. Was hattest du denn an?«

Ich überlegte kurz. »Ein Leinenkleid und zwei Gürtel, einer um die Taille und einer unter der Brust. Schade, dass ich keinen Spiegel hatte. Dann könnte ich es dir wahrscheinlich besser beschreiben.«

»Hm, das grenzt es zumindest etwas ein. Die Germanen haben sich so gekleidet. Kannst du dich sonst an irgendwas erinnern?«

Nachdenklich schüttelte ich den Kopf. Dann fiel es mir wieder ein. »Der Kerl hat gesagt, Königin Amalaberga wolle mich sprechen.«

»Ah.« Meine Großmutter lächelte wissend. »Amalaberga war die Tochter von Amalafrida, einer Tochter des Ostgotenkönigs Theoderich, dem Großen. Er hat sie mit dem Thüringenkönig Herminafried verheiratet. Sie war also eine Thüringer Königin. Sie wurde Ende des fünften, Anfang des sechsten Jahrhunderts geboren.«

Ich staunte darüber, wie gut Oma sich in der Geschichte auskannte. Aber als Archivarin musste sie das wahrscheinlich auch. Oder hatte sie darum ihren Beruf gewählt? Als ich sie das fragte, schmunzelte sie erneut.

»Ich habe mich schon immer für Historisches interessiert. Deswegen wollte ich unbedingt in einem Archiv arbeiten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sich hier für eine Fundgrube an Informationen verbirgt.« Sie lehnte sich zurück und hielt die Nase in die Luft. »Ich liebe den unverkennbaren Geruch alter Dokumente.«

»Also, wenn sie so muffig riechen wie unser Keller, dann kann ich da locker drauf verzichten.« Ich sah auf die Uhr. Mittlerweile war es fast um sechs. Ich sollte mich für die Schule fertig machen. »Oma, ich muss mich jetzt anziehen. Wir schreiben heute in der ersten Stunde einen Russischtest. Da darf ich nicht zu spät kommen.« Ich schob die Wolldecke zur Seite und lief in Richtung Bad.

»Dann mache ich uns Frühstück. Möchtest du lieber Cornflakes oder Toast?«

Nach dieser aufregenden Nacht brauchte ich eine ordentliche Grundlage, um den Tag zu überleben. »Toast bitte, mit Käse und Salami.« Dann verschwand ich unter der Dusche.

***

Der Tag verging im Schneckentempo. Im Unterricht war ich nicht bei der Sache. Ständig ging mir das Erlebte durch den Kopf. Im Grunde widersprach das allen Gesetzen der Physik, genau wie Zeitreisen oder Beamen. Nun saß ich in der Mathestunde und sollte mich mit Stochastik beschäftigen. Im Grunde genommen tat ich das ja. Wie hoch war denn schon die Wahrscheinlichkeit, dass einem Menschen solche Dinge passierten?

In Gedanken saß ich bereits zuhause an meinem Computer. Ich wollte zu Amalaberga recherchieren. Wenn ich ehrlich war, verstand ich Omas Interesse für die Geschichte, vor allem, vor dem Hintergrund, dass wir sie live erleben durften. Ich schüttelte den Kopf, weil ich das Ganze immer noch nicht glauben konnte. Ich hatte so viele Fragen an meine Großmutter.

Als das erlösende Klingelzeichen ertönte und der Mathelehrer uns in das Wochenende verabschiedete, packte ich eilig meine Bücher in den Rucksack und lief los. Normalerweise schlenderte ich die Pfortenstraße hinauf und über den Steinweg durch die Stadt, sah mir die Auslagen der Geschäfte an und machte in meinem Lieblingsbuchladen Halt, um nach neuer Literatur zu fragen. Ich verbrachte den einen oder anderen Nachmittag damit, auf der Couch zwischen den Bücherregalen zu sitzen und zu lesen.