Sebastian Thiel
Die Hexe vom Niederrhein
Historischer Roman
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Daniela Hönig
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Martha und Maria Magdalena«
von Caravaggio / http://commons.wikipedia.org
ISBN 978-3-8392-3514-0
»Die Suche nach Sündenböcken ist von allen Jagdarten die einfachste.«
- Dwight D. Eisenhower
- Entschuldigungen -
Sankt Tönis bei Crefeld , 17. Januar 1642
Zuversicht spricht aus seinen Augen. Das Schlachtfeld scheint für einen Herzschlag stillzustehen, und die Schreie der Sterbenden höre ich für diese eine Sekunde nicht mehr. Er nickt mir zu und grinst schelmisch. Ich weiß, was er damit sagen will: Ich passe auf dich auf, kleiner Bruder. Seine stahlblauen Augen funkeln in der Nachmittagssonne, und ich beginne seinem Blick Glauben zu schenken. Dann dreht er seinen Kopf und die schwarzen, langen Haare fallen ihm ins Gesicht. Sofort sind die Schreie wieder da, doch meine Angst nimmt ab. Der stechende Geruch von Schwarzpulver hat sich wie ein Schleier über das Schlachtfeld gelegt. Nebel umhüllt die Verletzten beider Seiten, sodass man nur erahnen mag, wie viele Hunderte zwischen den beiden Heeren wohl liegen mögen und um ihr Leben ringen. Mein älterer Bruder klammert sich an den Holzgriff der Muskete und überprüft zum zigsten Male das Steinschloss der Waffe. Ich tue es ihm gleich und bemerke, wie meine Atmung langsam regelmäßig wird. Der gefrorene Acker erstrahlt mit den letzten Sonnenstrahlen in einem glitzernden Orange. Wären da nicht die Toten und Verletzten, die Schreie und das Blut und diese greifbare, allgegenwärtige Angst, hätte diese weiße Pracht fast etwas Harmonisches. Ich bebe am ganzen Leibe. Nicht, weil der Schnee mittlerweile meine Kleidung durchnässt und die klirrende Kälte des Winters sich tief in mich hineinfrisst. Nein, mein Zittern hat einen anderen Grund. In wenigen Sekunden wird der Hauptmann der Kaiserlichen Armee das Signal zum Angriff geben. Und obschon die Artillerie des französisch-schwedischen Verbundes bereits tiefe Furchen in unsere Reihen geschlagen hat und obschon die hessischen Söldner eine Angriffswelle nach der anderen gegen unsere Flanken schlagen, will der Kaiserliche General Lamboy mitten durch das feindliche Zentrum brechen. Beflügelt von seinen vergangenen Siegen, will er nun den französischen Marschall Guébriant stellen. Hier und jetzt. Nur er scheint noch zu glauben, dass die Lage nicht aussichtslos ist. Den ganzen Tag lang ist dieser von Gott verlassene Acker schon Schauplatz verschiedener Scharmützel. Nun, da es dämmert, steht die entscheidende Schlacht bevor. Beide Hauptkampfgruppen stehen keine 400 Fuß auseinander. Ich kann die Angst meiner Feinde spüren, und doch empfinde ich kein Mitleid für sie. Immerhin waren sie es, die Anspruch auf unser Land stellten. Doch welche Wahl obliegt schon einem Partisanen, der nur das beschützen wollte, was er Heimat nennt? Welche Wahl obliegt schon einem Schmied, der dem Ruf seiner Stadt gefolgt ist und sich nun an vorderster Front wiederfindet? Die einzige Wahl, die uns jetzt noch bleibt, ist, ob wir rennend und schreiend vom Feind erschossen und aufgespießt werden oder ob das unsere eigenen Unteroffiziere erledigen. Sie wachen lauernd hinter uns und würden mit ebenso kalter und erbarmungsloser Hand Deserteure und Feiglinge bestrafen. Ich spüre, wie sich ihr Blick in meinen Rücken brennt, und traue mich nicht einmal, mich für eine Sekunde umzuschauen. Reih an Reih stehen wir zusammen und warten auf das Signal zum Marschieren. Mann an Mann zittern wir in dieser eisigen Kälte, wohl wissend, dass die nächsten Atemzüge unsere letzten sein könnten.
»Ruhig, Männer! Die Linien halten!«, brüllen uns die Unteroffiziere zum Gehorsam an. Doch die Befehle und ermutigenden Worte der Soldaten finden bei mir kein Gehör. Mein Geist will einfach nicht zur Ruhe kommen und mein Körper zittert wie das letzte Blatt an einem Baum, das sich mit aller Kraft dagegen wehrt, vom Wind abgerissen zu werden. Ein weiteres Mal blickt mein Bruder zu mir.
»Ruhig, Lorenz! Einfach die Linie halten!« Seine Ermunterung allerdings verfehlt ihre Wirkung nicht. Ich nicke ihm zu. Ein kurzes, dankbares Nicken, das mehr zu sagen vermag als alle gesprochenen Worte. Mein Blick fällt auf den schmächtigen, rothaarigen Jungen, den wir alle nur ›Ratte‹ nennen, und auf Jakob den Hünen, der aus der Linie hervorsticht. Ich bin froh, sie meine Freunde nennen zu dürfen, und bete, dass auch sie den Tag überleben werden.
»Jetzt geht es los«, flüstert Jakob ohne Stimme.
Der Hauptmann geht ein paar Schritte vor, sein schneller Atem ist deutlich sichtbar und lässt ihn durch eine weiße, sofort wieder verschwindende Wolke schreiten. Mithilfe von Flaggen hat General Lamboy seinen Offizieren den Befehl gegeben, sein Zentrum marschieren zu lassen. Den Ruf des Hauptmanns höre ich schon nicht mehr. Innerhalb eines Augenaufschlages scheint die Hölle loszubrechen. Waren es vor wenigen Stunden noch vereinzelte Schüsse, die fortwährend auf unsere Reihen barsten, scheint nun der Teufel selbst Donnerschläge zu schicken. Die Artillerie der französisch-schwedischen Armee ist gut justiert, die Einschläge genau. Trommel und Fidel spielen im Hintergrund, als ich wie von Seilen gezogen einen Schritt vorwärts marschiere. Ich will zurückfallen, wegrennen, irgendwas, nur nicht hier sein. Doch wenige Meter hinter der Linie wäre mir der Tod durch die eigenen Männer sicher. Gerade weil wir keine regulären Soldaten sind, sondern billige Partisanen. Man hört die Offiziere über uns lachen, wenn wir an ihren Zelten vorbeigehen.
»Wertloses Kanonenfutter.« Dieser Ausspruch ist stets mit Gelächter und Hohn verbunden. Doch jetzt, zu dieser Sekunde, sind wir alle gleich. Gleich im Leben und gleich im Tod.
Meinem Bruder habe ich es ein weiteres Mal zu verdanken, dass ich nicht stehen bleibe. Für das heftige Ziehen an meinem linken Unterarm bin ich dankbar. Fürwahr würde ich ohne seine Hilfe keine Elle mehr auf diese Wand aus Soldaten zugehen.
Noch 200 Fuß.
Fast bemerke ich nicht, wie ich anfange zu tippeln, verlagere das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Bloß nicht ohnmächtig werden, denke ich und spüre, wie meine Hoffnung mit genau diesem Gedanken auf brutalste Weise aufgefressen wird.
Noch 100 Fuß.
Ein Ziehen schleicht sich langsam, aber unaufhörlich in meinen Kopf und hinterlässt eine schwere, dunkle Last. Ich räuspere mich, ein Schwindelgefühl steigt in mir hoch und ich habe das Verlangen, mich selbst zu ohrfeigen. Zu unwirklich kommt mir diese Situation vor, als wäre ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Die Angst schreit mich an, gebietet mir stehen zu bleiben.
Noch 50 Fuß.
Als ob mir jegliche Kraft genommen würde, drückt sich nun ein Kloß meinen Hals hoch und kündigt auf perverse Weise das Würgen an. Es ist nur dem fester werdenden Griff meines Bruders zu verdanken, dass ich die letzten Meter nicht zurückfalle. Zärtlich glitzert der frisch gefallene Schnee zwischen den beiden Armeen, ruhig und unberührt.
Dann beginnt es.
Die Männer warten nicht auf ein Signal. Kaiserliche Truppen geben vereinzelte Schüsse ab und lassen so ein Chaos ausbrechen. Einige hetzen aus der Linie und werfen sich todesverachtend gegen die französisch-schwedischen Reihen. Kurz bevor es zum Nahkampf kommen kann, werden sie von den feindlichen Musketen zu Fall gebracht. Das Feuer der Kanonen schlägt wenige Meter neben mir ein und reißt eine weitere Bresche in die Linie. Ohrenbetäubend scheinen das Schreien der Männer und das Kreischen der Schüsse. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als sich die Reihen daraufhin endgültig auflösen. Mit starkem Griff sucht sich meine Muskete ein Ziel und feuert gegen die Wand aus Soldaten. Für einen zweiten Schuss reicht es nicht mehr. Ich ziehe meinen Säbel und stürze den Feinden entgegen. Die gegnerische Infanterie rüstet sich ebenfalls zum Angriff und prescht mit gezogener Waffe vor. Aus ihren Gesichtern sprechen derselbe Hass, derselbe Wille zum Überleben und dieselbe Angst. Als die beiden Heere aufeinandertreffen, verwandelt sich der Acker zu einem grausamen Tummelplatz. Ein grauer Schleier legt sich über meinen Blick und ich habe das eigenartige Gefühl, keine der handelnden Personen mehr zu sein. Aus vollem Lauf hole ich aus und ziehe einem französischen Soldaten meine Klinge über das Wams. Er bricht sofort zusammen. Für einen Moment beobachte ich, wie das Blut des Mannes meinen Säbel herunterläuft. Dann werde ich mit einem kräftigen Ruck weiter nach vorn gedrückt. Weiter gegen die Wand aus Feinden. Die Kanonenkugeln schlagen nun unmittelbar neben mir ein. Ihnen ist egal, welche Uniform man trägt. Der aufgeschleuderte, gefrorene Boden peitscht in mein Gesicht. Ich muss über meine Augen streichen, bevor ich erneut zum Schlag aushole und mit einem Hieb den Arm eines Soldaten verletze. Einen weiteren kann ich mit einem gezielten Schlag zu Boden werfen und meinen Säbel tief in die Brust des Mannes bohren. Trotz des Lärmes vernehme ich die letzten, geröchelten Worte des Sterbenden ganz genau.
»Je te pardonne.«
Obschon die französische Sprache mir fremd ist, brennen sich seine Worte in meinen Geist. Meine Augen vermögen das Handgemenge, in dem ich mich befinde, nicht mehr zu durchschauen, Freund von Feind nicht mehr zu unterscheiden. Zu vermischt sind die Verbände, zu fremd alle Gesichter. In der unbekannten Masse schweift mein Blick umher, sucht ein ganz bestimmtes Antlitz. Hektisch sehe ich mich um.
»Maximilian! Max!«
Obwohl ich es gar nicht will, beginne ich laut den Namen meines Bruders zu rufen und bete innerlich zum Allmächtigen, dass er in derselben Sekunde neben mir auftauchen möge und mich schelmisch angrinst, so wie er es immer getan hat. Wie damals, als er mich zum ersten Mal mit auf Hühnerjagd nahm und ich auf einmal im Feld allein war, bis er auftauchte und mich rettete. Wie damals, als der Bauer Kelson uns jagte und er ihn in den Wald lockte, um von uns abzulenken, und später zu Hause wieder breit grinsend auftauchte. Doch irgendetwas sagt mir, dass er jetzt nicht kommen und mich retten wird. Um mich herum tobt das Chaos des Schlachtgetümmels, und so sehr ich mich auch anstrenge, ich vermag nicht einmal meine eigene Stimme zu hören.
Der dumpfe Aufprall der Kanonenkugel reißt mich aus meiner Suche. Mein letzter Gedanke gilt nicht meiner Familie, nicht meinem Bruder, meinem Leben oder Gott, er gilt ihr. Es ist ihr Gesicht, das ich als Letztes sehe, als der Ackerboden sich auf einmal unter meinen Füßen verliert und der weiße Schnee immer mehr in ein tiefes Schwarz gleitet.
Kempen am Niederrhein, zwölf Tage zuvor
Was für eine Pracht! In der Nacht zum Sonntag war Schnee gefallen und hatte die festgetretenen, braunen Pfade und die schäbigen Kopfsteinpflaster in ein majestätisches Weiß getaucht. Die Schritte der Familie gaben nun kein Schlurfen oder Scheppern, kein Klackern oder Stampfen, sondern nur ein leichtes Knirschen von sich, als sie sich ihren Weg zur Peterskirche bahnte.
»Amelie, Maria, Siegfried! Kommt aus dem Schnee heraus und macht euch nicht schmutzig! Der Gottesdienst beginnt gleich!«
Die raue Stimme des Vaters grollte über den gut gefüllten Marktplatz. Die Kleinen schreckten hoch und gesellten sich zu ihren zwei älteren Brüdern, die sich vor der Gruppe leise unterhielten. Als der Vater diese Worte gesprochen hatte, kehrte sein sorgenvolles Gesicht zurück. Tiefe Furchen hatte der Winter bereits in das Antlitz des hünenhaften Mannes geschlagen. Die muskulösen Oberarme spannten das Wams, das er sich übergeworfen hatte. Doch die Kälte des Winters war nicht der Grund, warum er sich so in seinem Mantel vergrub.
»Was hast du, Josef?«
Die mitfühlende Miene seiner Frau rang ihm ein Lächeln ab.
»Es ist nichts, Marta.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte sein Weib und stupste ihn zärtlich in die Seite. Obwohl sie eher von zierlicher Gestalt und ihre Gesichtszüge fein und spitz waren, schien der Winter ihr weniger anhaben zu können als ihrem Ehegatten. Gelegentlich blies ein kräftiger Windstoß ihre langen, dunklen Haare vor das Gesicht, doch das konnte sie nicht davon abhalten, den Blick auf ihrem Mann ruhen zu lassen. Mit einem lauten Seufzen gab er schließlich nach.
»Man sagt, dass Marschall Guébriant seine Truppen in diesem Gebiet sammelt. Das Hauptheer der Franzosen und Schweden, zusätzlich Söldner aus Hessen. Die Reiter sprechen von vielen tausend Mann.«
»Seit wann interessiert dich das Wort der Reiter? Du kennst dieses gottlose Gesindel. Trunkenbolde und Spielsüchtige.« Dabei stieß sie einen verächtlichen Ton aus. »Du solltest nicht auf sie hören. Der Kampf wird viele Meilen von uns entfernt stattfinden.«
Die Stimme der Frau war laut und klar, doch auch Angst schwang in ihren Worten mit. Schließlich hatte sie die Gerüchte ebenso gehört. Der Blick der beiden wanderte automatisch auf ihre Kleinsten, die schon wieder tobten und mit Schneebällen aufeinander warfen. Die Müßiggänger und Kirchenbesucher lächelten, wenn sie an ihnen vorüberkamen. Das Jauchzen der Geschwister erfüllte den gesamten Marktplatz der kleinen Stadt und die Herzen ihrer Eltern. Wehmütig schauten sie ihren Kindern einen Moment lang zu.
»Lorenz, Maximilian, kümmert euch um eure Geschwister, ich will sie nicht dreckig in der Kirche sehen«, unterbrach die Mutter schließlich das Gejohle in dem Bewusstsein, dass die Kirchturmglocken aufgehört hatten zu schlagen.
»Ja, Mutter«, ertönte es von den älteren Brüdern. Fürsorglich klopfte der 20-jährige Maximilian seinen beiden jüngeren Schwestern den Schnee aus den Kleidern. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Lorenz nahm sich den Kleinsten der Familie vor, der trotzig weiterspielen wollte. Innerhalb von wenigen Minuten waren alle drei Kinder vom Schnee befreit und nahmen, wenn auch etwas durchnässt, neben ihren Brüdern und ihren Eltern auf der Holzbank Platz.
Schon lange tobte der Krieg im Land. Könige, Feldherren und Fürsten entsandten ihre Armeen und machten Gebiete zu einem Tummelplatz des Kampfes. Doch noch nie war der Krieg so nah an dieser kleinen, gebeutelten Stadt am Niederrhein gewesen. Vor vielen Jahren hatte die Pest die Hälfte der Einwohner hingerafft. Einige Ältere erzählten bis zu diesem Tag vom ›schwarzen Tod‹. Angst und Gefahr lagen damals wie ein dunkler Schleier über der Stadt. Jedes Wort, jede Tat, jeder Gedanke drehte sich um die tödliche Krankheit. Und obschon die meisten Wissenden bereits gestorben waren, wurde auch heute die Stadt überschattet. Jedoch aus einem anderen Grund.
Das leise Gemurmel auf den Bänken erstarb, als die Glocke geläutet wurde und Pfarrer Tillmann an den Altar trat. Der Geistliche begann mit der Messe, doch auch wenn Lorenz sich noch so sehr zu konzentrieren versuchte, seine Gedanken und Hoffnungen schweiften ein ums andere Mal ab. Zu sehr hasste er die Eindringlinge, die ihn, seine Familie, ja die gesamte Stadt in diese nicht greifbare, doch allzu reale Angst versetzten. Verbissen kaute er auf seiner Unterlippe, bis er von seinem Bruder Maximilian einen leichten Schlag auf den Hinterkopf verpasst bekam.
»Möchtest du der Messe nicht beiwohnen?«, fragte er herausfordernd.
»Natürlich.«
Lorenz strich seine dunklen, kurzen Haare glatt und versuchte, der Heiligen Messe zu folgen. Ein kurzer Seitenblick auf seinen Bruder ließ ihn lächeln. Obwohl Maximilian nur zwei Jahre älter als er war, benahm er sich wie ein zweiter Vater. Seine ebenfalls schwarzen Haare hatte er lang wachsen lassen, nur unterhalb der Ohren sorgfältig gestutzt. Sie fielen jedes Mal vor seine Augen, wenn er sich zum Gebet runterbeugte. Belustigt stierte Lorenz nach vorn, um sich nun den Worten des Pfarrers zu widmen. Dieser hatte das heilige Buch zugeschlagen und wandte sich direkt an seine Gemeinde.
»Liebe Freunde«, begann er lächelnd.
Seine weißen Zähne strahlten in den einfallenden Sonnenstrahlen. Die Priesterkutte wirkte bei Tillmann fehl am Platze. Hätte er nicht das Zölibat gewählt, die Frauenwelt hätte ihm zu Füßen gelegen.
»Angst macht sich breit in unserer Gemeinde.«
Seine Stimme war laut und erfüllte noch die letzte Bank der Kirche. »Und genau das ist richtig!«
Drohend wandelten sich seine feinen, ja fast weiblichen Gesichtszüge in die eines Lehrers, der seine Schüler strafen wollte.
»Frevel und Habgier erfüllen das Land allerorts. Das Gute scheint überall abzunehmen und das Böse an Einfluss zu gewinnen. Der andauernde Krieg ist die gerechte Strafe dafür. Denn nur wer reinen Herzens ist, muss keine Angst haben.«
Die Menge starrte den schlaksigen Prediger gebannt an. Die immer dicker anschwellende Ader an seiner Schläfe verriet, dass er nun noch lauter und eindringlicher auf die Menschen einreden würde.
»Drum sage ich euch, liebe Leute: Keuschheit, Nächstenliebe und Bescheidenheit sind die höchsten Tugenden, um der katholischen Kirche zu dienen, und nur dann wird der Allmächtige in seiner unendlichen Güte diese Stadt verschonen und die Eindringlinge in die Flucht schlagen.«
Trotz der eisigen Temperaturen begann Pfarrer Tillmann zu schwitzen und fuhr sich durch die blonden Haare.
»Gott hatte versprochen, Sodom und Gomorra zu verschonen, wenn sich nur zehn Gerechte unter den Bürgern der Stadt befinden. Und was ist, wenn dem Herrn zehn Gerechte für Kempen zu wenig sind? Wie viele mögt ihr wohl sein? Zwanzig? Dreißig? Und wenn das auch zu wenig ist?«
Strafend fuhr sein Blick über die Anwesenden, als schaue er jeden Einzelnen von ihnen an. Seine Augen funkelten. Lorenz’ kleine Schwestern drückten sich ängstlich an die Mutter und versuchten, sich unter ihrem weiten Umhang zu verstecken.
»Wie viele von euch lassen sich allzu leicht von körperlichen Lüsten ablenken, obwohl ihr geistige Nahrung beim Herrn finden solltet? Wie viele von euch saufen und prügeln, obwohl sie Kraft und Ruhe im stillen Gebet suchen sollten? Wie viele von euch sind eben nicht gerecht?« Die Ader an seiner Schläfe pulsierte nun. Ein weiteres Mal ließ der Pfarrer seine Worte im Raume verhallen und blickte die Menge herausfordernd an.
»Ich möchte euch die Antwort geben, meine Brüder und Schwestern.«
Tillmann war außer Atem. Die Gemeinde war nun so ruhig, dass man das gleichmäßige Hecheln des Mannes in der gesamten Kirche hören konnte.
»Sie lautet: Es sind zu viele für Gott. Viel zu viele!« Ein Schaudern lag über den Menschen. Pfarrer Tillmann war für seine harten Worte und seine Frömmigkeit bekannt, doch dass er die Sünden seiner Gemeinde so direkt an den Pranger stellte, war selbst in seinen Predigten eine Seltenheit. »Lasst uns beten, dass er uns die Stärke gebe, unsere Tugenden zu leben und unsere Laster zu besiegen.«
- Ein dunkler Begleiter -
Der eisige Wind hatte noch einmal zugenommen, als sie aus der Kirche heraustraten. Da sie nun mehr als eine Stunde in dem dunklen Gebäude gesessen hatten, kam ihnen der Schnee umso weißer vor. Das reflektierende Glitzern stach in ihren Augen. Pfarrer Tillmanns Predigt hinterließ bei ihnen allen ein Gefühl der Schuld, obwohl die Familie fromm war und sich weitestgehend an die Regeln und Gebote der Kirche hielt. Natürlich war das nicht immer möglich, das Leben der Schmiede war hart, und manchmal musste sogar sonntags gearbeitet werden.
»Der Pfarrer wählt deutliche Worte«, sagte die Mutter und blickte dabei unverhohlen ihren Gatten an.
»Fürwahr. Doch sie sind recht«, murrte er. »Wer weiß, ob der Krieg eine Strafe ist, die uns Gott auferlegt hat.«
»Würde er das wollen?«, schaltete sich Lorenz in das Gespräch ein. »Warum sollte der Allmächtige seine eigenen Kinder mit Krieg und Tod überziehen wollen? Was sollte das für einen Sinn haben?«
»Vielleicht als Prüfung«, entgegnete sein Vater scharf. »Wenn Dummheit aus jedem Worte und jeder Tat von Kindern spricht, müssen sie bestraft werden, damit sie es nicht wiederholen.«
Er achtete kleinlich darauf, dass die anderen Besucher der Messe nichts von ihrer Unterhaltung mitbekamen. Die Familie galt als angesehen und gottesfürchtig. Und als Oberhaupt wollte der Vater darauf achten, dass dies so bliebe.
»Ist eine Bestrafung mit dem Tod denn wirklich als Gottes Wille anzusehen? Oder ist dies der Wille von Menschen?«
Lorenz’ Blick blieb auf seinem Vater haften. Für einen Moment funkelten sich die beiden groß gewachsenen Männer an.
»Genug!«, sagte die Mutter und stellte sich demonstrativ zwischen die beiden. »Lorenz, widersprich deinem Vater nicht! Wir brauchen Feuerholz, also schleicht euch!«
Mit dem Kopf nickte sie dabei in Richtung der älteren Brüder, bevor sie sich ihrem Mann zuwandte.
»Und Josef, du musst ihn nicht immer so reizen. Du weißt, unser Sohn hat seinen eigenen Kopf«, sagte sie, darauf bedacht, leise zu sprechen. Marta strich ihm über den Arm, eine flüchtige Geste der Zärtlichkeit.
»Natürlich. Er sollte allerdings aufpassen, dass dieser dauerhaft an seinem Körper zu bleiben gedenkt. Zu schnell ist hier ein Todesurteil gefällt. Zu schnell ist etwas, das gestern gut war, heute böse und andersrum. Ich will ihn doch nur beschützen, Marta.«
»Ich weiß, Josef. Ich weiß.«
Ihrer beider Blick verfolgte wehmütig die ältesten Söhne, wohl wissend, was geschehen würde, sollte der Krieg sie einholen.
»Das war ja großartig«, schnaubte Maximilian kopfschüttelnd. Sie hatten den Marktplatz verlassen und trotteten über die vom Schnee weiß gemalten Pflastersteine zwischen den Fachwerkhäusern mit ihren verzierten Fenstern und hell geweißelten Fassaden hin. Von der Betriebsamkeit des Markplatzes war hier nichts mehr zu spüren. Die Stille, nur unterbrochen vom leichten Knarren des Schnees, wirkte beruhigend. Nur die über allem thronende Kurkölnische Landesburg und die dicken Wälle, die auch von der Gasse aus zu sehen waren, erinnerten an das drohende Unheil und die immer präsente Gefahr.
»Warum meinst du das?«, fragte Lorenz, obwohl er die Antwort genau kannte.
»Du kennst doch Vater. Wie kannst du in seiner Gegenwart nur so einen Unsinn erzählen?«
»Es sind halt meine Gedanken. Und sind wir nicht alle frei genug, diese aussprechen zu dürfen?«
Ihre Schritte knirschten im Schnee, als Maximilian seinen Bruder schroff an der Schulter fasste.
»Wenn so viele Leute dabei sind, solltest du vielleicht deine Gedanken für dich behalten.«
Nur kurz hielt Lorenz dem Blick seines älteren Bruders stand, dann schaute er reumütig zu Boden. Maximilians Stimme war nun versöhnlicher.
»Lorenz, du weißt genau, was mit Anna aus Crefeld passiert ist. Bei lebendigem Leibe haben sie sie verbrannt. Sprich nichts aus und handele nicht, wenn du es bereuen könntest.«
Er klopfte seinem jüngeren Bruder ein wenig zu hart auf die Schulter. Damit war das Gespräch beendet und sie verließen die Gasse auf eine belebtere Straße. Der Schnee hatte den Boden unter den Pflastersteinen aufgeweicht und aus ihm eine schlammige, braune Masse geformt, sodass einige Karren stecken blieben. So versuchten die Männer mit Muskelkraft ihre Gefährte zu schieben, während einige ihre Pferde antrieben. Die Tiere gaben bei jedem Peitschenknall ein schmerzerfülltes Wiehern von sich, das man noch auf dem Marktplatz hören musste. Die Geräuschkulisse hatte so zugenommen, wie sie sonst nur an ganz normalen Wochentagen üblich war. Nur die geschlossenen Geschäfte ließen vermuten, dass Sonntag war. Auch hier glänzte der Schnee auf den Dächern der Häuser, und nur wo die weiße Pracht nicht die Schilder verdeckte, konnte man erkennen, um was für ein Gewerbe es sich handelte.
Die bereits geschlagenen Holzscheite lagen weiter nördlich am Waldrand. Allerdings hatten die beiden es nicht eilig, nach Hause zu kommen, so ließen sie sich Zeit mit der Besorgung. Lorenz indes konnte das Gespräch immer noch nicht abschließen. Nachdenklich wandte er sich erneut an seinen Bruder.
»Wenn Gott den Krieg als Strafe für die Menschen vorsieht, dann wird er uns Mittel und Wege aufzeigen, genau diesen zu beenden.«
Maximilian musste darauf herzlich lachen und guckte demonstrativ gen Himmel.
»Er wird den Krieg so lange toben lassen, wie es ihm beliebt. Oder glaubst du wirklich, kleiner Bruder, dass du so wichtig bist und er ausgerechnet dir den Weg zeigt?«
Er wollte etwas entgegnen, doch in diesem Moment vernahmen beide ein schmerzverzerrtes Wiehern. Keine 50 Ellen vor ihnen war es Knechten gelungen, den Karren aus einem Loch zu befreien. Allerdings hatte der Besitzer seine zwei Tiere so sehr malträtiert, dass sich diese vom Geschirr losrissen und panisch über die offene Straße stürmten. Kisten wurden umgerissen, Leute schrien und sprangen mit einem Satz in anliegende Gassen, als die beiden Pferde sich ihren Weg bahnten und alles niedertrampelten, was ihnen unter die Hufe kam. Spitze Schreie erfüllten die Gasse, und innerhalb von wenigen Augenblicken brach Chaos aus. Eine Frau verlor auf der Flucht das Gleichgewicht und stürzte auf das eisige Kopfsteinpflaster. Ihr gellender Wehruf ließ die Menschen sich umblicken. Erschrocken versuchten ihre Angehörigen sie hochzuziehen, doch die Pferde trampelten einfach über sie hinweg. Lorenz dachte, er könne die Knochen der Frau brechen hören. Ungehindert schossen die Tiere weiter, mitten auf ein Mädchen zu, das ebenfalls auf dem matschigen Untergrund ausgerutscht war. In den riesigen Augen der Tiere flammten Panik und Angst auf. Eine gefährliche Mischung. Geistesgegenwärtig riss Lorenz sich los und stürzte dem am Boden liegenden Mädchen entgegen. Den Schrei seines Bruders hörte er nicht mehr. Mit einer geschickten Bewegung schulterte Lorenz das Mädchen und warf sich in einem Sprung in die schmale Gasse. Das dumpfe Poltern der Hufe schlug nur wenige Ellen neben ihm auf.
»Bist du von Sinnen?«, brüllte ihn Maximilian von oben an. Nur um im nächsten Moment zu prüfen, ob er unversehrt geblieben war. Hektisch befühlte er das Gesicht seines jüngeren Bruders. Doch dieser grinste nur breit, als ob ihm dieser Übermut noch Freude bereitet hätte.
»Wieso? Laut Pfarrer Tillmann sollen wir doch unsere Tugenden leben.«
Jetzt musste auch Maximilian auflachen.
»Mut ist eine Tugend, Dummheit allerdings nicht.«
Zusammen zogen sie dem Mädchen die Kapuze vom Gesicht. Immer noch unter Schock, blickte sie die junge Frau mit großen Augen an. Ihr Atem war beschleunigt und ihre Hände zitterten. Nur mit Mühe richtete sie sich auf und strich ihre blonden Haare zurück. Sie war gekleidet in einen prächtigen Rock aus purpurrotem Samt und eine Bluse aus weißem Leinen mit Puffärmeln. Passend zu den goldenen Ohrringen trug sie eine weite Kette, die ihr bis zur Taille reichte. Lediglich ihr Mantel war von Dreck und Schlamm überzogen.
»Ihr, ihr …« Sie fasste an sich hinunter, um sicherzugehen, dass sie den Vorfall ohne Blessuren überstanden hatte. »Ihr habt mich gerettet.«
»Ihr hättet es auch ohne unser Zutun geschafft.«
»Nein, nein, das hätte ich nicht«, stammelte das Mädchen. Sie schaute sich um, erblickte die Frau, die vor wenigen Sekunden Opfer dieses Unfalls geworden war. Mit dem Bauch nach unten lag sie regungslos auf der dreckigen Straße. An der Reaktion ihrer Verwandten war zu erkennen, dass sie nie mehr aufstehen würde. Die wehklagenden Schreie erfüllten die gesamte Straße, sodass auch Maximilian und Lorenz mit traurigem Blick die Szene verfolgten. Als Erste senkte das blonde Mädchen ihre klaren, grünen Augen. Ihre Wangen waren von der Kälte rosig angelaufen und ihre spitze Nase war ebenfalls ein wenig gerötet.
»Mein Name ist Elisabeth Dannen, und wie heißt Ihr?«
»Ich bin Maximilian Cox, dies ist mein Bruder Lorenz.«
Sie zog ihre herrlich geschwungenen Augenbrauen hoch und an der in Falten gelegten Stirn konnte man erkennen, dass sie versuchte, den Namen zuzuordnen.
»Euer Vater ist der Schmied, richtig?«
»Ja, Frau Dannen, das ist er. Und Ihr seid die Tochter des Bürgermeisters, wenn ich nicht irre.«
»Ihr irrt nicht«, flüsterte sie. »Eure Familie stellt gute Waren her.«
Jetzt antwortete Lorenz, der sich nun endlich erhoben und den Schnee von seiner Kleidung abgeklopft hatte.
»Habt Dank, wir geben unser Bestes«, sagte er gepresst.
»Ihr habt mir das Leben gerettet. Wie kann ich Euch dafür entlohnen?«, fragte Elisabeth forsch.
Es war wieder Maximilian, der als Erster antwortete.
»Ein Lohn ist dafür nicht nötig, Frau Dannen.« Schon im Begriff sich umzudrehen, fasste sie Lorenz’ Arm. »Seht Euch an! Ihr seid völlig durchgefroren, eine Tasse Tee in der Gaststätte könnt Ihr nicht ausschlagen.«
Ihr einladendes Lächeln und ihr harter Griff ließen keine andere Antwort zu, als einzuwilligen. Die Brüder hatten sie bereits mehrmals gesehen, wie sie mit ihrem Vater am Markt Waren einkaufte oder mit einer der großen Kutschen durch das Stadttor gefahren wurde. Jedoch hatten sie sich nie Antlitz in Antlitz gegenübergestanden. Von Weitem hatte sie schon umwerfend ausgesehen, aber jetzt, da sie nur wenige Ellen trennten, wurde dieser Eindruck noch einmal übertroffen. Einen kurzen Blick austauschend, willigten sie schließlich ein. Noch einmal drehten sie den Kopf zu den Angehörigen der Frau, deren Wimmern immer noch die Straße erfüllte. Auch wenn der Tod als ständiger Begleiter in dieser finsteren Zeit erschien, war der Vorfall, an einem Sonntag von Pferden niedergetrampelt zu werden, ein neuer Tiefpunkt in dieser Stadt. Maximilian und Lorenz kannten die Frau nicht und hatten nicht vor, jetzt Mitgefühl zu heucheln. Nach wenigen Augenblicken waren ihre Gedanken schon bei der dampfenden Tasse Tee, die ihnen gleich in der Schenke zuteil würde.
Trotz der frühen Tageszeit war die Gaststätte bereits gut besucht. Wärme schlug ihnen entgegen, als sie die Tür öffneten. Dazu der Duft von gepökeltem Fleisch und Bier, das einige jetzt schon zu sich nahmen. Kaum hatte Elisabeth die Kneipe betreten, stürzte sie einem anderen Mädchen entgegen, das bereits auf sie gewartet haben musste.
»Elisabeth, wo warst du?«, fragte sie mit aufrichtiger Sorge.
Die beiden umarmten sich herzlichst und ihr Blick fiel auf die Brüder, die sich unsicher umsahen und flüsterten.
»Wenn Vater uns hier entdeckt, dürfen wir Holz hacken bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.«
»Mach dir keine Sorgen, Max, wir …«
Doch sie wurden jäh von Elisabeth unterbrochen, die allem Anschein nach ein starkes Interesse verspürte, die beiden gebührend zu entlohnen.
»Ich muss dir meine Retter vorstellen: Lorenz und Maximilian Cox, die Söhne des Schmiedes«, sagte sie mit einer ausladenden Handbewegung. Der Blick der Brüder fiel auf die junge Frau. Auch sie trug einen langen Rock. Dieser allerdings war smaragdgrün und an einigen Partien abgewetzter. An den Stellen, wo das Kleidungsstück den Boden berührte, lösten sich bereits einige Fäden vom Saum.
»Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen«, sagte sie mit einem angedeuteten Knicks. Ihre Stimme war dabei leise, fast ein wenig ängstlich und trotzdem weich wie Seide. »Mein Name ist Antonella.« Ihr scheuer Blick suchte förmlich den Boden, anscheinend ein wenig beeindruckt von der Tat der Brüder. Bedächtig richtete sie ihre rabenschwarzen Haare und traute sich nur eine Sekunde, ihre dunklen Augen zu erheben.
»Sie ist meines Vaters Adoptivkind«, ergänzte Elisabeth. »Wollen wir uns nicht setzen?«
Allem Anschein nach besaß Elisabeth das, was Antonella an Selbstbewusstsein fehlte, im Überfluss. Allerdings war Zurückhaltung keine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften. Sie drängte die Brüder mit fester Hand an einen frei stehenden Ecktisch.
»Wirt! Macht uns vier Tee!«, schrie sie spitz dem bärtigen Besitzer der Gaststätte entgegen. Erst war sein Blick verärgert und prüfend, doch als er die Person erblickte, die gerufen hatte, nickte er nur kurz und bereitete die Getränke zu.
»Wie kommt es, dass zwei so stattliche Burschen, wie Ihr es seid, allein durch die Stadt schlurfen müssen?«, wollte Elisabeth wissen. Sie stützte sich dabei verspielt auf ihr Handgelenk und blickte Lorenz unverhohlen aus ihren grünen Augen an. Dieser allerdings schaute suchend aus dem Fenster. Würde Vater sie hier erwischen, dann war ihm die Tracht Prügel gewiss.
Maximilian antwortete für ihn: »Wir müssen Holz für die Nacht zusammensuchen.« Dabei pustete er bedächtig in die Teetasse. »Leider waren die vergangenen Wochen kalt und die Öfen für das Haus und die Schmiede müssen befeuert werden.« Er lächelte verschmitzt. »Wer konnte ahnen, dass wir in so kurzer Zeit so viel anfertigen müssen.«
»Waffen und Rüstungen«, wisperte Antonella leise. Maximilian und Lorenz nickten unmerklich. Fast ein wenig amüsiert blickte Elisabeth sie an.
»Ich denke nicht, dass es nötig sein wird. Vater sagt, dass der Krieg viele Meilen von uns entfernt stattfinden wird. Unserer Stadt wird nichts geschehen. Und er ist Bürgermeister, er sollte es wissen.«
Ein zartes Lächeln umspielte dabei Antonellas Lippen. Fast hätte man ein kleines Kichern vernehmen können. Für einen Moment sah sie auf und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihre rehbraunen Augen glitzerten so intensiv, wie es Lorenz selten gesehen hatte. Kräftig und hell strahlten ihre Pupillen. Für einen Herzschlag schien es, als würden sie alle Kerzen, alle Lichter, ja das Sonnenlicht selbst in einem Funkeln vereinen. Dann senkte sie ihren Blick und der Zauber war vorbei. Während Lorenz sich zwingen musste, nicht mehr auf Antonella zu stieren, ergriff Maximilian das Wort.
»Man sagt, dass Marschall Guébriant auf den Weg hierher ist. Was ist, wenn Graf Lamboy ihn hier stellen möchte? Direkt vor den Toren der Stadt? Was, meint Ihr, werden die anrückenden Truppen machen, wenn ihnen die Vorräte ausgehen?« Seine Stimme wurde lauter, verlor allerdings an Kraft. Tatsächlich schien Maximilian ein Talent dafür zu entwickeln, immer den empfindlichsten Nerv zu treffen. Einen Moment lang schwiegen die vier und beobachteten den heißen Dampf, der von ihren Teetassen aufstieg. Sie wussten, dass sie nicht allein mit dieser Angst waren. Sie lag über jeder Stadt, die als Kriegsschauplatz dienen könnte. Eine Bürde, die die Bürger unsichtbar, aber allzu präsent mit sich herumtrugen. Offen wurde nie darüber geredet. Nur im Stillen, heimlich, hinter verschlossenen Türen. Selbst Elisabeth war sich der realen Gefahr bewusst. Sie schlug nun einen ruhigeren Ton an. Zumindest für ihre Verhältnisse.
»Und was gedenkt Ihr zu tun, wenn die Schlacht tatsächlich hier stattfindet?«
So schnell wie Maximilian eine Antwort darauf gab, konnte man fast meinen, dass er sie mit seinen Worten schneiden wollte. »Dann werden wir kämpfen.«
Er atmete tief. »Alles, was wir lieben, ist in dieser Stadt, und wenn wir auch nur eine Möglichkeit haben, diese französischen Bastarde zu vertreiben, müssen wir sie nutzen.«
In diesem Punkt schienen die Brüder im Gedanken vereint. Lorenz nickte Maximilian zu. Besser hätte er es nicht sagen können.
»Lasst uns beten, dass es nicht so ist«, war erneut die zarte Stimme von Antonella zu vernehmen.
Elisabeth stupste sie leicht in die Seite. »Ach, macht Euch keine Sorgen. Vater hat gesagt, dass es nicht passieren wird«, wiederholte sie monoton, aber längst nicht mehr so sicher. Sie klammerte sich an den Gedanken, als wäre es das Einzige, was ihr noch einen Grund gab zu lächeln. Elisabeth selbst bemerkte einen Hauch Zweifel in ihrer Stimme. Innerhalb von einer Sekunde warf sie ihr blondes Haar zurück, setzte ihr umwerfendes Lächeln auf und strahlte Lorenz an. Diesmal erwiderte er ihren Blick.
»Wie kommt es, dass wir uns noch nicht gesprochen haben?«, wollte Lorenz wissen. »Wir sollten im selben Alter sein.«
»Nun …«, sagte sie schnell. »Vater reist viel herum, in die verschiedensten Städte, um Handelsverträge abzuschließen, oder in Klöster, um Mönchen etwas zu verkaufen. Als Bürgermeister ist man häufig unterwegs und selten in der eigenen Stadt. Leider sind wir dadurch viel zu oft allein.«
Ein überdeutlicher Wink mit dem Zaunpfahl. »Aber vielleicht …«, fügte sie hinzu. »Sehen wir uns ja nun öfters.«
Ein weiteres Mal dieser unmissverständliche Hinweis. Hatte Lorenz da gerade ein Zwinkern bemerkt? Nein, das hatte er sich eingebildet. Die einfallende Sonne blendete ihn und ließ Elisabeths Gesicht gleich dem eines Engels glänzen. Mit ihrem makellosen Aussehen gehörte sie zweifelsfrei zu denen, die sich ihre Hochzeitspartie aussuchen konnten. Hier und im gesamten Umland. Jede Familie wäre ohne Frage stolz, dieses Mädchen ihre Schwiegertochter nennen zu dürfen. Oh, was würden Mutter und Vater frohlocken.
»Nun, Frau Dannen …« Lorenz’ Worte wurden jäh unterbrochen, als die Tür der Gaststätte mit einem lauten Knall aufgerissen wurde. Alle vier blickten zu der kleinen Person, die auf der Schwelle stand und mit hastigen Kopfbewegungen den Raum absuchte.
»VATER!«, schrie Elisabeth erzürnt. Lorenz und Maximilian sprangen sofort auf. Noch nie hatten sie dem Bürgermeister so dicht gegenübergestanden. Ein kleiner, dicklicher Mann mit gutmütigen Augen und vollen, braunen Haaren schaute sie an.
»Elisabeth! Antonella! Was macht ihr hier?« Mit kleinen, tippelnden Schritten kam er näher. »Ich habe euch doch angewiesen, direkt nach Hause zu kommen!«
Während die Brüder ihren Kopf senkten und so eine Verbeugung andeuteten, schien es Elisabeth zu ärgern, dass ihr Vater die Runde unterbrach. Mit beiden Händen an ihrer Teetasse blieb sie stoisch sitzen. Antonella war aufgesprungen und blickte scheu zu Boden. Ihr war die plötzliche Aufmerksamkeit, die die Gruppe auf sich zog, sichtlich unangenehm.
»Aber Vater, wir trinken doch nur Tee«, sagte Elisabeth mit einer abfälligen Geste. Der Bürgermeister quittierte dies mit Kopfschütteln.
»Schau dich mal um, mein Kind. Denkst du, dass dies der passende Ort für euch ist?« Sofort fiel sein Blick auf die Brüder, in ihren viel zu oft getragenen Hosen und den langen Hemden. »Nein, das ist er nicht«, sagte der Bürgermeister leise. »Und ihr? Wer seid ihr?«, fauchte er.
»Die Söhne des Schmiedes, Herr.«
Auch wenn ihre Köpfe gesenkt waren, so fixierten beide den kleinen Mann ganz genau. Er nickte abfällig.
»Natürlich.«
Ein weiteres Mal versuchte Elisabeth das Wort zu ergreifen.
»Vater, sie …«
»Schweig still!«, bellte er ihr entgegen. Dann drehte er sich abermals zu den Brüdern. »Macht, dass ihr nach Hause kommt!«
Jedes Wort wäre jetzt zu viel und mit Torheit verbunden. Und obschon der Bürgermeister sie in einer gut besuchten Gaststätte zurechtgewiesen hatte, empfand Lorenz keinen Hass auf den kleinen Mann mit den rosigen Wangen und dem Vollbart. Mit einem letzten Blick auf Antonella verließ er die Kneipe und wurde sofort von der Sonne geblendet, die immer noch weiße Schneepracht zum Funkeln brachte. Er lächelte. Obwohl er an diesem Morgen mit seinem Vater aneinandergeraten war, er einen tragischen Todesfall im Herzen der Stadt erlebt hatte und gerade vom Bürgermeister aus der Schenke geworfen worden war. Er lächelte. Wegen ihr.
- Purpurrot und Moosgrün -
Sie hatten es nicht für nötig befunden, ihren Eltern von den Ereignissen des heutigen Morgens zu berichten. Die sowieso schon angespannte Stimmung noch mehr zu belasten war das Letzte, was die Brüder wollten. Sie halfen ihrem Vater bei den Vorbereitungen für den morgigen Tag, wobei sie ihr Handwerk mittlerweile genauso gut beherrschten wie er. Der groß gewachsene Schmied würde das natürlich nie laut aussprechen, doch in der Tiefe seines Herzens wusste er es und war stolz auf seine beiden ältesten Söhne. Die Aufträge, die er für verschiedenste Rüstungsteile und Degen bekommen hatte, brachte die kleine Schmiede am Rande der Stadt bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Und obwohl er sich über die Einnahmen freute und die Familie das Geld gut gebrauchen konnte, mehrten sich doch die Zeichen, die auf eine baldige Schlacht hindeuteten. In Kriegszeiten ist schließlich nichts so rentabel wie das Waffengeschäft.