Politische Überzeugungen und Meinungen scheinen zunächst der naturwissenschaftlichen Analyse unzugänglich zu sein: Vielerlei Faktoren, zu denen sicherlich das Elternhaus, die Bekannten oder die Größe des Betrages auf dem Sparbuch gehören, entscheiden über politische Einstellungen und wir gehen davon aus, dass diese Entscheidungen auf lebensgeschichtlichen Umständen beruhen, also nicht zuletzt Produkt des Zufalls sind.
Eine schon vor Jahren in der Nervenheilkunde vorgestellte Studie, der zufolge politische Einstellungen zumindest teilweise genetisch bedingt sind, passt ebenso wenig in dieses Bild, wie die sich mehrenden Befunde aus der Psychologie, dass unterschiedliche politische Einstellungen mit unterschiedlichen Denkstilen einherzugehen scheinen. Man kann sich beispielsweise vorstellen, dass ein eher ängstlicher Mensch eine eher bewahrende, also konservative politische Einstellung hat, wohingegen Menschen, die sich für Neues leicht begeistern, eher dazu neigen, Veränderungen zu befürworten und daher eher eine liberale Grundeinstellung an den Tag legen.
Das Spektrum von konservativ bis liberal spielt in vielen politischen Systemen eine Rolle, wenn auch gerade in der jüngsten Zeit immer deutlicher wird, dass sich die Vielfalt politischer Meinungen auf einer einzigen Dimension nur sehr schwer abbilden lässt. Die Dimension spielt jedoch gerade im angloamerikanischen Raum eine große Rolle, wo zwei Parteien (die Konservativen und die Liberalen in den USA) oder drei Parteien (die Konservativen, die Liberalen und links davon die Partei der Arbeit in Großbritannien) die politischen Verhältnisse recht übersichtlich, um nicht zu sagen: eindimensional, gestalten.
Schon vor fünf Jahren erschien eine Übersicht über die neurokognitiven Korrelate von Liberalismus und Konservativismus (1). Jüngere Arbeiten beschäftigen sich mit der Verarbeitung von Gesichtern und politischer Einstellung (6), mit unbewussten Rassenvorurteilen und politischer Einstellung (5), mit der Aktivität des Mandelkerns bei politischen Wahlen (4) oder mit dem Zusammenhang des Gefühls von Ekel und konservativer Einstellung (2).
Da also Persönlichkeitseigenschaften mit der Aktivität bestimmter Gehirnstrukturen korreliert sind, ganz zu schweigen von der unterschiedlichen Ausgeprägtheit von Strukturen des „sozialen Gehirns“ (vgl. Kap. 18, S. 237), könnte es durchaus sein, dass sich sogar strukturelle Korrelate von politischen Einstellungen im Gehirn lokalisieren lassen.
Genau hierzu liegt mittlerweile eine interessante Untersuchung von Londoner Neurowissenschaftlern (3) an 90 gesunden jungen Erwachsenen (61% weiblich) vor. Die Probanden mussten ihre politische Einstellungen auf einer 5-Punkte-Skala von „sehr liberal“ bis „sehr konservativ“ angeben und wurden dann im Magnetresonanztomografen strukturellen Gehirn-Scans unterzogen, die voxelbasiertmorphometrisch ausgewertet wurden. Wie die Abbildungen 1-1 bis 1-3 demonstrieren, zeigte sich ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen liberaler Einstellung und der Größe des anterioren cingulären Kortex (p = 0,01) und eine Zunahme der Größe des rechten Mandelkerns mit zunehmendem Konservativismus (p < 0,05).
Wer hätte gedacht, dass man so etwas finden würde? Muss man sich wundern? Und was bedeutet es?
Beginnen wir mit der zweiten Frage. Wie bei jeder Korrelation sagen auch diese Korrelationen nichts über Ursache und Wirkung. Solange man keine Längsschnittstudien macht und Menschen mehrfach von der Wiege bis zur Bahre in den Scanner legt und zudem alle möglichen psychologischen Variablen misst, wird man keine Klarheit darüber bekommen, ob die Größe bestimmter Gehirnmodule die politische Einstellung bestimmen (Selektionseffekt) oder ob bestimmte politische Einstellungen zum Wachstum bestimmter Gehirnstrukturen führen (Trainingseffekt) oder ob vielleicht eine beidseitige Wirkung besteht. Nach den genetischen Befunden sowie dem, was man zur Neurobiologie von Persönlichkeitseigenschaften weiß, halte ich die zweite (und sogar die dritte) Möglichkeit für wahrscheinlicher.
Abb. 1-1 Gehirnstruktur und politische Einstellung: Die Größe des anterioren Gyrus cinguli (weiß) korreliert positiv mit liberaler Einstellung (schematisiert nach 3).
Abb. 1-2 Gehirnstruktur und politische Einstellung: Die Größe der rechten Amygdala (weiß) korreliert positiv mit konservativer Einstellung (schematisiert nach 3).
Abb. 1-3 Korrelationen der Größe von anteriorem Gyrus cinguli (r = –0,27) und rechter Amygdala (r = 0,23) mit der politischen Einstellung (zusammengefasst nach 3).
Aber auch die Neuroplastizität könnte natürlich eine Rolle spielen. Weil man mittlerweile sehr viele Befunde zur kortikalen Plastizität finden kann, wundert man sich über die hier dargestellten Befunde kaum noch. Und wenn man nicht unterstellt, dass es hier um kortikale Plastizität geht, dann wundern die Befunde erst recht nicht: Wer größer ist, spielt ja auch eher Basketball!
1. Amodio DM, Jost JT, Master SL, Yee CM. Neurocognitive correlates of liberalism and conservatism. Nat Neurosci 2007; 10: 1246–7.
2. Inbar Y, Pizarro DA, Bloom P. Conservatives are more easily disgusted than liberals. Cogn Emotion 2009; 23: 714–25.
3. Kanai R, Feilden T, Firth C, Rees G. Political orientations are correlated with brain structure in young adults. Current Biology 2011; 21: 677–80.
4. Rule NO, Freeman JB, Moran JM, Gabrieli JDE, Adams RB Jr, Ambady N. Voting behavior is reflected in amygdala response across cultures. Soc Cogn Affect Neurosci 2010; 5: 349–55.
5. Spitzer M. Soziale Neurowissenschaft. Zur kognitiven Neurowissenschaft sozialer Prozesse oder warum Vorurteile dumm machen. Nervenheilkunde 2004; 23: 1–4.
6. Vigil JM. Political leanings vary with facial expression processing and psychosocial functioning. Group Process Intergroup Relat 2010; 13: 547–58.
Ein Kiosk ist zunächst einmal ein kleiner Laden, ein Verkaufshäuschen, das man auf öffentlichen Straßen und Plätzen findet und das unserer Aufmerksamkeit in aller Regel entgeht. Nur wer ohne Zigaretten vor der verschlossenen Bude steht, bemerkt seine Abhängigkeit von diesen kleinen Mini-Versorgungsstationen, die sich vor allem in Städten bzw. Ballungsgebieten finden, d. h. überall dort, wo viele Menschen in Bewegung sind. Aufgrund der oft eher leichten und provisorisch wirkenden Bauweise hat man den Kiosk auch als Straßenmöbel bezeichnet (4), was zudem andeutet, dass seine Größe eher dem menschlichen Maß entspricht. In Ulm gibt es nur wenige Kioske (Abb. 2-1), in Berlin sollen es dagegen über tausend sein.
Abb. 2-1 Einer der wenigen Kioske in Ulm (Foto: privat).
In historischer Hinsicht ist es gar nicht so einfach, den Wurzeln des Kiosks bis in die letzten Verästelungen nachzugehen. Denn je nachdem, ob man dem Namen (Kiosk), der Funktion (Verkaufshäuschen) oder der Architektur (kleines einfaches einstöckiges Gebäude im öffentlichen Raum) nachgeht, ändern sich die Richtungen des Erkenntnisinteresses und der Kontext von Raum und Zeit. Kleine Gebäude mit Säulen und Baldachin gab es im alten Ägypten. Sie dienten dem Sonnenschutz und sind bis heute auf Abbildungen mancher Pharaonen als Umfeld zu sehen (Abb. 2-2), trugen jedoch die Bezeichnung „Naos“.
Abb. 2-2 Tutenchamun „im Kiosk“ (um 1330 v. Chr.), wie man heute sagen würde und im Britischen Museum in London auch tatsächlich sagt (5).
Pavillons aus Holz und manchmal auch aus Stein waren Teil der islamischen Kultur, dienten in Gärten als Sonnenschutz und auf öffentlichen Plätzen als „Wasserhäuschen“. Um 1730 gab es in Istanbul 120 Kioske. Die Wurzeln der Architektur gehen nach Persien und bis in das 10. Jahrhundert zurück und man vermutet „eine Orientierung an chinesischen Vorbildern“, wie Naumann in ihrer schönen Übersicht schreibt (5). Eine weitere architektonische Wurzel des Kiosks bildet die Jurte, das Zelt der Nomaden, das im Zuge der mongolischen Eroberungen im 11. bis 13. Jahrhundert nach Osteuropa kam.
In dem von Johann Heinrich Zedler in den Jahren 1731 bis 1754 verlegten Universallexikon, das mit seinen 64 Bänden, 63 000 zweispaltigen Seiten und 284 000 Artikeln das umfangreichste enzyklopädische Werk im Europa des 18. Jahrhunderts war, findet sich der in Abbildung 2-3 wiedergegebene Eintrag: „Kiosc ist ein Gebäu bey den Türcken bräuchlich, bestehet in etlichen nicht gar hohen Säulen, die also gesetzet, daß sie einen gevierten Raum umgeben, der mit einem Zelt-Dache bedeckt, und da unten umher ein Gang ist. Dergleichen Lust-Gebäude oder offenen Säulen bedienen sich die Türcken in ihren Gärten und auf den Höhen, der frischen Luft und luftigen Aussicht zu genüßen“ (15, Bd. 15, S. 361f).
Das Wort Kiosk schließlich geht auf das persische Wort „koschk“ (Ecke, Winkel) zurück, aus dem später das türkische Wort „kjösk“ wurde. Um 1700 wurde das Wort ins Französische eingeführt (kiosque), was der Korrelation von Schreibweise und Aussprache eher schadete, bis es dann – mit wieder deutlich besserer Korrelation – einige Jahrzehnte später auch in Deutschland auftauchte: „Kiosk“.
Damit war in Deutschland von 1750 bis vor 1900 vor allem ein einfacher, hölzerner Gartenpavillon zur Aussicht und zum Schutz vor der Sonne gemeint. Erst mit der industriellen Revolution im vorletzten Jahrhundert und den damit einhergehenden Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelt, der Verstädterung und der Trennung von Wohnen und Arbeiten gelangte der Kiosk zu seiner heutigen Form und Funktion: Eine unscheinbare und zugleich wichtige Verkaufsbude. Im Ruhrgebiet und im Rheinland nannte man diese Buden auch Trinkhallen, galt es doch unter anderem den Durst der Bergleute zu löschen. „Wasserhäuschen“ gab es auch im Rhein-Main-Gebiet, wohingegen pilzförmige Milchhäuschen eine auf Bayern beschränkte Spezialität blieben (Abb. 2-4).
Abb. 2-3 Was man in Europa vor etwa 250 Jahren zum Thema „Kiosc“ zu sagen wusste (Facsimile aus Zedlers Universallexikon; heute sehr leicht digital über die Bayrische Staatsbibliothek abzurufen).
Zeitungen gab es am Kiosk erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen demokratischer Staaten und der für ihr Funktionieren wesentlichen Pressefreiheit wurde die Grundversorgung der Bevölkerung mit einem möglichst breiten Informationsangebot zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Aufgabe. Die Erledigung dieser Aufgabe ist alles andere als trivial (2): Wie kann sichergestellt werden, dass nicht nur Massenblätter großer Verlage in den Zeitschriftenregalen und -ständern feil gehalten werden, sondern jede Meinung auch in jeden Winkel des Landes gelangt? Nachdem gerade die deutsche Geschichte zeigt, wie wichtig die Pressefreiheit für das gesunde Funktionieren eines Gemeinwesens ist, wird es Zeit, den Kiosk systematisch zu betrachten.
Abb. 2-4 Mittlerweile unter Denkmalschutz stehender Milchpilz in Regensburg, errichtet im Jahr 1954 von der Firma Waldner, die insgesamt 50 solcher kleiner Verkaufsstellen für Molkereiprodukte baute.
Die im Vergleich zu Kathedralen und Kaufhäusern einfache Bauweise eines Kiosks darf über dessen systematische Bedeutung, die sich schon an seiner verglichen mit den genannten Großbauten zahlenmäßigen Überlegenheit zeigt, nicht hinwegtäuschen. Im Kaufhaus kauft man Kleidung oder Schuhe oder Lampen, und in der Kirche wird gefeiert, getrauert oder gebetet. Die Kiosk dagegen ist pure Vielfalt, denn dort gibt es erstens Zeitungen und Zeitschriften, zweitens auch solche, die man außen nicht sieht und die nur an Erwachsene verkauft werden dürfen, drittens Zigaretten, viertens Alkoholika, fünftens Süßigkeiten und sechstens die Annahme des Lottoscheins. Dieser damit hoch diversifizierte kleine Gemischtwarenladen wird manchmal noch ergänzt durch Blumen oder heiße Würstchen, Schreibwaren oder Andenken und im Ausland vielleicht noch durch andere weiche Drogen.
Kommen wir zurück zur Frage, wie man angesichts nach Gewinn strebender mächtiger Verlage und ganzer Medienkonzerne die Pressefreiheit und damit die Vielfalt von in Deutschland derzeit etwa 330 Zeitungen und 4 000 Zeitschriften schützen kann. Verglichen mit anderen Gegenden dieser Welt befinden wir uns diesbezüglich übrigens noch immer auf der Insel der Seligen. In den USA gibt es Orte ganz ohne Zeitung und auch in anderen Ländern ist die deutsche Vielfalt unerreicht und wird dort beneidet: Gut 130 unabhängige Redaktionen arbeiten an den 330 Zeitungen, von denen es etwa 1 500 verschiedene (Lokal-)Ausgaben gibt. Die genaue Zahl weiß übrigens niemand. Gut bekannt ist hingegen die Tatsache, dass das Zeitunglesen in den Großstädten deutlich rückläufig ist, die Zeitung sich auf dem Lande hingegen diesem negativen Trend mit erstaunlicher Hartnäckigkeit entgegenstellt: So hatte das kaum bekannte Blatt Grenzwarte aus Oberviechtach im Jahr 2004 eine Auflage von 9 900 Stück und acht Jahre später im Sommer 2012 eine Auflage von – ebenfalls 9 900 (1).
Dafür, dass dieses Blatt bei Bedarf jedoch auch in Buxtehude am Kiosk erhältlich sein könnte (wenn dies der Verlag wünschte1), sorgen in Deutschland 76 Zeitungs- und Zeitschriftengroßhändler. Die Verlage haben unser Land in 92 Vertriebsgebiete aufgeteilt, in denen die Grossisten den Vertrieb jeweils unabhängig organisieren und bewerkstelligen. Jeder hat in seinem Gebiet bzw. seinen Gebieten das Alleinauslieferungsrecht. Damit hat er aber auch die Pflicht, alles, was der Einzelhändler (und damit der Kunde) wünscht, zu liefern. In zwei Vertriebsregionen gibt es zwei Grossisten, aber auch die machen sich keine Konkurrenz, weil jeder nur für einen Teil der Verlage und Titel das Alleinauslieferungsrecht hat. Man könnte nun meinen, dass ein solches Monopol schlecht sei für den Verbraucher. Das genaue Gegenteil ist jedoch der Fall, wie Erfahrungen aus dem Ausland zeigen (3).
Der Grossist für Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland fungiert als Bindeglied zwischen den Verlagen und den knapp 120 000 Einzelhändlern, zu denen neben Tankstellen, Supermärkten und Kaufhäusern eben ganz wesentlich auch die (Zeitungs- und Zeitschriften-)Kioske gehören. Sein Job ist – mit einem Wort – stressig: Druckfrisch werden die Zeitungen nachts palettenweise geliefert. Der Grossist nimmt sie in Empfang, sortiert sie für die von ihm versorgten Einzelhändler und fährt dann los, um bis ca. 5.30 Uhr am Morgen alles geliefert zu haben. Wenn dann das abendliche Fußball-Länderspiel in die Verlängerung oder gar ins Elfmeterschießen geht, der Andruck der Bildzeitung sich entsprechend verzögert und diese dann 90 Minuten später als gewöhnlich geliefert wird, kommt er richtig ins Schwitzen. Denn ohne die Bild braucht er im Süden das Bergtal und im Norden die Hallig gar nicht ansteuern. Andererseits muss die Bild schon da sein, wenn der Brummi-Fahrer morgens an der Tankstelle seinen Kaffee trinkt und dazu die Zeitung lesen möchte. Sonst braucht der Grossist gar nicht vorbei zu kommen. Was vom Vortrag übrig ist (sehr viel, wenn er zu spät kam!) nimmt er am nächsten Tag gleich wieder mit – das gehört ebenfalls zum Job2. Neben dem ganzen Papier liefert der Grossist dem Kiosk aber auch vieles mehr: Süßigkeiten und Plastikkleinkram, Vermarktungszubehör, Zigaretten und Schnäpse sowie Analysen zu Trends und Neuigkeiten.
Gerade weil der Kiosk so häufig, so vielfältig und (im Hinblick auf die Verlage) so unabhängig ist, kann er seine grundlegend demokratische Funktion erfüllen. Denn was es bedeutet, wenn die Medienlandschaft von einigen wenigen weltweit operierenden Firmen beherrscht wird, erleben wir im TV- und Digitalbereich ja täglich: Einfalt und massive Manipulation. Man sagt heute in Anbetracht der „digitalen Revolution“ gern – wie unverständlicherweise sogar der Chef der diesjährigen Buchmesse – die Print-Medien tot. Ich möchte dagegen halten, dass Revolutionen meist zu Konterrevolutionen führten und in der Hitze des Gefechts die Vernunft als erstes Opfer zu beklagen ist. Um dies zu rechtfertigen möchte ich der historischen und der systematischen Betrachtung des Themas Kiosk eine dritte Herangehensweise beiseite stellen, die neurobiologische. Von Kritikern wird nicht selten behauptet, dass diese Wissenschaft ihre „Deutungshoheit“ inflationär auf alle nur erdenklichen Seinsbereiche unberechtigterweise ausbreite. Daher dürften sie auch diesen kleinen Beitrag als einen diesbezüglichen Sündenfall verbuchen. Nun bin ich kein Freund großer Würfe oder ideologischer Grundsatzdebatten, weil ich sie als fruchtlos erlebe3. Als Arzt bin ich es vielmehr gewohnt, von einzelnen Fällen zu lernen und seien sie noch so klein und unscheinbar. Deswegen geht es mir im Folgenden darum, kurz aufzuzeigen, dass die ubiquitäre Existenz des Kiosks in seiner heutigen Funktion überhaupt nur vor dem Hintergrund der jüngsten neurobiologischen Forschung zu verstehen ist.
Führen wir uns hierzu noch einmal die genannten sechs Produktbereiche vor Augen, die man am Kiosk erwerben kann:
Neuigkeiten,
Sex,
Nikotin,
Alkohol,
Süßigkeiten und
Glücksspiel.
Erwähnenswert sind zudem, vor allem in der Vergangenheit, die variablen Öffnungszeiten. Der Kiosk unterlag nicht dem Ladenschlussgesetz: Am Kiosk konnte man oft schon um 5.30 Uhr vorbeischauen und bekam abends noch schnell eine Kleinigkeit, wenn man anderswo nur noch geschlossene Türen vorfand4.
Dem geneigten Leser werden die in der Aufstellung benannten Produkte bekannt vorkommen, wird er sie doch unschwer mit dem Neurotransmitter Dopamin (DA) in Verbindung bringen: Neugier glüht das DA-System gleichsam vor (11) und bestimmt damit, was im Gedächtnis hängen bleibt. Zudem sind wir zeitlebens an Klatsch und Tratsch über unsere Mitmenschen interessiert (8), rein zeitlich mehr als an Sex, der das DA-System von allen physiologischen Stimulatoren maximal antreibt (6, 7, 9). Suchtstoffe wie Alkohol und Nikotin treiben das DA-System noch stärker an (9) und schnell resorbierbare Kohlehydrate haben ganz ähnliche Effekte (9, 10). Glücksempfindungen schließlich wurden schon vor Jahren mit dem DA-System in enge Verbindung gebracht (12, 13). Selbst die eingangs erwähnten Nebensachen passen genau ins Bild: Schreibwaren dienen zum Festhalten von Neuigkeiten; weiche Drogen zur DA-Freisetzung; Würstchen sind ebenso wie Süßigkeiten Bestandteil der suchterzeugenden „western-style cafeteria diet“. Und mit Blumen schließlich bewirkt er (der beim Anblick der Blüten vielleicht nicht nur an florale Fortpflanzung denkt) bei ihr eine unerwartete Überraschung, das heißt, einen positiven Belohnungsvorhersagefehler5 und damit eine DA-Ausschüttung. Und auch wenn die Föderalismusreform dem Kiosk eine Existenzberechtigung – die längere Öffnungszeit – mancherorts geraubt hat, muss man zumindest aus historischer Sicht zugeben, dass die DA-vermittelte Impulsivität zumindest früher eine bedeutende Rolle gespielt haben wird. Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit: EDEKA und der Tante-Emma-Laden am Eck hatten schon zu, aber am Kiosk gab’s für so manchen einsamen müden Mann noch ’n Bier und ’nen Korn, und noch einen, und die HB oder Peter Stuyvesant auch gleich dazu.
Nicht nur das hat sich geändert: Auch die Schmuddelheftchen spielen heute für den Umsatz eines Kiosks praktisch keine Rolle mehr. Neue Medien füllen diesen Markt jetzt aus. Umgekehrt lassen übergroße, fauchend-dampfende, glitzernd leuchtende Kaffeeautomaten, die in den letzten Jahren die schmutzig kleine Aldi-Kaffeemaschine mit Thermoskanne als Lieferant des morgendlichen Kaffee-to-go am Kiosk nahezu flächendeckend ersetzten, eher an Altäre als an Küchenutensilien denken. Still und leise dringen WMF, Krups, Jura, DeLonghi oder Saeco mit ihren Kaffeealtären in einen Markt für den früheren Herrgottswinkel in der Wohnküche vor, der von den Chefs der Kathedralen in den vergangenen Jahrzehnten ohne jegliche Produktinnovation kampflos aufgegeben wurde. Auch hier spielt Dopamin eine Schlüsselrolle, beeinflusst dieser Transmitter doch die Persönlichkeit gleich zweifach: im Hinblick auf Sucht und Religiosität. Der US-amerikanische Wissenschaftler Dean Hamer entdeckte das „Gott-Gen“ als Nebenprodukt seiner Arbeit zur Genetik von Suchterkrankungen. Er fand, dass die Persönlichkeitseigenschaft der Neigung zur Spiritualität mit Varianten (Allelen) eines Gens korreliert, das ein Protein kodiert, welches in der Transmission von Dopamin eine Rolle spielt (14).
Wer also glaubt, der Kiosk wäre eine vom Aussterben bedrohte Art, der sei beruhigt: Gäbe es ihn noch nicht, so würden ihn amerikanische Gehirnforscher schleunigst erfinden! Aber es gibt ihn ja schon lange – weil es das Dopaminsystem ja auch schon lange gibt – noch viel länger sogar. Und solange über Glasfaser oder WLAN weder Schokolade noch Schnaps, weder Blumen noch Kaffee, immer weniger wirkliche Neuigkeiten oder gar Chancen für Demokratie, und noch nie wirkliches Glück (von wirklichem Sex gar nicht zu reden) geliefert werden, hat das gute alte unscheinbare Straßenmöbel bessere Überlebenschancen als Kathedralen und Kaufhäuser. Gehirnresistente Feuilletonisten werden das nie verstehen.
1. Grimberg S. Alles, was zählt. Tageszeitungen in Deutschland. Taz.de 14.7.2012.
2. Haller M. Informationsfreiheit und Pressevertrieb in Europa, 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos 2012.
3. Haller M. Die Struktur- und Funktionsprobleme des Pressevertriebs im heutigen Europa. In: Haller M. Informationsfreiheit und Pressevertrieb in Europa, 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos 2012.
4. Klünner HW, Ullmann G. Straßenmöbel in Berlin (Ausstellungskatalog). Senator für Bau- und Wohnungswesen. Berlin 1983.
5. Naumann E. Kiosk. Entdeckungen an einem alltäglichen Ort. Vom Lustpavillon zum kleinen Konsumtempel. Marburg: Jonas Verlag 2003.
6. Spitzer M. Die Wissenschaft vom Flirten. In: Nichtstun, Flirten, Küssen. Stuttgart: Schattauer 2012; 92–115.
7. Spitzer M. Küssen, rein wissenschaftlich. In: Nichtstun, Flirten, Küssen. Stuttgart: Schattauer 2012; 116–38.
8. Spitzer M. Aschenputtel als Flugsimulator. In: Nichtstun, Flirten, Küssen. Stuttgart: Schattauer 2012; 1–35.
9. Spitzer M. Dopamin und Käsekuchen. Essen als Suchtverhalten. In: Dopamin & Käsekuchen. Stuttgart: Schattauer 2011; 1–15.
10. Spitzer M. Einfach verbieten! Kinder-TV-Werbung für ungesunde Nahrungsmittel. In: Dopamin & Käsekuchen. Stuttgart: Schattauer 2011; 16–25.
11. Spitzer M. Neugier und Lernen. In: Aufklärung 2.0. Stuttgart: Schattauer 2010; 12–8.
12. Spitzer M. Kann, darf, soll oder muss man Glück wissenschaftlich untersuchen? In: Spitzer M, Bertram W (Hrsg.). Braintertainment. Stuttgart: Schattauer 2007; 81–108.
13. Spitzer M. Zur Neurobiologie des Dauerlottoscheins. Dopamin, Belohnung und Neugierde. In: Vom Sinn des Lebens. Stuttgart: Schattauer 2007; 140–9.
14. Spitzer M. Das Gott-Gen. Nervenheilkunde 2005; 24: 457–62.
15. Zedler JH (1731–1754). Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Bayrische Staatsbibliothek digitale Bibliothek. www.zedler-lexikon.de.
1 „Dieses Szenario ist eher unrealistisch, denn der erzielte Deckungsbeitrag der Grenzwarte in Buxtehude würde alle, Verlag, Großhandel und Einzelhandel unglöcklich machen. Grundsätzlich gilt: Das Dispositionsrecht funktioniert grundsätzlich von oben nach unten, da der entscheidet, der seine Meinung verbreiten will, also der Verlag“ (aus einer E-Mail von Martin Schiessl).
2 Dies und vieles mehr erfuhr ich vom Regensburger Presse-Grossisten Martin Schiessl, der wie ich mit Frau und Tochter seinen Urlaub in einem Hotel in Mecklenburg-Vorpommern verbrachte. Danke Martin, ich habe sehr viel gelernt.
3 Wenn bei Ihnen zuhause der Abfluss verstopft ist, denken Sie ja auch nicht lange darüber nach, wer die Deutungshoheit über das Problem hat, sondern Sie rufen Ihren Klempner an!
4 Seitdem im Jahr 2007 der Ladenschluss Ländersache wurde, hat der Kiosk seine Sonderstellung im Hinblick auf die Öffnungszeit mancherorts (z.B. in Baden-Württemberg) verloren.
5 Wem diese Sachverhalte fremd erscheinen, obwohl sie seit mittlerweile knapp einem Jahrzehnt bestens bekannt sind, konsultiere die genannten Quellen!