Kevin Brooks

Bis es dunkel wird

Kriminalroman

Deutsch von Uwe-Michael Gutzschhahn

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutsche Erstausgabe 2013

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41691-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21431-5

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Widmung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

[Informationen zum Buch]

[Informationen zum Autor]

Für Jess – unsere liebe Freundin und unser Trost.

Dein Kopf wird für immer in unserem Schoß ruhen.

1

Sie traten zusammen aus dem Haus, Mutter und Tochter. Die Mutter war siebenunddreißig, die Tochter achtzehn. Sie stritten. Ich konnte nicht hören, worüber, denn ich saß in einem Bushäuschen ungefähr vierzig Meter entfernt und vom Meer her blies ein kalter Wind, der ihre Stimmen übertönte. Doch als die Mutter ungeduldig auf ihre Uhr sah und die Tür des alten Ford Escort öffnete, der vor dem Haus stand, die Tochter dagegen beim Eingang blieb und sich wütend die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf zog, ließ sich leicht erahnen, worum der Streit ging.

Ich hab keine Zeit, dich mitzunehmen, verstanden?

Dauert doch nur fünf Minuten.

Ich hab aber keine fünf Minuten.

Verdammte Scheiße, Mum, ich komm zu spät.

Na und, ist das meine Schuld?

Beide wirkten älter, als sie wirklich waren, erschöpft und vor der Zeit verbraucht – erschöpft von den immer gleichen Streitereien, erschöpft voneinander, erschöpft von allem. Das Leben war einfach zu hart. Es zehrte an einem, jeden Tag mehr …

Es versteinerte die Seele.

Die Mutter blieb einen Augenblick stehen und sah ihre Tochter an – warum muss es immer wieder so laufen? –, doch die Tochter ignorierte sie jetzt, mied ihren Blick und starrte zornig vor sich hin.

Die Mutter schüttelte den Kopf, stieg in den Wagen und fuhr davon.

Sie hieß Serina Mayo.

Als sich der Escort dem Bushäuschen näherte – mit stotterndem Motor und bläulich grauer Qualmwolke –, senkte ich instinktiv den Blick und tat so, als würde ich in der Zeitung lesen, die auf meinem Schoß lag, doch fast im selben Moment erinnerte ich mich, wo ich war und was ich tat, schaute wieder hoch und sah den Wagen ganz offen an. Ich musste keine Angst haben, dass meine Tarnung aufflog. Es gab überhaupt keine Tarnung. Heute nicht. Ich brauchte keine. Selbst wenn Serina merkte, dass ich sie beobachtete – was äußerst unwahrscheinlich war bei diesem abwesenden Blick –, würde sie sich nichts dabei denken. Sie hatte keine Ahnung, wer ich war. Sie hatte mich noch nie gesehen. Es gab keinen Grund für sie zu glauben, dass ich sie beobachtete. Sie würde nur einen irgendwie ungepflegt wirkenden Vierzigjährigen sehen, der in einem Bushäuschen saß und die vorbeifahrenden Autos beobachtete.

Ich beobachtete, wie ihr Auto vorbeifuhr.

Ich beobachtete sie.

Serina Mayo.

Sie hatte schwarz gefärbtes Haar, das sie nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Ihre Lippen waren schmal, die Augen stark geschminkt, der Mund zeigte einen dauerhaft mürrischen Ausdruck. Ihr Gesicht wirkte hart, finster und spröde, die Haut war von scharfen Linien durchzogen und rissig wie der Firnis auf einem alten, verstaubten Porträt. Es war das Gesicht einer ehemals schönen Frau, die zu früh zu viel Leid erfahren hatte.

Das Auto fuhr vorbei und Serina war weg.

Ich sah es vorbeifahren und Auspuffgase ausspucken. Am Ende der Straße wurde es langsamer, hatte eine kurze Fehlzündung, bog nach links ab und verschwand um die Ecke.

Ich zündete eine Zigarette an.

Serina Mayo …

Die Mutter …

1991, als sie achtzehn war, hatte sie ein Verhältnis mit meinem Vater gehabt. Mein Vater war damals siebenundvierzig gewesen. Im Februar 1992 schloss er sich zu Hause in seinem Arbeitszimmer ein, trank fast eine ganze Flasche Whisky leer und schoss sich danach in den Kopf.

Die Tochter …

Sie hieß Robyn.

Sie ging jetzt die Straße hinunter und kämpfte gegen den Wind an – beugte den Kopf mit der Kapuze nach vorn, schlang die Arme um den Bauch, um die Jacke zusammenzuhalten, die keinen Reißverschluss hatte.

Ich stand auf, zündete eine Zigarette an und folgte ihr.

Es war gegen zehn Uhr morgens, auf den Straßen nichts los. Die Leute, die zur Arbeit mussten, waren fort, der Briefträger war schon durch, der Strom der Schüler vorbei. An einem Ort wie diesem würde bis mittags nicht mehr viel passieren.

Ich überquerte die Straße, um im Vorbeigehen das Haus der Mayos ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen. Es war ein kleines Reihenhaus mit verblichenem, abblätterndem gelbem Anstrich und verwitterten, aufgeplatzten Fensterbänken. Es gab keinen Vorgarten, nicht mal einen Abstellplatz. Die Haustür lag direkt an der Straße. Also musste ich nur den Kopf drehen und durch das untere Fenster schauen, um direkt ins Wohnzimmer zu sehen. Wobei es dort nicht viel zu sehen gab – Sofa, Sessel, Fernseher, Bücherregale … gerahmte Seelandschaften an den Wänden. Es war einfach ein Wohnzimmer.

Ich ging weiter.

Robyn hatte inzwischen das Ende der Straße erreicht, überquerte die Kreuzung und lief dann nach links. Ich war mit der Umgebung nicht vertraut und wusste nicht, wo sie hinwollte, deshalb legte ich einen Schritt zu und eilte ihr hinterher. Als ich die Kreuzung erreichte, sah ich gerade noch, wie sie von einer Straße mit noch mehr Reihenhäusern nach rechts in einen schmalen Weg abbog, der meines Wissens hinunter zum Wohnwagenpark führte.

Ich blieb einen Moment stehen und überlegte.

Um diese Jahreszeit musste der Wohnwagenpark praktisch verlassen sein. Selbst im Sommer war hier nicht viel los. Aber jetzt, Ende Oktober, waren die Touristen längst fort, auf dem Platz konnte niemand mehr sein außer …

Wem?

Anwohnern? Leuten von der Insel?

Warum sollte jemand um diese Jahreszeit in einem Wohnwagen hausen wollen?

Ich hatte keine Ahnung.

Ich wusste nur, dass ich von hier aus höchstens einen Teil des Platzes würde einsehen können. Wenn ich also stehen blieb, konnte ich Robyn leicht aus dem Blick verlieren. Wenn ich ihr jedoch hinterherging, würde sie mich vielleicht sehen – einen Fremden, einen einsamen Mann, der ihr in den Wohnwagenpark folgte – und ich wollte nicht, dass sie plötzlich Angst bekam. Vielleicht würde sie mich sogar zur Rede stellen, und das wollte ich ebenso wenig.

Jedenfalls jetzt noch nicht.

Ich schaute wieder zu dem Platz mit den Wohnwagen. Er lag circa vierhundert Meter vom Strand entfernt und wurde am südlichen Ende von einem Streifen Land mit Büschen und Wassergräben begrenzt. Zwischen Wohnwagenpark und Strand gab es einen kleinen öffentlichen Parkplatz und daneben ein Gelände, das sich Country Park nannte, obwohl es in Wirklichkeit nicht viel mehr war als eine abschüssige Wiese mit ein paar von Hecken gesäumten Wegen, einem Musikpavillon in der Mitte und einer steilen Holztreppe am Ende, die zum Strand hinunterführte. Im Sommer machten Leute hier Picknick oder ließen Drachen steigen und ab und zu spielte eine Blaskapelle, doch jetzt war das Ganze nichts als ein weiterer windgepeitschter Ort der Leere.

Einer Leere, die einen unverstellten Blick auf den Wohnwagenpark bot.

Robyn betrat jetzt den Platz. Sie hielt den Kopf noch immer gesenkt, und so wie sie sich zwischen den Wohnwagen hindurchschlängelte, war deutlich, dass sie genau wusste, wohin sie wollte.

Ich sah ihr ein, zwei Sekunden hinterher, immer noch unschlüssig, was ich tun sollte. Hier bleiben und hoffen, dass ich sie nicht aus den Augen verlor? Oder die Abkürzung über den kleinen Weg zu meiner Rechten nehmen, der Richtung Wiese führte?

Was immer ich tun würde, es spielte keine große Rolle.

Ich wusste sowieso nicht, was ich tat.

Ich überquerte die Straße und lief den Weg hinab.

Hale Island liegt direkt vor der Küste von Essex, ungefähr zehn Kilometer südlich von Hey. Die Insel ist klein, etwa vier Kilometer lang und an der breitesten Stelle gerade mal zwei Kilometer breit. Sie ist durch einen kurzen Damm mit dem Festland verbunden, den man The Stand nennt – eine schmale Straße über die Mündung des Blackdown. Die meiste Zeit nimmt man gar nicht wahr, dass es ein Damm ist, genauso wenig, wie man erkennt, dass Hale eine Insel ist, denn normalerweise besteht die Mündung nur aus einer weiten Fläche von Schilf und Schlick. Aber wenn die Flut besonders hoch steigt und das Wasser der Mündung die Straße bedeckt, sodass niemand mehr rüberkommt, bis es bei Ebbe wieder sinkt … dann erkennt man sehr wohl, dass Hale eine Insel ist. Der Weg führte mich auf den von Schlaglöchern übersäten Parkplatz oberhalb der abschüssigen Wiese, und als ich ihn überquerte und meinen Blick über die Wohnwagenreihen weiter vorn streifen ließ, konnte ich Robyn nicht mehr finden. Es hatte angefangen, leicht zu regnen, ein feiner silbriger Niesel, der im Wind trieb wie Spinnenfäden, und die überwiegend weißen Dächer der Wohnwagen leuchteten stumpf in dem schwindenden Licht.

Ich schirmte die Augen ab und suchte erneut den Platz mit den Wohnwagen ab.

Nichts.

Keine Bewegung, kein Anzeichen von Leben.

Ich blickte über die Schulter. Bis auf einen alten Volvo Kombi mit Decken und einem Hundekorb im Kofferraum war der Parkplatz leer.

Keine Bewegung, kein Anzeichen von Leben.

Nichts.

Ich wandte mich wieder dem Wohnwagenpark zu, zündete eine Zigarette an und wartete.

Wartete, beobachtete …

Warten kann ich gut.

Ich warte ständig.

Warte und beobachte.

Es ist kein besonders großartiges Leben …

Aber es ist das, was ich tue.

Ich schloss kurz die Augen und kehrte zu dem Moment zurück, als Robyn mit Serina aus dem Haus trat. Da hatte ich das Mädchen zum ersten Mal gesehen – sie beide zum ersten Mal gesehen. Seither hatte sich Robyn von mir entfernt, außerdem trug sie nun ihre Kapuze über dem Kopf, also hatte ich nur diesen allerersten Blick auf sie zur Verfügung, um sie einzuschätzen.

Doch das reichte.

Ich betrachtete das Bild in meinem Kopf. Auf den ersten Blick wirkte sie wie das junge Mädchen, das sie tatsächlich war: gepierct und mit modischen Tattoos, dünn angezogen – ein leichter weißer Parka über einem engen weißen Tanktop und tief sitzender Jogginghose –, blonde Haare, weiße Zähne, rot geschminkte Lippen, Smokey-Eyes-Lidschatten. Aber unter dieser Oberfläche, unter der Fassade des gewöhnlichen jungen Mädchens war Robyn anders. Hohläugig und ausgemergelt, die gefärbten blonden Haare stumpf und brüchig, ihre Schönheit genauso herb wie die ihrer Mutter …

Sie war ein Junkie.

Sie sah aus wie ein Junkie, sie ging wie ein Junkie. Der gesenkte Kopf, die fest verschränkten Arme, die blinde Entschlossenheit, dorthin zu kommen, wo sie hinwollte …

Junkie.

Ich war mir ganz sicher.

Natürlich konnte ich mich täuschen – es wäre nicht das erste Mal gewesen und ich hoffte inständig, es wäre so. Doch als ich die Augen wieder öffnete und Robyn aus einem schmuddeligen weißen Wohnwagen am unteren Ende des Platzes treten sah, wusste ich gleich, dass ich mich nicht geirrt hatte. Sie war verändert. Sie wirkte nicht mehr so verkrampft und angespannt, sie war jetzt locker und unbeschwert … schwebend und fast ein bisschen schläfrig. Und sie lächelte immerzu. Lächelte in sich hinein, lächelte die Welt an, schenkte auch dem Mann ein bedröhntes Lächeln, der mit nackter Brust in der Tür des Wohnwagens stand. Groß und muskulös, mit langen, fettigen Haaren und Biker-Tattoos, vermutlich Mitte bis Ende zwanzig. Er lächelte zurück, als Robyn sich noch mal umdrehte und ihm zum Abschied winkte, doch während sie eine kleine Pirouette drehte und sich auf den Weg machte, verschwand sein Lächeln, wie wenn ein Licht ausginge. Er beobachtete sie einen Moment lang mit kaltem, leerem Blick, dann fuhr er sich mit dem Handrücken über die Nase, spuckte auf den Boden und schloss die Wohnwagentür.

Ich konzentrierte mich wieder auf Robyn.

Sie kam jetzt in meine Richtung, lief langsam auf einen schmalen Weg zu, der durch das buschige Land zum Parkplatz führte. Ich wartete einen Moment, betrachtete untätig die Gegend, dann schob ich die Hände in die Taschen und lief lässig die Wiese hinunter.

Ich war ein Nichts, ein Niemand.

Es lohnte sich nicht, mich wahrzunehmen.

Ich war nur ein einsamer Mann in mittleren Jahren, der allein durch die Gegend spazierte, sich Dinge anschaute und durch den Tag treiben ließ.

Nichts weiter.

Nichts, worüber man sich Sorgen machen musste.

Nichts, wovor man Angst haben muste.

Nicht dass Robyn in dem Moment irgendwas sonderlich geängstigt oder in Sorge versetzt hätte. Wenn ich richtig lag und sie gerade etwas genommen hatte, dann war sie jetzt abgetaucht in ihrer kleinen Blase, getrennt vom Rest der Welt, geborgen, innerlich warm und glücklich. Und ich wusste, dass es mir nicht zustand, darüber zu urteilen. Egal, was Robyn sich antat, egal, für welches Leben oder Nicht-Leben sie sich entschied, es hatte mit mir nichts zu tun. Und selbst wenn …

Es hatte mit mir nichts zu tun.

Und verdammt, was könnte ich überhaupt einwenden? Ich war ja selbst nicht gerade –

Halt die Klappe, John, sagte die Stimme in mir. Konzentrier dich auf das, was du tust.

»Ich weiß aber nicht, was ich tue«, murmelte ich.

Tja, Überraschung.

Ich hatte inzwischen den Pavillon in der Mitte der Wiese erreicht und bislang der Versuchung widerstanden, mich umzudrehen und zu schauen, wohin Robyn ging. Wahrscheinlich wäre es in Ordnung, wenn ich es jetzt tat, überlegte ich, doch für alle Fälle nahm ich mir noch etwas Zeit – blieb am Pavillon stehen, zog die Zigaretten aus der Tasche, blickte aufs Meer hinaus.

Es war Ebbe, der graue Sandstrand ging in den glitschigen braunen Schlick des Watts über. Scharen von Sumpfvögeln stolzierten im Matsch hin und her – langbeinige Vögel stocherten suchend herum und fuhren mit ihren Schnäbeln durch den Schlick – und vorn, direkt vor der Küste, tuckerte ein Fischkutter durch den Regen. Weiter draußen erkannte ich die nur knapp über die Wasserlinie ragende Silhouette eines Containerschiffs, das sich stumm am Horizont entlangschob. Es musste auf dem Weg nach Harwich sein.

Ich zündete eine Zigarette an und drehte mich um.

Zuerst fand ich Robyn nicht und glaubte für einen Moment, sie verloren zu haben. Doch als ich den Radius meiner Suche ausdehnte, sah ich rechts von mir am Rand der Wiese etwas Weißes aufblitzen – eine schlanke Kapuzengestalt, die sich geduckt durch die Lücke einer Hecke schob. Kurz war sie verschwunden, dann tauchte sie zehn Meter weiter wieder auf. Ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass sie auf einen erhöhten Feldweg zusteuerte, der einem kleinen Bachlauf bis ganz ans äußerste östliche Ende der Insel folgte. Ich schaute noch eine Weile, nur um wirklich sicher zu sein, doch als ich sah, wie sie über ein paar Holzstufen die Böschung des Feldwegs hochstieg, wusste ich, dass ich recht hatte. Wohin sie wollte, wusste ich zwar immer noch nicht – und ich hatte auch keine Ahnung, warum mir das wichtig war und was ich da überhaupt tat –, doch mir war klar, dass der Weg parallel zum Strand verlief …

Und das reichte mir.

Ich drehte mich um und ging hinunter zum Strand.

Der Weg und der Strand sind durch einen breiten Streifen Salzmarsch voneinander getrennt – einen dichten Teppich sich eng an den Boden schmiegender Pflanzen, durchbrochen von zahllosen morastigen, schilfgesäumten Tümpeln. Zwar war ich für Robyn nun gut sichtbar, doch weil ein ausreichendes Hindernis zwischen uns lag, musste sie sich wegen mir keine Gedanken machen. Außerdem beachtete sie mich ohnehin kaum, sondern trödelte einfach den Weg entlang, versunken in ihrer eigenen zeitlosen Welt.

Ich hatte nicht lange gebraucht, um zu ihr aufzuschließen, sie zu überholen und allmählich wieder langsamer zu werden, sodass ich nun in etwa auf ihrer Höhe, aber bewusst ein Stück vor ihr unten am Strand entlanglief. Selbst wenn sie mich also zufällig wahrnähme, würde sie nicht auf die Idee kommen, dass ich ihr folgte.

Ein ganzes Stück vor mir sah ich zwei Gestalten in Jacken, die mit einem Golden Retriever am Wasser entlangschlenderten – ein Paar in mittleren Jahren, dem wahrscheinlich der Volvo auf dem Parkplatz gehörte –, doch von ihnen abgesehen war der Strand leer. Als ich in die Ferne blickte, sah ich nichts als einen langen Streifen Sand und Kies, den schimmernden Schlick des Watts und die stille graue Leere des Meers. Und das Einzige, was ich hörte, war das Klagen des Windes und die allgegenwärtige Stimme in meinem Herzen.

Alles in Ordnung, John?

»Nicht wirklich«, antwortete ich leise.

Das wird schon werden. Du brauchst nur ein bisschen Ruhe.

»Ja …«

Ich schaute hinüber zu Robyn. Sie war stehen geblieben, um sich eine Zigarette anzuzünden, wandte dem Wind den Rücken zu, senkte den Kopf und umschloss das Feuerzeug mit den Händen … klick, klick, klick. Ich beobachtete sie einen Moment, wartete, bis sie den Kopf hob und den Rauch ausstieß, dann schlug ich meinen Kragen hoch und ging weiter. Als Kind war ich oft mit meinen Eltern auf Hale Island gewesen. Wir fuhren von Hey aus runter, stellten das Auto auf dem Parkplatz ab und gingen ein, zwei Stunden am Strand spazieren – Mum und Dad nebeneinander in leisem Gespräch, während ich allein loslief, die Strandlinie entlang, und angespülten Müll hochkickte auf der Suche nach Schätzen – Seebohnen, Donnerkeilen, Nixentaschen …

Damals war ich glücklich gewesen.

Und jetzt?

Es schien keine Schätze mehr zu geben. Keine Seebohnen, keine Donnerkeile, keine Nixentaschen … nur Plastikflaschen, Styroporreste, Essensverpackungen, Einkaufstüten. Nichts, das sich aufzuheben lohnte. Jedenfalls nicht für mich. Als Kind wären das heute vielleicht meine Schätze. Plastikschätze, Schätze aus Gummi und Polyäthylen … Styroporperlen.

Oder vielleicht erinnerte ich mich auch nur an Dinge, die in Wirklichkeit nie passiert waren.

Vielleicht hatte es nie Schätze am Strand gegeben …

Und ich war nie glücklich gewesen.

Als ich mich dem Strandende näherte und Robyn auf das Ende des Wegs zulief, fragte ich mich, was ich tun würde, wenn sie einfach weiterginge, querfeldein zum Strand runter und dann zurück in meine Richtung. Was würde ich tun, wenn sie an mir vorbeikäme? Würde ich etwas sagen? Würde ich stehen bleiben und mit ihr reden? Oder würde ich nur lächeln und ihr zunicken, so wie ich es vor ein paar Minuten bei dem Volvo-Paar und ihrem Hund getan hatte? Lächeln, nicken und weitergehen.

Keine Ahnung.

Ich konnte mich nicht entscheiden.

Doch am Ende musste ich es auch gar nicht.

Denn gerade, als wir den alten Steinbunker erreichten, der für mich immer ein Zeichen gewesen war, dass ich bald ans Ende der Insel kam, schaute ich hinüber und sah, wie Robyn den Weg verließ, auf eine kleine Holzbrücke zulief und den Bach überquerte. Als ihr Kapuzenkopf aus meinem Blickfeld verschwand, überlegte ich, wohin sie wohl ging. Was war auf der anderen Seite des Bachs? Nicht viel, erinnerte ich mich vage. Ein paar abgelegene Häuser, ein paar Bauernhöfe, vielleicht eine Kirche. Das hier war die Ostseite der Insel, der wildere Teil. Besucher und Touristen bleiben gewöhnlich im Westteil, auf der Dorfseite, wo der Sand fein und die Straßen und Geschäfte nie weit weg sind. Hier unten sieht man dagegen höchstens Einheimische, Angler, Leute, die mit ihren Hunden laufen … ab und zu so einen Anorak-Typen mit Metalldetektor. Und manchmal ein paar Jugendliche, nachts, wenn das Übliche abgeht … Sex, Drogen und so weiter.

Ich konnte Robyn jetzt nicht mehr sehen.

Sie war verschwunden.

Ich wusste nicht, wohin.

Und der Versuch, es herauszufinden, wäre sinnlos gewesen. Wenn ich ihr jetzt nachgehen wollte, müsste ich entweder quer durch die Salzwiesen oder ganz bis zum Strandende laufen und dann auf dem Weg zurück bis zu der Stelle, wo sie verschwunden war. Ich wusste natürlich, dass es Fährten durch die Salzwiesen gab, doch ich wusste auch, dass man schnell im Schlick stecken blieb oder Schlimmeres, wenn man sich nicht gut genug auskannte. Und was das Rennen bis zum Ende der Insel betraf … mir war gerade nicht so nach Rennen.

Ich fühlte mich zu müde.

Zu leblos.

Und es war sowieso egal.

Ich hatte getan, was ich tun wollte. Ich hatte Serina und Robyn gesehen. Ich wusste, wie sie aussahen. Und ich hatte jetzt ein Gefühl für sie – wer sie waren, wie sie waren, was sie für ein Leben führten …

Ich zündete mir eine Zigarette an und schaute über den Strand. Am Ende der Insel, eingehüllt in Regenschleier, erkannte ich noch so eben den Point, eine schmale Landzunge aus Kieselsteinen, die vom Strand vorragt und auf der einen Seite vom Meer, auf der andern von uralten Wattflächen begrenzt wird. Jenseits des Watts, dort, wo die Flussmündung ins Meer übergeht, umrundete jetzt der Kutter, den ich vorher gesehen hatte, eine kleine bewaldete Insel, die ungefähr achthundert Meter vom Ufer entfernt lag.

Eine junge Frau stand am Ende des Point und blickte über das Watt. Sie schien nichts weiter zu tun, sondern einfach nur dazustehen und schweigend zu schauen, während ihr der Wind durch die Haare fuhr …

Ich überlegte, ob sie vielleicht wusste, wohin Robyn verschwunden war. Vielleicht könnte ich sie fragen. Wahrscheinlich hätte sie nichts dagegen. Ich könnte ganz einfach hingehen und fragen: »Entschuldigung, dass ich Sie störe, aber – «

Nein, John, sagte Stacy zu mir. Lass sie.

»Wieso?«

Sie ist traurig. Sie will mit niemandem reden. Lass sie in Ruhe.

»Okay …«

Ist doch egal, wohin Robyn verschwunden ist.

»Nein.«

Du hast getan, was du tun wolltest. Du hast sie gesehen. Du weißt, wie sie aussieht.

»Sie sieht ein bisschen wie Dad aus.«

Sie sieht ein bisschen wie du aus.

»Findest du?«

Ja …

»Glaubst du, sie ist Dads Tochter?«

Kann sein.

»Dann wäre sie also meine Schwester?«

Halbschwester.

»Halbschwester.«

Ja, das könnte sein.

»Scheiße.«

Du bist müde, John. Du musst zurück ins Hotel und dich ein bisschen ausruhen.

Ich schaute wieder hinüber zum Point und suchte nach der traurigen jungen Frau. Doch sie war nicht mehr da.

Der Wind wurde stärker.

Der Regen wurde kälter.

Ich schloss meine Jacke und lief zurück zum Hotel.

2

Stacy war meine Frau … Stacy Craine. Sie war meine Frau. Vor siebzehn Jahren, am 13. August 1993, war sie von einem Mann namens Anton Viner vergewaltigt und ermordet worden. Zwei Wochen später schoss ich ihm in den Kopf und entsorgte seine Leiche im Ofen eines Krematoriums.

Stacy hat mich nie verlassen.

Sie ist immer in meinem Herzen.

Das war sie auch vor fünf Tagen, als DCI Mick Bishop in meinem Büro in Hey auftauchte und mir nahelegte, für eine Weile die Stadt zu verlassen.

»Was heißt ›für eine Weile‹?«, hatte ich ihn gefragt.

»Zehn Tage … ein paar Wochen. Einfach, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«

»Es wird also einfach ›Gras drüber wachsen‹, ja?«

»Wenn Sie tun, was ich sage, sicher.«

Ich sah ihn an. »Das heißt, ich verschwinde bloß eine Weile, und wenn ich zurückkomme … ist alles wie vorher?«

»Genau.«

»Und damit können Sie leben?«

Er grinste. »Es wird mich nicht umbringen.«

»Was ist mit dem Geschäft?«

»Welchem Geschäft?«

»Meinem Geschäft.«

»Was soll damit sein?«

»Na ja, wenn ich ein paar Wochen verschwinde – «

»Machen Sie einfach dicht, verdammte Scheiße. Schließlich hört die Welt nicht auf sich zu drehen ohne Ihren Privatdetektiv-Laden, oder?« Er sah mich an. »Was soll schon passieren? Dass Sie ein paar Versicherungsbetrugsfälle verlieren? Dass Ihnen die Chance entgeht, irgendeinen DVD-Piraten hochzunehmen?«

»Davon bezahl ich meine Rechnungen«, antwortete ich.

»Brauchen Sie Geld? Ich kann Ihnen was – «

»Ich brauch kein Geld.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Schon gut …«, hatte ich seufzend geantwortet und den Kopf geschüttelt. »Alles in Ordnung.«

Tu’s einfach, hatte Stacy später am Abend gesagt. Warum denn nicht. Schließ dein Büro für ein paar Wochen, fahr irgendwohin, wo es schön ist, und versuch das Ganze zu vergessen. Wer weiß … vielleicht gefällt’s dir ja sogar.

Ich war mir nicht sicher, ob es mir auf Hale Island gefallen würde, und wahrscheinlich war es auch nicht die Art von Ort, die Stacy gemeint hatte, als sie sagte, ich solle irgendwo hinfahren, »wo es schön ist«. Aber ich hatte in letzter Zeit viel über meinen Vater nachgedacht – seine Vergangenheit, seine Geschichte, seinen Selbstmord –, und als ich Cal Franks, meinen angeheirateten Neffen und gelegentlichen Mitarbeiter, anrief und ihn bat, so viel wie möglich über Serina Mayo herauszufinden, und er feststellte, dass sie auf Hale Island wohnte und eine achtzehnjährige Tochter hatte … nun ja, da hatte ich eben gedacht, wieso nicht?

Pack eine Tasche, buch ein Hotelzimmer, schließ das Büro …

Steig in einen Bus …

Wieso nicht?

Fahr einfach.

Versuch das Ganze zu vergessen.

Wieso nicht?

Es gab viel zu vergessen.

Das Hotel, in dem ich wohnte, war ein kurioses altes Ding namens Victoria Hall. Früher war es sicher mal ziemlich nobel gewesen, doch mit den Jahren, als das Geschäft nicht mehr so lief, war die Pracht verblasst. Es war immer noch passabel und wirkte aus der Ferne weiterhin recht imposant, doch aus der Nähe sah man sofort, dass es seine beste Zeit lange hinter sich hatte. Die verwitterten Wände, die Türen, die nicht richtig schlossen, die abgestandene, muffige Atmosphäre …

Es war weiß Gott nicht das Ritz.

Aber es lag nah beim Dorf und auf der Rückseite war gleich das Meer, außerdem war es relativ preiswert. Und die Zimmer waren geräumig, mit großen, zweiflügeligen Fenstertüren hinaus auf einen Balkon, was bedeutete, dass ich rauchen konnte. Doch der Hauptgrund, mich für das Victoria Hall zu entscheiden, war eine Kindheitserinnerung gewesen. Auf dem Rückweg von unseren Sonntagnachmittagsausflügen an den Strand waren wir jedes Mal daran vorbeigefahren und irgendwas an dem Haus hatte mich immer fasziniert … ich wusste nicht, was. Damals hatte ich nicht mal gewusst, dass es überhaupt ein Hotel war. Ich schaute es einfach gern an – das große weiße Gebäude mit den vielen merkwürdigen Fenstern, den hohen Ziegelschornsteinen, den schiefen Balkonen – und ich fragte mich, wie es wohl wäre, dort zu wohnen.

Ich weiß natürlich, dass es meist keine gute Idee ist, Kindheitsträume zum Leben zu erwecken, weil die Wirklichkeit in der Regel so trist und enttäuschend daherkommt, aber in diesem Fall … Ehrlich gesagt ging es mir sowieso derart beschissen, dass es auf ein bisschen Enttäuschung auch nicht mehr ankam. Es war gegen 11.30 Uhr, als ich an jenem Tag zum Hotel zurückkam. Der weißhaarige alte Mann, der das Haus leitete, saß hinter der Rezeption und las Zeitung, doch als ich eintrat, schaute er sofort auf, lächelte mich an und linste mit seinen leuchtenden alten Augen über den Rand der Lesebrille.

»Guten Morgen, Mr Chandler«, sagte er. »Genießen Sie dieses Wetter?«

Das leichte Zwinkern in den Augen und der fast unmerkliche Nachdruck bei den Worten »Mr Chandler« machte mir klar, dass er wusste, es war nicht mein richtiger Name. Genau so hatte er mich angesehen, als ich am Tag zuvor unter John Chandler eincheckte, mit diesem Blick, der wie ein Wink war: Keine Sorge, John, Ihr Geheimnis ist bei mir in sicheren Händen.

Aber vielleicht war ich auch einfach nur paranoid.

Vielleicht sah ich ja Dinge, die es überhaupt nicht gab.

Nicht, dass es wichtig gewesen wäre. Ich hatte nur deshalb unter falschem Namen eingecheckt, weil mein richtiger Name, John Craine, in letzter Zeit ständig in den Nachrichten aufgetaucht war, und schließlich hatte ich diesen Ort gewählt, um – in Mick Bishops Worten ausgedrückt – Gras über die Sache wachsen zu lassen. Aber selbst wenn der alte Mann wirklich wusste, wer ich war, und er es der Presse stecken würde …

Na und?

Ich brauchte ja nur zusammenzupacken und woanders hinzufahren.

»Entschuldigung«, sagte ich und ging zur Rezeption. »Sie haben nicht zufällig eine Landkarte von der Insel?«

Er legte die Zeitung weg, griff unter die Empfangstheke und reichte mir eine fotokopierte Karte.

»Danke«, sagte ich, während ich sie ansah.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes, Mr Chandler?«

»Sagen Sie einfach John«, antwortete ich, ohne aufzusehen. »›Mr Chandler‹ macht mich so alt.«

»Arthur Finch«, antwortete er lächelnd, erhob sich und reichte mir die Hand. »Ich bin alt.«

Ich lächelte zurück und schüttelte seine Hand, dann schaute ich wieder auf die Karte und versuchte die Stelle zu finden, wo Robyn den Weg verlassen hatte. Der Weg war als gepunktete Linie eingezeichnet, und als ich ihr vom Point aus folgte und schließlich die Gegend genau nördlich vom Bach absuchte, war abgesehen von der Salzmarsch und ein paar verstreuten Gehöften ein kleines schwarzes Kreuz das Einzige, was mir auffiel

»Ist das eine Kirche?«, fragte ich Arthur Finch und deutete auf das Symbol.

Er drehte den Kopf, um die Karte besser lesen zu können. »Wo?«

»Da.«

»Ah, ich sehe.« Er lächelte. »Nein, das war mal eine, aber ich fürchte, die Karte ist ein bisschen veraltet. In Wirklichkeit ist das inzwischen ein Hofladen.«

»Ein Hofladen?«

Er nickte. »Hale Organics. Es gibt dort auf der Insel erzeugtes Fleisch, hausgemachten Käse, Eier von frei laufenden Hühnern … solche Sachen eben.« Er sah mich an. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Öffnungszeiten raussuchen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Gibt es sonst noch was in der Gegend?«

»Was suchen Sie denn?«

»Nichts Bestimmtes …« Ich sah ihn an. »Könnte nur ein bisschen langweilig werden, verstehen Sie … jeden Tag bis zum Strandende laufen und dann den ganzen Weg wieder zurück.« Ich zuckte die Schultern. »Ich hab einfach überlegt, ob ich noch woanders hinlaufen könnte, nichts weiter.«

»Nun«, sagte er und wandte sich wieder der Karte zu, »Sie können hier über den Bach und von dort aus gibt es einen kleinen Pfad, der direkt zu dem Hofladen führt. Sonst ist dort nicht viel – ein paar Gehöfte, ein Wäldchen hier und da –, aber vom Hofladen aus könnten Sie über die East Road am Wasser entlang bis zum Damm laufen und von dort über die Coast Road wieder ins Dorf.« Er sah mich an. »Ist aber ein ziemlicher Marsch … dauert bestimmt ein paar Stunden. Und ich würde ihn auch nur empfehlen, wenn sich das Wetter bessert.«

»Klar …«

»Und natürlich gibt es viel mehr zu sehen, wenn Sie in den Westen der Insel gehen.«

»Ja«, sagte ich und nahm die Karte. »Vielleicht mach ich einfach das.«

»Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«

»Nein, danke, im Moment nicht.«

»Essen Sie heute Abend hier?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Kein Problem«, antwortete er freundlich. »Wir werden wohl kaum ausgebucht sein.«

Ich nickte und fühlte mich plötzlich unglaublich müde. Zu müde, um zu sprechen. Zu müde, um zu lächeln. Zu müde, um mich zu bewegen.

»Tja …«, meinte Arthur Finch zögernd. »Wie gesagt, wenn Sie noch etwas brauchen …«

Ich nickte einfach noch mal und hoffte, dass ich nicht so schlimm aussah, wie ich mich fühlte. So wie mich der alte Mann anblickte, war mir klar, dass er allmählich annahm, irgendwas sei ganz und gar nicht in Ordnung mit mir. Ich wusste, wenn ich mich nicht sofort vom Fleck rührte oder noch irgendwas sagte, würde er sich ernsthaft Gedanken machen: Was tut der? Wieso steht der nur da? Was ist verdammt noch mal mit dem los?

Also holte ich tief Luft, legte beide Hände auf den Rand der Theke, um mich abzustützen, murmelte schließlich mit einem gezwungenen Lächeln irgendetwas ausreichend Vages, nickte noch mal und stieß mich von der Theke ab.

Mein Hirn funktionierte nicht mehr.

Meine Beine waren zu schwer.

Ich wusste nicht mehr, wie man lief.

Doch mein Instinkt und der Wunsch, die Peinlichkeit eines Sturzes zu vermeiden, ließen mich irgendwie weitergehen – einen Schritt, noch einen Schritt … geh einfach weiter –, und nachdem es mir gelungen war, die Lobby halb zu durchqueren, hatte ich das Laufen schon fast wieder raus und sah wahrscheinlich nicht mehr ganz so sehr wie ein Zombie aus. Ich war versucht, einen Blick über die Schulter zu wagen und Arthur ein beiläufiges Lächeln zuzuwerfen, nur um ihm zu signalisieren, wie normal ich war, doch schon der Gedanke, zu gehen und gleichzeitig über die Schulter zu schauen, erzeugte in mir ein Schwindelgefühl. Deshalb lief ich einfach weiter – einen Schritt, noch einen Schritt … einen Schritt, noch einen Schritt …

Du schaffst das.

Zum Glück lag mein Zimmer genau wie die Lobby im Hochparterre, sodass ich mir keine Sorgen wegen der Treppe machen musste, sondern bloß in gerader Linie weiterzulaufen brauchte – quer durch die Lobby und am Ende durch eine Tür, an der Treppe vorbei, den Flur entlang … einen Schritt, noch einen Schritt …

Ich schaffte das.

Einfach weitergehen …

Als ich das Ende der Lobby erreichte und gegen die Tür drückte, zog sie jemand von der anderen Seite auf, ich taumelte hindurch und stieß gegen einen Mann in rotem Regencape.

»’tschuldigung«, murmelte ich mit gesenktem Kopf und trat schwankend zur Seite.

»Kein Problem«, sagte der Mann. Und dann: »Hey, alles in Ordnung mit Ihnen?«

Ich spürte seine Hand auf meinem Arm, eine helfende Hand, und sah zu ihm hoch. Er war bärtig, trug eine Brille und hatte ein freundliches Gesicht.

»Alles okay, Buddy?«, fragte er.

Ein Amerikaner.

»Ja …«, murmelte ich. »Ja, danke … ich hab nur … ja, alles okay.«

Er ließ meinen Arm wieder los, machte einen Schritt zurück und schaute ernsthaft besorgt. Eine Frau stand neben ihm, ebenfalls in rotem Regencape. Und hinter den beiden, mich neugierig vom Treppenabsatz aus beobachtend, stand ein Kaugummi kauender Teenager. Mutter und Tochter, nahm ich an.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte der Mann.

»Nein … danke.« Ich lächelte ihn an. »Ist nur … ist nur Migräne …«

»Oje«, sagte er und nickte verständnisvoll. »Migräne kann wirklich sehr schlimm sein.« Er warf einen Blick auf die Frau neben ihm. »Deine Schwester hat doch auch Migräne, stimmt’s, Honey?«

Die Frau nickte und sah mich an. »Sie muss dann immer in einem abgedunkelten Raum liegen.«

»Ja, ich auch …«

»Okay«, sagte der Mann. »Also, wir wollen Sie nicht weiter aufhalten … passen Sie auf sich auf, ja?«

Ich nickte. »Danke …«

»Bis später dann.«

»Ja.«

Als sie durch die Tür in die Lobby verschwanden, warf das Mädchen noch einen Blick zurück und lächelte mir zu. So wie sie gekleidet war, mit dicker schwarzer Daunenjacke über einem weiten weißen Kapuzenshirt und kurzem Jeansrock über einer hautengen schwarzen Hose, schätzte ich sie auf circa vierzehn oder fünfzehn. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren, die Kabel schlängelten sich unter der Kapuze hervor, und als ihr immer noch lächelndes Gesicht durch die Tür verschwand, fragte ich mich, was sie wohl hörte …

Irgendwas Neumodisches?

Irgendwas, das mir nicht gefallen würde?

Irgendwas, wovon ich noch nie gehört hatte?

Und ich überlegte, wie ich mich fühlen würde, wenn ich ihr Vater wäre und mir die Musik nicht gefiele, die sie hörte … was würde ich machen?

Du würdest gar nichts machen.

»Ich würde mir alt vorkommen.«

Du bist alt.

»Sie hat mich angelächelt, Stace. Hast du gesehen?«

Ja.

»Sie hat mich angelächelt.«

Ich weiß.

Es war keine Migräne … Ich hatte noch nie im Leben Migräne gehabt. Aber es ist einfacher zu behaupten, dass man unter Migräne leidet, als zu erklären, dass man an diesen schwarzen Ort sinkt. Und genau das war es – die tödliche Erschöpfung, die bleierne Müdigkeit, die Leere in meinem Kopf –, es war dieser schwarze Ort, der Nebel der Depression, der ab und zu in mir aufsteigt und mich für ein, zwei Tage in Finsternis hüllt.

Er hatte sich schon eine Weile in mir bemerkbar gemacht, hatte gedroht, aufzusteigen und mich runterzuziehen. Normalerweise lege ich mich, wenn das Gefühl kommt, einfach ins Bett, schließe die Augen und lasse es geschehen. Es ist keine schöne Erfahrung und manchmal kann es wirklich schlimm sein, aber ich kenne das nun schon eine ganze Weile, und wenn es auch nichts ist, woran man sich jemals gewöhnt, weiß ich zumindest, was es ist. Ich weiß, wie es abläuft. Und weil ich weiß, dass es mich nicht umbringt und auch nicht ewig anhält, mache ich mir normalerweise gar nicht die Mühe, dagegen anzukämpfen.

Aber diesmal …

Als ich es diesmal kommen spürte, war es nicht möglich gewesen, die Augen zu schließen und es geschehen zu lassen. Der Fall, an dem ich gearbeitet hatte, hatte mich fertiggemacht. Üble Dinge waren passiert. Menschen, die mir viel bedeuteten, waren verletzt worden … und ich musste mit alldem zurechtkommen, mit der Verletzung anderer und meinen eigenen Verletzungen … Und ich kann nicht mit etwas zurechtkommen, wenn ich an dem schwarzen Ort bin. Ich kann dann überhaupt nichts tun. Also musste ich das Gefühl unter Kontrolle halten. Und das hieß Selbstmedikation – Alkohol, Drogen, was immer es braucht. Alkohol, um das Gefühl unten zu halten, zu ersticken, zu betäuben. Speed und Kokain, um mich aus der Lähmung herauszuziehen, darüber hinwegzuheben. Und danach mehr Alkohol, um schlafen zu können, mehr Speed, um mich aufzuwecken …

Mehr von allem … um einfach weiter zu funktionieren.

Und je länger du funktionierst, desto schlimmer ist es, wenn du aufhörst.

Deshalb hörst du nicht auf, sondern funktionierst immer weiter.

Du schlurfst morgens um 11.45 Uhr in dein Hotelzimmer, du schließt die Tür, verriegelst sie und schlurfst zum Tisch an der Wand. Du öffnest die Flasche Whisky auf dem Tisch und füllst das Glas halb voll, trinkst einen kräftigen Schluck, schudderst, dann füllst du das Glas wieder auf und gehst zu den Doppelfenstern. Du öffnest sie, trittst auf den Balkon und zündest eine Zigarette an. Es ist kalt, du zitterst. Du trinkst mehr Whisky. Du bist so müde, so schwach, dass du kaum aufrecht stehen kannst. Du lehnst dich gegen das Balkongeländer und schaust über den Strand, auf den tristen Himmel, das blaugraue Meer … die Leere. Du hörst die traurigen Schreie der Seevögel, das ferne Klicken von Takelagen, den Wind …

Du rauchst.

Du trinkst.

Der dunkle Ort kommt.

Lass ihn kommen.

Jetzt bist du für ihn bereit.

Du rauchst deine Zigarette auf, trinkst dein Glas aus, gehst wieder rein und schenkst dir noch einen Whisky ein. Du gehst zurück auf den Balkon und zündest eine weitere Zigarette an. Deine Hand schmerzt. Der gebrochene Knochen pocht dumpf in der Kälte. Du denkst an Cal Franks – ins Krankenhaus eingeliefert mit einem gebrochenen Bein, einem gebrochenen Arm. Und an Bridget Moran – eine erschütterte Seele, ein gebrochenes Herz … weit weg von hier. Du hebst dein Glas und trinkst erst auf sie und dann auf Cal … und dann auf dich.

Passen Sie auf sich auf, ja?

Die Stimme des Vaters …

Der Vater.

Die Tochter.

Und jetzt schließt du die Augen vor der kalten grauen Welt und siehst wieder ihr Gesicht, das Gesicht der Tochter … wie sie dich anlächelt, als sie durch die Tür verschwindet. Und du siehst auch dich selbst, wie du dastehst, zu ihr zurückschaust und dich fragst, was für eine Musik sie wohl hört und ob ihr Vater die Musik mag oder nicht … Aber im Innern weißt du: Was du dich wirklich fragst, ist, wie es gewesen wäre … wenn Stacy nicht gestorben wäre, wenn das Kind, mit dem sie schwanger war, nicht im Mutterleib gestorben wäre … du hättest Vater sein können. Du hättest eine Tochter haben können. Sie hätte zu einem Kaugummi kauenden Teenager heranwachsen können, der vielleicht Musik hören würde, die dir nicht gefiele …

Und das wäre in Ordnung gewesen.

Es wäre …

Nicht, John. Bitte … hör auf.

»Ich kann nichts dagegen tun, Stace. Ich – «

Ich weiß.

»Du und ich, unsere Tochter – «

Vielleicht wär’s auch ein Junge geworden.

»Nein …«, sagte ich lächelnd. »Es war ein Mädchen. Ich sehe sie vor mir … sie ist schön. So wie du.«

Leg dich hin, John. Trink dein Glas aus und dann leg dich hin.

»Okay.«

Du schaffst das.

»Ja.«

Los, mach schon.

»Ich liebe dich.«

Ich weiß.

Ich ging nicht sofort ins Bett. Ich blieb noch eine Weile auf dem Balkon, trank und rauchte, dachte nach … über gute Dinge, schlechte Dinge, das, was ich getan hatte, und das, was ich tun musste.

Ich trank, bis ich nicht mehr weiter trinken konnte.

Und dann noch ein Glas …

Eine letzte Zigarette.

Einen allerletzten Drink.

Und danach schloss ich die Balkontür, zog den Vorhang vor, legte mich aufs Bett, machte die Augen zu und ließ den schwarzen Ort kommen.

3

Ich schlief fast zwanzig Stunden, stand zwischendurch nur auf, um aufs Klo zu gehen und eine Zigarette zu rauchen, und als ich am nächsten Morgen gegen acht Uhr aufwachte, war ich überrascht, dass der Höhepunkt des schwarzen Orts vorüber war. Gewöhnlich hält der Zustand mindestens ein paar Tage an, manchmal auch viel länger, und obwohl ich weit davon entfernt war, mich wieder okay zu fühlen – mir dröhnte der Schädel, die Muskeln schmerzten, die Augen waren starr von der Last der Depression –, wusste ich doch, dass es diesmal leichter ablief.

Auch wenn er noch immer da war, der schwarze Ort.

Ich spürte ihn in mir.

Er war nur halb in sein Loch zurückgekrochen.

Er war noch nicht fertig mit mir.

Doch im Moment …

Ich duschte und zog mich an, kochte mir eine Tasse Kaffee und trat auf den Balkon, um eine zu rauchen. Der Strand sah ungefähr so aus wie am Vortag – kalt und grau, der Himmel von einer Wolkenschicht überzogen, ein scharfer Wind wehte von See her. Der einzige Unterschied war, dass sich das Wasser nicht ganz so weit zurückgezogen hatte und ich die leichte Gischt erkennen konnte, mit der die flachen Wellen still über den schimmernden Schlick des Watts leckten.

Es war Samstag.

Der Strand war verlassen.

Keine Menschen, die mit ihren Hunden unterwegs waren, keine Angler, niemand.

Ich rauchte zu Ende, zog mir Schuhe an und machte mich auf, um zu frühstücken.

Frühstück gab es in einem kleinen, dunkel getäfelten Raum im vorderen Teil des Hotels. Als ich eintrat, waren nur drei Tische besetzt. Ein schmuddeliger Typ in weitem Karohemd und zerschlissener Jeans schlürfte seinen Kaffee an einem Einzeltisch in der Nähe der Tür, ein älteres Ehepaar beugte sich in der Ecke schweigend über seine Porridge-Schalen und die amerikanische Familie – Vater, Mutter, Tochter – saß an dem Tisch nahe beim Fenster. Mutter und Vater tranken Orangensaft, während die Tochter mit ihrem Handy beschäftigt war. Ihr Daumen glitt blitzschnell über die Tasten.

Alle drei schauten auf, als ich den Frühstücksraum betrat.

»Hey«, sagte der Vater. »Wie geht’s heute?«

»Danke der Nachfrage. Deutlich besser.«

»Schön.«

Ich lächelte ihm zu, nicht sicher, ob ich noch etwas sagen oder mich einfach an einen Tisch setzen sollte. Und wenn ich mich an einen Tisch setzte, sollte ich dann nett sein und mich in die Nähe der Amerikaner setzen oder tun, was ich normalerweise tat, mir also einen Platz so weit entfernt wie möglich suchen? Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn eine Kellnerin trat aus der Küche und fragte: »Einzeltisch?«

Ich nickte.

Sie deutete auf einen Tisch an der Wand, und bis ich mich hingesetzt, Spiegeleier, Toast, Kaffee bestellt und mir eine Zeitung vom Regal an der Wand genommen hatte, war ich für die amerikanische Familie vergessen. Sie machten sich bereit zum Aufbruch. Ich lehnte mich zurück und tat so, als ob ich Zeitung lesen würde, während ich in Wirklichkeit beobachtete, wie sie ihre Jacken anzogen und ihre Sachen zusammenpackten. Sie hatten alle fast das Gleiche an wie am Vortag – die Eltern ihre roten Regencapes, das Mädchen ihr weißes Kapuzenshirt und die Daunenjacke – und nach der Menge der Dinge zu urteilen, die sie in diversen Taschen und Beuteln verstauten, hatten sie wohl vor, einen Tagesausflug zu machen. Die Mutter trug eine geräumige und offenbar ziemlich schwere Umhängetasche, der Vater hatte ein Taschenbuch in der Hand (Handbuch der englischen Küstenvögel) und eine äußerst teuer aussehende Kamera um den Hals und das Mädchen stopfte alle möglichen Gerätschaften in ihren kleinen schwarzen Rucksack – iPod, Ohrstöpsel, Kopfhörer, irgendeine Spielekonsole … Nintendo oder so was.

Als sie den Tisch verließen und zur Tür gingen, schaute ich auf und lächelte ihnen wieder zu.

»Meinen Sie, es gibt Regen?«, fragte der Vater.

»Wahrscheinlich«, sagte ich und schaute aus dem Fenster.

»Typisch englisches Wetter, was?«

Ich nickte.

»Na ja«, sagte er und schob seinen Vogelführer in die Tasche. »Ich fürchte, wenn man nach England fährt, weiß man, worauf man sich einlässt. Das Wetter gehört hier einfach mit zum Programm.«

Ich nickte wieder. »Wohl wahr.«

Er schaute auf, als die Kellnerin mit einem Teller Spiegelei auf Toast erschien. »Okay«, sagte er zu mir und trat beiseite, um ihr Platz zu machen. »Na, dann guten Appetit.«

»Danke.«

»Bis später.«

»Ja.«

Während die drei hinausmarschierten, stellte die Kellnerin den Teller vor mich hin. Sie war eine ziemlich ernst wirkende Frau Ende zwanzig, Anfang dreißig. Kein Make-up, graubraune Haare, einfaches weißes T-Shirt und Jeans.

»Vorsicht«, sagte sie. »Der Teller ist heiß.«

»Danke.«

»Soll ich heute Ihr Zimmer machen?«

»Wie bitte?«

»Ich wollte es gestern Nachmittag tun, aber da war Ihre Tür verriegelt.«

»Ach so, ja … ich hab geschlafen. Tut mir leid.«

Sie zuckte die Schultern. »Kein Grund, sich zu entschuldigen. Sie können schlafen, wann immer Sie wollen.« Dann lächelte sie, was mich irgendwie überraschte – ihr Gesicht hellte sich schlagartig auf. »Wenn ich könnte, würde ich den ganzen Tag schlafen.«

Auf einmal begriff ich, dass sie – in einem Hotel wie diesem und auch noch außerhalb der Saison – vermutlich nicht bloß Kellnerin, sondern auch alles andere war: Empfangsdame, Zimmermädchen, Verwalterin, Köchin …

»Mein Zimmer ist in Ordnung«, sagte ich. »Wenn Sie wollen, können Sie bis morgen warten.«

»Sicher?«

»Ja.«

»Handtücher und so noch okay?«

»Ja.«

»Gut … wenn Sie irgendwas brauchen, sagen Sie mir Bescheid.«

»Danke.«

»Ich bin übrigens Linda.«

»John«, antwortete ich.

Sie nickte. »Lassen Sie sich Ihre Spiegeleier schmecken, John.«

Ich schaute ihr hinterher, wie sie zurück in die Küche ging, und fragte mich kurz, wieso sie hier arbeitete – wieso arbeitete überhaupt jemand in so einem heruntergekommenen alten Hotel am Arsch der Welt? –, doch dann erinnerte ich mich an all die Scheißjobs, die ich im Lauf der Jahre gemacht hatte. Ich hatte meine Gründe gehabt, also nahm ich an, dass auch sie vermutlich ihre Gründe hatte. Wobei mich das nichts anging. Und ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht wirklich. Es war nur so ein Gedanke gewesen, nichts weiter.

Nur ein Gedanke.

Iss jetzt dein Frühstück.

Es gab kein Salz und Pfeffer auf meinem Tisch. Ich stand auf, schaute mich um und entdeckte schließlich auf dem Tisch am Fenster einen Gewürzständer. Ich ging hinüber und nahm den Salzstreuer raus und da sah ich das Tagebuch – ein kleines rosafarbenes Notizbuch mit Blumenstickern und den in glitzernden Goldlettern geprägten Worten My Diary Geh schon, lauf schnell und hol’s, wir warten auf dich.