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GISBERT HAEFS

ALEXANDERS ERBEN

GISBERT HAEFS

ALEXANDERS
ERBEN

Roman

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© 2013 by Gisbert Haefs
© 2013 für diese Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung und Artwork: Nele Schütz Design
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-09845-2
V002
www.heyne-verlag.de

§ 2038 Gemeinschaftliche Verwaltung des Nachlasses

(1) Die Verwaltung des Nachlasses steht den Erben gemeinschaftlich zu. Jeder Miterbe ist den anderen gegenüber verpflichtet, zu Maßregeln mitzuwirken, die zur ordnungsmäßigen Verwaltung erforderlich sind; die zur Erhaltung notwendigen Maßregeln kann jeder Miterbe ohne Mitwirkung der anderen treffen.

(2) Die Vorschriften der §§ 743, 745, 746, 748 finden Anwendung. Die Teilung der Früchte erfolgt erst bei der Auseinandersetzung. Ist die Auseinandersetzung auf längere Zeit als ein Jahr ausgeschlossen, so kann jeder Miterbe am Schluß jedes Jahres die Teilung des Reinertrags verlangen.

§ 2042 Auseinandersetzung

(1) Jeder Miterbe kann jederzeit die Auseinandersetzung verlangen, soweit sich nicht aus den §§ 2043 bis 2045 ein anderes ergibt.

Bürgerliches Gesetzbuch

Die Eltern erbauen’s,

die Kinder beschauen’s,

die Enkel versauen’s.

Volksmund

KAPITEL 1

Babylon

Man sagt, sie hätten – den Göttern trotzend –
einen Turm in den Himmel gereckt,
die Götter hätten den Bau zerschmettert
und alles durch tausend Sprachen verwirrt.
Hat der Baumeister falsch gerechnet?
Wer hat seine Berechnung geprüft?
Vielfalt der Dinge, der Menschen und Zungen
ist Reichtum, nicht Plage; kostet sie aus.
Und du, von eigenen Worten und Schritten
hierher gebracht ans Ende des Wegs,
schmäh nun nicht andre, den Zufall, die Götter,
koste den dunklen Reichtum, den Tod.

DYMAS

Langsam, langsam, als müsse er unendliche Widerstände überwinden, hauchte Alexander etwas; die Lippen bewegten sich kaum.

KRA. Oder GRA. Oder so ähnlich. Alle hatten es gehört, keiner mehr als dies; sie fragten, wollten ihn schütteln, aber er regte sich nicht mehr, und schließlich trieb Philippos alle vor sich her, zurück ins Gesprächszimmer.

»Kra, kra, kra«, sagte Meleagros, als sie berichtet hatten. »Krateros? Nachfolger Parmenions als Oberbefehlshaber nach Alexander, jetzt Nachfolger von Antipatros als Statthalter in Europa – Stellvertreter des Königs, auch Nachfolger?«

»Krateros ist nicht hier«, sagte Perdikkas schneidend. »Vergeßt ihn.«

»Ob er sich nicht in Erinnerung bringen wird?« murmelte Eumenes. »Denkt an Susa, an die Vermählung und die Ehren. Er stand als Dritter da, vor ihm nur Alexander und Hephaistion. Wir alle nach ihm …«

»Vergeßt ihn«, sagte nun auch Ptolemaios; er wechselte einen Blick mit Perdikkas und nickte kaum merklich. Perdikkas zwinkerte.

Philippos schwor, es sei nicht kra, sondern gra gewesen. Vielleicht graia, die Alte – Olympias; damit erntete er Hohn und Empörung. Oder graikos, bei Sophokles ein Begriff für alle Hellenen? »Irgendwas mit gramma- oder graph-; vielleicht hat er doch etwas über die Nachfolge geschrieben?«

»Bah. Wie wär’s mit grammatephoros – irgendeinen tüchtigen Briefträger werden wir doch finden, oder?« sagte Leonnatos wütend.

»Kra«, sagte Perdikkas nachdrücklich. »Bloß was – krabbatos? Ein Ruhebett für den Herrscher, oder ›laßt mich schlafen‹? Krama – das Gemischte, wir alle zusammen? Kranioleios – der ›Kahlkopf‹ Antipatros? Kratistos – der Stärkste, der Beste, der Tapferste?«

»Krateros der Tapfere«, sagte Meleagros.

»Vergiß ihn!« brüllte Perdikkas. »Kra, kra, kra – kratistos. Das ist es. Ich bin jetzt ganz sicher, daß er kratistos gesagt hat.«

»Ist es dir gelungen, dich dazu zu überreden?« sagte Eumenes mit einer Grimasse. »Und wer soll das sein – der Beste, Tapferste, Stärkste?«

»Das werden wir nach und nach feststellen.«

»Außer mir noch jemand für Krateros?« sagte Meleagros, der sich durch Perdikkas’ Gebrüll nicht einschüchtern ließ.

Keiner antwortete.

Nearchos wanderte durch die Schlieren der Schlaflosigkeit im Gewölbe der Nacht umher. Er durchquerte ganz Babylon, oder jedenfalls den größten Teil der Stadt. Kein Stern war zu sehen; die dichten Wolken hatten sich immer noch nicht aufgelöst, sie brüteten über allem wie eine Glucke. Zahllose Menschen waren auf den Straßen und Plätzen, hockten leise murmelnd irgendwo zusammen oder warteten stumm auf etwas, das ebenso gewiß war wie unfaßlich.

Im Morgengrauen kehrte er in den Palast zurück. Etwas zog ihn in den leeren Thronsaal. Es gab keine Wachen; nichts außer dem Thron der Großkönige, von Susa hergebracht, war dort zu stehlen. Er hörte ein fernes, fast unheimliches Geräusch, konnte aber im Zwielicht nichts erkennen. Es klang wie ein Schaben, dann ein Kichern. Er ging dem Ton nach.

Erst als er vor den Stufen des Throns stand, im Schatten zwischen zwei halbhellen Fensteröffnungen, sah er Arridaios, Alexanders Halbbruder, Sohn von Philipp und Philinna. Er trug einen makedonischen Reisemantel. Auf dem Kopf hatte er die doppelte Krone des Pharaos, in der einen Hand das Königsschwert Makedoniens, in der anderen Hand des Großkönigs Diadem. Die kalten Augen glitzerten. Nearchos seufzte und winkte; langsam stieg der Mann, den alle für schwachsinnig hielten, vom Thron. Er murmelte etwas wie: »Bist du so sicher?« Nearchos nahm ihm die Herrschersymbole ab und trug sie zurück in den kleinen Rüstraum neben Alexanders Schlafgemach.

Auf dem Gang, der zum größten Innenhof führte, sah er Ptolemaios, im Gespräch mit Simmias, der seinen Horchposten beim Ammoneion in Siwah verlassen hatte, um dem König wichtige Dinge aus der libyschen Wüste und Karchedons Gebiet zu erzählen. Nearchos nickte den beiden zu; im Vorübergehen hörte er Simmias sagen, Ägypten enthalte gewisse Verheißungen, und er hörte Ptolemaios ächzen.

Der 28. Tag des makedonischen Daisios-Mondes wollte nicht richtig hell werden. Schwere dunkle Wolken trieben träge über die Stadt und das Land. Es war schwül, drückend schwül; Nearchos sprach leise mit einigen Offizieren und Hopliten im Hof. Bedeutungslose Worte; alle warteten nur auf eines. Und auf Regen. Dichtgedrängt standen, hockten und saßen sie da, mehrere tausend Männer; in den übrigen Höfen und in den Gärten noch mehr.

Das Murmeln, Raunen, Seufzen endete plötzlich, als Gestalten zwischen den Säulen vor dem Thronsaal erschienen. Hetairen, in voller Rüstung, bildeten rechts und links des Eingangs Reihen. Wie die anderen stand Nearchos auf; irgendwo hörte er Männer schluchzen.

Die angesehensten der in Asien weilenden Männer des Heers erschienen: Perdikkas, rechts von ihm Ptolemaios, links Lysimachos. Sie hatten Rüstungen angelegt, trugen aber keine Helme. Lysimachos hielt auf den ausgestreckten Armen ein Kissen mit der Doppelkrone der Pharaonen. Ptolemaios trug Krummstab und Dreschflegel. Perdikkas hielt mit beiden Händen das große Schwert der makedonischen Könige. Vom Schwertgriff hing das Diadem der Achaimeniden.

Perdikkas blieb auf der obersten Stufe zum Hof stehen. Er starrte auf den Boden, nickte und rammte das Schwert in die Fuge zwischen zwei Quadern. Es schwankte, bebte, verhielt.

Der Chiliarch trat einen kleinen Schritt zurück, betrachtete wie blind das Schwert, hob den Blick, sah den übervollen Hof, die unzähligen Köpfe. Dann reckte er die Arme, mit geballten Fäusten, stieß einen langen, qualvollen Schrei aus und wandte das tränenüberströmte Gesicht zum Himmel.

Niemand spürte die ersten dicken Tropfen.

Dymas legte den Halm beiseite und überflog, was er für Aristoteles geschrieben hatte. »Als ob ich alles gesehen hätte«, murmelte er. »Aber wie, wenn nicht ›als ob‹, soll ich so etwas aufzeichnen? Ich kenne mich nur mit Versen aus. Und mit Musik.«

Seine geheimen Berichte hatte er früher so aufgezeichnet, und er nahm an, daß die Empfänger sie gelesen hatten, als ob sie ihm und ihnen glauben und zugleich mißtrauen sollten. Wie, außer durch Zweifel, kann denn Gewißheit entstehen? Was, außer dem gründlichen Zweifel, ist schon gewiß? Zweifellos war er selbst im Hof gewesen, als Perdikkas jenen Schrei ausstieß, und ohne jeden Zweifel hatte Nearchos ihm von der Begegnung mit Arridaios erzählt.

Vielleicht hatte Nearchos diese aber auch nur geträumt. Andererseits neigte der Kreter weder zum Träumen noch zu poetischen Lügen. Lügen konnte er trefflich, wie alle Kreter, aber solche Nachtpoesie war ihm fremd.

Arridaios auf dem Thron … Warum nicht? Philipp hatte das Schwert, das unvergleichliche Heer geschmiedet, Alexander hatte es geführt und verwandelt und die halbe Welt erobert. Parmenion hätte das Schwert ergreifen können, aber er war tot. Vielleicht könnte Antipatros es, aber Antipatros war alt und in Makedonien, nicht hier, nicht in Babylon, und für den Thron kam er nicht in Frage.

Dymas erhob sich vom Tisch, an dem er gesessen und geschrieben hatte. Er dehnte sich, gähnte und ging zur Fensteröffnung. Unter dem Bogengang davor staute sich die Hitze. Palmen im Hof und ein Brunnen, der mehrere Becken speiste, milderten sie nur mäßig. So, wie im Hof die Schatten fielen, mußte es mittlerer Nachmittag sein. Drüben, im großen Beratungsraum, schwollen die Stimmen wieder an. Noch kein Gebrüll, aber beinahe, und bald würde der nächste Stimmenschwall durch den Hof brausen, eine Klangbö, die nichts klärte und niemanden erfrischte.

Der Perser – ein Sklave, den sie ihm zugeteilt hatten – schob den Türvorhang beiseite und blickte ihn fragend an. Dymas winkte ab. Der Mann verbeugte sich und kehrte zurück in den Gang. Zurück zu den Wächtern. Zwei, die alle paar Stunden wechselten. Dymas, der größte und berühmteste Kitharode im Reich und außerhalb, sollte keinen Mangel leiden, bevor sie ihn irgendwann, bald, demnächst hinrichteten. Wie sie jeden töteten, der zuviel wußte.

Wieder bewegte sich der Vorhang, aber diesmal war es nicht der Sklave, sondern Laomedon, der eigentlich bei den anderen im Beratungsraum sein sollte.

»Hast du Wein, Musiker?« Laomedon fuhr sich durch die Haare. Er sah sich im Raum um. »Darf ich?« Er deutete auf die Krüge und Becher, die Dymas auf einen kleinen Tisch gestellt hatte.

»Greif zu. Gibt’s drüben nichts mehr?«

»Geschrei. Doch, Wein gibt’s auch, aber ich wollte ein Weilchen von dem Lärm ausruhen.«

Dymas nickte. »Kann ich verstehen. Wie weit seid ihr denn?«

Laomedon langte nach dem Weinkrug, füllte einen der Becher halb, nahm den Wasserkrug, hob ihn, knirschte etwas zwischen den Zähnen, stellte ihn wieder ab und füllte den Becher bis zum Rand mit Wein. »So weit, daß nur noch reiner Wein hilft. Aber der hilft ja auch nicht.«

»Gibt es schon Sieger? Verlierer?«

»Verlierer?« Laomedon grunzte und trank einen großen Schluck. »Verlierer sind wir alle. Wir haben ihn verloren; wen kümmert es dann noch, was mit dem Rest geschieht?«

»Was geschieht denn?«

»Es wird geteilt.«

»War zu erwarten. Aber wie?«

Der Makedone trat neben ihn, schaute in den Hof hinaus, dann in Dymas’ Gesicht. »Hättest du einen guten Vorschlag?«

»Da ihr mich sowieso umbringt, kann ich unbelastet denken – meinst du das so?«

»So ähnlich. Aber das mit dem Umbringen steht noch nicht fest. Warum denn überhaupt?«

»Ich war dabei. Ich habe gesehen und gehört und könnte schwätzen.«

»Tja. Wenn es dich tröstet – ich nehme an, bis das hier erledigt ist, werden noch ein paar andere … erledigt.«

»Dann bin ich ja in guter Gesellschaft.«

Laomedon zwinkerte. »Oder in schlechter; wie man’s nimmt. Also, dein Vorschlag.«

»Teilen. Teilt das Reich; es ist zu groß. Keiner außer Alexander könnte es zusammenhalten. Teilt vernünftig, so daß jeder genug bekommt, aber keiner zuviel. Und vergeßt eure Königsspiele.«

»Du meinst – ein Bund von Satrapien, aber kein König?«

Dymas hob die Schultern. »Laßt doch die, die in Pella sitzen, sich einen König für Makedonien aussuchen. Aber nicht für das Reich. Das Reich ist am Ende.«

»Muß ich Ptolemaios erzählen.«

»Warum gerade ihm?«

»Das hat er vorgeschlagen.«

»Ah. Erstaunlich für einen edlen Makedonen. Aber?«

Laomedon schüttelte den Kopf. »Unmakedonisch, sagen die anderen. Sie wollen unbedingt einen König für alle. Perdikkas … vielleicht hat er sogar recht. Jedenfalls sagt er, ein loses Bündnis gleichberechtigter Satrapien heißt, daß in jeder einzelnen die Makedonen in der Minderheit sind. Dann müßten wir das tun, was Alexander wollte, also, Barbaren heiraten und als gleichwertig achten.«

»Müßt ihr sowieso. Früher oder später.«

Laomedon kaute auf der Unterlippe. »Muß nicht unbedingt sein. Wenn das Reich zusammenbleibt, kann man jederzeit Heeresteile hin und her … Aber es ist müßig. So wird es kommen.«

»Wer soll denn die Krone tragen? Und das Schwert?«

»Ist noch nicht klar. Das Schwert? Ah, das werden alle mittragen. Und die Krone? Einige wollen Arridaios, Sohn Philipps, andere sagen, laßt uns warten, ob Roxane einen Sohn gebiert. Alexanders anderer Sohn, Herakles, ist auch schon erwähnt worden. Da gab es aber viel Gelächter.«

»Barsines Kind? Wo sind die beiden denn?«

»Keine Ahnung. Pergamon, glaube ich. Wie ist es heute abend mit dir? Magst du spielen und singen?«

»Todeslieder? Oder Sauflieder?«

Laomedon leerte den Becher, stellte ihn auf den Tisch und lachte. »Lieder vom Tod durch Ertrinken in Wein vielleicht.« Er klopfte ihm auf die Schulter und ging.

Dymas ließ sich auf die Liege sinken. Wie selbständig tasteten die Hände nach der Kithara, nahmen sie auf, stimmten und begannen eine Melodie zu flechten – Übung für die Geschmeidigkeit der Finger, Pflege des Gehörs, Stütze des Denkens.

Töne für den Tod. Klänge gegen den Tod. Aber er wußte, daß er spielen konnte, was er wollte. So viele waren gestorben, Kämpfer und Fürsten und Bauern und Kinder und Frauen, da kam es auf einen Musiker nicht an. Es gab keinen Ausweg. Er wollte nicht sterben, aber er wußte nicht, wie es sich vermeiden ließe.

Er könnte heilige Eide schwören, Schweigen bis in die Ewigkeit verheißen. Verbrennen, was er aufgeschrieben hatte, um es dem alten Aristoteles zu schicken. Er spielte einen skythischen Tanz, eine auf- und abwärts führende Wendeltreppe, bei der immer einige vom Ohr erwartete Stufen fehlten; dabei dachte er an Ptolemaios und Perdikkas, Nearchos und Eumenes, ihr Flüstern im Halbdunkel der Gänge, die Dinge, die Nearchos ihm ins Ohr gehaucht hatte. Nearchos wußte zuviel über Dymas; Dymas wußte dank Nearchos zuviel über die anderen, über die Verzweiflung und die Pläne, die Mischung aus Entsetzen und Erleichterung, Trauer und Entzücken ob Alexanders Tod. Kein sinnloser Marsch des ganzes Heers durch Arabiens Wüsten, kein Flottenzug zur Vermessung der von den Persern längst vermessenen Küsten. Vielleicht auch kein Feldzug gegen die letzte verbliebene Macht im Westen.

Gut so – aber er konnte erzählen, daß die Freunde des Königs, die Gefährten und Heerführer, lange versucht hatten, Alexander von diesen Plänen abzubringen. Und aus der Erzählung würde zweifellos jemand eine zweite Geschichte machen: wie die Gefährten und Strategen beschlossen hatten, den Unsinn mit Gewalt zu beenden. Mit Gewalt, mit Gift. Nichts schöner als Geschichten von Verschwörungen, nichts glaubhafter als das Unglaubwürdige. Nein, sie konnten ihn nicht leben lassen, wenn sie sicher sein wollten, daß er schwieg. Nur die Toten schwiegen verläßlich.

Dann gestand er sich, daß er neugierig war. Wie mochte alles weitergehen? Wer würde, konnte, sollte? Wieder dachte er an die Alten, an den toten Parmenion und den greisen Antipatros, Weggefährten Philipps. Antipatros könnte das Heer einen, vorübergehend; wer noch? Krateros der Bär vielleicht, aber den hatte Alexander mit den alten Kriegern heimgeschickt, wo er Makedonien lenken und Antipatros ersetzen sollte. Krateros hatte sich, sagte man, viel Zeit gelassen, war krank geworden, vom Tigris vor dem Winter nur bis nach Syrien gelangt, inzwischen vielleicht nach Kilikien. So krank, daß Alexander ihm noch Polyperchon als Helfer und Vertreter geschickt hatte, einen weiteren »Alten« – nicht so alt wie Antipatros, aber älter als die Gruppe der Gefährten, der Freunde des Königs, von denen viele mit ihm zusammen bei Aristoteles gebildet und ausgebildet worden waren. Die Alten, die wenig oder nichts von der Vermählung mit Persien hielten, entweder tot oder fortgeschickt, und nun, nach Alexanders Tod, fehlten sie.

Dymas schnalzte und schüttelte den Kopf. Die Melodie brach mißtönend ab, und während die Finger sie neu zu verfugen suchten, fragte er sich, warum er an die Alten dachte, die Abwesenden. Für die Oikumene, die bewohnbare Welt, deren Grenzen Alexander so weit verschoben hatte, war es ungeheuer wichtig, wer das Schwert und den Thron bekam. Für ihn jedoch nicht. Oder nur insofern, als die Dauer der lauten Beratungen, die Frist bis zur Entscheidung wahrscheinlich gleich der Dauer seines restlichen Lebens sein würde.

Er versuchte eine leichte Tanzweise, die er vor Jahren von einem illyrischen Flötenspieler gehört und lange nicht mehr gespielt hatte. Dabei dachte er über das Denken nach, über Gedanken, die ähnlich selbständig wie die Finger eine Melodie erbauten, Erinnerungen verschoben und Überlegungen verknüpften. Wahrscheinlich gab es etwas im Hirn, das etwas anderes suchte. Vielleicht suchte es nach etwas, woran er nicht dachte, nicht denken konnte, weil es verschüttet war, aber das Hirn wußte andere Wege dorthin. Warum also suchten die Gedanken nach den Alten?

Freunde. Nun dachte er an Freunde. Aber die Alten waren nicht seine Freunde. Sie waren Philipps Freunde gewesen und Alexanders Helfer, und sie würden zweifellos dem ungeheuer ausgedehnten, überdehnten Reich dienen, das der König hinterlassen hatte. Verlassen hatte.

Die Stimmen drüben wurden lauter. Dymas unterbrach sein Spielen, lauschte, konnte aber nur Fetzen und Tonfälle wahrnehmen. Ptolemaios schrie etwas, Perdikkas überbrüllte ihn, und die dritte Stimme – Meleagros? Lysimachos? Nearchos? Den Kreter hatten sie wie den Hellenen Eumenes mit zu den Beratungen geholt; dabei hatten sie weder mit dem Heer noch mit dem Thron …

»Und Antigonos?« schrie jemand, vielleicht Alketas, Perdikkas’ Bruder. Seltsam, wie sich Stimmen im Brüllen änderten. Alketas, wenn er es war, klang plötzlich beinahe wie Antigonos Monophthalmos.

Der einäugige Antigonos, der irgendwo in Phrygien oder Lykien saß. Auch er mit fast sechzig einer der Alten, der Bedeutenden, der Abwesenden. Von Alexander schon während des asiatischen Feldzugs mit wichtigen Aufgaben – Verwaltung eines neuen Gebiets, Sicherung des Nachschubs – betraut, geehrt durch Vertrauen und geringe Macht, zugleich aus der Führung des Heers entfernt. Und die, die nun hier in Babylon weilten und brüllten, würden das Heer und das Reich unter sich aufteilen. Für ein paar Tage, bis das gegenseitige Zerfleischen begann. Was würden sie Antigonos geben – womit würde er sich bescheiden?

Wer konnte denn überhaupt Alexanders Schwert führen, auf Alexanders Thron sitzen? Keiner – also warum nicht gleich sein schwachsinniger Halbbruder? Bei Arridaios wären Ohnmacht und Unfähigkeit lediglich unmittelbarer ersichtlich als bei einem der anderen. Bei jedem der anderen.

Arridaios, Sohn Philipps und einer seiner Nebenfrauen namens Philinna, angeblich von Alexanders Mutter Olympias als Kind vergiftet und seitdem nutzlos … aber bestimmt konnte er irgendwem nützen. Jemand würde ihn vorschieben, wie eine Puppe verwenden und irgendwann wegwerfen. Was tat es, daß einige sagten, er sei gar nicht schwachsinnig, nur ein wenig … vermindert? Philipps Blut, aber keine Schwerthand, keine Freunde.

Dymas hatte nur wenige Worte mit ihm gewechselt und den Eindruck zurückbehalten, daß Arridaios hart war, verschlagen, daß er sich schwächer gab, als er war. Daß er sich vielleicht nur schwachsinnig gestellt hatte, um in der Meute der allzu Starken zu überleben. Keine Bedrohung, also keine Gefahr für niemanden. Jemand würde ihn vielleicht benutzen. Wer? Wozu?

Im Geiste ging Dymas durch eine Galerie von Statuen. Er hatte sie alle auf Sockel gestellt, die Strategen, Taxiarchen, Verwalter, die Freunde des Königs, leicht erhöht, damit er sie besser von unten nach oben betrachten und befragen konnte, wie es sich für einen bloßen Musiker gegenüber den Mächtigen geziemt. Und alle hatte er mit den Zügen des Tieres ausgestattet, das ihrem Wesen, wie er fand, am besten entsprach oder ihnen äußerlich ähnelte:

Krateros der Bär, ein großer, massiger Mann, am ganzen Leibe schwarz behaart, von den Kämpfern geliebt und verehrt, unverwüstlich – und dieser Riese sollte krank geworden sein? Hatte er sich vielleicht mit seinen elftausend erfahrenen Kriegern so langsam fortbewegt, weil er mit großen Änderungen oder Umwälzungen rechnete?

Polyperchon der Kamelhengst, inzwischen um die siebzig, ein langer Mann mit dürrem Hals, großen Ohren und dem Gesichtsausdruck hochnäsigen Staunens, von Alexander fortgeschickt, um den kranken Krateros zu unterstützen – oder um ihn loszuwerden?

Antipatros der Fuchs, fünfundsiebzig Jahre alt, kahlköpfig (wer hatte je einen kahlen Fuchs gesehen?) und zerfurcht, der mit Philipp und Parmenion Makedoniens Macht und Größe geschaffen, Alexander den Rücken freigehalten, den Nachschub gesichert und – vielleicht seine größte Leistung – die Hexe Olympias ausgeschaltet hatte, sollte die Herrschaft über Makedonien, Hellas, Thrakien und Illyrien Krateros übergeben und nach Babylon kommen, zu Ehrung und Bedeutungslosigkeit wie die anderen Alten?

Perdikkas, der zornige Stier, kaum älter als Alexander und dessen andere Jugendfreunde, Verkörperung aller Wucht und Härte der Phalanx und der Hetairenreiter; wenn es diesseits von Parmenion einen gab, in dem sich das ganze Heer gespiegelt sehen konnte, dann war er es – und wer sollte ohne seine Billigung das Heer und den Thron übernehmen?

Ptolemaios der Leopard vielleicht? Listig, geschmeidig, erfahren als Heerführer und Beschaffer geheimer Nachrichten, nicht so beliebt wie Krateros, nicht so gewaltig wie Perdikkas, aber wahrscheinlich tückischer als beide; was mochten seine Absichten sein?

Dymas ächzte und beendete seine seltsame Statuenschau, als ihn das nächste Gebrüll erreichte. Die übrigen wie Lysimachos, Leonnatos, Meleagros, Laomedon der Sprachenkundige, Seleukos, Alketas oder Perdikkas’ Schwager Attalos mochten wie die anderen drüben schreien, auf die Tische hämmern, mit dem Messer oder gar Schwert fuchteln, aber sie waren bei allem Ruhm und aller Erfahrung in Kämpfen und im Führen großer Heeresteile doch zweitrangig. Sie würden mitbestimmen, Teile des Erbes erhalten, dieser eine Satrapie, jener einen ehrenvollen Oberbefehl, aber sie würden bleiben, was sie all die Jahre unter Alexander gewesen waren: kluge, gerissene, tüchtige, große Männer unter der Führung eines Größeren. Allesamt Makedonen; Hellenen wie der kluge Verwalter Eumenes oder der Techniker und Chronist Aristoboulos, Alexanders Freund und Arzt Philippos, Nearchos der Kreter, die hochrangigen Perser … Eumenes eine Satrapie, Nearchos die Flotte, Aristoboulos vielleicht eine Bibliothek, aber die Macht blieb bei den reinen Makedonen.

Die Reinheit des Bluts … Dymas gluckste leise und betrachtete sein linkes Handgelenk, wo die Adern am besten zu sehen waren. Die man ihm öffnen würde, am Handgelenk oder im Hals oder im Bauch, um sein unreines Blut versickern zu sehen. Er wußte zuviel, hatte zuviel gesehen; wer auch immer am Ende dieser langen, lauten Verhandlungen – oder sollte man es ein großes Zetern, Zanken und Feilschen nennen? – die Macht oder einen beträchtlichen Teil davon bekam, würde ihn noch einmal ausquetschen und dann wegwerfen. Perdikkas hatte es angedeutet, Ptolemaios dazu gelächelt, Eumenes die Schultern gehoben, Nearchos betrübt dreingeschaut.

Deshalb hielten sie ihn fest. Ihm fehlte nichts, er konnte sich im Palast bewegen, aber er konnte nicht hinaus: in die Stadt, zum Fluß, zu einem der Schiffe auf dem Euphrat, zu einer der Straßen in die Welt. Er wußte nicht einmal, wer von all den Gesandten, die sich in Alexanders letzten Tagen beim König aufgehalten hatten, noch in Babylon war. Vielleicht könnte einer von ihnen …

Aber das war müßig. Er konnte die Gesandten nicht erreichen; wer von ihnen würde sich denn schon um ihn kümmern, selbst wenn sie erreichbar wären, und falls einem etwas am Leben des Musikers läge – wer von ihnen hätte denn Einfluß auf die mächtigen Makedonen?

Eigentlich hatte er sich damit abgefunden, daß die Zahl seiner Jahre nicht mehr wachsen würde. Vier Dutzend. Achtundvierzig. Die meisten Bewohner der Oikumene starben früher; so gesehen war er ein alter Mann. Er erinnerte sich an Frauen, die ihn für zwanzig gehalten hatten, als er fünfzehn war, und an das, was er von ihnen gelernt hatte. Und von anderen, später. Seltsam, sagte er sich, daß der Musiker Dymas, überall gerühmter Kitharist und Kitharode, am Ende des Wegs nicht an Musiker dachte, sondern an Frauen. Tekhnef. Aber er wollte nicht an Tekhnef denken, von der Alexander gesprochen hatte. »Die schwarze Witwe in Thessalien, die auf dich wartet.«

Auch nicht an Fürsten und Feldherren, an die Sammler geheimer Nachrichten, die Meister aller Tücken. Er mußte sich beinahe zu Erinnerungen zwingen, um sich wenigstens auf die Namen besinnen zu können. Demaratos der Korinther, Freund Philipps und Alexanders; Bagoas der Perser; Adherbal aus Karchedon und Athener und Ägypter und … Hamilkar, Adherbals Nachfolger, der beim Tod des Königs in Babylon gewesen und inzwischen sicher abgereist war.

Oder nicht? Was sollte ihn in Babylon halten? Andererseits: Warum sollte der Gesandte des mächtigen Karchedon abreisen, ehe er wußte, wer das Schwert aufheben würde, das Alexander entglitten war? Das Schwert, das der König nach Westen hatte tragen wollen, um Arabien herum, durch Ägypten und Kyrene und die Wüsten Libyens bis zu den Mauern Karchedons, um die Stadt anzugreifen, die letzte verbliebene Großmacht. Nein, sagte er sich; es war eher wahrscheinlich, daß Hamilkar noch in der Nähe weilte – um zu wissen. Zu wissen, wem die Macht zufiel und ob der neue Mächtige, gleich ob Fürst oder Feldherr, Alexanders wahnsinnige Pläne auszuführen oder zu vergessen gedachte.

Hamilkar. Die Reinheit des Bluts. Die Alten. Plötzlich sah er eine Möglichkeit. Eine winzige Hoffnung. Dymas legte die Kithara fort und starrte auf die Saiten, auf seine Finger. Sie hatten miteinander gespielt, gefochten, geflochten, um ihn abzulenken. Damit etwas in seinem Hirn für ihn denken konnte, ohne von seinem Willen gestört zu werden. Es war, als hätte sich in der Mauer, die ihn umgab, eine bisher unsichtbare Tür geöffnet. Kaum die Andeutung eines Spalts, aber …

Er schloß die Augen, sammelte seine Gedanken und richtete seinen Willen auf diesen Spalt. Auf Möglichkeiten, ihn zu erweitern.

Kurz vor Sonnenuntergang kam ein Sklave und bat Dymas, ihm »zu den Fürsten« zu folgen. Etwas an der Stimmung im Saal war anders als an den vorigen Abenden; Dymas brauchte einige Zeit, um aus den einzelnen Anblicken auf einen Grund für die Veränderung schließen zu können. Hier und da gab es weitere Musiker, er sah die üblichen Dirnen und Tanzmädchen, die großen Platten mit gebratenem Fleisch, Fischen und Früchten, er roch Schweiß und Wein, und auf dem Weg zu den »Fürsten« – der Sklave führte ihn dorthin, wo Perdikkas und Ptolemaios saßen – wäre er beinahe in einer Weinlache auf den glatten Fliesen ausgerutscht.

Erst bei den letzten Schritten bemerkte er, was fehlte. Einige der Heerführer waren nicht da, und anders als sonst hatten die Makedonen darauf verzichtet, ihre Gemahlinnen und die zahlreichen Beischläferinnen zum Gelage zu bitten. Ptolemaios und Perdikkas schienen die Klinen zu verschmähen; sie saßen einander am Tisch gegenüber, und es sah so aus, als tränken sie verbissen gegeneinander an, um nicht miteinander reden zu müssen.

Nicht weit von ihnen, am Kopfende des langen Tischs, saß Arridaios mit dem Rücken zur Wand in einem Scherensessel, auf einem Kissenstapel. In der einen Hand hielt er einen Becher, in der anderen einen Kranz, den er bewegte, als ob er damit winkte. Er blickte Dymas aus harten, kalten Augen an.

»Musiker«, sagte er. »Wirst du für mich spielen, wie du für meinen Bruder gespielt hast?«

Dymas verneigte sich. »Deine Wünsche zu erfüllen ist mir eine Ehre, Herr, und deinen Befehlen zu gehorchen eine Wonne.«

Arridaios nickte und wedelte mit dem Kranz. »Dann spiel. Ein paar fröhliche Tänze, zur Aufheiterung dieser trüben Gesellschaft.«

Dymas verneigte sich abermals, winkte einigen der Tanzmädchen, die zu ihm herüberschauten, und setzte sich halb auf die Tischkante. So konnte er die Kithara auf den Oberschenkel stützen. Und das jäh beginnende Zittern der Beine verbergen.

Er stimmte einen munteren, aber nicht allzu schnellen Tanz an. Die Mädchen bewegten sich geschmeidig und streckten wie sehnend die Hände nach den Männern aus, die an Tischen saßen oder auf Klinen lagen. Einige standen zögernd auf und kamen zu den Tänzerinnen; die meisten blieben, wo sie waren. Viele starrten vor sich hin, auf den Boden, zu Arridaios, zu Perdikkas und Ptolemaios.

›Wo ist Meleagros?‹ dachte Dymas, während seine Finger die Arbeit erledigten. ›Leonnatos und Attalos sind auch nicht da … und Alketas fehlt. Keine Dirnen, keine Gemahlinnen. Arridaios befiehlt, aber niemand huldigt ihm. Es ist, als müßten gleich die Schwerter klirren. Was geschieht hier?‹

Plötzlich sprang Perdikkas auf, packte seinen schweren goldenen Becher und schleuderte ihn quer durch den Saal. »Aufhören!« brüllte er. »Die Mädchen raus, die Musiker auch. Wir haben noch dies und das zu klären. Alles hierher, an den Tisch!«

Ptolemaios blinzelte und schaute zu Perdikkas auf. Dymas glaubte, die Andeutung eines spöttischen Lächelns zu sehen, aber ihm blieb nicht die Zeit, sich zu vergewissern. Er glitt von der Tischkante und lief zum Ausgang. Dort drängten sich die Tänzerinnen und die anderen Musiker; alle wollten so schnell wie möglich hinaus. Hinter sich hörte er jemanden halblaut den makedonischen Kriegsschrei sagen: »Allallallei.« Es klang aber nicht besonders blutrünstig. Als er den Kopf wandte, sah er den grinsenden Laomedon, der offenbar ebenfalls den Saal verlassen wollte.

Wieder brüllte Perdikkas. »Laomedon! Wo willst du hin?«

»Pissen, wenn du gestattest. Mit voller Blase ertrage ich dein Geschrei nicht.«

»Beeil dich!«

Draußen, auf dem Gang, hielt Dymas Laomedon am Arm fest. »Hast du vor dem Pissen noch zwei Atemzüge Zeit für mich?« sagte er leise.

Laomedon wischte sich das Grinsen vom Gesicht und schaute in seine Hand, als ob er darin Spuren der Erheiterung zu sehen erwartete. »So dringend ist es nicht«, sagte er. »Ich will nur ein paar Mundvoll von einer Luft schnappen, in der weder Perdikkas noch seine Stimme herumlungern. Sich tummeln. Was auch immer Stimmen tun.«

»Komm.«

Als sie seinen Raum erreicht hatten, legte Dymas die Kithara auf die Bank neben dem Fenster und goß mit unruhigen Händen Wein in zwei Becher.

»Du zitterst ein wenig«, sagte Laomedon. Er nahm den Becher entgegen, trank und zwinkerte. »Die Luft da drin drückt, wie?«

»Als ob jeden Augenblick die Klingen aus den Scheiden fliegen müßten.«

»War einige Male knapp davor.«

»Was ist denn los, bei allen Göttern? Und wo sind die anderen? Meleagros und Alketas?«

»Und noch ein paar.« Laomedon verzog das Gesicht. »Wir haben uns beinahe geeinigt. Arridaios und Herakles …«

»Barsines Sohn?«

»Ja. Beide gemeinsam ohnmächtig auf dem Thron, und wir teilen die Macht unter uns auf. Ptolemaios will entweder gar keinen König oder abwarten, bis Roxane gebiert. Wenn’s ein Sohn wird, dann der und Arridaios. Meleagros will nur Arridaios, und zwar sofort; er ist unterwegs zu den Fußtruppen, um herauszufinden, was die meinen. Die Reiter, die Hetairen, werden auf uns hören, aber die Fußkämpfer …« Er runzelte die Stirn.

»Was ist mit dir?«

»Was soll mit mir sein?«

»Du bist ja eigentlich kein Makedone …«

Laomedon kniff die Augen zusammen. »Was meinst du?«

»Du und dein Bruder Erigyios …«

»Wir waren bei Alexander, als sein Vater ihn verbannt hat. Philipp, der uns das makedonische Bürgerrecht gewährt hat. Worauf willst du hinaus?«

»Du«, sagte Dymas. »Ptolemaios. Nearchos. Harpalos. Erigyios. Und Alexander.«

»Und?«

»Harpalos ist mit viel Geld und ein paar Kämpfern geflohen.«

Laomedon nickte. »Der Schurke ist in Athen. Und weiter?«

»Erigyios ist tot, vor fünf Jahren gestorben. Alexander ist tot. Nearchos ist Kreter und also bedeutungslos, was die Verteilung der Macht angeht. Von Alexanders anderen alten Freunden – den ältesten und besten – sind nur Ptolemaios und Perdikkas hier. Und Perdikkas war nicht mit euch in Illyrien.«

»Ah.« Laomedon ließ sich auf einen Schemel sinken.

»Genau – ah. Du bist aus Mytilene, mein Freund, und ich könnte mir denken, daß sie sich daran erinnern. Bürgerrecht hin, Verbannung her. Wer einen Grund sucht, etwas Kostbares nicht teilen zu müssen …«

»Wer teilt schon gern?«

Dymas zählte an den Fingern der Linken Namen ab. »Krateros unterwegs. Antigonos in Phrygien. Antipatros in Makedonien. Perdikkas und Ptolemaios hier. Die beiden werden den drei anderen … sagen wir, geziemende Teile gewähren.«

Laomedon kratzte sich den Kopf. »Gewähren? Na ja, gewähren. Ich weiß, was du meinst. Warum einen, der kein reiner Makedone ist, an der Beute beteiligen.«

»Beute?« Dymas lachte, aber es war kein heiteres Lachen. »Ist das von dir? Oder reden die inzwischen so?«

»Das Wort ist gefallen. Ich weiß nicht mehr, wer es benutzt hat.« Er schnippte mit den Fingern. »Du hast einen vergessen. Lysimachos. Er ist wichtig und hat das halbe Heer hinter sich. Ohne ihn, oder gegen ihn …«

»Du hast, glaube ich, auf dem Indos ein paar Schiffe befehligt. Und du hast dich um die Kriegsgefangenen kümmern dürfen.«

»Die anderen können sich auf bestimmte Truppen stützen, meinst du? Ich nicht? Nein, ich nicht. Sie könnten mich … verschwinden lassen. Oder eine Verschwörung erfinden.«

Dymas trank einen Schluck Wein, schwieg und betrachtete Laomedon, der mit gerunzelter Stirn auf den Boden starrte und angestrengt nachzudenken schien.

Dann blickte er auf und sagte: »Ich fürchte, du hast recht, Dymas. Was rätst du mir?«

»Du hast dich ja nicht erst in Indien um die Gefangenen gekümmert. Auch vorher – du mit deinen guten Sprachkenntnissen. Du und Ptolemaios, ihr habt doch mit Demaratos und den anderen Sammlern geheimer Nachrichten zusammengearbeitet.«

Laomedon blähte die Wangen. »Puh. Ich weiß … uh, ich kenne die Schwächen der Gefährten. Wer wann was getan hat, was er nicht hätte tun sollen. Aber kann mir das wirklich nützen?«

»Du kannst es jedenfalls nutzen.«

»Wie denn? Wenn’s hart auf hart geht, dann werden die sich doch nicht um Kleinigkeiten aus der Vergangenheit kümmern.«

»Vielleicht um größere Kleinigkeiten aus der Zukunft. Von denen Ptolemaios mehr weiß als Perdikkas.«

»Kleinigkeiten aus der Zukunft?« Laomedon stöhnte. »Du redest in Rätseln; noch einmal – worauf willst du hinaus?«

»Wenn ich dir helfe, hilfst du mir?«

»Willst du nicht sterben?« Laomedon lachte kurz. »Wer will das schon, vor allem so? Gut; ich helfe dir. Aber wie?«

Dymas wartete ein paar Atemzüge; dann sagte er: »Ist Hamilkar noch in Babylon?«

Laomedon zuckte zusammen. Dann, langsam, begann er zu lächeln. »Ist er. Ja, er ist. O ihr Götter!«

»Kannst du ihn dringend bitten, mich hier zu besuchen? Ich darf ja den Palast nicht verlassen.«

»Ich weiß nicht, ob die Wächter ihn einlassen.«

»Wenn du es bist, der ihn mitbringt … Und vielleicht, zur Ablenkung, noch ein paar andere von all den Gesandten.«

»Könnte gehen.« Laomedon stand auf und hob den Becher. »Auf die Götter der Hinterlist, mein Freund – und auf dein und mein Überleben.«

Die Unruhe begann spät am nächsten Vormittag. Dymas war zufällig im Hof hinter dem Nordtor, als Meleagros eintraf. Er kam zu Fuß, in voller Rüstung, und er kam nicht allein. Bei ihm waren mehr als zwei Dutzend Soldaten, Hopliten mit mehreren Unterführern. Meleagros blieb im Durchgang zum Hof stehen; die anderen bildeten eine Art Halbkreis um ihn. Ein Unterführer der Reiter – an diesem Tag fiel seiner Einheit die »Ehre des Wachens« zu – trat vor ihn, grüßte und sagte etwas. Dymas konnte die Gebärden sehen, aber aus dieser Entfernung nichts hören.

Der Wächter hob den Arm zu einer Ehrenbezeugung, wandte sich um und lief zum nächsten Durchgang, nicht weit von Dymas entfernt. »Sie wollen Perdikkas und die anderen sprechen, da vorn«, sagte er.

Der nächste Wächter nickte, schlug die Hand vor die Brust und ging.

Dymas bewegte sich mit kleinen Schritten zur Hofmitte; er wollte nicht auffallen, aber er wollte wissen, was sich da vorbereitete. Im Schatten einer Palme neben einem Becken blieb er stehen und wartete.

Bald erschienen Perdikkas, Ptolemaios und Lysimachos, mit bewaffnetem Geleit. Sie näherten sich den anderen. Perdikkas ging an der Spitze und hielt an, als er noch sechs oder sieben Schritt von Meleagros entfernt war. »Was wird das?« Seine Stimme klang laut und kraftvoll wie immer, aber weder besonders erregt noch verärgert.

»Wir bringen Grüße und Wünsche der tapferen Fußkämpfer«, sagte Meleagros.

»Zu denen du nicht gehörst.«

Ptolemaios berührte Perdikkas’ Arm. »Laß ihn reden, Mann.«

»Wir haben den gestrigen Tag und die halbe Nacht beraten«, sagte Meleagros. »Das Heer will Philipps Sohn Arridaios als König der Makedonen und des Reichs. Philippos der Dritte Arridaios.«

»Was ist mit Herakles, Alexanders Sohn von Barsine? Was mit Roxanes Kind?« Perdikkas klang immer noch sehr gelassen.

»Arridaios«, sagte Meleagros. Die Männer, die ihn umstanden, nickten und machten ernste, fast grimmige Gesichter.

»Komm in den Beratungssaal«, sagte Ptolemaios. »Darüber müssen wir reden.«

»Da gibt es nichts zu reden.«

Dymas erwartete einen weiteren Wutausbruch, aber zu seiner Überraschung blieb Perdikkas ruhig. »Laß mich, wenn du nicht mit uns reden willst, wenigstens kurz mit den anderen beraten.«

Meleagros zuckte mit den Schultern. »Berate; wir warten. Wir könnten aber ein wenig Brot und Wasser vertragen. Ich kümmere mich darum.« Er wandte sich seinen Begleitern zu und sagte leise etwas. Aus dem lockeren Halbkreis lösten sich vier Männer, die mit Meleagros über den Hof schlenderten, vorbei an Perdikkas und den anderen, und in einem Gang verschwanden.

Dymas stand in einer Gruppe von Makedonen, einer seiner beiden Bewacher gleich neben ihm. Er hörte mit halbem Ohr, was die Männer sagten, wollte aber eigentlich näher zu Ptolemaios und Perdikkas. In diesem Augenblick kamen aus dem Gang, der zum Westtor führte, Laomedon und Hamilkar mit einigen Begleitern. Laomedon schien zu stutzen, sah sich um, entdeckte Dymas, schüttelte kaum merklich den Kopf, sagte etwas zu Hamilkar und ging dann schnell, fast im Laufschritt, zu den Strategen.

Laomedon und die anderen redeten schnell und eindringlich miteinander, aber leise und ohne jede sichtbare Aufwallung. Dymas versuchte, die seltsame Stimmung, die sich wie eine dünne Nebelschicht über den Hof breitete, für sich in Worte zu fassen. Fieber, dachte er, ein großes unheimliches Tier mit Fieber; vielleicht kriecht es gleich zur Genesung in seinen Wolkenbau, oder es verheert die ganze Stadt. Ein Feuerberg, dessen Ausdünstungen den nächsten Schlummer oder den nächsten Ausbruch ankündigen könnten. Eine Vorahnung von stinkendem Schlamm, den der Fluß in einer jähen Schwemme über alles speien würde.

Hamilkar und die übrigen, die mit Laomedon gekommen waren, redeten ebenfalls leise miteinander, schienen aber die Strategen zu beobachten – aufmerksam, mißtrauisch, besorgt? Es handelte sich um Fremde, von denen Dymas einige bei den letzten Feiern des Königs gesehen hatte. Drei Inder in prunkvollen Wickelgewändern waren dabei, ein paar Sogder oder Baktrier aus den Ländern nördlich von Persien, ein Mann mit schmalen Augen, die wie Schlitze wirkten, und ein paar Fremde aus dem Westen, Hellenen aus Syrakus vielleicht, zwei Iberer, ein Gallier und sogar ein Händler aus der kleinen italischen Stadt Rom.

Dymas sagte sich, daß sie ohne Zweifel alle wissen wollten, was nach dem Tod des Königs geschehen würde – wichtig für sie selbst und die Gebiete, aus denen sie kamen. Laomedon hatte sie entweder zufällig getroffen oder zusammengeholt; letzteres erschien dem Musiker wahrscheinlicher. Laomedon war Alexanders Mann für den Umgang mit Gefangenen, für das scheinbar ziellose, geschickte Plaudern mit Fremden gewesen. Und einer der Männer, die schon für Demaratos gearbeitet hatten, Kundschafter der Seelen und Meinungen, Beschaffer geheimer Nachrichten, zu denen auch Ptolemaios und Nearchos und Eumenes lange gehört hatten. Und Dymas, bis er sich freikaufen und nur noch der Musik hatte leben können. Er gluckste leise; auch dies eine Art Trug, Selbsttäuschung – als ob man jemals von dem frei sein könnte, was man jahrelang getan hat.

Meleagros und seine Leute kamen aus einem der zahllosen Gänge des Palasts zurück. Während Dymas sich fragte, warum die Perser den alten babylonischen Palast zu einem Labyrinth ausgebaut hatten, versuchte er zu erraten, was zwei der Männer tragen mochten. Sie hatten eingerollte Decken unter dem Arm, dem jeweils linken, was die Schwerthand frei ließ. Und diese Decken hatten sie noch nicht getragen, als sie vorhin losgegangen waren.

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Hinter Arridaios erschienen plötzlich zwei bestenfalls halb bewaffnete Makedonen; sie liefen zu Perdikkas und riefen dabei etwas, das Dymas nicht verstehen konnte. Perdikkas reckte die Arme, stieß einen lauten Fluch aus und brüllte Befehle. Die Männer von Meleagros ließen Brot und Becher fallen. In das Klirren der Gefäße mischte sich das der Waffen, die sie zogen, während sie hinter Meleagros eine feste, von Klingen starrende Reihe bildeten.

Perdikkas, Ptolemaios, Lysimachos, Eumenes und Nearchos schienen sich mit wenigen Worten zu verständigen; dann wandte sich Perdikkas an Meleagros, und Ptolemaios wandte sich ab, nahm den Arm von Laomedon und zog ihn zu den wartenden Fremden.

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Schlechter Zeitpunkt, aber das konntet ihr ja nicht ahnen. Was wollt ihr?«

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Laomedon wandte sich an die anderen. »Meleagros und seine Leute haben die Krone und die anderen Symbole des makedonischen Königshauses gestohlen. Und das Diadem der Perser und ein paar ägyptische Kleinigkeiten, die Alexander als Pharao gehörten. Die Fußkämpfer wollen nicht verhandeln, sie wollen Arridaios – sie wollen ihn mitnehmen, aber daran werden wir sie hindern.«

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Herr«, sagte einer der Leute aus Sizilien. Unsere Städte warten auf uns. Und auf die Botschaften, die wir ihnen bringen können. Die weiteren Pläne, die Krone …«

Schlechter Zeitpunkt.« Plötzlich grinste Ptolemaios. Was mit der Krone wird, muß sich erst noch herausstellen. Aber es wird keinen Feldzug in den fernen Westen geben, und die Riesenflotte wird nicht gebaut.«

Ptolemaios verschränkte die Arme. »Genügt euch das jetzt? Auf alles andere werdet ihr genauso warten müssen wie wir auch.«

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Herr«, sagte Dymas. Es könnte sein, daß dir lebende Freunde demnächst mehr nützen als tote Sänger.«

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Wie du weißt, Herr« – Hamilkar trat einen halben Schritt vor –, war Dymas schon als aufmerksamer Kitharist unterwegs, als weise alte Männer namens Demaratos und Adherbal in dunklen Wassern die Geheimnisse der Fische zu ergründen suchten.«

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Du solltest es bedenken. Für Karchedon und Pella hatte er immer einen gewissen Wert.«

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Aber nie für Athen«, sagte Dymas halblaut.

Ihr wollt mir sagen, daß er zu schweigen gelernt hat, was?«

Und zum besten Zeitpunkt zu singen auch.« Laomedon räusperte sich. Das da …« Er wies mit dem Kinn dorthin, wo Perdikkas und Meleagros einander gegenüberstanden und entweder zankten oder feilschten.

Was ist damit?«

Es ist nur der Beginn.« Hamilkar übernahm wieder. Der Anfang eines neuen Zeitalters, und wir werden einmal sagen dürfen, wir seien dabeigewesen.«

»»

»Herr«, sagte Dymas. »Habe ich je berichtet, daß du in einer Nacht vor zwölf Jahren an Bord eines punischen Kriegsschiffs mit Hamilkar gewisse Dinge verhandelt hast?«

Wieso verblüfft es mich nicht, daß du das weißt?« Ptolemaios stemmte die Hände in die Hüften. Soll ich jetzt wieder mit dem Punier feilschen? Oder was?«

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Das da drüben ist der Anfang«, sagte Dymas. Perdikkas und Meleagros … Morgen werden es Ptolemaios und Perdikkas sein, die irgendwo so stehen und einander anbrüllen. Oder Antipatros, Krateros und Lysimachos. Oder andere. Ihr werdet das Reich zerlegen, weil keiner stark genug ist, es zusammenzuhalten. Und dann werdet ihr euch um diese Insel, jenen Fluß und drei Goldadern zanken. Und danach um große r,

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Perdikkas wird das Heer und Babylon wollen. Lysimachos? Vielleicht Medien oder Kreta. Du hast, glaube ich, gewisse Neigungen, bei der Aufteilung Ägypten …«

Ssst. Woher weißt du … aber es ist gleich. Könnte sein; und weiter?«

Möchtest du, wenn Perdikkas in ein paar Jahren auf dich losgeht, in deinem Rücken, westlich von Ägypten, friedliche Nachbarn haben? Oder ein verärgertes Karchedon, das sich vielleicht mit Perdikkas zusammentut?«

Und?« sagte Hamilka Möchtest du in diesen wirren Jahren, die die Götter und die Gestalter des Zufalls für uns vorbereiten, an einen toten Sänger denken oder von einem lebenden Sänger Lieder und Botschaften hören?«

gros wurden laute dann wieder leiser.

Nimm ihn mit«, sagte Ptolemaios plötzlich. Er winkte einen der beiden Makedonen herbei, die Dymas zuletzt bewacht hatten. Der da kann gehen, mit all seinem Kram; geleitet ihn und den Karchedonier unauffällig hinaus. Ihr solltet aber nicht in der Stadt bleiben; es kann sehr bald schon unbehaglich werden. Und du« – er wandte sich an Laomedon – schuldest mir dies und das.«

»