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DIE AUTOREN

Rachel Cohn und David Levithan sind beide renommierte Jugendbuchautoren und seit Langem miteinander befreundet. Sie lebt in New York City, er auf der anderen Seite des Hudson River in Hoboken/New Jersey. »Dash und Lily – Neuer Winter, neues Glück« ist ihre vierte Manhattan Lovestory.

Der Mut­ter des ech­ten Dash ge­wid­met

eins

–Dash–

21. De­zem­ber

Ist so was wirk­lich mög­lich?

Du bist in dei­nem Lieb­lings­buch­la­den und gehst an den Re­ga­len ent­lang. Du lässt dei­ne Bli­cke schwei­fen. Du bleibst an ei­ner Stel­le ste­hen, wo ei­ner dei­ner Lieb­lings­auto­ren sei­nen Platz hat, und da fin­dest du plötz­lich, zwi­schen die ver­trau­ten Buch­rü­cken ge­klemmt, ein ro­tes Notiz­buch.

Was tun?

Da­rauf kann es doch wohl nur eine Ant­wort ge­ben.

Du ziehst das No­tiz­buch he­raus und blät­terst da­rin he­rum.

Und dann folgst du den An­wei­sun­gen, die dir dort ge­ge­ben wer­den.

Es war Weih­nachts­zeit in New York, die schreck­lichs­te Zeit des Jah­res. Men­schen­men­gen wie Kuh­her­den, end­lo­se Be­su­che un­se­li­ger Ver­wand­ter, fal­sche Fröh­lich­keit, all die­se Er­satz­hand­lun­gen, die freud­lo­sen Ver­su­che, mehr Freu­de zu emp­fin­den – mei­ne na­tür­li­che Ab­nei­gung ge­gen all­zu viel Be­rüh­rung mit Men­schen stei­ger­te sich ­da­durch nur noch mehr. Wo­hin auch im­mer ich ging, war ich am ­fal­schen Ende des Ge­drän­ges. Ich war nicht be­reit, mir durch ir­gend­ei­ne »Ar­mee« mein »Heil« her­bei­sin­gen zu las­sen. Es war mir voll­kom­men egal, ob wir eine wei­ße Weih­nacht ha­ben wür­den. Ich war ein Dez­emb­rist, ein Bol­sche­wik, ein be­rüch­tig­ter Ga­no­ve, ein von un­be­kann­ten Pho­bi­en ge­plag­ter Brief­mar­ken­samm­ler – al­les, was alle an­de­ren nicht wa­ren, das woll­te ich sein. Ich be­weg­te mich so un­sicht­bar wie mög­lich durch die vom Kauf­rausch ge­pack­ten Hor­den, die weih­nachts­gläu­bi­gen Win­ter­wahn­sin­ni­gen, die Frem­den, die um die hal­be Welt ge­flo­gen wa­ren, um ei­nen Lich­ter­baum zu se­hen – ohne sich klar­zu­ma­chen, was für ei­nem heid­ni­schen Ri­tu­al sie da folg­ten.

Das ein­zig Er­freu­li­che an die­ser trü­ben Jah­res­zeit ist, dass dann die Schu­le für ein paar Tage dicht­macht (wahr­schein­lich da­mit auch alle Schü­ler bis zum Um­fal­len shop­pen kön­nen und wo­mög­lich au­ßer­dem ent­de­cken, dass Fa­mi­lie, wie Ar­sen, nur in klei­nen Do­sie­run­gen ver­träg­lich ist, au­ßer man hat den drin­gen­den Wunsch zu ster­ben). In die­sem Jahr hat­te ich es ge­schafft, über Weih­nach­ten frei­wil­lig zum Wai­sen­kind zu wer­den, in­dem ich mei­ner Mut­ter er­zählt hat­te, ich wür­de die Tage bei mei­nem Va­ter ver­brin­gen, und mei­nem Va­ter, ich wür­de sie bei mei­ner Mut­ter ver­brin­gen, wes­halb sie bei­de eine Rei­se ohne Rei­se­rück­tritts­ver­si­che­rung mit ih­ren der­zei­ti­gen Nach-Schei­dungs-Part­nern ge­bucht hat­ten. Mei­ne El­tern ha­ben seit acht Jah­ren nicht mehr mit­ei­nan­der ge­spro­chen, was mir jede Men­ge Frei­raum in der Aus­ge­stal­tung mei­ner Be­zie­hun­gen zu ih­nen lässt und des­halb sehr viel Zeit für mich selbst.

Wäh­rend sie bei­de weg wa­ren, wech­sel­te ich zwi­schen ih­ren Woh­nun­gen hin und her – haupt­säch­lich aber ver­brach­te ich mei­ne Zeit bei Strand, die­ser Fes­tung ein­schüch­tern­der Ge­lehr­sam­keit, viel mehr als ein Buch­la­den, näm­lich der Zu­sam­men­prall Hun­der­ter un­ter­schied­li­cher Buch­lä­den, des­sen li­te­ra­ri­sches Strand­gut sich auf über acht­zehn Mei­len ver­teilt. Und dann die An­ge­stell­ten, die dort geis­tes­ab­we­send he­rum­schlur­fen in ih­ren en­gen Röh­ren­jeans und ih­ren Hem­den aus dem Se­cond­hand­la­den, wie äl­te­re Brü­der, die nie­mals und un­ter kei­nen Um­stän­den ein Wort mit dir re­den oder sich um dich küm­mern oder über­haupt auch nur dei­ne Exis­tenz zur Kennt­nis neh­men wer­den, so­lan­ge ihre Freun­de in der Nähe sind … und das sind sie im­mer. Man­che Buch­hand­lun­gen wol­len ei­nen glau­ben ma­chen, dass sie ein Bür­ger­zent­rum sind, als müss­te man ei­nen Plätz­chen­back­kurs an­bie­ten, um Pro­ust ver­kau­fen zu dür­fen. Nicht so bei Strand, da bleibt man ganz auf sich ge­stellt zwi­schen den sich be­krie­gen­den Mäch­ten der Öko­no­mie und der Idi­o­syn­kra­sie, wo­bei die Idi­o­syn­kra­sie im­mer die Ober­hand be­hält. Mit an­de­ren Wor­ten, der Ort ist wie für mich ge­schaf­fen. Er ist so et­was wie mei­ne pri­va­te Gra­bungs­stät­te.

Wenn ich zu Strand gehe, dann nor­ma­ler­wei­se ohne nach be­stimm­ten Bü­chern zu su­chen. Manch­mal be­schlie­ße ich, dass der Nach­mit­tag ei­nem ein­zel­nen Buch­sta­ben ge­wid­met ist, und dann strei­fe ich durch sämt­li­che Ab­tei­lun­gen, um nach al­len Au­to­ren zu su­chen, de­ren Nach­na­men mit die­sem ei­nen Buch­sta­ben be­gin­nen. An an­de­ren Ta­gen neh­me ich eine be­stimm­te Ab­tei­lung in An­griff oder ich ar­bei­te mich durch die un­längst aus­sor­tier­ten Bü­cher, die ohne er­kenn­ba­re Ord­nung in Wan­nen gelandet sind. Es kann aber auch sein, dass ich nach Bü­chern mit grü­nen Um­schlä­gen Aus­schau hal­te, ein­fach weil es schon so lang her ist, dass ich ein Buch mit ei­nem grü­nen Um­schlag ge­le­sen habe.

Ich hät­te na­tür­lich auch mit mei­nen Freun­den he­rum­hän­gen kön­nen, aber die meis­ten von ih­nen hin­gen bei ih­ren Fa­mi­li­en oder mit ih­ren Wiis he­rum (Wiis? Wiii? Wie heißt der Plu­ral da­von?). Ich da­ge­gen zog es vor, bei den to­ten, ster­ben­den oder zu Tode ver­zwei­fel­ten Bü­chern he­rum­zu­hän­gen – ge­brauch­te Bü­cher, die schon durch an­de­re Hän­de ge­gan­gen wa­ren und von de­nen kei­ner wuss­te, ob man sie je­mals noch mal brauch­te. Was für ein har­tes Schick­sal, fast wie wenn ein Mensch von nie­mand mehr ge­braucht wird.

Ich bin ein to­ta­ler Bü­cher­wurm, was ein hoff­nungs­los alt­mo­di­sches Wort ist, das mir schon al­lein des­we­gen ge­fällt. Na­tür­lich gel­te ich da­mit als hoff­nungs­los von vor­ges­tern und so­zi­a­ler Prob­lem­fall. Was mich je­doch nicht da­ran hin­dert, es laut aus­zu­spre­chen. Bü­cher­wurm klingt so schön wie Mau­er­blüm­chen, Blau­kreuz­ler und Bu­sen­freund – auch al­les Wör­ter, die die Leu­te nur noch sel­ten be­nut­zen.

An die­sem ganz be­son­de­ren Tag be­schloss ich, ein paar mei­ner Lieb­lings­au­to­ren ei­nen Be­such ab­zu­stat­ten, um zu che­cken, ob viel­leicht ir­gend­wel­che Son­der­aus­ga­ben aus ei­ner pri­va­ten Bib­li­o­theks­auf­lö­sung an­ge­lie­fert wor­den wa­ren. Ich stand vor mei­nem der­zei­ti­gen Dich­ter­gott (er soll na­men­los blei­ben, weil ich viel­leicht ei­nes Ta­ges von ihm ab­fal­len wer­de), als ich plötz­lich et­was Ro­tes auf­blit­zen sah. Es war ein ro­tes Mo­le­skine-No­tiz­buch, das be­vor­zug­te Auf­schreib­me­di­um al­ler mei­ner See­len­ver­wand­ten, die das Be­dürf­nis ver­spü­ren, ihr Ta­ge­buch in nicht-elekt­ro­ni­scher Form zu füh­ren. Schon al­lein an­hand der Wahl des Pa­piers, auf dem eine Per­son Ta­ge­buch führt, er­fährt man viel über sie. Ich schrei­be zum Bei­spiel im­mer auf nor­mal li­nier­tem Pa­pier, weil ich kein Ta­lent für ein­ge­streu­te klei­ne Zeich­nun­gen und au­ßer­dem eine win­zig-krit­zel­ige Hand­schrift habe, die auf breit li­nier­tem Pa­pier ir­gend­wie ver­lo­ren wirkt. Un­li­nier­tes Pa­pier ist am be­lieb­tes­ten, und ich habe nur ei­nen ein­zi­gen Freund, Thi­baud, der auf ka­rier­tem Pa­pier schreibt. Oder ge­nau­er ge­sagt, ge­schrie­ben hat, bis sein Ver­trau­ens­leh­rer sei­ne Ta­ge­bü­cher ei­nes Ta­ges als Be­weis­ma­te­ri­al kon­fis­zier­te, aus dem an­geb­lich her­vor­ging, dass Thi­baud ge­plant hatte, un­se­ren Ge­schichts­leh­rer um­zu­brin­gen. (Das ist eine wah­re Ge­schich­te.)

Auf den Rü­cken des ro­ten No­tiz­buchs vor mir im Re­gal war nichts ge­schrie­ben, ich muss­te es erst he­raus­zie­hen und auf den vor­de­ren Um­schlag schau­en. Da­rauf haf­te­te ein Stück Kle­be­band, auf das je­mand mit schwar­zem Filz­stift TRAUST DU DICH? ge­schrie­ben hat­te. Als ich die ers­te Sei­te auf­schlug, stand dort:

Ich habe für dich ein paar Spu­ren aus­ge­legt.

Wenn du wis­sen willst, wel­che, blät­te­re wei­ter.

Wenn nicht, stell das No­tiz­buch bit­te zu­rück ins Re­gal.

Es war die Hand­schrift ei­nes Mäd­chens. Da war ich mir ganz si­cher. Ein hin­rei­ßen­des Ge­krin­gel.

Aber egal, ich hät­te in je­dem Fall um­ge­blät­tert.

Aha, es kann also los­ge­hen.

1. Lass uns mit »French Pi­anism« an­fan­gen.

Ich habe kei­ne Ah­nung, was das wirk­lich ist,

aber ich bin mir si­cher,

dass die­ses Buch nie­mand aus dem Re­gal zie­hen wird.

Charles Timbr­ell ist dein Mann.

88/7/2

88/4/8

Blät­te­re erst dann wei­ter,

wenn du die Leer­stel­len aus­fül­len kannst

(aber schreib bit­te nicht in das No­tiz­buch).

______________ ______________

Ich hät­te nicht be­haup­ten kön­nen, je­mals et­was von French Pi­anism ge­hört zu ha­ben. Wenn mich al­ler­dings ein Mann auf der Stra­ße (selbst­ver­ständ­lich ei­ner mit Me­lo­ne auf dem Kopf) fra­gen wür­de, ob ich glaub­te, dass es mit Kla­vier­spiel auf Fran­zö­sisch et­was Be­son­de­res auf sich habe, wür­de ich be­stimmt mit Ja ant­wor­ten.

Weil mir die Bü­cher­re­gal­flu­re bei Strand ver­trau­ter wa­ren als die Woh­nun­gen mei­ner El­tern, wuss­te ich so­fort, wo ich hin­muss­te – zur Mu­sik­ab­tei­lung. Ich emp­fand es als Krän­kung, dass der Name des Au­tors ge­nannt war. Glaub­te die Schrei­be­rin, ich sei ein Dumm­kopf, ein Faul­pelz, ein Ein­falts­pin­sel? Ich woll­te bit­te schön et­was Res­pekt, selbst wenn ich ihn mir noch nicht ver­dient hat­te.

Das Buch war leicht zu fin­den – zu­min­dest für je­man­den, der eben mal vier­zehn Mi­nu­ten Zeit üb­rig hat –, und es sah ge­nau­so aus, wie ich es mir vor­ge­stellt hat­te: die Sor­te von Buch, die sich jah­re­lang im Re­gal ver­drü­cken kann. Der Ver­lag hat­te sich noch nicht mal die Mühe ge­macht, den Um­schlag mit ei­ner Il­lust­ra­ti­on zu ver­se­hen. Nur die Wör­ter: French Pi­anism: An Hist­ori­cal Per­spect­ive, Charles Timbr­ell, dann (neue Zei­le) Fore­word by Gaby Cas­ade­sus.

Ich dach­te zu­erst, die Zah­len in dem No­tiz­buch sei­en Daten – 1988 muss­te ein be­weg­tes Jahr für das fran­zö­si­sche Kla­vier­spiel ge­we­sen sein –, aber dann konn­te ich kei­ne Hin­wei­se auf 1988 … oder 1888 … oder 1788 … oder ir­gend­ei­ne an­de­re Jah­res­zahl mit 88 fin­den. Ich fühl­te mich aus­ge­trickst – bis mir ein­fiel, dass die Rät­sel­schrei­be­rin wahr­schein­lich auf den ur­al­ten Bü­cher­wurm-Code zu­rück­ge­grif­fen hat­te: Sei­te/Zei­le/Wort. Ich blät­ter­te zu Sei­te 88, fuhr dann mit dem Fin­ger zu Zei­le 7, Wort 2 und da­nach zu Zei­le 4, Wort 8.

Reizt dich

Reiz­te mich was? Das muss­te ich un­be­dingt he­raus­fin­den. Ich trug die zwei Wör­ter in die Leer­stel­len ein (im Kopf na­tür­lich nur, denn ich res­pek­tier­te das un­be­rühr­te Weiß der Zei­len) und blät­ter­te die ers­te Sei­te des No­tiz­buchs um.

Okay. Jetzt bit­te nicht schum­meln.

Was hat dich an dem Co­ver des Buchs ge­stört?

(Mal ab­ge­se­hen von der Lieb­lo­sig­keit.)

Denk da­rü­ber nach und blät­te­re dann wei­ter.

Das war leicht. Es hat­te mich wahn­sin­nig ge­stört, dass dort An Hist­ori­cal stand, wo es doch A Hist­ori­cal hät­te hei­ßen müs­sen, weil das H in Hist­ori­cal aus­ge­spro­chen wird und kein stum­mes H ist.

Ich blät­ter­te um.

Wenn es die un­kor­rek­te For­mu­lie­rung »An Hist­ori­cal« war, mach wei­ter.

Wenn nicht, stell das No­tiz­buch

bit­te zu­rück ins Re­gal.

Ich blät­ter­te auf die nächs­te Sei­te um.

2. »Fat Hooc­hie Prom Queen«

64/4/9

119/3/8

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Dies­mal war kein Au­tor ge­nannt. Nicht sehr hilf­reich.

Ich nahm French Pi­anism mit (wir wa­ren uns nä­her­ge­kom­men; ich konn­te das Buch nicht ein­fach so zu­rück­las­sen) und ging zur In­for­ma­ti­on, wo ein jun­ger Typ saß, der aus­sah, als hät­te ihm je­mand Li­thi­um in sein Coke Zero ge­ge­ben.

»Ich su­che Fat Hooc­hie Prom Queen«, ver­kün­de­te ich.

Er ant­wor­te­te nicht.

»Das ist ein Buch«, sag­te ich. »Kein Mensch.«

Kei­ne Re­ak­ti­on. Nichts.

»Kannst du mir we­nigs­tens sa­gen, wer es ge­schrie­ben hat?«

Er blick­te auf sei­nen Bild­schirm, als könn­te der mir ant­wor­ten, ohne dass er selbst ir­gend­et­was ein­tip­pen muss­te.

»Hast du ir­gend­wel­che Ohr­stöp­sel drin, die ich nicht se­hen kann?«, frag­te ich.

Er kratz­te sich in sei­ner El­len­bo­gen­beu­ge.

»Ken­nen wir uns ir­gend­wo­her?«, hak­te ich nach. »Hab ich dich in der Vor­schu­le viel­leicht zu Mus zer­quetscht und jetzt hast du eine sa­dis­ti­sche Freu­de da­ran, dich auf die­se jäm­mer­li­che Wei­se an mir zu rä­chen? Ste­phen Litt­le, bist du’s? Bist du’s wirk­lich? Ich war da­mals noch klein, und es war echt idi­o­tisch von mir, dich im Spring­brun­nen bei­nahe zu er­trän­ken. Zu mei­ner Ent­schul­di­gung kann ich aber an­füh­ren, dass das, was du mir vor­her an­ge­tan hast, näm­lich mei­nen Auf­satz zu zer­rei­ßen, ein völ­lig un­ge­recht­fer­tig­ter Akt der Ag­gres­si­on war.«

End­lich eine Ant­wort. Der jun­ge Buch­händ­ler schüt­tel­te den Kopf.

»Nein?«, sag­te ich.

»Es ist mir nicht er­laubt, den Stand­ort von Fat Hooc­hie Prom Queen zu ver­ra­ten«, sag­te er. »Dir nicht. Und auch nie­mand an­ders. Und ich bin zwar nicht Ste­phen Litt­le, aber du soll­test dich da­für schä­men, was du mit ihm an­ge­stellt hast. Schä­men soll­test du dich.«

Okay, das wür­de schwie­ri­ger wer­den, als ich ge­dacht hat­te. Ich ver­such­te, über mein Handy ins In­ter­net zu ge­hen, um schnell bei Am­azon nach­zu­gu­cken – aber im gan­zen La­den war kein Emp­fang. Ich war mir ziem­lich si­cher, dass Fat Hooc­hie Prom Queen kein Sach­buch war (wo­rü­ber hät­te es auch sein sol­len?), des­halb ging ich zur Bel­let­ris­tik­ab­tei­lung und schlen­der­te zwi­schen den Re­ga­len um­her. Sinn­los. Da­nach fiel mir ein, dass es ja auch noch die Ab­tei­lung für Ju­gend­li­che gab, und steu­er­te stracks da­rauf zu. Alle Buch­rü­cken, die nicht die ge­rings­te Spur Rosa auf­wie­sen, nahm ich erst gar nicht zur Kennt­nis. Alle mei­ne Ins­tink­te sag­ten mir, dass Fat Hooc­hie Prom Queen min­des­tens rosa ge­spren­kelt sein wür­de. Und hipp, hipp, hur­ra – ich lan­de­te schließ­lich beim Buch­sta­ben M, und da war es.

Ich schlug die Sei­ten 64 und 119 auf und such­te mir he­raus:

das Spiel

Wie­der blät­ter­te ich eine Sei­te des No­tiz­buchs um.

Sehr cle­ver.

Weil nicht je­der auf die Idee käme,

in der Ju­gend­buch­ab­tei­lung zu su­chen,

fra­ge ich dich jetzt:

Bist du ein Ju­gend­li­cher und männ­lich?

Wenn ja, blät­te­re wei­ter.

Wenn nein, stell das No­tiz­buch bit­te zu­rück ins Re­gal.

Ich war sech­zehn und mit den pas­sen­den Ge­schlechts­or­ga­nen aus­ge­stat­tet, des­halb nahm ich die­se Hür­de mit Leich­tig­keit.

Nächs­te Sei­te.

»The Joy of Gay Sex«

(drit­te Auf­la­ge!)

65/12/5

181/18/7

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Nun, dies­mal konn­te es kei­nen Zwei­fel ge­ben, wo die­ses Buch zu fin­den sein wür­de. Des­halb nichts wie los zu den »Sex & Se­xu­a­li­tät«-Re­ga­len, wo die Bli­cke der Kun­den ent­we­der ver­schämt oder trot­zig wa­ren. Ich per­sön­lich fand die Vor­stel­lung, ein ge­brauch­tes Sex-Hand­buch (egal wel­cher se­xu­el­len Aus­rich­tung) zu kau­fen, ja et­was un­ap­pe­tit­lich. Viel­leicht stan­den des­halb auch vier Exemp­la­re von The Joy of Gay Sex im Re­gal. Ich blät­ter­te zu Sei­te 65, zähl­te dann bis Zei­le 12, dort das fünf­te Wort und fand:

Schwanz

Ich zähl­te noch ein­mal. Prüf­te nach.

Reizt dich das Spiel Schwanz?

Viel­leicht, dach­te ich – hoff­te ich –, war Schwanz hier wirk­lich ganz un­ver­blümt ge­meint, frei, stark und männ­lich; nicht wie sonst bei Mäd­chen zu ei­nem Pfer­de­schwanz ver­küm­mert. Ich blät­ter­te zu Sei­te 181, nicht ohne leich­te Ner­vo­si­tät.

Ge­räusch­los Lie­be ma­chen ist wie das Spiel auf ei­nem stum­men Kla­vier – gut um zu üben, aber man bringt sich da­bei um die Freu­de, die präch­ti­gen Er­geb­nis­se zu hö­ren.

Ich hät­te nie ge­dacht, dass ein ein­zi­ger Satz es schaf­fen wür­de, mir so­wohl die Lust am Sex als auch am Kla­vier­spie­len aus­zu­trei­ben – aber da war er.

Zum Glück war der Text nicht auch noch mit ei­nem Bild ver­se­hen. Aber ich hat­te mein sechs­tes Wort:

um

Was dann den Satz er­gab:

Reizt dich das Spiel Schwanz um

Das wirk­te durch und durch falsch. Rein gram­ma­ti­ka­lisch er­gab das über­haupt kei­nen Sinn. Und auch sonst nicht.

Ich blick­te noch ein­mal auf die Sei­te in dem No­tiz­buch und muss­te mich sehr zu­sam­men­neh­men, um nicht ein­fach um­zu­blät­tern. Als ich die mäd­chen­haf­ten Krin­gel noch mal ge­nau an­sah, stell­te ich fest, dass ich die eine 6 mit ei­ner 5 ver­wech­selt hat­te. Ich muss­te auf Sei­te 66 (die klei­ne Schwes­ter der Teu­fels­zahl) nach­schau­en.

al­lein

Er­gab schon viel mehr Sinn.

Reizt dich das Spiel al­lein um ...

»Dash?«

Ich dreh­te mich um. Pri­ya, ein Mäd­chen aus mei­ner Schu­le, stand hin­ter mir; wir wa­ren nicht wirk­lich be­freun­det, aber mehr als nur Be­kann­te – gibt es da­für ei­gent­lich ein Wort? Sie war eine gute Freun­din mei­ner Ex-Freun­din So­fia, die jetzt in Spa­ni­en leb­te. (Da­ran war ich aber nicht schuld.) Ich konn­te bei Pri­ya kei­ne be­son­de­ren per­sön­li­chen Merk­ma­le er­ken­nen, muss aber ge­rech­tig­keits­hal­ber hin­zu­fü­gen, dass ich nie be­son­ders ge­nau hin­ge­schaut hat­te.

»Hal­lo, Pri­ya«, sag­te ich.

Sie blick­te auf die Bü­cher, die ich in der Hand hat­te – ein ro­tes Mo­le­skine-No­tiz­buch, French Pi­anism, Fat Hooc­hie Prom Queen so­wie, auf ei­ner Sei­te auf­ge­schla­gen, auf de­ren Il­lust­ra­ti­on zwei Män­ner et­was mit­ei­nan­der ta­ten, was ich bis­her nicht für mög­lich ge­hal­ten hät­te, The Joy of Gay Sex (drit­te Auf­la­ge).

Die Si­tu­a­ti­on ver­lang­te nach ei­ner Er­klä­rung.

»Ich muss da so ein Re­fe­rat hal­ten«, sag­te ich in ei­nem Ton­fall falsch klin­gen­der in­tel­lek­tu­el­ler Über­le­gen­heit. »Über fran­zö­si­sches Kla­vier­spiel und sei­ne Re­zep­ti­on. Schon sehr er­staun­lich, wie weit da der Ein­fluss reicht.«

Pri­ya, die Gute, blick­te drein, als be­dau­er­te sie es zu­tiefst, mei­nen Na­men ge­ru­fen zu ha­ben.

»Bist du über die Weih­nachts­fe­ri­en hier?«, frag­te sie. Wenn ich jetzt Ja sag­te, lief ich Ge­fahr, von ihr zu ei­ner Ei­er­punsch­par­ty oder zu ei­nem Weih­nachts­ki­no­be­such von Gramma Got Run Over by a Reind­eer ein­ge­la­den zu wer­den, in dem ein schwar­zer Ko­mi­ker sämt­li­che Rol­len spiel­t bis auf die des weib­li­chen Ren­tiers, wo­raus sich dann ver­mut­lich eine Lie­bes­ge­schich­te ent­wi­ckelt. Ei­ner sol­chen Ein­la­dung sah ich mit gro­ßem Ban­gen ent­ge­gen, und weil ich ein An­hän­ger vor­beu­gen­der Aus­weich­ma­nö­ver bin, er­fand ich schnell eine Lüge, um nicht spä­ter in der Fal­le zu sit­zen.

»Ich flie­ge mor­gen nach Schwe­den«, ant­wor­te­te ich.

»Schwe­den?«

Ich sah über­haupt nicht schwe­disch aus (tu ich auch im­mer noch nicht), des­halb ka­men Fe­ri­en bei Groß­el­tern, On­keln und Tan­ten nicht in Fra­ge. Also schob ich als Be­grün­dung hin­ter­her: »Ich lie­be Schwe­den im De­zem­ber. Die Tage sind da so kurz … die Näch­te sind so lang … und das schwe­di­sche Mö­bel­de­sign ist be­rühmt für sei­ne kla­ren, ein­fa­chen Li­ni­en und For­men.«

Pri­ya nick­te. »Klingt su­per.«

Wir stan­den da. Ich wuss­te, dass ge­mäß den Kon­ver­sa­ti­ons­re­geln jetzt ich eine Fra­ge stel­len müss­te. Aber ich wuss­te auch, dass die Wei­ge­rung, die­se Kon­ver­sa­ti­ons­re­geln zu be­fol­gen, dazu füh­ren wür­de, dass Pri­ya frü­her oder spä­ter ging – und das woll­te ich ganz drin­gend.

Nach drei­ßig Se­kun­den hielt sie es nicht mehr aus.

»Ich muss wei­ter«, sag­te sie.

»Fro­hes Ha­nuk­kah«, sag­te ich, weil ich mir ei­nen Spaß da­raus mach­e, gute Wün­sche zum fal­schen Fest aus­zu­spre­chen, nur um zu se­hen, wie die Leu­te re­a­gieren.

Pri­ya nahm es ge­las­sen. »Viel Spaß in Schwe­den«, sag­te sie. Und war auch schon fort.

Ich ord­ne­te mei­nen Bü­cher­sta­pel um, so­dass das rote Notiz­buch ganz oben lag. Dann blät­ter­te ich eine Sei­te wei­ter.

Die Tat­sa­che, dass es dir nicht pein­lich ist,

mit »The Joy of Gay Sex« in der Hand

bei Strand he­rum­zu­ste­hen,

ist ein gu­tes Zei­chen.

Falls du aber die­ses Buch schon be­sit­zen soll­test

oder glaubst, es könn­te dir in dei­nem Le­ben wei­ter­hel­fen,

dann be­fürch­te ich, müs­sen sich un­se­re Wege tren­nen.

Ich bin ein Mäd­chen, das ei­nen Jun­gen sucht,

wenn du ein Jun­ge bist, der auch ei­nen Jun­gen sucht,

habe ich da zwar über­haupt nichts da­ge­gen,

aber dann pas­sen wir nicht zu­sam­men.

Noch ein letz­tes Buch.

4. »What the Liv­ing Do« von Ma­rie Howe

23/1/8

24/5/9, 11, 12

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Ich stürm­te so­fort in die Ly­rik­ab­tei­lung, to­tal neu­gie­rig ge­wor­den. Wer war die­se frem­de Le­se­rin von Ma­rie Howe, die mich da rief? Es war schon fast zu schön, um wahr zu sein, dass wir bei­de die­sel­be Ly­ri­ke­rin kann­ten. Die meis­ten Leu­te in mei­nem Freun­des­kreis ken­nen über­haupt kei­ne Dich­ter. Ich ver­such­te, mich da­ran zu er­in­nern, mit wem ich viel­leicht über Ma­rie Howe ge­re­det hat­te, aber mir fiel nie­mand ein. Au­ßer So­fia viel­leicht, aber das war de­fi­ni­tiv nicht So­fi­as Hand­schrift (und au­ßer­dem war sie in Spa­ni­en).

Ich ging am Buch­sta­ben H ent­lang. Ich such­te in der gan­zen Ly­rik­ab­tei­lung. Nichts. Aus lau­ter Frust­ra­ti­on woll­te ich fast schon heu­len, da ent­deck­te ich das Buch – ganz oben im Re­gal, min­des­tens drei­ein­halb Me­ter vom Bo­den ent­fernt. Nur eine klei­ne Ecke da­von spitz­te he­raus, aber an der dun­kel­li­la Far­be des Ein­bands und weil es ein so schma­les Bänd­chen war, er­kann­te ich so­fort, dass es das Buch war, das ich such­te.

Ich zog mir eine Lei­ter he­ran und be­gann mit dem ge­fähr­li­chen Auf­stieg. Es war eine stau­bi­ge Klet­te­rei; je hö­her ich kam, des­to schwe­rer fiel mir das At­men, die Bü­cher in die­sen schier un­er­reich­ba­ren Hö­hen wa­ren in Wol­ken der Gleich­gül­tig­keit ge­hüllt. End­lich hat­te ich den Band in der Hand. Ich konn­te nicht mehr war­ten – has­tig schlug ich die Sei­ten 23 und 24 auf und fand die Wör­ter, die ich brauch­te.

des rei­nen Be­geh­rens wil­len

Ich fiel fast von der Lei­ter.

Reizt dich das Spiel al­lein um des rei­nen Be­geh­rens wil­len?

Ich war, um es mal mild aus­zu­drü­cken, von dem Satz to­tal ge­plät­tet.

Vor­sich­tig klet­ter­te ich die Lei­ter wie­der hi­nab. Als ich Bo­den un­ter den Fü­ßen hat­te, griff ich nach dem ro­ten No­tiz­buch und blät­ter­te zur nächs­ten Sei­te um.

So, das war’s.

Jetzt hast du es in der Hand,

was aus uns bei­den wird (oder nicht).

Wenn du un­ser Ge­spräch fort­set­zen möch­test,

such dir bit­te ein Buch aus, wel­ches auch im­mer,

und steck ei­nen Zet­tel mit dei­ner Mail­a­d­res­se

zwi­schen die Sei­ten.

Gib es Mark an der In­for­ma­ti­on.

Wenn du Mark ir­gend­wel­che Fra­gen über mich stellst,

wird er mir dein Buch nicht wei­ter­lei­ten.

Des­halb kei­ne Fra­gen.

So­bald du dein Buch Mark ge­ge­ben hast,

stell das No­tiz­buch bit­te zu­rück ins Re­gal,

wo du es ge­fun­den hast.

Wenn du alle die­se An­wei­sun­gen be­folgst,

wirst du sehr bald von mir hö­ren.

Dan­ke.

Lily

Plötz­lich, und so­weit ich mich er­in­nern kann, zum ers­ten Mal in mei­nem Le­ben, freu­te ich mich auf Weih­nach­ten. Was für ein Glück, dass ich nicht tat­säch­lich am nächs­ten Tag nach Schwe­den flie­gen muss­te.

Ich be­schloss, nicht zu viel da­rü­ber nach­zu­den­ken, wel­ches Buch ich aus­wäh­len soll­te – wenn ich da­mit ei­nen Hin­ter­ge­dan­ken ver­band, dann wür­de da­rauf noch ei­ner fol­gen und noch ei­ner, und dann käme ich aus Strand gar nicht mehr he­raus. Des­halb folg­te ich bei der Wahl des Buchs ei­ner ganz spon­ta­nen Ein­ge­bung, und statt ei­nen Zet­tel mit mei­ner Mail­a­d­res­se zu hin­ter­las­sen, streu­te ich dort eine an­de­re Spur. Ich rech­ne­te mir aus, dass es ei­ni­ge Zeit dau­ern wür­de, bis Mark (mein neu­er Freund an der In­for­ma­ti­on) das Buch an Lily wei­ter­ge­ben wür­de, des­halb hat­te ich ei­nen leich­ten Vor­sprung. Wort­los reich­te ich es ihm; er nick­te und ver­stau­te es in ei­ner Schub­la­de.

Ich wuss­te, dass ich als Nächs­tes das rote No­tiz­buch an sei­nen Platz hät­te zu­rück­stel­len sol­len, da­mit noch ein an­de­rer die Chan­ce hat­te, es zu fin­den. Statt­des­sen be­hielt ich es. Und nicht nur das. Ich ging an die Kas­se, um die Exemp­la­re von French Pi­anism und Fat Hooc­hie Prom Queen zu kau­fen.

Die­ses Spiel, so be­schloss ich, wür­den wir von nun an zu zweit spie­len.