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Jürgen Leskien

Kieloben

Die unglaubliche Geschichte einer Seefahrt

 

ISBN 978-3-86394-747-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2001 im Verlag Die Furt, Jacobsdorf

Gestaltung des Titelbildes: Johannes Leskien
 

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Jürgen Leskien

Der Fall

Der vorläufige Untersuchungsbericht erreichte das Referat fünf des deutschen Außenministeriums verspätet. Der Grund dafür seien die Osterfeiertage gewesen, verteidigten die Beamten ihre Schlamperei vor der Presse.

Natürlich gab es auch in diesem Fall die üblichen Informationsverluste und Pannen. Ein älterer Mitarbeiter, der wegen des bevorstehenden Umzugs an einem nervösen Magenleiden litt und während der Feiertage im Außenministerium zur Stallwache verdonnert worden war, hatte hinter vorgehaltener Hand von einem Inferno an Bord gesprochen. Die Morgenzeitung mit den großen Buchstaben tönte sogleich „Höllenfeuer im Maschinenraum“. Das war ein Missverständnis, und das klärte sich erst auf, als der Abteilungsleiter des Beamten Mittwoch nach Ostern vom Skilaufen in den Alpen wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte. Er musste entdecken, dass sein Unterstellter, der portugiesischen Sprache nicht mächtig, aus einem verstümmelt Bericht, der über den Ticker aus Luanda eingelaufen war, das Wort „Inverno“ herausgefiltert hatte, was in besagter Sprache wohl Winter heißt und lediglich im Zusammenhang mit der Ausrüstung des Schiffes Erwähnung fand.

Allerdings erwies sich jener Teil der Zeitungsmeldung als richtig, im dem stand, dass ein Besatzungsmitglied verschwunden sei.

Insgesamt hielt man im Amt den Fall für nicht bedeutend. Eine solche Beurteilung aber hängt von der Sicht auf die Ereignisse ab. Schließlich hatte das angolanische Fernsehen ausführlich über das Einlaufen des Schiffes berichtet und den Leuten von CCN war die verspätete Ankunft des EISVOGELS in Luanda sogar eine Dreißig-Sekunden-Meldung wert. Dazu kam, dass der ostdeutsche Publizist und Schriftsteller Joe Laska, der als Maschinenassistent zur Besatzung des Schiffes gehörte, bis zum Zwischenstopp in Gran Canaria in regelmäßigen Abständen von Bord berichtet hatte. Im Morgenmagazin des Ostdeutschen Radios Brandenburg wurden durch ihn, im Gespräch mit dem Moderator, die Hörer über den Zweck der Fahrt aufgeklärt und die Situation an Bord eindrucksvoll geschildert. Diese sehr frischen und lebensnahen morgendlichen Seefunkgespräche, wie sie der Intendant des Senders in der Dienstbesprechung lobte, hatten unter anderem zur Folge, dass Leute aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen dem Sender Geld für den Kauf eines weiteren Schiffes anboten. Ein geschlossener Umschlag mit eintausenddreihundertfünfzig Mark war sogar beim Pförtner der Rundfunkanstalt eigens zum genannten Zweck abgegeben worden. Mindestens diesen Leuten musste nun erklärt werden, welche Umstände zu den katastrophalen Verhältnissen an Bord geführt hatten.

Das aber wird noch dauern. Zumal der Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation EINHAUS e. V., die das Projekt angeregt und mit großem Engagement betreut hatte, aus noch unbekannten Gründen Montagabend in die Cunene-Provinz geflogen war und erst in einer Woche zurück erwartet wird.

Auch ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass Journalisten oder andere Personen, die mit der Aufklärung der Angelegenheiten nicht unmittelbar zu tun haben, sich dem Liegeplatz neun an der Pier des Fischereihafens auch nur nähern dürfen. Das hatte die Hafenpolizei unmissverständlich klar gemacht.

Inzwischen sickerten Einzelheiten aus den Befragungen der Besatzungsmitglieder durch, soweit sie überhaupt befragt werden konnten. Während am Dienstag, dem vermeintlichen Unglückstag, das Vorderschiff bereits auf Grund lag und der Maschinenraum teilweise unter Wasser stand, hatte der Kapitän noch im Vollrausch in der Koje gelegen. Als die Hafenpolizisten mit schwerem Werkzeug in das Schiff eindrangen und ihn weckten, soll er einem der Polizisten die Faust ins Gesicht gestoßen haben, versehentlich, was sicher auch die Wahrheit ist. Der Verantwortliche des Enterkommandos, ein Sergeant namens Romeo Fernandes, der drei Jahre an einer Polizeischule der DDR studierte hatte und heute noch eine Frau in Berlin-Marzahn seine Liebste nennt, erklärte in vorzüglichem Deutsch, dass der Genosse Kapitän, noch in der Koje liegend, verlangt habe, man möge die weißen Tiere von seiner Brust nehmen und auch die entfernen, die an den Wänden und an der Decke hingen. Als das Schiffsoberhaupt dann aber urplötzlich um sich schlug und mit einer abgebrochenen Whiskyflasche gegen die Wand seiner Kammer anrannte, um sich selbst der Tiere zu entledigen, hatte man ihn schließlich überwältigt und in das städtische Hospital „Americo Boavida“ gebracht. Dort liegt er nun zum Entgiften auf der Intensivstation. Für eventuelle Befragungen fällt er aus, zwei Wochen noch, oder drei, meinen die Ärzte.

Der Erste Offizier des Schiffes verlangte seinen Hamburger Anwalt zu sprechen, bevor er überhaupt zu einer Äußerung bereit war. Dieser Anwalt aber war vor einem Jahr auf dem Flugplatz von Luanda vom Zoll gefilzt worden. Die Beamtin hatte einen winzigen Diamanten in seiner Nivea-Cremedose entdeckt. Durch gute Kontakte zu angolanischen Sicherheitsbehörden konnte der Mann Schlimmes von sich abwenden, galt aber von nun ab als unerwünschte Person. Ein Einreisevisum, auch zur Betreuung seines Klienten, wird ihm nicht erteilt, das stand fest.

Nun sah sich der Erste in der Klemme und hoffte auf die Hilfe seiner von ihm geschiedenen Frau aus Rostock. Die war, wie die deutsche Botschaft durch einen Telefonanruf erfuhr, mit ihrem nigerianischen Freund nach Paris gereist und nicht aufzufinden. Es konnten noch Tage vergehen, bis sie vom Schicksal ihres ehemaligen Ehemannes erfahren und etwas unternehmen würde, zum Beispiel, einen anderen Anwalt bat, sich ihres Verflossenen anzunehmen.

Aber möglicherweise war sie daran gar nicht interessiert.

Der Chief, der Ingenieur des Kutters, war in den Gesprächen, die Licht in die Angelegenheit bringen sollten, maulfaul und ließ sich selbst die kleinste Äußerung nur unter Mühen abringen. Selbst einer der letzten DDR-Botschafter für Angola, Sao Tomé und Principe, der aus Geschäftsgründen und aus Gründen, die wohl auch mit der Ankunft des Kutter zusammenhingen, gerade in Luanda war und der den Chief von früher flüchtig kannte, soll nach einem halbstündigen Versuch nur mit den Schultern gezuckt und sich mit der Bemerkung verabschiedet haben: „Ein Mecklenburger, da kann man nichts machen, er ist eben ein Mecklenburger!“

Allerdings war von einem Angestellten der Botschaft, der mehrmals Trinkwasser an Bord brachte, zu hören, dass der Chief, mehr für sich wohl, häufig den Satz wiederholte: „Völlig unverständlich, wie das jetzt noch passieren konnte, jetzt noch, völlig unverständlich!“ Dabei soll er sich stets mit der flachen Hand derb gegen die Stirn geschlagen haben. Bei der Sicherung des halb abgesoffenen Dampfers war er ruhig und umsichtig zu Werke gegangen. Stark schwitzend dabei und die angolanischen Helfer in einer Weltsprache aus Suaheli, Russisch und Englisch antreibend.

Eigentlich ist ihm und dem russischen Dockkapitän von der Werft die Rettung des Schiffes zu verdanken. Das bestätigte auch der ehemalige Polizeipräsident der Stadt Luanda, General Dino Trosso. Unklar blieb bisher, in welcher Weise der General überhaupt mit der Sache zu tun hatte. Er war seit über einem Jahr nicht mehr Chef der städtischen Polizei, und was hatte er mit Dingen zu schaffen, die ja wohl ausschließlich Hafenangelegenheiten waren und dazu noch Bürger eines anderes Landes betrafen?

Die Frage nach der eigentlichen Autorität an Bord hatte auch der Schiffskoch gestellt, der nach dem unrühmlichen Abgang des Kapitäns den Ersten Offizier als den eigentlichen Chef sah, was nach der Schiffsrolle auch richtig war, und nicht diesen Trosso und nicht den Chief, der ihm mit seiner anfallartigen Emsigkeit plötzlich unheimlich erschien. Nach anfänglicher Zurückhaltung am ersten Tag der Untersuchung, erwies sich der Chef der Töpfe und Pfannen später als sehr gesprächig. Dieser Sinneswandel hing mit mehreren Flaschen CUCA, dem guten angolanischen Bier, zusammen, das er sich von einem Posten der Hafenpolizei für ein Stück Butter, deren Frische bei diesen Temperaturen, trotz Kühlschrank, ohnehin nicht ewig zu halten war, eingehandelt hatte.

Die Herren, die mit ihm sprachen, erfuhren allerlei Bordklatsch. Dass der Alte dem Assi gegenüber den Schnaps unter Verschluss gehalten hatte und dass die Besatzung den hohen Süßwasserverbrauch des Maschinenassistenten ständig monierte, ohne dass es den störte. Und dass der defekte Fernseher schon in der Deutschen Bucht, nachts bei „See acht“, über Bord geworfen worden war, der Kapitän vom Sicherheitsbetrag der Schiffskasse in Bremerhaven einen neuen anschaffte und dass man sich der vom Seegang zerstörten Kühltruhe auf die gleiche Weise, allerdings erst in der Biskaya, hinter Finisterre, entledigte.

Über die Tage auf Gran Canaria befragt, verwies der Koch auf das Schiffstagebuch. Er zeigte sich überrascht, als Sergeant Fernandes ihm mitteilte, dass mehrere Seiten des Buches, eben jene die Gran Canaria beträfen, durch Verschütten einer Flüssigkeit, wahrscheinlich war es Tusche, Tinte oder eine Art Plakatfarbe, unleserlich geworden waren. Zu seinen Kollegen an Bord wollte er sich nicht äußern. Man möge das verstehen, bat er, er habe aus DDR-Zeiten betreffs Nachfragen zu Arbeitskollegen so seine Erfahrungen.

Dieser eher nebensächliche Satz löste bei Romeo Fernandes einen Schub von Ärger und Neugier aus. Er fragte den Koch nach dessen Ausbildung, in welchen Hotels er denn die Lehre absolviert habe, bei welchen Meisterköchen, und welche Art von Küche er denn besonders schätze. Die französische, die des Balkans oder die polnische, mit ihren vorzüglichen Suppen. Der Koch redete von Abendkursen bis weit in die Nacht hinein und von Aushilfe während der Weihnachtsfeiertage im Rostocker Hotel „Warnow“. Sergeant Fernandes ließ nicht locker. Er möge ihm, es sei nur für den privaten Gebrauch, das Rezept der Berliner Kartoffelsuppe aufschreiben, bat er und hatte seinem Gegenüber Blatt und Kugelschreiber über den Tisch geschoben. In dieser Phase des Gespräches sei der Koch regelrecht zusammengeklappt und habe begonnen, über seine Kollegen zu plaudern. Den Kapitän nannte er einen umsichtigen Einzelleiter mit hohen Führungsqualitäten, der mit der Gattin des sächsischen Ministerpräsidenten gut bekannt sei - wenn man hier in Afrika überhaupt wisse, wer das sei.

Der Erste Offizier? Der Erste ist eben ein Erster wie er im Buche steht, immer korrekt, ohne Rivalität gegenüber dem Alten, obwohl er gern Kapitän geworden wäre. Das sei aber wohl ein für alle Mal vorbei, denn es hieß, er habe eine Akte - wenn man hier in Afrika überhaupt wisse, was allein eine solche Behauptung in Deutschland bedeute.

Und dass der Chief ein stiller Bastler und Tüftler sei, der nichts mehr liebe als guten Käse, gekühltes Bier und seine Frau, die eine kleine rundliche Person mit Perücke sei. Ihre Haare, auch unten, hatte sie durch falsche Behandlung mit Radiumbädern während einer prophylaktischen Kur der DDR-Sozialversicherung bei den Russen in Sotschi, auf der Krim, verloren. Deshalb wohl sei der Chief in der Kombüse so ausgerastet, als der Ölfuß, also der Assi, sich eine Glatze rasiert hat. Obwohl die beiden ganz gut miteinander auskamen, der Chief mit dem Ölfuß, der eigentlich ein Schriftsteller ist und von dem es gleich nach der Wende hieß, auch er habe ein Akte.

Jedenfalls sei der Chief angesichts der Glatze seines Assis fast durchgeknallt. Unter vier Augen, versteht sich, unter vier Augen, denn der Chief hasste öffentliche Auftritte. Schon seit seiner Zeit bei der Marine, als ihm bei einer Klubveranstaltung in der Hohen Düne, das war ein Armeeobjekt bei Rostock, von einer Schaufensterpuppe, die er im Spiel um den ersten Preis unter Anleitung des Entertainers mit Unterwäsche bekleiden sollte, immer wieder der Arm abfiel. Seitdem hat er die Abneigung, er sagt Phobie, gegen öffentliche Auftritte. Deshalb ist er auch nicht in diese Partei gegangen, da hätte er ja auch irgendwann öffentlich auftreten müssen.

Ob er denn als Koch auch eine Akte habe, hatte Sergeant Fernandes die Frage seines zivilen Begleiters an den Koch weitergegeben. Aber sicher, soll der geantwortet haben. Er sei ja seit Mitte der achtziger Jahre unter Beobachtung gewesen. Nahtlos, ständig. Er habe seine Akte eingesehen, für einhundertfünfzig Deutsch-Mark Bearbeitungsgebühr bei der Behörde. Aber Akte sei nicht Akte - wenn man das in Afrika überhaupt versteht.

Seine Akte sei eine reine Opferakte, er habe wirklich niemandem geschadet, das war nachzulesen, in dem was sie ihm vorgelegt hatten, im Lesesaal. Und die vielen geschwärzten Abschnitte in seinen Aktenblättern sprächen ja eine eigene Sprache. Mehr als ein Dutzend IMs hatten die auf ihn angesetzt, gut dass dieser Staat untergegangen sei, er weine ihm keine Träne nach, nicht eine.

Was diesen Joe Laska betrifft, könne er nur Gutes sagen. Der hat seine Arbeit besser gemacht als mancher Profi, der schon ein Leben lang zur See fuhr. Unten bei der Maschine und auch so. Zum Beispiel Kartoffelschälen. Das war wirklich nicht Assi-Sache. Aber wenn er als Smutje saß und schälte, als noch Kartoffeln da waren, und Laska hatte gerade eine freie Minute, dann setzte der sich dazu. Allerdings immer mit seinem Schweizer Armeemesser, das er nie aus der Hand gab und das ihm ein schwuler Freund geschenkt haben soll.

Und trotzdem war etwas mit dem Assi. Der Alte nannte ihn gleich in den ersten Tagen der Reise ein arrogantes Arschloch. Ohne dass der es gehört hat, natürlich.

Das eigentliche Problem: Man kam nicht richtig ran an ihn, auch wenn er einen in der Krone hatte. Als hätte der sich immer im Griff. Einmal nur, als er sich am Morgen mit einem Steifen aus der Koje wälzte und die halbe Crew danebenstand, da bekam er eine rote Birne, aber das war einmal nur. Ja, der hatte sich immer unter Kontrolle. So kann man das sagen.

Und er schrieb allen Scheiß in solch ein dickes Buch, jeden Tag. Wir wollten darin mal lesen, als er in Grand Canaria im Puff war, oder irgendwo da an Land. Aber wir haben das Buch nicht gefunden, dabei war er ohne Tasche, nur einfach so, von Bord gegangen. Der kennt das Schiff besser als wir, hatte der Alte geknurrt, was natürlich eine Übertreibung war.

Wenn man ihn nur bald finden würde, den Assi. Bei alldem was ihm am Joe nicht gepasst habe, soll der Koch gesagt haben, es sei nicht gerecht, wenn er hier irgendwo am Strand oder auf der Müllkippe, fern von Deutschland, mit einem Loch im Kopf elend verreckte. Hier in diesem Afrika. Für nichts und wieder nichts.

Der Sergeant entließ den Koch aus der Befragung mit einer Handbewegung, in der unschwer die Herablassung zu erkennen war, die er für diesen Mann empfand. Sicherlich hing der plötzliche Abbruch des Gespräches auch damit zusammen, dass der Koch ohne Umschweife das ausgesprochen hatte, was alle, aus den unterschiedlichsten Gründen, beschäftigte - ist Laska noch am Leben.

Bereits am Dienstagnachmittag hatte General Trosso einen Fährtenhund an Bord des Kutters bringen lassen. Der Schäferhund namens Prinz, ursprünglich ein Geschenk des Berliner Kommandos der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee der DDR an die Städtische Polizei von Luanda, hatte seine Schnauze in Laskas Bettwäsche gedrückt und war dann geradewegs zum Hafentor geschnürt und von dort zur Ilha, an den Strand. Hier hatte er sich vor einer bunten, mit weit heruntergezogenem Wellblech gedeckten Hütte hechelnd niedergelassen. Die Hütte gehörte der zweiundvierzigjährigen Mulattin Rosalinda Poe. Der Hundeführer hatte die Ankunft des Sergeanten abgewartet, Rosalinda Poe war eine bekannte Malerin.

Der Sergeant rief zunächst mehrmals laut ihren Namen, klopfte dann an die Pfosten des Vordaches, bevor er mit zwei Fingern die leichte Tür aus Holz und Moskito-Gaze aufstieß.

Die Hütte maß kaum mehr als fünf mal sechs Meter und war ein einziger großer Raum, der von einer Staffelei beherrscht wurde, die ein verhängtes Bild trug. Das reichte von Kniehöhe bis zum Dachgebälk. In der Luft lag ein sanfter Geruch von Moschus und Vanille, unter den sich, in unmittelbarer Nähe der Staffelei, ein Hauch von Terpentin mischte.

Neben der breiten Schlafmatte hinter einem halb zugezogenen, blauen Batikvorhang brannte mit kleiner Flamme eine Petroleumlampe. Es war eine jener Lampen, wie man sie in diesen Breiten eigentlich nur in europäischen Farmerhäusern als Erinnerungsstücke findet. Der Fuß, ein schweres, dickbauchiges Porzellangefäß, das den Brennstoff aufnahm und obenauf das Messinggestell mit bemaltem Milchglasschirm. Nach einem Blick auf die Uhr schraubte der Sergeant den Docht herunter, die Flamme erlosch. In Augenhöhe über der Lampe, an die Wand gepinnt, hing ein handtellergroßes Foto, das die Malerin in jüngeren Jahren an der Seite eines weißen, mittelgroßen Mannes mit Nickelbrille und Bürstenhaarschnitt zeigte. Auf dem linken Ärmel des Hemdes, das er trug, war deutlich das Abzeichen der Freien Deutschen Jugend mit dem Strahlenkranz zu erkennen. Der Sergeant vermutete stark, dass dieses Foto den Gesuchten zeigte und steckte das Bild in die Brusttasche seiner Uniformbluse.

Der Hund hatte den Spirituskocher, den Topf mit Maisbrei, den gelben Wasserkanister von Gulf Oil und die Waschschüssel mit seiner Schnauze gestreift und war neben der Matte stehen geblieben. Am Fußende des maisgelben Betttuches lag, flüchtig geordnet, eine Patchworkdecke. Neben dem Lager fand der Hundeführer drei frisch benutzte Kondome, die dem jungen Polizisten ein anerkennendes Schnalzen entlockten. Der Sergeant steckte sie, unter umständlicher Benutzung seines Taschentuches, mit spitzen Fingern in eine Plastiktüte. Auch die dazugehörige Schachtel, es handelte sich um die Marke Durex aus Johannesburg/Südafrika. konnte sichergestellt werden. Der spätere Laborvergleich des Inhalts der Präservative mit den Spuren, die man auf dem Laken des Maschinenassistenten gefunden hatte, ergab völlige Übereinstimmung des biologischen Materials.

Der Hund hatte die Hütte bald verlassen und hielt erst wieder nahe beim Wasser, an einem aus rostigen Blechen und Schwemmholz zusammengenagelten Bootsschuppen mit dem Suchen inne. Hier hatte der Fischer Rui Kafuko schon auf die Polizisten gewartet. Aus dem Bootsschuppen war ein Außenbordmotor Marke Mercury nebst Zwanzig-Liter-Tank entfernt worden. Auch war das Boot ABELHA verschwunden. Allerdings sprach Kafuko nicht von Diebstahl.

Auf die Frage, ob denn Rosalinda Poe mit Boot und Motor umgehen könne, hatte der Alte dies nicht ohne Stolz bejaht. Sie, die Malerin Rosalinda, sei ja seine älteste Tochter. Mit einer leichten Verbeugung hatte er angedeutet, dass er hiermit seiner Auskunftspflicht gegenüber der Polizei genüge getan habe und er das Gespräch als beendet ansehe. Den kaum hörbar in der Verbeugung hingemurmelten Satz des Alten, „Kälte erträgt man in der Nähe des Feuers, Freundschaft bewährt sich im Unglück“, hatte Romeo Fernandes wohl vernommen.

Während Polizisten unterer Ränge am Strand noch die Fischer befragt hatten und sie mit pikanten Neuigkeiten aus Rosalindas Hütte fütterten, erbat sich der Sergeant in der deutschen Botschaft nähere Informationen zum Bürger Joe Laska. Wenn man mehr über den Mann wüsste, könnten seine Leute auch gezielter vorgehen. Bei allem Personenschutz oder wie man in Deutschland das Geheimhalten von Lebensdaten nannte.

Viel aber war in der Botschaft nicht zu erfahren. Die Sekretärin des wichtigsten Deutschen im Lande kannte vom Autor Laska aber immerhin drei seiner Afrikabücher. Sie wusste, dass er zwei oder drei oder noch mehr Jahre hier im Busch gearbeitet hatte, dass sich das Gerücht hielt, er habe mehrere Kinder mit schwarzen Frauen irgendwo in den Bergen und dass sich im ersten Jahr nach der Wende Kollegen des angolanischen Schriftstellerverbandes mehrmals nach seinem Befinden erkundigt hatten. Aber solche Nachfragen wären längst schon ausgeblieben.

Dem Sergeanten war der Zufall zur Hilfe gekommen. Während er mit der Sekretärin im Vorzimmer Kaffee trank, rief ein deutscher Bürger aus der Stadt aus dem Hotel „Tropico“ an. Er wolle nur mitteilen, dass er und noch ein Schriftstellerkollege eben angekommen seien und sich nun um einen Termin beim Informationsministerium bemühen. Im Auftrage ihrer Gewerkschaft, und natürlich aus eigener Überzeugung, werden sie dort gegen die, ihrer Meinung nach, ungenügenden Bemühungen der Regierung bei der Aufklärung der Morde an kritischen, angolanischen Journalisten protestieren und dem Herrn Minister eine entsprechende Erklärung übergeben.

Schon als die Sekretärin, von Berufs wegen alles andere als geschwätzig, dem Sergeanten von der Ankunft der beiden im „Tropico“ und deren Absichten erzählte, spürte sie, dass dies, in der jetzigen Phase der Aufklärung der Angelegenheit EISVOGEL, ein Fehler war. Der Sergeant war sofort aufgesprungen und ins Hotel gefahren. Eigentlich hätte sie ihn zurückhalten müssen.

Die Reisenden aus Berlin hatten Senior Fernandes im Zimmer 410 des Hotels empfangen. Der Raum war zwar eng, aber klimatisiert und man musste nicht die kostbaren Dollar im Restaurant für Getränke ausgeben. Dieser Geiz der Deutschen kränkte Romeo Fernandes, schärfte aber seine Sinne gegenüber jedem Wort, das er zu hören bekam. Er erklärte ihnen, worum es ging, dass aber das zeitweilige Verschwinden ihres Kollegen an sich kein Problem sei, weil er, worauf alle Zeichen deuten, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit sich vor der Stadt, auf der schönen Insel Mussulo, vergnüge. Wenn es nicht die Havarie an Bord des EISVOGELS gegeben hätte, müsste man gar nicht miteinander reden. Allerdings, das habe er in Berlin gelernt, „Vorbeugen ist besser als Heilen“. Und was sie über Joe Laska wüssten.

Die beiden zeigten sich erfreut, dass der Herr Leutnant solch vorzügliches Deutsch, dazu noch mit Berliner Einschlag, sprach und fragten, ob er sie in ihrer Angelegenheit nicht unterstützen könne, da sie durchaus andere wichtige Sprachen sprächen, Portugiesisch aber eben nicht. Romeo Fernandes entgegnete, ein wenig hintergründig, dass Hilfe seinerseits davon abhinge, wie er in der Dienstangelegenheit vorankäme. Was also sei Joe Laska für ein Mensch?

Als sie, wie ihm schien, bedrückt schwiegen, baute er ihnen eine Brücke. Sie sollen ja nicht dessen Bücher beurteilen. Und Deutschland ist groß, vielleicht sei er ihnen gar gänzlich unbekannt?!

Nun ja, hatte der Jüngere, ein hagerer Mann, mit fliehender Stirn und schütterem blonden Haar, begonnen, während der andere, halb auf dem Bett liegend, Vitamin-Dragees ohne Wasser hinunterwürgte. Er kenne ihn ganz gut, den Laska, obwohl man sich in den letzten Jahren aus den Augen verloren hatte. Leider.

Das alte und neue Ost-West Problem. Er und sein Kollege, sie seien nämlich beide aus dem ehemaligen Westberlin, während Laska bis vor Kurzem im Stadtbezirk Prenzlauer Berg gewohnt habe. Als die Schriftsteller der Stadt nach der Mauer zusammenkamen, sah man sich oft. Das seien gute Gespräche gewesen. Damals, in der ersten Neugier aufeinander. Das wäre es auch schon, was es zu sagen gäbe.

Nun, da es die Mauer nicht mehr gäbe, sähe man sich in Berlin wohl nicht mehr so oft, hatte Romeo Fernandes, ein wenig überrascht, auch aus ganz persönlichem Interesse gefragt.

Ja, so könne es auch beschrieben werden. Einen Bruch habe es wohl geben, als man Laska, im Verein mit zweiundzwanzig anderen Autoren, zunächst nicht im gemeinsamen Schriftstellerverband haben wollte. Die Begründung lautete, er, wie die anderen Genannten, er habe mit im Saal gesessen und die Hand gehoben, als der Berliner Verband Ost im Frühsommer neunundsiebzig Kollegen wegen politischer Aufmüpfigkeit einfach ausschloss und ihnen das Leben vergällte. Laska sei wohl vor allem auf Betreiben eines Kollegen auf diese Liste der Ungebetenen gesetzt worden. Sein Name? Der Name spiele keine Rolle. Der Witz aber - Laska habe am Tage jener abgeschmackten Ausschlussveranstaltung nicht anwesend sein können, da war er hier, hier in Angola, und habe Lastwagen repariert. Das schließt nicht aus, dass er, wenn er im Saal gewesen wäre, mit seinem damaligen Erkenntnisstand durchaus diesen Ausschluss per Handheben befürwortet hätte, das räumt er heute durchaus ein, aber er war eben nicht dabei und sein Name auf besagter Liste sei eine neue Form der Denunziation, die jener rührige Kollege, die DDR-Zeit betreffend, vorgibt aufzudecken. Aber das nur nebenbei.

Der Sergeant soll versucht haben, den Redefluss des Deutschen zu bremsen, zumal der Drageeschlucker offensichtlich auf dem Bett eingeschlafen war, ein Speichelfaden aus dessen Mund auf das Betttuch wippte. Auch schien es Fernandes, als entfernten sie sich immer weiter vom eigentlichen Ufer.

Moment, habe der Hagere mit einer gewissen Schärfe eingeworfen, das gehört zur Beantwortung Ihrer Frage! Die Liste war nämlich öffentlich gemacht worden, lag auf diese Weise den Bibliotheken, den Verlagen, den Sendern vor! Natürlich wurde er geschnitten, der Laska. Ja, er hatte Kontakte zu diesem Sicherheitsministerium der DDR. Darüber hat er gesprochen, gleich nach der Wende. Und er hat hier in Angola im Kriegsgebiet gearbeitet. Wie sollte das zum Beispiel ohne Arbeitskontakte zur „Sicherheit“ funktioniert haben? Das nun, müsse er, als Polizeioffizier hier im Lande, besser wissen.

Vor allem aber hat Laska mit seiner Biografie die Erfahrung machen müssen, wenn es irgendjemandem in den politischen Kram passte, werden die Sachen wieder hochgezogen, in sorgsam ausgewählten Auszügen, dem politischen Tagesgeschäft nach zugeschnitten. Breitgelatscht und undifferenziert, ernsthafte Gespräche blockierend.

Romeo Fernandes hatte zunächst den Irrtum um seinen Dienstgrad ausgeräumt und dann nach Laskas gegenwärtigem Broterwerb gefragt. Da habe sich der Drageeschlucker gemeldet. Vorsicht, Vorsicht, soll er gemahnt haben. Kollegen in Berlin glauben zu wissen, dass Herren vom Bundeskriminalamt, vom Staatsschutz, bei Laska vorstellig geworden seien. Da muss schon etwas vorliegen, so schnell heben die Staatsschützer aus Wiesbaden nicht ihren Arsch!

Und was den Broterwerb beträfe, sein Geld verdiene Laska unter ziemlich verqueren Umständen. Es wird in Kollegenkreisen erzählt, er arbeite für ein Fachblatt der Deutschen Fleischerinnung, feste Anstellung. Dabei sei Laska von Haus aus Vegetarier, kein militanter, aber einer, den unsere Fleischfresserei ankotzt. Und nun singt er brav das Hohelied der ethisch vertretbaren Massenschlachtungen! Ja, so ist das, fügte der Drageeschlucker seine Häme nur schlecht verbergend hinzu, von irgendetwas muss man schließlich leben!

Das mit dem BKA, das solle er wieder vergessen, empfahl der Hagere dem Sergeanten, mit einem unfreundlichen Blick auf seinen Kollegen. Aber er möge sich doch selbst einmal fragen, kann man es jemandem, an dem sich immer wieder andere ihre schuppigen Rücken scheuern, verübeln, wenn er sich einfach auf und davon macht? Hopp und weg aus Germany? Er steht denen einfach nicht mehr zur Verfügung, basta, auch er hat nur dieses einzige Leben! Er für seinen Teil könne Laska nur wünschen - möge er es gut haben, dort wo er ist!

Das unangenehme Gespräch mit dem Schiffskoch war dem Sergeanten wieder in den Sinn gekommen und er wurde bei der Rede der beiden blassen Männer sehr an seine Berliner Zeit erinnert. Stellungnahme, Kritik, Selbstkritik, Einsicht, Standpunkt. Worte, die sie ihm eingebrannt hatten, auf der Polizeischule. Er wusste, er werde sie nie ganz verstehen, die Deutschen, selbst wenn er noch weitere fünf Jahre in ihrem schönen und reichen Land verbringen dürfte. Ihre Sucht, für alles einen politischen Grund ausfindig machen zu wollen! Diese Lust, sich und andere zu quälen, sich selbst vor allem. Als gäbe es nicht diese herrlichen Frauen, als gäbe es nicht die Kinder, die zur Freude der Eltern heranwachsen, als gäbe es nicht das Grabfeld der Ahnen und den Himmel über Cabinda, über Lunda, über dem Kwanza und als gäbe es nicht das Dominospiel mit den Freunden am Strand!