DIE AUTOREN
Rachel Cohn und David Levithan sind beide renommierte Jugendbuchautoren und seit Langem miteinander befreundet. Sie lebt in New York City, er auf der anderen Seite des Hudson River in Hoboken/New Jersey. »Dash und Lily – Neuer Winter, neues Glück« ist ihre vierte Manhattan Lovestory.
Der Mutter des echten Dash gewidmet
eins
21. Dezember
Ist so was wirklich möglich?
Du bist in deinem Lieblingsbuchladen und gehst an den Regalen entlang. Du lässt deine Blicke schweifen. Du bleibst an einer Stelle stehen, wo einer deiner Lieblingsautoren seinen Platz hat, und da findest du plötzlich, zwischen die vertrauten Buchrücken geklemmt, ein rotes Notizbuch.
Was tun?
Darauf kann es doch wohl nur eine Antwort geben.
Du ziehst das Notizbuch heraus und blätterst darin herum.
Und dann folgst du den Anweisungen, die dir dort gegeben werden.
Es war Weihnachtszeit in New York, die schrecklichste Zeit des Jahres. Menschenmengen wie Kuhherden, endlose Besuche unseliger Verwandter, falsche Fröhlichkeit, all diese Ersatzhandlungen, die freudlosen Versuche, mehr Freude zu empfinden – meine natürliche Abneigung gegen allzu viel Berührung mit Menschen steigerte sich dadurch nur noch mehr. Wohin auch immer ich ging, war ich am falschen Ende des Gedränges. Ich war nicht bereit, mir durch irgendeine »Armee« mein »Heil« herbeisingen zu lassen. Es war mir vollkommen egal, ob wir eine weiße Weihnacht haben würden. Ich war ein Dezembrist, ein Bolschewik, ein berüchtigter Ganove, ein von unbekannten Phobien geplagter Briefmarkensammler – alles, was alle anderen nicht waren, das wollte ich sein. Ich bewegte mich so unsichtbar wie möglich durch die vom Kaufrausch gepackten Horden, die weihnachtsgläubigen Winterwahnsinnigen, die Fremden, die um die halbe Welt geflogen waren, um einen Lichterbaum zu sehen – ohne sich klarzumachen, was für einem heidnischen Ritual sie da folgten.
Das einzig Erfreuliche an dieser trüben Jahreszeit ist, dass dann die Schule für ein paar Tage dichtmacht (wahrscheinlich damit auch alle Schüler bis zum Umfallen shoppen können und womöglich außerdem entdecken, dass Familie, wie Arsen, nur in kleinen Dosierungen verträglich ist, außer man hat den dringenden Wunsch zu sterben). In diesem Jahr hatte ich es geschafft, über Weihnachten freiwillig zum Waisenkind zu werden, indem ich meiner Mutter erzählt hatte, ich würde die Tage bei meinem Vater verbringen, und meinem Vater, ich würde sie bei meiner Mutter verbringen, weshalb sie beide eine Reise ohne Reiserücktrittsversicherung mit ihren derzeitigen Nach-Scheidungs-Partnern gebucht hatten. Meine Eltern haben seit acht Jahren nicht mehr miteinander gesprochen, was mir jede Menge Freiraum in der Ausgestaltung meiner Beziehungen zu ihnen lässt und deshalb sehr viel Zeit für mich selbst.
Während sie beide weg waren, wechselte ich zwischen ihren Wohnungen hin und her – hauptsächlich aber verbrachte ich meine Zeit bei Strand, dieser Festung einschüchternder Gelehrsamkeit, viel mehr als ein Buchladen, nämlich der Zusammenprall Hunderter unterschiedlicher Buchläden, dessen literarisches Strandgut sich auf über achtzehn Meilen verteilt. Und dann die Angestellten, die dort geistesabwesend herumschlurfen in ihren engen Röhrenjeans und ihren Hemden aus dem Secondhandladen, wie ältere Brüder, die niemals und unter keinen Umständen ein Wort mit dir reden oder sich um dich kümmern oder überhaupt auch nur deine Existenz zur Kenntnis nehmen werden, solange ihre Freunde in der Nähe sind … und das sind sie immer. Manche Buchhandlungen wollen einen glauben machen, dass sie ein Bürgerzentrum sind, als müsste man einen Plätzchenbackkurs anbieten, um Proust verkaufen zu dürfen. Nicht so bei Strand, da bleibt man ganz auf sich gestellt zwischen den sich bekriegenden Mächten der Ökonomie und der Idiosynkrasie, wobei die Idiosynkrasie immer die Oberhand behält. Mit anderen Worten, der Ort ist wie für mich geschaffen. Er ist so etwas wie meine private Grabungsstätte.
Wenn ich zu Strand gehe, dann normalerweise ohne nach bestimmten Büchern zu suchen. Manchmal beschließe ich, dass der Nachmittag einem einzelnen Buchstaben gewidmet ist, und dann streife ich durch sämtliche Abteilungen, um nach allen Autoren zu suchen, deren Nachnamen mit diesem einen Buchstaben beginnen. An anderen Tagen nehme ich eine bestimmte Abteilung in Angriff oder ich arbeite mich durch die unlängst aussortierten Bücher, die ohne erkennbare Ordnung in Wannen gelandet sind. Es kann aber auch sein, dass ich nach Büchern mit grünen Umschlägen Ausschau halte, einfach weil es schon so lang her ist, dass ich ein Buch mit einem grünen Umschlag gelesen habe.
Ich hätte natürlich auch mit meinen Freunden herumhängen können, aber die meisten von ihnen hingen bei ihren Familien oder mit ihren Wiis herum (Wiis? Wiii? Wie heißt der Plural davon?). Ich dagegen zog es vor, bei den toten, sterbenden oder zu Tode verzweifelten Büchern herumzuhängen – gebrauchte Bücher, die schon durch andere Hände gegangen waren und von denen keiner wusste, ob man sie jemals noch mal brauchte. Was für ein hartes Schicksal, fast wie wenn ein Mensch von niemand mehr gebraucht wird.
Ich bin ein totaler Bücherwurm, was ein hoffnungslos altmodisches Wort ist, das mir schon allein deswegen gefällt. Natürlich gelte ich damit als hoffnungslos von vorgestern und sozialer Problemfall. Was mich jedoch nicht daran hindert, es laut auszusprechen. Bücherwurm klingt so schön wie Mauerblümchen, Blaukreuzler und Busenfreund – auch alles Wörter, die die Leute nur noch selten benutzen.
An diesem ganz besonderen Tag beschloss ich, ein paar meiner Lieblingsautoren einen Besuch abzustatten, um zu checken, ob vielleicht irgendwelche Sonderausgaben aus einer privaten Bibliotheksauflösung angeliefert worden waren. Ich stand vor meinem derzeitigen Dichtergott (er soll namenlos bleiben, weil ich vielleicht eines Tages von ihm abfallen werde), als ich plötzlich etwas Rotes aufblitzen sah. Es war ein rotes Moleskine-Notizbuch, das bevorzugte Aufschreibmedium aller meiner Seelenverwandten, die das Bedürfnis verspüren, ihr Tagebuch in nicht-elektronischer Form zu führen. Schon allein anhand der Wahl des Papiers, auf dem eine Person Tagebuch führt, erfährt man viel über sie. Ich schreibe zum Beispiel immer auf normal liniertem Papier, weil ich kein Talent für eingestreute kleine Zeichnungen und außerdem eine winzig-kritzelige Handschrift habe, die auf breit liniertem Papier irgendwie verloren wirkt. Unliniertes Papier ist am beliebtesten, und ich habe nur einen einzigen Freund, Thibaud, der auf kariertem Papier schreibt. Oder genauer gesagt, geschrieben hat, bis sein Vertrauenslehrer seine Tagebücher eines Tages als Beweismaterial konfiszierte, aus dem angeblich hervorging, dass Thibaud geplant hatte, unseren Geschichtslehrer umzubringen. (Das ist eine wahre Geschichte.)
Auf den Rücken des roten Notizbuchs vor mir im Regal war nichts geschrieben, ich musste es erst herausziehen und auf den vorderen Umschlag schauen. Darauf haftete ein Stück Klebeband, auf das jemand mit schwarzem Filzstift TRAUST DU DICH? geschrieben hatte. Als ich die erste Seite aufschlug, stand dort:
Ich habe für dich ein paar Spuren ausgelegt.
Wenn du wissen willst, welche, blättere weiter.
Wenn nicht, stell das Notizbuch bitte zurück ins Regal.
Es war die Handschrift eines Mädchens. Da war ich mir ganz sicher. Ein hinreißendes Gekringel.
Aber egal, ich hätte in jedem Fall umgeblättert.
Aha, es kann also losgehen.
1. Lass uns mit »French Pianism« anfangen.
Ich habe keine Ahnung, was das wirklich ist,
aber ich bin mir sicher,
dass dieses Buch niemand aus dem Regal ziehen wird.
Charles Timbrell ist dein Mann.
88/7/2
88/4/8
Blättere erst dann weiter,
wenn du die Leerstellen ausfüllen kannst
(aber schreib bitte nicht in das Notizbuch).
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Ich hätte nicht behaupten können, jemals etwas von French Pianism gehört zu haben. Wenn mich allerdings ein Mann auf der Straße (selbstverständlich einer mit Melone auf dem Kopf) fragen würde, ob ich glaubte, dass es mit Klavierspiel auf Französisch etwas Besonderes auf sich habe, würde ich bestimmt mit Ja antworten.
Weil mir die Bücherregalflure bei Strand vertrauter waren als die Wohnungen meiner Eltern, wusste ich sofort, wo ich hinmusste – zur Musikabteilung. Ich empfand es als Kränkung, dass der Name des Autors genannt war. Glaubte die Schreiberin, ich sei ein Dummkopf, ein Faulpelz, ein Einfaltspinsel? Ich wollte bitte schön etwas Respekt, selbst wenn ich ihn mir noch nicht verdient hatte.
Das Buch war leicht zu finden – zumindest für jemanden, der eben mal vierzehn Minuten Zeit übrig hat –, und es sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: die Sorte von Buch, die sich jahrelang im Regal verdrücken kann. Der Verlag hatte sich noch nicht mal die Mühe gemacht, den Umschlag mit einer Illustration zu versehen. Nur die Wörter: French Pianism: An Historical Perspective, Charles Timbrell, dann (neue Zeile) Foreword by Gaby Casadesus.
Ich dachte zuerst, die Zahlen in dem Notizbuch seien Daten – 1988 musste ein bewegtes Jahr für das französische Klavierspiel gewesen sein –, aber dann konnte ich keine Hinweise auf 1988 … oder 1888 … oder 1788 … oder irgendeine andere Jahreszahl mit 88 finden. Ich fühlte mich ausgetrickst – bis mir einfiel, dass die Rätselschreiberin wahrscheinlich auf den uralten Bücherwurm-Code zurückgegriffen hatte: Seite/Zeile/Wort. Ich blätterte zu Seite 88, fuhr dann mit dem Finger zu Zeile 7, Wort 2 und danach zu Zeile 4, Wort 8.
Reizt dich
Reizte mich was? Das musste ich unbedingt herausfinden. Ich trug die zwei Wörter in die Leerstellen ein (im Kopf natürlich nur, denn ich respektierte das unberührte Weiß der Zeilen) und blätterte die erste Seite des Notizbuchs um.
Okay. Jetzt bitte nicht schummeln.
Was hat dich an dem Cover des Buchs gestört?
(Mal abgesehen von der Lieblosigkeit.)
Denk darüber nach und blättere dann weiter.
Das war leicht. Es hatte mich wahnsinnig gestört, dass dort An Historical stand, wo es doch A Historical hätte heißen müssen, weil das H in Historical ausgesprochen wird und kein stummes H ist.
Ich blätterte um.
Wenn es die unkorrekte Formulierung »An Historical« war, mach weiter.
Wenn nicht, stell das Notizbuch
bitte zurück ins Regal.
Ich blätterte auf die nächste Seite um.
2. »Fat Hoochie Prom Queen«
64/4/9
119/3/8
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Diesmal war kein Autor genannt. Nicht sehr hilfreich.
Ich nahm French Pianism mit (wir waren uns nähergekommen; ich konnte das Buch nicht einfach so zurücklassen) und ging zur Information, wo ein junger Typ saß, der aussah, als hätte ihm jemand Lithium in sein Coke Zero gegeben.
»Ich suche Fat Hoochie Prom Queen«, verkündete ich.
Er antwortete nicht.
»Das ist ein Buch«, sagte ich. »Kein Mensch.«
Keine Reaktion. Nichts.
»Kannst du mir wenigstens sagen, wer es geschrieben hat?«
Er blickte auf seinen Bildschirm, als könnte der mir antworten, ohne dass er selbst irgendetwas eintippen musste.
»Hast du irgendwelche Ohrstöpsel drin, die ich nicht sehen kann?«, fragte ich.
Er kratzte sich in seiner Ellenbogenbeuge.
»Kennen wir uns irgendwoher?«, hakte ich nach. »Hab ich dich in der Vorschule vielleicht zu Mus zerquetscht und jetzt hast du eine sadistische Freude daran, dich auf diese jämmerliche Weise an mir zu rächen? Stephen Little, bist du’s? Bist du’s wirklich? Ich war damals noch klein, und es war echt idiotisch von mir, dich im Springbrunnen beinahe zu ertränken. Zu meiner Entschuldigung kann ich aber anführen, dass das, was du mir vorher angetan hast, nämlich meinen Aufsatz zu zerreißen, ein völlig ungerechtfertigter Akt der Aggression war.«
Endlich eine Antwort. Der junge Buchhändler schüttelte den Kopf.
»Nein?«, sagte ich.
»Es ist mir nicht erlaubt, den Standort von Fat Hoochie Prom Queen zu verraten«, sagte er. »Dir nicht. Und auch niemand anders. Und ich bin zwar nicht Stephen Little, aber du solltest dich dafür schämen, was du mit ihm angestellt hast. Schämen solltest du dich.«
Okay, das würde schwieriger werden, als ich gedacht hatte. Ich versuchte, über mein Handy ins Internet zu gehen, um schnell bei Amazon nachzugucken – aber im ganzen Laden war kein Empfang. Ich war mir ziemlich sicher, dass Fat Hoochie Prom Queen kein Sachbuch war (worüber hätte es auch sein sollen?), deshalb ging ich zur Belletristikabteilung und schlenderte zwischen den Regalen umher. Sinnlos. Danach fiel mir ein, dass es ja auch noch die Abteilung für Jugendliche gab, und steuerte stracks darauf zu. Alle Buchrücken, die nicht die geringste Spur Rosa aufwiesen, nahm ich erst gar nicht zur Kenntnis. Alle meine Instinkte sagten mir, dass Fat Hoochie Prom Queen mindestens rosa gesprenkelt sein würde. Und hipp, hipp, hurra – ich landete schließlich beim Buchstaben M, und da war es.
Ich schlug die Seiten 64 und 119 auf und suchte mir heraus:
das Spiel
Wieder blätterte ich eine Seite des Notizbuchs um.
Sehr clever.
Weil nicht jeder auf die Idee käme,
in der Jugendbuchabteilung zu suchen,
frage ich dich jetzt:
Bist du ein Jugendlicher und männlich?
Wenn ja, blättere weiter.
Wenn nein, stell das Notizbuch bitte zurück ins Regal.
Ich war sechzehn und mit den passenden Geschlechtsorganen ausgestattet, deshalb nahm ich diese Hürde mit Leichtigkeit.
Nächste Seite.
»The Joy of Gay Sex«
(dritte Auflage!)
65/12/5
181/18/7
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Nun, diesmal konnte es keinen Zweifel geben, wo dieses Buch zu finden sein würde. Deshalb nichts wie los zu den »Sex & Sexualität«-Regalen, wo die Blicke der Kunden entweder verschämt oder trotzig waren. Ich persönlich fand die Vorstellung, ein gebrauchtes Sex-Handbuch (egal welcher sexuellen Ausrichtung) zu kaufen, ja etwas unappetitlich. Vielleicht standen deshalb auch vier Exemplare von The Joy of Gay Sex im Regal. Ich blätterte zu Seite 65, zählte dann bis Zeile 12, dort das fünfte Wort und fand:
Schwanz
Ich zählte noch einmal. Prüfte nach.
Reizt dich das Spiel Schwanz?
Vielleicht, dachte ich – hoffte ich –, war Schwanz hier wirklich ganz unverblümt gemeint, frei, stark und männlich; nicht wie sonst bei Mädchen zu einem Pferdeschwanz verkümmert. Ich blätterte zu Seite 181, nicht ohne leichte Nervosität.
Geräuschlos Liebe machen ist wie das Spiel auf einem stummen Klavier – gut um zu üben, aber man bringt sich dabei um die Freude, die prächtigen Ergebnisse zu hören.
Ich hätte nie gedacht, dass ein einziger Satz es schaffen würde, mir sowohl die Lust am Sex als auch am Klavierspielen auszutreiben – aber da war er.
Zum Glück war der Text nicht auch noch mit einem Bild versehen. Aber ich hatte mein sechstes Wort:
um
Was dann den Satz ergab:
Reizt dich das Spiel Schwanz um
Das wirkte durch und durch falsch. Rein grammatikalisch ergab das überhaupt keinen Sinn. Und auch sonst nicht.
Ich blickte noch einmal auf die Seite in dem Notizbuch und musste mich sehr zusammennehmen, um nicht einfach umzublättern. Als ich die mädchenhaften Kringel noch mal genau ansah, stellte ich fest, dass ich die eine 6 mit einer 5 verwechselt hatte. Ich musste auf Seite 66 (die kleine Schwester der Teufelszahl) nachschauen.
allein
Ergab schon viel mehr Sinn.
Reizt dich das Spiel allein um ...
»Dash?«
Ich drehte mich um. Priya, ein Mädchen aus meiner Schule, stand hinter mir; wir waren nicht wirklich befreundet, aber mehr als nur Bekannte – gibt es dafür eigentlich ein Wort? Sie war eine gute Freundin meiner Ex-Freundin Sofia, die jetzt in Spanien lebte. (Daran war ich aber nicht schuld.) Ich konnte bei Priya keine besonderen persönlichen Merkmale erkennen, muss aber gerechtigkeitshalber hinzufügen, dass ich nie besonders genau hingeschaut hatte.
»Hallo, Priya«, sagte ich.
Sie blickte auf die Bücher, die ich in der Hand hatte – ein rotes Moleskine-Notizbuch, French Pianism, Fat Hoochie Prom Queen sowie, auf einer Seite aufgeschlagen, auf deren Illustration zwei Männer etwas miteinander taten, was ich bisher nicht für möglich gehalten hätte, The Joy of Gay Sex (dritte Auflage).
Die Situation verlangte nach einer Erklärung.
»Ich muss da so ein Referat halten«, sagte ich in einem Tonfall falsch klingender intellektueller Überlegenheit. »Über französisches Klavierspiel und seine Rezeption. Schon sehr erstaunlich, wie weit da der Einfluss reicht.«
Priya, die Gute, blickte drein, als bedauerte sie es zutiefst, meinen Namen gerufen zu haben.
»Bist du über die Weihnachtsferien hier?«, fragte sie. Wenn ich jetzt Ja sagte, lief ich Gefahr, von ihr zu einer Eierpunschparty oder zu einem Weihnachtskinobesuch von Gramma Got Run Over by a Reindeer eingeladen zu werden, in dem ein schwarzer Komiker sämtliche Rollen spielt bis auf die des weiblichen Rentiers, woraus sich dann vermutlich eine Liebesgeschichte entwickelt. Einer solchen Einladung sah ich mit großem Bangen entgegen, und weil ich ein Anhänger vorbeugender Ausweichmanöver bin, erfand ich schnell eine Lüge, um nicht später in der Falle zu sitzen.
»Ich fliege morgen nach Schweden«, antwortete ich.
»Schweden?«
Ich sah überhaupt nicht schwedisch aus (tu ich auch immer noch nicht), deshalb kamen Ferien bei Großeltern, Onkeln und Tanten nicht in Frage. Also schob ich als Begründung hinterher: »Ich liebe Schweden im Dezember. Die Tage sind da so kurz … die Nächte sind so lang … und das schwedische Möbeldesign ist berühmt für seine klaren, einfachen Linien und Formen.«
Priya nickte. »Klingt super.«
Wir standen da. Ich wusste, dass gemäß den Konversationsregeln jetzt ich eine Frage stellen müsste. Aber ich wusste auch, dass die Weigerung, diese Konversationsregeln zu befolgen, dazu führen würde, dass Priya früher oder später ging – und das wollte ich ganz dringend.
Nach dreißig Sekunden hielt sie es nicht mehr aus.
»Ich muss weiter«, sagte sie.
»Frohes Hanukkah«, sagte ich, weil ich mir einen Spaß daraus mache, gute Wünsche zum falschen Fest auszusprechen, nur um zu sehen, wie die Leute reagieren.
Priya nahm es gelassen. »Viel Spaß in Schweden«, sagte sie. Und war auch schon fort.
Ich ordnete meinen Bücherstapel um, sodass das rote Notizbuch ganz oben lag. Dann blätterte ich eine Seite weiter.
Die Tatsache, dass es dir nicht peinlich ist,
mit »The Joy of Gay Sex« in der Hand
bei Strand herumzustehen,
ist ein gutes Zeichen.
Falls du aber dieses Buch schon besitzen solltest
oder glaubst, es könnte dir in deinem Leben weiterhelfen,
dann befürchte ich, müssen sich unsere Wege trennen.
Ich bin ein Mädchen, das einen Jungen sucht,
wenn du ein Junge bist, der auch einen Jungen sucht,
habe ich da zwar überhaupt nichts dagegen,
aber dann passen wir nicht zusammen.
Noch ein letztes Buch.
4. »What the Living Do« von Marie Howe
23/1/8
24/5/9, 11, 12
______ ______ _______ _______ ?
Ich stürmte sofort in die Lyrikabteilung, total neugierig geworden. Wer war diese fremde Leserin von Marie Howe, die mich da rief? Es war schon fast zu schön, um wahr zu sein, dass wir beide dieselbe Lyrikerin kannten. Die meisten Leute in meinem Freundeskreis kennen überhaupt keine Dichter. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, mit wem ich vielleicht über Marie Howe geredet hatte, aber mir fiel niemand ein. Außer Sofia vielleicht, aber das war definitiv nicht Sofias Handschrift (und außerdem war sie in Spanien).
Ich ging am Buchstaben H entlang. Ich suchte in der ganzen Lyrikabteilung. Nichts. Aus lauter Frustration wollte ich fast schon heulen, da entdeckte ich das Buch – ganz oben im Regal, mindestens dreieinhalb Meter vom Boden entfernt. Nur eine kleine Ecke davon spitzte heraus, aber an der dunkellila Farbe des Einbands und weil es ein so schmales Bändchen war, erkannte ich sofort, dass es das Buch war, das ich suchte.
Ich zog mir eine Leiter heran und begann mit dem gefährlichen Aufstieg. Es war eine staubige Kletterei; je höher ich kam, desto schwerer fiel mir das Atmen, die Bücher in diesen schier unerreichbaren Höhen waren in Wolken der Gleichgültigkeit gehüllt. Endlich hatte ich den Band in der Hand. Ich konnte nicht mehr warten – hastig schlug ich die Seiten 23 und 24 auf und fand die Wörter, die ich brauchte.
des reinen Begehrens willen
Ich fiel fast von der Leiter.
Reizt dich das Spiel allein um des reinen Begehrens willen?
Ich war, um es mal mild auszudrücken, von dem Satz total geplättet.
Vorsichtig kletterte ich die Leiter wieder hinab. Als ich Boden unter den Füßen hatte, griff ich nach dem roten Notizbuch und blätterte zur nächsten Seite um.
So, das war’s.
Jetzt hast du es in der Hand,
was aus uns beiden wird (oder nicht).
Wenn du unser Gespräch fortsetzen möchtest,
such dir bitte ein Buch aus, welches auch immer,
und steck einen Zettel mit deiner Mailadresse
zwischen die Seiten.
Gib es Mark an der Information.
Wenn du Mark irgendwelche Fragen über mich stellst,
wird er mir dein Buch nicht weiterleiten.
Deshalb keine Fragen.
Sobald du dein Buch Mark gegeben hast,
stell das Notizbuch bitte zurück ins Regal,
wo du es gefunden hast.
Wenn du alle diese Anweisungen befolgst,
wirst du sehr bald von mir hören.
Danke.
Lily
Plötzlich, und soweit ich mich erinnern kann, zum ersten Mal in meinem Leben, freute ich mich auf Weihnachten. Was für ein Glück, dass ich nicht tatsächlich am nächsten Tag nach Schweden fliegen musste.
Ich beschloss, nicht zu viel darüber nachzudenken, welches Buch ich auswählen sollte – wenn ich damit einen Hintergedanken verband, dann würde darauf noch einer folgen und noch einer, und dann käme ich aus Strand gar nicht mehr heraus. Deshalb folgte ich bei der Wahl des Buchs einer ganz spontanen Eingebung, und statt einen Zettel mit meiner Mailadresse zu hinterlassen, streute ich dort eine andere Spur. Ich rechnete mir aus, dass es einige Zeit dauern würde, bis Mark (mein neuer Freund an der Information) das Buch an Lily weitergeben würde, deshalb hatte ich einen leichten Vorsprung. Wortlos reichte ich es ihm; er nickte und verstaute es in einer Schublade.
Ich wusste, dass ich als Nächstes das rote Notizbuch an seinen Platz hätte zurückstellen sollen, damit noch ein anderer die Chance hatte, es zu finden. Stattdessen behielt ich es. Und nicht nur das. Ich ging an die Kasse, um die Exemplare von French Pianism und Fat Hoochie Prom Queen zu kaufen.
Dieses Spiel, so beschloss ich, würden wir von nun an zu zweit spielen.